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  Teil 1  -  Das Manifest der Person  

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1. Die Rechte der Person

Jeder Mensch ist nicht nur er selber, er ist auch der einmalige, ganz besondere, in jedem Fall wichtige und merkwürdige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder. Darum ist jedes Menschen Geschichte wichtig, ewig, göttlich, darum ist jeder Mensch, solange er irgend lebt und den Willen der Natur erfüllt, wunderbar und jeder Aufmerksamkeit würdig.  (Hermann Hesse)

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  Ein geheimes Manifest 

In unserer Zeit wird ein geheimes Manifest geschrieben. Die Welt wird es nie in Form von bedruckten Seiten zu sehen bekommen. Keine Massenbewegung wird es je auf ihre Fahnen schreiben. Seine Sprache ist die Sehnsucht, die wir einander von den Augen ablesen — Sehnsucht, zu wissen, wozu wir in der Welt berufen sind, und die eine Aufgabe, den einen Weg zu finden, die jedem von uns unaustauschbar vorbehalten sind. Seinen Autoren, und sollten sie Millionen zählen, wird es nie darum gehen, sich als Armee in Marsch zu setzen, sondern immer nur darum, sich als einzelne hier und da in echter Verbundenheit zu begegnen.

Ich spreche vom Manifest der Person, von der Erklärung unseres souveränen Rechts auf Selbstentdeckung. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich Millionen sind, die seinem Ruf geantwortet haben, aber sein Einfluß ist deutlich zu spüren, eine Unterströmung in unserer Geschichte, die jeden, den sie berührt, mit einer erregenden Ahnung davon erfüllt, wie tief die Wurzeln des Selbst reichen und bis zu welch eigentümlichen Quellen der Kraft sie vordringen. 

Ein Klischee unserer Zeit besagt, daß wir uns mitten in einer <Revolution steigender Erwartungen> befinden. Das ist gewiß wahr — wahrer als vielen von uns klar ist, vor allem den politischen Führern, die gewöhnlich zu den letzten zählen, denen ein Wandel im kulturellen Klima auffällt. Die Erwartungen der Menschen richten sich nicht mehr ausschließlich auf Brot, Arbeit und leibliche Sicherheit. Hinter diesen offensichtlichen und absoluten Notwendigkeiten — aber ebenso unnachgiebig in seinem Anspruch — steht der Hunger nach persön­licher Anerkennung, nach Anerkennung jedes einzelnen von uns als eines besonderen und bedeutenden Ereignisses im Universum, eines Zentrums feinster Empfindungen und radikaler Originalität.

In einem Maß, für das es kein geschichtliches Beispiel gibt, beginnen wir für uns selbst und für einander interessant zu werden, weil wir mit unserem Schicksal, das sich erst noch entfalten wird, etwas Unerwartetes in die Welt tragen.

Das Manifest der Person — spontan entworfen, unmerklich verbreitet — bezeichnet einen der großen Wende­punkte in der Geschichte der Menschheit. Wenn es Fuß faßt und den Wandel, den es verspricht, herbeiführt, werden wir vielleicht feststellen, daß 'Geschichte' und 'Gesellschaft' — diese großen kollektiven Abstraktionen, die den Menschen schon immer in ihre Grenzen gebannt haben — für uns keine zwingenden Realitäten mehr darstellen.

Sie werden uns wie wunderliche alte Geschichten von irgendeinem ausgestorbenen vormensch­lichen Wesen namens ,Jedermann' erscheinen. Und vielleicht erkennen wir, daß Stamm, Nation, Klasse, soziale Bewegung, revolutionäre Massen ... daß sie alle wie Schatten die Sonne verdunkeln, unser innerstes und immer noch unerforschtes Selbst. Im Licht dieser Wahrheit könnte in uns der Wunsch entstehen, diese 'höheren' sozialen Treuepflichten gegen einen ganz anderen ethischen Grundsatz einzutauschen: daß alle Menschen als Person erschaffen sind und daß die Person vor allen kollektiven Fiktionen kommt.

Wenn wir diesen Grundsatz ohne Abstriche gelten lassen, verlangt er dann nicht von uns, ein scheinbar unmögliches soziales Universum zu schaffen, das so viele Zentren hat, wie es erwachte Persönlichkeiten unter uns gibt? Können wir uns solch eine vielkernige Welt befreiter Menschen überhaupt vorstellen? Kann eine Gesellschaft zusammenhalten, deren Normen und Strategien der persönlichen Verwirklichung nicht entgegen­stehen dürfen?

Zahllose Probleme und Vorbehalte drängen sich auf. Was wird in solch einer Gesellschaft aus unseren kollektiven Disziplinen wie Recht und Ordnung, nationale Verteidigung, soziale Verantwortung, kulturelle Überlegenheit? Kann man erwarten, daß sich die Menschen weiterhin an ihre zugewiesenen Rollen halten, gewissenhaft Arbeiten verrichten, die ihnen zuwider sind, sich für Anerkennung und Lohn abrackern? Womit will man sie dann noch so weit einschüchtern, daß sie folgsam und strebsam bleiben? Ist das, was uns hier vorschwebt, nicht einfach universelle Anarchie? 

Das Manifest der Person gewinnt an Einfluß und schon mehren sich die Kassandrarufe von politischen Führern und Sozial­kritikern, die in dem aufstrebenden personalistischen Stil nichts weiter als einen Freibrief für Aufsässigkeit gegen Bürgerpflicht und kulturelle Werte sehen: eine rücksichtslose Demokratie der freien Selbstverwirklichung á la Whitman ... Abermillionen Songs of Myself.  

Viele gelehrte, einst liberale und jetzt stockkonservative Helden der öffentlichen Ordnung und der hehren kulturellen Werte treten vor, um die althergebrachten Sublimierungstugenden zu verteidigen: Selbst­beschränk­ung, pflichtschuldige Staats­bürger­schaft, Arbeitsethos und vor allem Ehrerbietung — vor intellektueller Leistung, vor der sozialen Hierarchie, vor dem öffentlichen Interesse.

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Je offensichtlicher es wird, wie tiefgreifend diese neue personalistische Sensibilität die orthodoxe Kultur in Frage stellt, desto häufiger werden aristokratische Kritiker uns zu Disziplin und Pflichterfüllung zurückrufen. Ihr Rat hat seinen Wert; ich habe nicht die Absicht, ihn leichthin abzutun, und möchte ihre Sorge in einem späteren Kapitel genauer unter die Lupe nehmen. Aber letztlich, so glaube ich, mißdeuten diese Kritiker das neue Ethos der Selbstentdeckung, indem sie es für die alte Sünde der Selbsterhöhung halten. Sie verwechseln die feinnervige Suche nach Erfüllung mit der lärmenden Genußsucht unserer Massen­konsum­wirtschaft — mit anderen Worten, sie können das legitime menschliche Bedürfnis nach persönlichem Wachstum nicht von den unechten Bedürfnissen nach materiellem Überfluß und individuellem Vorteil unterscheiden, die der Markt selbst erzeugt. 

Oder sie interpretieren den rebellischen Personalismus unserer Tage leichtfertig als einen bedrohlichen 'Aufstand der Massen' gegen alle Leistungsnormen. Und natürlich treibt tatsächlich eine solche Bestie ihr Unwesen in unserer Zeit, ein vielköpfiges Ungeheuer, das mit seiner blindwütigen Verzweiflung dem totalitären Ungeist in die Hände arbeitet. Aber innerhalb dieses Aufstands der Massen existiert noch eine andere Bewegung, die jetzt danach drängt, sich Gehör zu verschaffen: ein Aufstand gegen die Vermassung um der Persönlichkeit willen. Und wer sich davon aus Sorge um kulturellen Geschmack und intellektuelle Etikette abwendet, kehrt damit der Kreativität und der echten Konvivialität den Rücken, die wir durch die Befreiung der Person vielleicht entdecken werden.

 

  Die Erfahrung, eine Person zu sein  

 

Ich weiß nicht, wieviele von Ihnen nachvollziehen können, was ich auf diesen Seiten über die Rechte der Person zu sagen habe und über die historische Bedeutung ihres gegenwärtigen Kampfes, Gestalt und Anerkennung zu gewinnen. Im folgenden werde ich einige der augenfälligsten Züge dieses Geburtsprozesses aufgreifen: einige impressionistische Beobachtungen, die vielleicht helfen können, das Terrain der Identitäts­transformation abzustecken. 

Doch bevor ich solche Generalisierungen über die Bemühungen anderer anbiete, möchte ich Ihre eigene Erfahrung als Zeugen aufrufen. Denn dieses Gefühl, eine Person zu sein, entfaltet sich weniger in besonderen oder öffentlichen Ereignissen als im hautnahen Gewebe Ihres täglichen Lebens, oft so wenig spürbar, daß viele von Ihnen womöglich schon an diesem Prozeß der kulturellen Umwandlung teilnehmen, ohne es zu wissen. Dieses Gefühl zeigt sich in Ihrem Leben vielleicht nur als vager Überdruß an allen zugewiesenen Rollen und jeder beengenden sozialen Routine.

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Vielleicht nur als eine bohrende Ahnung, daß die Welt, in der Sie leben, nicht paßt. Ihre Arbeit, Ihre Ausbildung, die Institutionen, die Ihnen gegenüber Autorität beanspruchen (Regierung, Behörden, Gewerkschaften, Gerichte, Wohlfahrtssystem), wirken auf einmal so grobschlächtig, daß sie wirklich nur für jedermann taugen, aber für niemanden persönlich und schon gar nicht für Sie selbst.

Es mögen flüchtige Irritationen sein, die kommen und gehen. Dennoch sind es Anzeichen dafür, daß der große Wandel, von dem ich spreche, in Ihrer Erfahrung bereits wirksam ist und die trotzige Gewißheit in Ihnen nährt, ein Recht darauf zu haben, daß Ihnen mit Behutsamkeit begegnet wird, ein Recht auf die Beschäftigung, die Ausbildung, den Raum und die Zeit, die Sie brauchen, um Ihren eigenen Lebensstil zu finden, ein Recht, an den Entscheidungen, die Ihr Leben gestalten, direkt mitzuwirken, auch wenn die Ausübung dieses Rechts endlose Verzögerungen, Risse und Spaltungen mit sich bringt.

 

Aber woher kommen diese 'Rechte' wohl? Wie lange gibt es sie schon? Oder anders gefragt, was glauben Sie, wie lange Ihre Erfahrung der Einmaligkeit schon in der Welt existiert. Vielleicht spüren Sie, daß Ihre Großeltern oder sogar Ihre Eltern es als grotesken Luxus betrachtet hätten, solche Rechte geltend zu machen. Aber wußten Sie auch, daß dies noch vor einem Jahrhundert als vollkommen unbegreiflich gegolten hätte — sogar als gefährlicher Wahnsinn? Wußten Sie, daß dieses Recht, dessen Sie sich so sicher fühlen, das Recht auf Anerkennung und vielleicht sogar Kultivierung Ihrer Einmaligkeit, keineswegs aus traditionellen Werten wie bürgerliche Freiheit, Gleichheit oder soziale Demokratie hervorgeht (deshalb muß es sich ja jetzt gegen so viele Institutionen zur Wehr setzen, die nur geschaffen wurden, um diese vertrauten Ideale zu fördern), sondern einer anderen, weit geheimnisvolleren Quelle entspringt, die (wie ich im nächsten Kapitel darlegen möchte) bis in die biologischen Fundamente des Lebens hinabreicht?

Wann fängt das an, daß Sie zu diesem seltsamen, subversiven Ding namens 'Person' werden? Wenn Sie sich zum erstenmal unter der Last all dessen ächzen hören, was Sie zu einem gesichtslosen und austauschbaren Stück des sozialen Systems machen will. Wenn zum erstenmal eine unbezähmbare Wut gegen all jene in Ihnen aufsteigt, die sie als fühlloses Rohmaterial für ihre eigenen Absichten benutzen wollen — die Sie biegen und brechen und für Zwecke opfern, die für wichtiger gehalten werden als Ihre Erfüllung. 

Wenn Sie sich das erstemal selbst als Nummer begegnen und zusammenzucken, wenn Sie Ihr Leben in zusammen­hanglose Brocken zerstückelt auf einem Computerausdruck wiederfinden und sehen, daß Ihre Bedürfnisse, Überzeugungen und Wertvorstellungen im Dienste weit entfernter und teilnahmsloser Institutionen zu einem toten statistischen Sud eingedampft werden. Wenn Sie zum erstenmal die Regung spüren, von allen, die im Namen des Staates handeln — die Firma, die Leute, das Gesetz, die Bewegung —, zu verlangen, daß sie Ihnen ins Gesicht schauen und anerkennen, daß Sie hier sind, daß Sie wirklich sind und daß Sie zählen.

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In solchen Augenblicken spontaner Wut haben Sie sich vielleicht als jemanden kennengelernt, der wie ein Ertrinkender die Arme nach etwas ausstreckt, das ihn über Wasser hält. Wonach suchten Sie da? Nach einem Beweis für diese an nichts meßbare Einmaligkeit, die Sie spüren, irgend etwas, das Sie wirklicher macht als dieses statistische Phantom, mit dem die Massen­verarbeitungs­maschinerie unserer Gesellschaft Sie beharrlich verwechselt. Und das war vielleicht der Punkt, an dem Ihre Verzweiflung wirklich ernst wurde: Wenn Ihnen unter dem Druck von Beleidigungen und Mißhandlungen angstvoll bewußt wurde, wie wenig von dieser Einmaligkeit Sie haben retten können, wieviel Leben in Ihnen ungelebt bleibt — die brachliegenden Kräfte und Begabungen, die nicht erlebten Abenteuer des Bewußtseins. Und doch, mit instinktiver Überzeugung wissen Sie, daß es hinter allen aufgezwungenen Identitäten ein innerstes Ich gibt, ein Ich, das eine eigene Sinngebung braucht, ein persönliches Emblem, das Leid und Tod entgegengehalten werden kann.

Der Tod ... ein Thema, dem wir auf diesen Seiten mehr als einmal begegnen werden. Der Tod dringt am weitesten zum Kern der personalistischen Erfahrung vor; seine schattenhafte Gegenwart gibt unserem Bedürfnis nach authentischer; Identität absoluten Vorrang. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, wieviel Aufmerksamkeit — literarisch, medizinisch, psychotherapeutisch, philosophisch — der Tod und das Sterben in den letzten Jahren erregt haben*, eine ganz und gar nicht morbide oder schwarzmalende, sondern intelligente und wißbegierige Aufmerksamkeit. 

In unseren Kliniken wird sie manchmal 'Thanatologie' genannt, aber hier geht es nicht nur um eine weitere ärztliche Spezialisierung, sondern darum, etwas zu schaffen, was einmal 'die Kunst des Sterbens' genannt worden ist: den Tod aus der Verbannung zu holen und als ein Entwicklungsstadium des menschlichen Seins ins Leben aufzunehmen. Das ist einer der Hauptzüge dieses neuen Gefühls, Person zu sein — das mutige Ergründen dieses einmaligen Augenblicks äußerster Einsamkeit und Innerlichkeit, in dem unsere Identität ihre entscheidende Zuspitzung erfährt. Unser Streben nach Selbstentdeckung gewinnt dadurch eine tiefe spirituelle Bedeutung und erinnert uns daran, daß 'nach innen' eine religiöse Richtung ist.

Wenn das Ihre Erfahrung ist, dann haben Sie in das moralische und emotionale Gewebe Ihres Lebens aufgenommen, was von Soziologen vor zwanzig Jahren akademisch als 'Problem der Konformität', 'Problem der einsamen Masse' bezeichnet wurde. Sie haben bis ins Mark gespürt, was politische Theoretiker heute 'Legitimationskrise' oder 'Zerfall der öffentlichen Autorität' nennen.

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Sie haben sogar die Grenzen Ihrer eigenen Gesellschaft überschritten und sich gewünscht, Ihre Kräfte mit den Stimmen der Abweichler in sozialistischen Ländern zu vereinigen, die sich gegen Parteieliten und bürokratischen Zentralismus für einen Marxismus mit 'menschlichem Gesicht' aussprechen. Und dabei sind Sie einer der härtesten politischen Wahrheiten der modernen Welt begegnet: daß es in den revolutionären Massenbewegungen und Volksrepubliken ebensowenig Schutz für die Person gibt wie in den kapitalistischen Gesellschaften, die sie zu stürzen versuchen.

In der Alltagssprache drücken Sie ihre Sehnsucht, sich als Person zu verwirklichen, vielleicht so aus: „Ich will tun und lassen, was mir paßt." Und vielleicht sind Sie damit noch nicht weiter gelangt als bis zu dem Spruch Vorsicht, lebender Mensch! an Ihrem Arbeitsplatz oder Auto. Selbst wenn es nur solch eine Geste ist, sind Sie Teil einer historischen Kraft, die die institutionelle Stabilität der urban-industriellen Gesellschaft allmählich zerfrißt. Denn die Anerkennung, auf der Sie bestehen, ist mehr, als die Institutionen dieser Gesellschaft geben können, mehr, als ihre Ideale gutheißen. Sie haben Ihr Gesicht unter den gesichtslosen Millionen gesehen, deren Leben in deprimierende Massen- und Klassenidentitäten gepreßt wird, und zwar ebenso von den Revolutionen, die ihnen Befreiung versprachen, wie von den klassen­besessenen Gesellschaften, die die Würde der Person nach wie vor mit Füßen treten. Und Sie wissen, wie dringend wir eine neue Politik brauchen, die für diese Millionen spricht — für jeden einzelnen.

Den Gesichtslosen ein Gesicht, den Stimmlosen eine Stimme — und jeder Person das eine Gesicht und die eine Stimme, die ihr allein gehören ...das ist die Verwirklichung der Person. Aber eine solche Politik muß erst noch erfunden werden.

 

 

  Auf dem Weg zu einer Kultur der Person   

 

Einige Zeichen der Zeit. Ich wähle drei aus: das situative Netzwerk, das unsere Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit verändert; die neuen Therapien, die unsere Normen für geistige Gesundheit verändern; und die neuen helfenden Berufe, die wesentlich dazu beitragen, das Bedürfnis nach persönlicher Anerkennung zu verbreiten; drei Wege, die Rechte der Person durchzusetzen — oft ohne das geringste Bewußtsein davon, wie radikal das historische Drehbuch unserer Zeit dadurch umgeschrieben wird.

 

1.  Das situative Netzwerk

In der abweichenden Randzone der amerikanischen Gesellschaft war in den letzten zehn Jahren oft — und immer vage, immer sehnsüchtig — von 'der Bewegung' die Rede. In Wahrheit hat es aber keine Bewegung gegeben. Immer mal wieder Agitation, kurze und manchmal heroische Kampagnen und leidenschaftliche Äußerung des Protests, die es fertigbrachten, eine Präsidial­verwaltung zu stürzen und einen Krieg zu been den; doch bei allen vielversprechenden Siegen hat es der Dissens zu keiner dauerhaften Vereinigung der Kräfte gebracht, zu keiner beständigen organisierten Stoßkraft, die wachsen kann und entschlossen den Weg zur Macht beschreitet.

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Statt dessen zerfällt die radikale Energie der Zeit in einen feinen, verwehenden Staub der Abkehr. Organisationen lösen sich wieder auf nach einigen, manchmal sehr erfolgreichen Bemühungen. Die Führer, so stellt sich heraus, sind eher Machwerke der Medien als wirkliche Träger der Macht; immer wieder verschwinden sie nach ein paar spektakulären Augenblicken im Rampenlicht, und zurück bleiben die Medien mit ihrer Frage: "Was ist denn aus ... geworden?" Seit über einem Jahrzehnt haben die Presse und die öffentlichen Figuren schon wenige Monate nach jeder größeren Demonstration oder Mobilisierung Gelegenheit, ihre ermüdenden Nachrufe auf den Dissens wieder einmal abzuspulen. Und das sehen, beklagen oder verspotten alle an der revolutionären Präsentation unserer Tage: viele Strohfeuer und die gescheiterten Entwürfe eines Radikalismus, der das Politische nie ganz ernst genommen zu haben scheint.

Gewiß, die Zellteilung innerhalb der Alternativbewegung ist kaum interessanter als der alte Fraktionskampf, wie er sich mit all seinen Tricks im militanten linken Flügel abspielt. Aber ideologische Haarspaltereien haben nie im Mittelpunkt unserer Politik gestanden. Außer den Terroristen hat niemand viel Geschmack an doktrinären Abstraktionen gefunden. Die Dünung des sozialen Dissens ist von einem anderen Felsen viel wirksamer gebrochen worden, nämlich von dem hartnäckigen Bestehen auf Anerkennung und Unantastbarkeit der Person, das sich nie für längere Zeit irgendeiner kollektiven Identität unterordnen kann.

Das haben viele (insbesondere die Medien, die nie unter die Oberfläche schauen) nicht erkannt. Die kritische Energie dieser Generation wird von einem neuen, bis jetzt noch präpolitischen (oder vielleicht sollte ich sagen: transpolitischen) Phänomen absorbiert: von der menschlichen Persönlichkeit mit all ihren Rätseln und ihrer Sperrigkeit. Immer wieder setzt diese noch nie dagewesene Achtung für die Autonomie der Person ihre Priorität gegenüber dem disziplinierten Aufbau politischer Macht durch. Das ist das versteckte Thema, die latente 'Bewegung', auf der alle anderen beruhen. Sie hat aus jeder Kampagne für gesellschaftliche Veränderungen ein Chaos gemacht, aber nur weil sie sich so grimmig dagegen wehrt, den Menschen die überkommenen Massen- und Klassenidentitäten aufzuzwingen — als wären organisatorische Zwänge ein ebenso großes Übel wie jene sozialen Ungerechtigkeiten, gegen die wir kämpfen.

Wir haben es also mit einem Dissens zu tun, der fest entschlossen ist, die Menschen als einzelne zu betrachten. Nennen wir das eine situative Sicht der Gesellschaft, eine grundsätzliche Bemühung, jedem Menschen als einzigartiger Person gerecht zu werden — mit einer biographischen Akribie, die eher an Kunst als an Politik erinnert.

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In den letzten zehn Jahren war das Grundmaterial, aus dem man eine große, geschlossene politische Bewegung hätte bauen können, reichlich vorhanden — genügend Menschen, Mißstände, Intelligenz und krisenschwangere Momente, sogar ein paar einigermaßen vielversprechende Führer. Aber offensichtlich haben nicht genügend Menschen diesen Weg gehen wollen, um ihre Abkehr zu bekunden. Eher haben sie alles Große gefürchtet und sich aktiv davon ferngehalten; sie haben einer allzu umfassenden Organisation, sie haben der Macht mißtraut. Und schließlich haben sie sich dafür entschieden, kleine Gruppen Gleichgesinnter zu bilden oder sich ausschließlich lokalen Belangen und Ad-hoc-Projekten zu widmen. Oder sie sind (immer wieder oder ein für allemal) ausgestiegen, um ihren eigenen Weg zu erkunden — ein Zwischenspiel bei den 'neuen Religionen' ein Experiment mit einem Handwerksberuf, ein Streifzug durch die neuen Therapien für persönliches Wachstum.

Anstelle einer Bewegung sehen wir also ein Mosaik wechselnder Themen, Anliegen, Episoden und Gruppen. Und welches Bild formt dieses Mosaik? Eine Landschaft der individuellen und universellen Befreiung, und dahinter der Ausblick auf eine Welt, in der die Menschen die Besonderheit und Autonomie ihrer Rasse, ihrer Altersgruppe, ihres Geschlechts, ihrer sozialen Abweichung und ihres Lebensstils ungehindert leben dürfen. Es ist die Vision eines utopischen Gartens, in dem unsere Spezies blühen kann wie Milliarden von Blumen, und keine zwei gleich. In weniger als einer Generation ist jede vorstellbare Form situationsbedingter Zugehörigkeit aus der Privatsphäre herausgetreten und hat sich für ihr Existenzrecht und ihre Klagen einen Platz im öffentlichen Bewußtsein ertrotzt. Plötzlich entdecken wir, wie oft einer von uns des anderen Opfer oder Unterdrücker ist, wie viele von uns eine Identität oder eine Sehnsucht geheimgehalten haben, die unsere Umwelt nicht billigt.

 

Was bringt die Menschen in Amerika heute zusammen, um an ihrer Befreiung zu arbeiten?  Nicht ihre Zugehörigkeit zur Masse oder Klasse oder Partei, zu einer geschlossenen Front oder Bewegung — sondern ihre Identität als Schwarze, Latinos, Indianer, Frauen, Kinder, Studenten, alte Leute, Drogensüchtige, Vorbestrafte, Homosexuelle, Transsexuelle, Psychiatriepatienten ...die Vielfalt ist grenzenlos. Bei näherer Betrachtung sind selbst die vertrauteren 'Bewegungen' innerhalb der Szene nicht die wohldefinierten Einheiten, für die die Medien sie halten. 

In den USA hat die Frauenbewegung (Women's Lib) ihr wichtigstes Sprachrohr in der National Organization for Women gefunden, aber das ist alles in allem eine sehr weiße, sehr vom Mittelstands­bewußtsein geprägte Unternehmung. Die lebendige tägliche Wirklichkeit des Feminismus verteilt sich auf ein Vielzahl von örtlichen und säuberlich gegeneinander abgegrenzten Gruppierungen: Dritte-Welt-Frauen, geschiedene und verwitwete Frauen, Vergewaltigungs­opfer, geschlagene Frauen, Gray-Panther Frauen, frigide Frauen, Landfrauen, Dirnen, Sportlerinnen, Lesbierinnen, bisexuelle Frauen,

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lesbische Mütter, ledige Mütter, verstoßene Hausfrauen, Frauen in Künsten und Wissenschaften, inhaftierte oder gerade entlassene Frauen ...  In New York City gibt es sogar eine militante 'Jewish Lesbian Gang'. Diese Gruppen mögen klein sein, aber ihre innere Loyalität kann die Mitglieder völlig mit Beschlag belegen. Das Geheimnis dieser Bindung liegt in der Besonderheit der Gruppenidentität, in ihrer engen Beziehung zum Leben jedes einzelnen Mitglieds.

 

Das situative Spektrum fächert sich zu einigen in der Tat äußerst subtilen Schattierungen auf: Dicke, Häßliche, homosexuelle Indianer, Behinderte bilden wieder eine Welt besonderer Anliegen und Probleme, impotente Männer, Männer in den Wechseljahren, ledige Väter, Ehefrauen homosexueller Männer; die Vereinigung anonymer Eltern, die sich seit Mitte der siebziger Jahre in Windeseile über die ganze USA verbreitet hat — eine Organisation von Familien, in denen die Kinder ständig geprügelt werden; die Non-Parents-Organization, in der sich Ehepaare zusammenfinden, die sich dem Klischee der Kinder­produktion widersetzen; therapeutische Gruppen für Menschen, die mit seltsamen, das Leben untergrabenden Ängsten behaftet sind: Höhenangst, Platzangst, Angst vorm Fliegen, vor Schmutz und Keimen; eine nationale Organisation ehemaliger Krebskranker, die alle sie diskriminierenden Barrieren niederreißen will.

Todkranke haben sich organisiert und fordern ihre Rechte und ihre Würde von Ärzten, Kliniken und Familien. In London gibt es Gaycare, eine Organisation für ältere und behinderte Homosexuelle, und Gemma, eine Gruppe für behinderte Lesbierinnen. Ich bin sogar auf eine Aqarian Anti-Defamation League gestoßen, die versucht, neue Heiden, Hexen und Zauberer unter uns vor religiöser Diskriminierung zu schützen. Erscheint Ihnen das unerheblich, kaum ernst zu nehmen? Aber genau deshalb existiert die Gruppe und muß sie existieren. Denn sie befaßt sich mit Lebensumständen, für deren Ungerechtigkeiten und Nöte Sie weder Verständnis noch Zeit haben, die auf Ihrer politischen Tagesordnung keinen Platz finden, vielleicht ein Hilfeschrei, den Sie nicht einmal hören, so wenig wie die Weißen die Zwangslage der Schwarzen ernst genommen haben oder die Männer die Beschwörungen der Frauen. Wie leicht glaubt doch jeder, daß nur der eigene Schmerz zählt.

Zweifellos kann keine ideologische Formel solch eine Vielfalt oft tragischer menschlicher Erfahrung erfassen. Deshalb haben sich der Katalog und der Alternativführer als das charakteristische politische Genre unserer Zeit herausgebildet. Was das Manifest und die Parteiplattform für den Klassenkampf von gestern waren, ist der Katalog für die situativen Gruppen von heute.

Man öffne nur eines der People's-Yellow-Pages-Verzeichnisse, wie sie jetzt in amerikanischen Großstädten erscheinen, und was findet man? Die Seiten sind ein typographisches Mosaik des Ausscherens, ein Abbild des sozialen Aufruhrs, zusammengesetzt aus tausenderlei Ratschlägen, Verweisen, Erfahrungs­berichten, Einzelheiten über Gruppen, Bücher und Zeitschriften. Wie sonst soll man all das unter einen Hut bringen, ohne die Unabhängigkeit und Authentie jedes einzelnen Protests aufzuheben?

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In der Vergangenheit gab sich die radikale Politik mit der einen, barbarisch undifferenzierten sozialen Kategorie <Klasse> zufrieden; das einzige Bewußtsein, das die alten Ideologien schärfen wollten, war das Klassenbewußtsein, das Interesse der unterschiedslosen Vielen gegenüber den Privilegien der Wenigen. Heute erkennen wir, daß das wahrhaftig eine primitive Soziologie war und zudem eine potentielle Basis für eine neue Generation des Unrechts jenseits der Revolution. Eine erfolgreiche Arbeiterbewegung stellt sich plötzlich als Bewegung weißer, männlicher Arbeiter heraus; Black Power ist am Ende nur die Macht schwarzer Männer. Der Sieg der sogenannten Arbeiterklasse könnte die Leiden der Frauen, der Kinder, der sexuell Abweichenden, der Straftäter und der Süchtigen unberührt lassen. Und wie grausam unbeteiligt an diesem Leiden können revolutionäre Führungseliten und Parteibürokraten sein, wenn ihre kleinste Einheit für menschliche Identität 'das Proletariat' heißt.

Der Dissens unserer Zeit hat das Mikroskop einer neuen Sensibilität — einer personalistischen Sensibilität — auf die alte Klassenkategorie gerichtet und in ihr eine Feinstruktur von erstaunlicher Mannigfaltigkeit entdeckt. Er spürt die heimlichen Wunden auf, von denen nur Mit-Leidende etwas wissen. Er widmet sich teilnehmend der sozial verfolgten Abweichung, die oft bindender Lebensstil ist für jene, die ihren Stempel tragen. Er horcht auf die geflüsterten Klagen, die in der politischen Arena noch nie eine Stimme bekommen haben. Und endlich setzt eine personalistische Politik das 'Netzwerk' an die Stelle der 'Klasse' — ein locker strukturiertes Bewußtsein von Mißständen und Anliegen, das die autonomen situativen Gruppen verbindet.

Ist das Netzwerk ein erfolgversprechendes politisches Instrument? Wenn man mit 'erfolgversprechend' meint, ob es bald die Macht an sich reißen und die Gesellschaft reorganisieren kann, lautet die Antwort nein. Sicher nicht in absehbarer Zukunft. Man könnte eher sagen, das Netzwerk beruhe gerade auf der Annahme, daß es falsch ist, sich diese Art von Macht zu verschaffen. Ich verstehe die Ungeduld all derer, deren organisierte Anstrengungen durch die situative Diffusion des Protests zunichte gemacht werden, und ich habe diese Ungeduld oft geteilt. So beklagt sich ein ärgerlicher Leser bei den Herausgebern eines Alternativ­führers:

Anstatt die Leute hinter der EINEN Sache des Sozialismus zu vereinigen, die für ALLE von Nutzen sein wird, lassen Sie uns in zig Richtungen, die sich widersprechen und miteinander konkurrieren, auseinanderschwirren. Sich für den Sozialismus zu organisieren, hat nichts mit Religion, Homosexualität oder Feminismus zu tun — die alle haben im Kapitalismus behaglich Platz.... Glauben Sie wirklich, daß arbeitende Männer auf so was wie ,feministischen Sozialismus' anbeißen?

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Der marxistische Historiker Russel Jacob drückt es noch härter aus:

Der Reduktion der Marxschen Entfremdungstheorie auf subjektive Befindlichkeiten durch liberale Soziologen entspricht die Reduktion der Unterdrückung auf eine Laune des Individuums in der Linken.... Was zählt, ist das Unmittelbare; befördert wird dabei ein ökonomistisch orientierter Feminismus, als würde die blinde Aufzählung dessen, was jeder Arbeiter tat oder dachte, dadurch sinnvoll, daß sie ebenso blind auf Frauen angewendet wird. Die Gesellschaftsanalyse verkümmert zur Gruppenloyalität. Die Eifersucht, mit der die Unterdrückung von Frauen, Kindern, Homosexuellen und anderen als privates, für andere unzugängliches Gebiet verteidigt wird, drückt ein Verlangen aus, den Markt der Unterdrückung aufzukaufen.*

Diese Einwände haben ihre Gültigkeit. Dennoch halte ich für sicher, daß das situative Netzwerk derzeit unser einziges Mittel ist, die Menschen in unserer Gesellschaft mit dem Ziel tiefgreifender Veränderung zusammenzubringen, und daß solche Veränderungen nur möglich sind, wenn sie bei diesem Netzwerk ansetzen und seiner Vielfalt gerecht werden.

Was zieht denn so viele Menschen zu diesem schwerfälligen und zerbrechlichen Stil des Dissens hin? Weshalb gibt es die situative Gruppe? Weshalb das Netzwerk?

Die Antwort lautet: Wer diesen Weg einschlägt, folgt damit nicht einfach einer politischen Notwendigkeit. Er nutzt die situative Gruppe als Vehikel der Selbstentdeckung. Das ist ihr besonderer Reiz. Sie verschafft ihren Mitgliedern die therapeutische Gemeinschaft mit anderen, in denen sie sich selbst wiedererkennen, unter denen sie völlig ungefährdet sie selbst sein können. Die situative Gruppe hat nicht nur den Zweck gegenseitiger Unterstützung und Verteidigung; sie bedeutet Bekenntnisfreiheit und Freiheit der offenen Selbstdarstellung. Sie ist eine kleine Welt von Freunden, in der jeder sein eigenes Lied singen darf, und genau das versuchen die Menschen verzweifelt zu finden. Hier und jetzt wollen sie anerkannt und bestätigt werden und nicht erst den verheißenen Erfolg der Bewegung oder das Verdikt der Geschichte abwarten. Also suchen wir die Gemeinschaft jener, die das Sperrgebiet unserer innersten Identität mit uns teilen. Und dort begegnen wir uns selbst als Person.

 

2. Die neuen Therapien *

 

Das situative Netzwerk hat ein öffentliches und ein privates Gesicht. Seine öffentliche Seite ist auf einen politischen Stil gerichtet, den wir partizipative Demokratie nennen. Das Selbstbewußtsein und die geistige Unabhängigkeit, die zum großen Teil der situativen Gemeinschaft entspringen, wecken den Wunsch nach einem Mitspracherecht in allen Dingen, die das eigene Leben berühren. Menschen, die von Scham und Schüchternheit niedergedrückt sind, werden vor der Welt nie für sich selbst einstehen.

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Können sie sich aber in der situativen Begegnung öffnen und mitteilen, so verlieren sie das Gefühl, verrückte Außenseiter zu sein; sie kommen in Kontakt mit ihrer vergrabenen Wut und lassen sich von ihren Ängsten nicht länger lähmen. Vor allem kämpfen sie sich durch die Mystifikationen hindurch, die andere auf sie gehäuft haben, und gewinnen so eine Kraft, die nur der haben kann, der sich selbst erkennt und er selbst ist.

Die private, nach innen gerichtete Seite des Netzwerks ist die therapeutische Sondierung. In Struktur und Dynamik überschneiden sich die 'Bewußtseins­erweiterung' und die 'rap sessions' [von am. rap = Diskussion, (Streit)-Gespräch], denen die Unterdrückten sich zuwenden, um sich selbst Ausdruck zu geben, mit den neuen Therapien für persönliches Wachstum. Ihre Methoden lehnen sich stark an Gruppenarbeit wie Encounter, Gestalt und Psychodrama an.

Man könnte sogar behaupten, das Synanon Garne (eine durchstrukturierte Form aggressiver Encounter-Therapie, die in den späten fünfziger Jahren entwickelt wurde, um Drogensüchtige zu rehabilitieren und ihnen neue soziale Kraft zu geben) repräsentiere eine situative Gruppierung, die den neuen Therapien mehr gegeben als von ihnen entlehnt hat. 

Die Wechselwirkung zwischen persönlicher Therapie und politischer Bewußtseins­erweiterung ist kaum noch zu verfolgen. In welche Kategorie ordnet man zum Beispiel die noch ziemlich neue Radikaltherapie* ein? Sie behandelt ihre Klienten ausschließlich als Mitglieder verfolgter Minderheiten, und zwar mit der rigorosen Absicht, sie für politische Aktion gegen das gesellschaftliche Interesse zu organisieren, das sie in den 'Wahnsinn' getrieben hat. Mit der Radikaltherapie sind das Öffentliche und das Private deckungs­gleich geworden.

 

Oder ein anderes Beispiel aus den frühen Tagen der Black Power Mitte der sechziger Jahre.

Während einer rap session schwarzer Studenten, die eine Demonstration planen, stößt man zufällig auf die Frage des Haareglättens. Manche Mitglieder der Gruppe haben ihr Haar geglättet, andere tragen es natürlich. Ein Streit entzündet sich, der schon nach wenigen Minuten schmerzhaft hitzig wird — eben weil er sich an Formen des persönlichen Lebensstils festmacht ... Formen, die einige angenommen haben und jetzt für persönlich halten. Bald dehnt sich der Streit auf sexuelle Vorlieben aus.

Denken die Schwarzen wirklich black is beautiful? Erleben sie sich wirklich so — ganz ehrlich? Ist die Liebe, die sie beteuern — der Männer für die Frauen, der Frauen für die Männer —, so real, wie sie gern glauben möchten? Ist ihr Begriff von Schönheit ihr eigener, oder hat da die weiße Werbung abgefärbt? Weshalb haben sich (zumindest in den Anfängen der Black Power) so viele schwarze Anführer mit weißen Frauen eingelassen? Ist Black Power schlicht die schwarze Version des männlichen Chauvinismus? Wird sie sich nur als eine weitere Enttäuschung für die schwarze Frau erweisen? Wieviele Normen der weißen Gesellschaft haben sich in ihren Köpfen, ihren sexuellen Reaktionen eingenistet?

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Selten ist politische Aktion in der Vergangenheit so tief in die abgeschirmten Ecken der Persönlichkeit eingedrungen, selten hat sie so viel riskante Selbstenthüllung verlangt. Zudringlich persönliche und hochexplosive Fragen wie diese sind kaum jemals als politischer Gegenstand behandelt worden. Jetzt erkennen wir, wie tiefgreifend sie die Solidarität der Gruppe, die Stoßkraft ihrer Sache beeinflussen können. Das ist die Einsicht, die aus den rap sessions gewachsen ist; sie tragen all das, was unsere Psychiatrie uns über den trügerischen Charakter der Motivation beigebracht hat, in die soziale Auseinandersetzung hinein. Schon das Wort 'schwarz', wie es die amerikanischen Schwarzen benutzen, macht die psychologische Raffinesse unserer Politik deutlich; es stellt die ganze häßliche, explosive Frage der Hautfarbe direkt ins Zentrum des Rassenproblems.

Dieses eine Wort enthält den ganzen emotionalen Sprengstoff, den ganzen schieren Wahnsinn des Rassenhasses. Es zwingt Schwarze wie Weiße, sich den psychotischen Untertönen zu stellen, die das Rassenvorurteil zu weit mehr als bewußter Klassenunterdrückung machen. Rassismus ist auch das; aber diese Klassenunterdrückung ist mit verdrehten Sexualfantasien durchsetzt, mit Ängsten, so finster wie das Grab und so scheußlich wie die Dämonen der Hölle. Irgendwo am Grund der uns zugeschriebenen Rassenidentität stoßen wir auf die symbolischen Umdeutungen des Schwarzen — das Schwarze als das Böse, als Tod und Chaos ... als das Primitive, Bestialische, das ungezähmt Erotische ... das Diabolische ... das Schwarze als Archetypus des eingekerkerten Unbewußten, der ganzen bedrohlichen Zone verbotener Erfahrung. Nichts davon wird sich zeigen und bereinigen lassen, solange wir so tun, als sei die Hautfarbe nichts weiter als eine Maske des Klassenkampfes.

Nur eine Politik mit therapeutischem Gespür könnte die irrationalen Ängste ausräumen, die die weiße Gesellschaft der schwarzen Haut eingebrannt hat. Solange die schwärende Todesfurcht und das Dämonische nicht ausgetrieben sind, kann keine schwarze Person eine Person sein und ihre Hautfarbe stolz und mutig in dem Bewußtsein tragen, daß ihr Schwarz nicht jenes Schwarz ist. Ebenso kann die weiße Gesellschaft ihre Personalität erst entdecken, wenn sie zugibt, wer der Nigger in ihrer eigenen psychischen Rumpelkammer wirklich ist. Kurz gesagt: Eine Politik, die dem Wahnsinn im innersten Verlies unseres Lebens nicht ausweicht, hat die Selbsterkenntnis zu ihrem Fundament gemacht.

Genau diese psychologische Sensibilität zieht sich durch alle Befreiungsstrategien unserer Zeit und zwingt Opfer wie Unterdrücker, sich mit den häßlichen Phantomen des Unbewußten auseinanderzusetzen. Ich sehe in diesen Bemühungen den Punkt, an dem das Politische und das Psychische sich schneiden und eine Gelegenheit zur Selbstanalyse schaffen.

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Politisch und in jeder anderen Hinsicht leben wir im Zeitalter der Therapie; die 'gewöhnlichen' Leute sind der verbalen Oberfläche und der Cover-Stories müde, die unser Leben verschleiern, und verlangen nach einer introspektiven Ehrlichkeit, wie sie nur die großen Seelen der Vergangenheit gekannt haben.

Aber diese therapeutischen Ansätze sind mehr als nur psychiatrisches Alltagsgeschäft. Wir erleben eine dramatische Veränderung der psychologischen Tonart, die uns über Freuds Minimalforderung der Katharsis und Purgation hinaushebt. Diejenigen der neuen Therapien, die die größte Gefolgschaft gefunden haben, insbesondere als Bestandteil einer Gruppenpraxis, gründen sich auf eine optimistische, vorwärts­gerichtete Psychologie des Wachstums. Sie arbeiten mit Konzepten wie Jungs Individuation' und Abraham Maslows 'Selbst-Aktualisierung'. Sie ermuntern zu offener Selbstdarstellung und zur Ausübung höherer kreativer Kräfte. Sie sind auch unbekümmert eklektisch, bereit, sich jedes Mittel, jede Technik nutzbar zu machen, die den Bedürfnissen der Person entsprechen könnte — als dürften wir damit rechnen, eines Tages für jede Person eine einzigartige therapeutische Mixtur zur Verfügung zu haben. 

Und vor allem betrachtet man die Menschen als 'Klienten' und nicht mehr als 'Patienten', um zu vermeiden, daß ihnen der Stempel 'negativ und abhängig' aufgedrückt wird. Stattdessen sind sie jetzt dazu aufgerufen, ihre Wachstumsmöglichkeiten zu nutzen, was für den normalen Gesundheitszustand gehalten wird. Mit Gruppenarbeit und Spiel, mit einem immer breiter werdenden Repertoire an heimischen und importierten Yogaformen arbeiten die neuen Therapien daran, Körper, Geist und Seele zu befreien. Sie verachten dabei weder exotische und uralte Lehren noch die moderne Wissenschaft und eröffnen uns dadurch einen reichen Bestand an ungenutzten Möglichkeiten. 

Und ganz allmählich spricht sich herum — durch Therapiezentren, Universitätsinstitute, Kirchen, soziale Gruppen, Berufsverbände, durch das expandierende Netzwerk der humanistischen Psychologie —, daß an jedem von uns sehr viel mehr ,dran' ist, als die derzeitige Normenmode zugeben mag. Maslow, der in der Selbstaktualisierung das angemessene Ziel der Therapie sah, stellte die Schlüsselfrage: Warum setzen wir unsere Norm für geistige Gesundheit so zaghaft niedrig an? Können wir uns kein besseres Leitbild als den pflichtschuldigen Verbraucher, den angepaßten Brötchenverdiener denken? Weshalb nicht der Heilige, der Weise, der Künstler? Weshalb nicht das Höchste und Beste unserer Spezies?

Hierin besteht, glaube ich, die Anziehungskraft der Psychotherapie für das heutige Bewußtsein. Sie vermittelt uns nicht nur Selbst-Erkenntnis; sondern indem sie Maslows Ideal folgt, bringt sie ein Selbst hervor, das beständig über unseren Erkenntnis­stand hinauswächst, und lenkt unsere Vorstellungskraft auf ein expandierendes Universum menschlicher Möglichkeiten. Wir sind nun mal ein wißbegieriges Tier, das seine wahren Dimensionen kennen möchte. Deswegen wird die Persönlichkeit selbst da ein Gravitationszentrum, ein höchstes Gut, das es zu verteidigen gilt, wo es um harte politische Themen wie Unterdrückung, Verfolgung und Ungerechtigkeit geht.

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3. Helfer und Berater *

 

Schließlich müssen wir uns auch noch der strategischen, wenn auch immer noch ambivalenten Rolle zuwenden, die die sogenannten Sozialdienste in den meisten Industrie­gesellschaften während der letzten fünfzehn Jahre in immer stärkerem Maß gespielt haben — das sind in den Vereinigten Staaten vor allem die Wohlfahrtsarbeiter, das psychiatrische Hilfspersonal, die Sozialarbeiter, die legal-aid-Berater*, und all die Berater, die man heute im bürokratischen Kreislauf aller großen Institutionen findet: Schulen, Kinder­tages­stätten, psychiatrische Kliniken, Gefängnisse, Fürsorgeheime für straffällig gewordene Kinder und verlassene Mütter, Obdachlosenasyle, Altersheime, Kriseninterventionszentren. Die überarbeiteten Angehörigen dieser Berufe bilden zusammen einen der wichtigsten Übermittlungswege, auf dem die Erkenntnisse des situativen Netzwerks und die Techniken der neuen Therapien ins Leben unserer schlimmsten 'Sozialfälle' gelangen.

Die Mitglieder der Sozialdienste sind im Endeffekt die Stoßdämpfer eines baufälligen urban-industriellen Systems. Und noch ein bißchen näher an der unerfreulichen Wirklichkeit dieses Zusammenhangs formuliert: sie sind die Müllabfuhr für den menschlichen Abfall unserer Gesellschaft, für die Ausgemusterten, die Abgelehnten, die Erledigten, die atemlos hinter den Ansprüchen unserer Wirtschaft zurückbleiben. Meist soll diese endlose Aufräumungsarbeit mit einem jämmerlichen und auch noch schrumpfenden Etat geleistet werden, denn hier zeigt es sich immer zuerst, wenn die steuerzahlende Öffentlichkeit mal wieder zu dem Schluß kommt, daß sie es sich nicht leisten kann, ihre Millionen von Misfits zu verhätscheln.

Denn darauf laufen die Sozialdienste, von einem unsentimental konservativen Standpunkt aus betrachtet, letzten Endes hinaus. Sie sind die schlimmsten Auswüchse von Herzblut-Liberalismus und fiskalischer Verantwortungs­losigkeit und tun nichts weiter, als das soziale Unvermögen der Leute zu belohnen. Tatsächlich sind aber die helfenden Berufe ein offenes Eingeständnis des schon fortgeschrittenen industriellen Zusammenbruchs, und gäbe es sie nicht, so stünden wir vor Aufruhr (wenn nicht Revolution) oder vor den astronomischen Kosten paramilitärischer Polizeistreitkräfte in allen Städten.

Von einem radikaleren Standpunkt könnte man argumentieren, daß die sozialen Dienste eine moralisch zweifel­hafte Funktion erfüllen. Denn wem 'helfen' sie letzten Endes — den herrschenden Mächten oder den Opfern? In gewisser Weise sind sie das Öl in unserer sozialen Maschinerie, die sich sonst festfressen würde; wäre das nicht vielleicht wünschenswert?

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Mit noch größerer Berechtigung läßt sich diese Kritik auf die ungeheure Zahl bereitwillig genehmigter selbständiger Beratungs­tätigkeiten anwenden, die alle 'Marktlücken' in den öffentlichen Sozialdiensten sofort überwuchern. In Amerika gibt es inzwischen eine ausgewachsene Subkultur privater und hochspezialisierter Beratungsdienste, die sich auch des kleinsten Problems oder Scheinproblems noch annehmen: Familie-Ehe-Scheidung, Krankheit-Tod-Sterben, Liebe und Sexualität, Karriere und Vermögen, Angst und die Krise der Lebensmitte, Probleme schöpferischer Freizeitgestaltung, körperliche Fitness, Reise und Unterhaltung. Vieles davon ist gewiß trivial oder Ausdruck übergroßer Wehleidigkeit, und die Berater können kaum Beweise für den sozialen Wert ihrer Dienste beibringen, der über vorübergehende Ablenkung und Symptomlinderung hinausgeht. Man kann sich leicht ein futuristisches Anti-Utopia á la Schöne neue Welt vorstellen, in der solche allgegenwärtigen Dienste die chronische Verzweiflung der Menschen immer gerade so weit verpflastern, daß keine gesellschaftlichen Spaltungen und psychischen Zusammen­brüche vorkommen.

Aber einige Angehörige der helfenden Berufe, vor allem die humanistisch gebildeten, die einigen Idealismus für ihre Arbeit aufbringen, haben sich eine andere Rolle geschaffen. Wenn solche Berater Tag für Tag den menschlichen Trümmern unserer Gesellschaft gegenüberstehen, entwickeln sie manchmal seltsame personalistische Instinkte und radikale Wertvorstellungen. Sie betrachten ihre Fälle nicht als Ziffern in einer unerfreulichen Sozialstatistik, sondern als einzigartige menschliche Wesen, die einen Anspruch auf liebevolle Behandlung haben, wenn schon nicht auf die Rechte, die das System ihnen verweigert.

Und dann werden sie leicht das einzige Gesicht, das einzige menschliche Gegenüber, bei dem die Gepeinigten und Notleidenden noch Anerkennung ihrer Person suchen können. Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, daß viele dieser Berater ihre Klienten tatsächlich 'verhätscheln', zumindest so weit, daß sie ihnen für ein paar Stunden in der Woche eine winzige Enklave schaffen, wo sie sich wieder als Menschen fühlen. Vielleicht bringen sie ihren Klienten irgendeine Form der Selbsthilfe innerhalb des situativen Netzwerks nahe oder verschaffen ihnen Zugang zu einer der neuen Therapien. Und letztlich mag es ihnen sogar gelingen, einigen dieser Opfer die Augen für ihre Rechte als Person zu öffnen — wenn das in vielen Fällen wohl auch zu Erwartungen führt, die in grausamen Enttäuschungen münden.

Ich selbst bin selten berufsmäßigen Beratern begegnet, die sich nicht wenigstens um eine personalistische Ethik bemüht haben, mit der sie sich ein klares Empfinden für die menschliche Wirklichkeit ihrer Klienten bewahren konnten. Die Gefühlsäußerung, der ich bei ihnen am häufigsten begegnet bin, ist zornige Entrüstung über die Existenz dieses demoralisierenden Mobs, dem sie Tag für Tag entgegentreten müssen, ohne jemals genug Zeit oder Geld zu haben.

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Und ich habe einige getroffen, die schließlich ,ausgebrannt' waren und von Enttäuschungen und Fehlschlägen zum Aufgeben gezwungen wurden. Sie brachten es einfach nicht mehr über sich, nur den sozialen Müll unauffällig verschwinden zu lassen. Sie verlassen ihren Beruf, aber ihre Erfahrung ist noch unter uns, und die Sehnsüchte, die sie vielleicht in ihren Klienten geweckt haben, sind es auch.

Natürlich gibt es an den Sozialdiensten viel zu kritisieren. Wie sollte es bei einer so großen, offiziellen, überlasteten Einrichtung anders sein? Sie werden kopflastig durch Jargon, Methodologie und bürokratischen Papierkram. Manchmal saugen sie Geldmittel auf, die man besser gleich den Opfern zukommen lassen würde. Es heißt auch, es gebe Berater, die jeden, mit dem sie zu tun haben, ,pathologisieren' und damit noch tiefer in die Abhängigkeit von staatlicher Hilfe und institutioneller Fürsorge treiben. Schon möglich. Aber solche Sünden entstehen doch nur daraus, daß es in der urban-industriellen Gesellschaft tatsächlich soviel Pathologisches gibt. Nach einer Weile fällt man wahrscheinlich automatisch in die Gewohnheit, Menschen als Opfer zu betrachten.

Die helfenden Berufe sind das Äußerste, was unsere Gesellschaft bisher unternommen hat, um dem Verlangen nach persönlicher Anerkennung eine offizielle und professionelle Struktur zu geben. Dieses Unternehmen wird sich, wie ich glaube, als hoffnungslos widersprüchlich erweisen. Was die Opfer unserer urban-industriellen Ökonomie brauchen, ist Mitgefühl und ein Maß an Gerechtigkeit, das einer sozialen Revolution gleichkommt. Mitgefühl läßt sich nicht in einen Beruf ummünzen; eine soziale Revolution wird kaum staatliche Anerkennung finden. Aber bis die Prinzipien und der Idealismus ausgetrieben oder unterworfen sind, können die Sozialdienste eine von vielen Kräften sein, die den Hunger nach Personalität stillen, wenn auch nur mit Krümeln.

 

Odyssee der Identität

Vor nicht mehr als zwei Generationen war das Ringen um persönliche Identität noch das Monopol einer kleinen Elite, eine psychologische Delikatesse, die der schöpferischen Minderheit vorbehalten war. Diesem Thema erwartete man nur in der hohen Philosophie und Literatur zu begegnen, wo Künstler und Intellektuelle vage auf eine authentische Persönlichkeit anspielten, die jenseits der festgeschriebenen sozialen Rollen lag. 

Ich denke zum Beispiel an einen literarischen Meilenstein aus dem frühen 20. Jahrhundert wie André Gides Der Immoralist. Was machte Gides Immoralisten so 'unmoralisch'? Es war sein Überdruß an der Wohlan­ständigkeit zugewiesener Identitäten, ein Unbehagen, das im Verlauf der Erzählung nicht einmal zu einem klaren Akt der Rebellion heranreift. Nur das Sentiment des Widerstands ist da, ein bloß selbstquälerischer Traum von größeren Möglichkeiten, über dem der Held des Romans brütet, den er im übrigen aber in seinem Herzen verschließt.

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Der Anwalt der Selbsterfahrung (er spielt im Roman den Part des diabolischen Versuchers) äußert über den konventionell moralischen Menschen:

Sich selber strebt jeder Mensch am wenigsten zu gleichen. Jeder nimmt sich einen Schirmherrn und ahmt ihn dann nach; ja, er wählt sich den Schirmherrn, den er nachahmt, nicht einmal; er nimmt seinen schon gewählten Schirmherrn hin. Und doch gibt es, glaube ich, im Menschen noch andere Dinge zu lesen. Man wagt es nicht. Man wagt das Blatt nicht zu wenden. — Die Gesetze der Nachahmung; ich nenne sie Gesetze der Furcht. Man hat Angst davor, sich allein zu sehen; und man sieht sich überhaupt nicht ... Was man in sich anders fühlt, gerade das ist, was man an Seltenem besitzt, was jedem seinen Wert gibt — und das ist, was man sich zu unterdrücken müht. Man ahmt nach. Und man behauptet, das Leben zu lieben.*

Diese Worte waren 1901 (Nietzsche arbeitete an seinem letzten Werk, Der Wille zur Macht) ein Schlachtruf für die schöpferische Selbstdarstellung. Aber als Gides autobiographischer Held Michel es schließlich wagt, sich seinem wahren Selbst zu stellen, was für ein geheimes Verlangen entdeckt er da, das er so geflissentlich vor der Welt verborgen hat? Eine milde homosexuelle Neigung, ganz verstohlen am Ende des Buches eingeräumt.

Wie zahm wirkt das heute, wie federleicht als Sujet seriöser Literatur, wenn man sieht, wie Homosexuelle im Mittelpunkt von Fernsehsendungen stehen, die zur besten abendlichen Sendezeit ausgestrahlt werden, oder sich Vertreter der Schwulenbefreiung um öffentliche Ämter bemühen. Das Banner der schamlosen Selbstdarstellung weht jetzt auf den Straßen und hat dabei seine schöngeistige Subtilität natürlich eingebüßt. Denn alles, was historische Kraft gewinnen will, muß mit dem Preis zahlen, daß es laut und grobschlächtig wird — um dadurch vielleicht eine Deutlichkeit zu gewinnen, mit der sich angemessenere Normen finden lassen. Ein Charakter wie Michel, der im Grunde wenig zu verbergen oder zu enthüllen hat — jedenfalls nichts, was erst durch künstlerische Eloquenz legitimiert werden müßte, um öffentlichen Anklang zu finden —, hat letztlich doch etwas aufgebauscht Geziertes an sich.

Jetzt ist die Suche nach dem Selbst, das Verlangen nach Authentie schon etwas Alltägliches. Spätestens seitdem Jack Kerouacs Unterwegs erschienen und Hesse's Morgenlandfahrt ein Paperback-Bestseller geworden ist, gibt es in unserer Gesellschaft eine wachsende Armee von Abenteurern — junge, alte, mittelalte —, die buchstäblich oder symbolisch die Welt durchwandern, hier und da an exotischen Orten oder in Büchern, Filmen und Encountergruppen Identitäten anprobieren, ihr Zuhause, ihre Ehe, ihre Karriere und alle Verpflichtungen hinter sich zurücklassen, einen neuen Namen, neue Kleidungs- und Ernährungs­gewohnheiten, neue Überzeugungen und Lebensformen annehmen — und sich bei der leisesten Andeutung aufgefordert fühlen, ihre Identitäts-Odyssee allen zu rezitieren, die zuhören wollen.

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In den letzten Jahren haben sich aufgrund meiner Bücher erstaunlich viele Menschen an mich gewandt, die darauf brannten, mir die Geschichte ihrer Reise durch Drogen, Scheidung, Rockmusik, sozialen Protest, Psychiatrie, außerirdische Begegnungen und Nirvana zu erzählen.

Kaum ein Monat vergeht, ohne daß mich jemand über Post oder Telefon aufspürt und dann plötzlich dasteht — allzu oft mit einem dicken Manuskript, dem ich mich unbedingt sofort widmen muß. Und selbst wenn diese Berichte ihren Weg in die Druckerpresse finden — als Memoiren, Tagebücher und vorzeitige Autobiographien —, stößt man selten mal auf etwas, das unsterbliche Literatur werden könnte. Und was die Leute über ihre zerbrochenen Ehen, ihre Flucht aus elterlicher Tyrannei, ihre aufgegebenen Beziehungen, ihre Erfahrungen mit wechselnden Gurus, Therapeuten und Partnern zu sagen haben — sei es im intimen Gespräch oder einem Bekenntniserguß —, kann schmerzhaft ermüdend werden.

 

Selbst Rebellion, Wiedergeburt und Transformation können in einen regelrechten Trott geraten, so voller Jargon und Klischees wie die alte Konformität. Wenn man ein dutzendmal gehört hat, wie jemand sich nach langem Kampf zu einer Homosexualität bekannte oder irgendeiner häuslichen Falle entkam oder Gott in der Wildnis fand, verlieren solche Erfahrungen ihre Frische — wie man auch Berichte von immer neuen Bezwingungen des Everest oder der Erforschung der Mondoberfläche irgendwann nicht mehr hören kann. Im übrigen führt die Flucht aus den zugeschriebenen Identitäten nicht sehr oft zu einer weisen und würdevollen neuen Lebenshaltung; sie kann ein Ausbruch ins Chaos sein, ein Befreiungsschlag, der zu keiner Integration führt. In seiner eigenen Geschichte drückt Gide es so aus: "Die Fähigkeit, sich zu befreien, ist nichts; die Fähigkeit, frei zu sein das ist die Aufgabe."

Aber meine kritischen Bemerkungen gehen eigentlich ziemlich weit an der Sache vorbei, denn sie ändern nichts am persönlichen Wert oder der historischen Bedeutung solcher Erfahrungen. Unsere Bewertung dieser Selbstentdeckungs-Experimente hängt letztlich davon ab, wie wir die moralischen und spirituellen Bedürfnisse interpretieren, die ihnen zugrunde liegen. Wenn wir dieses Bedürfnis als im Grunde gesund und notwendig betrachten, als Anzeichen für den um sich greifenden Hunger nach jener Selbst­erkenntnis, die schon immer Vorbedingung für eine weise und menschliche Gesellschaft war, dann können wir diesen frühen personalistischen Gesten vielleicht ihre Unbeholfenheit und ihr endloses da capo verzeihen.

Schließlich haben wir es hier mit einer Erfahrung zu tun, die jede Person machen muß: eine Geschichte, die oft wiederholt werden muß, und natürlich auch von denen, die nur stammeln können. Die situativen Gruppen, die neuen Therapien und Religionen, die Beratungsprojekte repräsentieren schlecht und recht den sokratischen Geist der Philosophie in seiner auf die Straße und zu Markt getragenen Form — freilich ohne daß genügend Meister wie Sokrates da wären, um das Unternehmen der Selbsterkenntnis zu leiten, und überall lauern profitgierige Sophisten darauf, in die Lücken zu springen.

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Was aber vor allem dazu beiträgt, diese historische Bewegung zu einer bloßen Modeerscheinung zu machen, ist die niederschmetternde Intoleranz der Intellektuellen, die von ihren Mitmenschen nichts anderes akzeptieren als literarische Glanzstücke, und die kurzatmige Aufmerksamkeit der Journalisten, für die Selbstentdeckung (wie Black Power, Frauenbefreiung, Umweltschutz und ungezählte frühere Bewegungen) möglichst bald ein alter Hut werden muß. Journalistentinte, das dürfen wir nicht vergessen, besteht zu neun Zehnteln aus Leichenbalsam.

Ein historischer Vergleich bietet sich an. Das England des 17. Jahrhunderts erlebte eine erstaunliche Blüte chiliastischer Sekten. Enthusiastische Prediger gewannen großen Einfluß, besonders in den unteren Klassen: Shakers, Quakers, Diggers, Ranters, Pilgrims, Fifth Monarchists, Levellers.... Vom Standpunkt der privilegierten und gebildeten Schichten jener Zeit waren die Überzeugungen dieser Gruppen anstößig vulgär und offen ketzerisch. Ihr theologischer Inhalt wirkte wie ein Eintopf aus amateurhafter Bibelauslegung, wildwüchsiger Volksüberlieferung, persönlicher Offenbarung und schierer Hysterie.

Und in der Tat ist aus diesen Sekten wenig beständiges Gedankengut oder elegante Literatur hervorgegangen. Aber unter diesen Gott-trunkenen Gruppen von Handwerkern, Bauern, Arbeitern, Hausfrauen und eifernden Predigern regte sich ein streitbarer Geist der Unabhängigkeit und Gleichheit. Und in ihren Bibellesungen und merkwürdigen Ekstasen stießen sie auf eine historisch relevante Frage:

Als Adam ackerte und Eva spann,
Wer war da der Gentleman? 

Auf eine Art, die weder die Sektierer noch ihre Kritiker vorhersehen konnten, sollten ihre libertären Überzeugungen in das große Zeitalter der demokratischen Revolution einfließen, das ein Jahrhundert später folgte und den Idealen anspruchsvollere Formulierungen gab.

Ich vermute, daß das Ethos der Selbstentdeckung jetzt gerade ein ähnliches frühes Entwicklungsstadium durchläuft, daß es über viele holprige und gewundene Wege ins allgemeine Bewußtsein eindringt und dabei auch den guten Geschmack verletzt. Aber auf dieser sich überstürzenden Welle zu reiten, vertieft das Gefühl, Person zu sein, und das könnte durchaus die Strategie der nachindustriellen Revolution werden, der Krise, die uns jenseits des Niedergangs von Megalopolis und ihrer tödlichen Ökonomie erwartet.

 

"Ich bedeute etwas. Ich bin was Besonderes."

Die Ideale, die den Lauf der Geschichte ändern, sind seltene Verbindungen des Einfachen, Universellen und Grundsätzlichen. An der Oberfläche, auf der Ebene der Schlagworte und Symbole, müssen sie so unwiderstehlich offensichtlich sein, daß sie alle weltan­schaulichen Grenzen überspringen und selbst die schlichtesten Gemüter mit leidenschaftlicher Überzeugung erfüllen können.

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Selbstentdeckung ist allem Anschein nach ein derart ansteckendes Ideal. Darin ähnelt es dem Ideal der Gleichheit, das die demokratische Revolution über den ganzen Globus verbreitet hat. Wer gelernt hat zu sagen: „Ich bin Königen und Priestern ebenbürtig, mir stehen alle Rechte der Gemeinschaft zu", wird von der Würde, die sein Leben mit diesen Werten gewinnt, nie wieder loslassen. Man wird ihn vielleicht mit der Knute zum Schweigen bringen, aber er wird den einmal erhobenen Anspruch auf Gleichheit nicht mehr aufgeben, gleichgültig, welche gesellschaftlichen Umwälzungen daraus entstehen müssen. Er kann es nicht, denn das Ideal hat sein Bild von sich selbst grundsätzlich verändert. Mit dem Ideal ginge auch die Identität verloren.

Das gleiche gilt auch für die Erfahrung, Person zu sein. Wir empfinden sie als eine schon immer bekannte, lange verschüttete und erst jetzt wieder erinnerte Wahrheit. Werden Ruf der Selbstentdeckung gehört hat und an den Punkt gekommen ist, wo er sagt: „Ich bedeute etwas, ich bin was Besonderes, in mir wartet noch etwas darauf, entdeckt, benannt, befreit zu werden", wird diese Worte nie mehr zurücknehmen. Unter dem Druck dieser Erklärung der Einmaligkeit könnten die ehrwürdigsten Institutionen bis in die Fundamente erschüttert werden, könnten die löblichsten politischen Bewegungen einstürzen, wenn die Menschen ihnen den Rücken kehren, weil das Gefühl, Person zu sein, ihnen nicht mehr erlaubt, sich irgendeiner organisierten Masse unterzuordnen und mitzulaufen.

Gelehrte Kritiker und die verantwortliche Führungselite mögen den Kopf schütteln und das Bild des gesellschaftlichen Chaos in düsteren Farben malen, das unvermeidlich wäre, wollte man jedem das Recht auf freies Wachstum einräumen. Damit werden sie recht behalten. Aber ihre Warnung wird nicht viel wiegen gegenüber einer mächtigen, inspirierenden Wahrheit. Und diese Wahrheit wird ihren Widerstand überwinden, wenn sie erst einmal Fuß gefaßt hat. Und schließlich wird sie ihre Gegner vielleicht sogar überzeugen, wenn sie erkennen, daß auch sie Personen sind, etwas Einmaliges, Besonderes, voller schöpferischer Möglichkeiten.

Die Menschen werden an dem Abenteuer der Selbstentdeckung festhalten, auch angesichts zermürbender Selbstbefragung. Sie werden es tun, weil wir unwiderruflich eine sinnsuchende Spezies sind, Wesen, die eine sinnvolle Identität so dringend brauchen wie Luft und Nahrung. Wenn also unsere Erbidentität erst einmal erschüttert ist und eine lebendigere Erfahrung der Authentie sich uns aufdrängt, haben wir keine andere Wahl als zuzugreifen, uns festzuhalten und auf ihr zu reiten, wohin sie uns trägt — selbst wenn es ein noch nicht 'zugerittenes' Ideal ist. Viele Kräfte machen die Geschichte. Aber nichts macht mehr Geschichte als das, was allen Motivationen des Menschen ihre Triebkraft gibt — der Hunger nach Sinn.

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Um ihn zu stillen, werden die Menschen töten und sterben, bauen und einreißen. Sie werden sich sogar ihren eigenen Alpträumen ausliefern und die Schrecken der Wiedergeburt durchstehen.

Zugleich können einfache und ansteckende Ideale aber auch eine Tiefe haben, die ihnen erlaubt, zu reifen und komplexer zu werden, wie wir es beim Ideal der Gleichheit gesehen haben. Jede große moralische Kraft hat diese geheimnisvolle Fähigkeit, ein Eigenleben zu entwickeln. Die Geschichte trägt die scheinbare Schlichtheit der Oberfläche ab, und darunter kommen Fragen und Rätsel zum Vorschein, die späteren Generationen sehr viel mehr Kopfzerbrechen bereiten und an vertiefender Arbeit aufgeben, als man der ursprünglichen Aussage hätte ansehen können.

Das Ideal der Selbstentdeckung zeigt auch bereits Züge von solch einer verdeckten Vielschichtigkeit. Vor allem die östlichen Religionen fordern uns auf, das 'Selbst', das wir unter allen zugeschriebenen Identitäten zu entdecken hoffen, sehr kritisch unter die Lupe zu nehmen. Ist es vielleicht auch nur eine Verkleidung des Ego, eine Pose und eine Rolle, wie es das ganz offenkundig für so viele Boheme-Rebellen gewesen ist? Gibt es ein konstantes und kontinuierliches 'Ich' als Grundlage aller Rollen, die ich spiele? Oder bin 'Ich' nur eine besondere Konkretisierung solcher Rollenmuster — eine Maske unter einer Maske unter einer Maske? Ist das Selbst etwas, das wir finden wollen, oder wollen wir es durchschauen, um dahinter einen noch tieferen Grund des Seins zu entdecken?

 

Und da gibt es noch viele Fragen:

 

Auf den folgenden Seiten werden wir nur wenige dieser gewichtigen Fragen berühren — vor allem solche, die mit Autorität, Konvivialität und überragender Leistung zu tun haben. Ich führe all diese Fragen hier nur an, um auf tiefergehende Implikationen hinzuweisen, Fragen, die mich beschäftigen und belasten, Probleme, die dort diskutiert werden, wo die personalistische Strömung sich am deutlichsten zeigt. Die weisesten Vertreter dieser Strömung wissen wohl, daß wir eine fast entmutigende Fülle von Aufgaben vor uns haben und vor vielen philosophisch nicht lösbaren Fragen stehen werden — vor veritablen quaestiones, wie die Scholastiker sie genannt hätten. 

Tatsächlich haben wir ja noch nicht einmal ein brauchbares Vokabular für diese Themen. So habe ich in diesem einleitenden Kapitel schon viel von solchen Begriffen Gebrauch gemacht wie: 'Person', 'Selbst', 'Identität', 'Potential', 'Authentie', oder Metaphern wie 'Innerlichkeit', 'Tiefe', 'Wachstum' und 'Entdeckung' — als könnte ich erwarten, daß diese ungreifbaren Wörter für jeden, der sie liest, dasselbe bedeuten. Das tun sie natürlich nicht, denn sie werden heute so häufig benutzt, daß sie jede klare Gestalt verloren haben. Aber ein Schriftsteller braucht Wörter. Vielleicht kann meine Sprache wenigstens eine Richtung andeuten, eine Tiefe anklingen lassen. Die Person ist in erster Linie ein Selbst — du, ich —, und sehr wahrscheinlich ein sehr egoistisches, eingebildetes und genußsüchtiges Selbst.

Sollte in uns noch ein anderes, feineres Selbst verborgen sein — und natürlich ist es das —, so können wir es nur ans Licht bringen, indem wir uns durch den Stolz und die Begierden dieses niederen Selbst hindurch­graben.

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