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2  Die Rechte des Planeten  

Roszak-1978

Und was ist der Erde Auge, Zunge oder Herz anders, 
Wo anders als in dem lieben und störrischen Menschen?
Gerard Manley Hopkins*

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Und warum geschieht das gerade jetzt und unter uns – dieses eifrige Suchen nach persönlicher Identität? Weshalb wird das Bedürfnis, sich selbst zu entdecken, das immer nur ein paar ausgestoßenen Exzentrikern eigen war – Weisen und Heiligen, Propheten und Künstlern –, jetzt zu einer kulturellen Hauptströmung unserer Zeit?

Wir werden diese sonderbare Phase in unserer Geschichte kaum verstehen, wenn wir sie einfach als Fort­führung der liberalen und sozialen Demokratie, also der herrschenden Ideologie der industriellen Gesellschaft, begreifen. Wir mögen es mit Rechts­ansprüchen zu tun haben, aber die Rechte der Person heben uns auf eine qualitativ neue Ebene des freien Ausdrucks von Verschiedenartigkeit. Sie basieren nicht auf einer pragmatischen Tolerierung von Unterschieden, sondern auf einer höchst positiven Grundhaltung zur menschlichen Vielfalt. 

Im vierten Kapitel will ich diesen Punkt näher untersuchen und darlegen, daß die historische Entwicklung liberaler wie sozialistischer Wertvorstellungen gleichermaßen in eine Ablehnung der Selbstentdeckung mündet. Ich werde den Standpunkt vertreten, daß die klassischen politischen Ideale uns zwar in ganz verschiedene Richtungen gelenkt haben – aber auf der einen Seite zu einer Ethik des individualistischen Eigeninteresses, der alle persönliche Tiefe fehlt, und auf der andern zu einem militanten Klassen­bewußtsein, das die Persönlichkeit einfach wegpolitisiert. So wurden diese ideologischen Traditionen in ihren ökonomischen Formen des Kapitalismus und des Staatssozialismus zu den führenden Kräften der industriellen Vermassung und Klassen­konformität, gegen welche sich jetzt unser Gefühl, Person zu sein, seine Rechte erkämpfen muß. Wo also kommt unsere heutige Sehnsucht nach Personalität her?

Fügen wir noch ein Element in das Bild des sozialen Dissens ein, dann beantwortet sich die Frage vielleicht von selbst. Mit der Vertiefung unseres Persönlichkeits­empfindens geht ein wachsendes Gefühl ökologischer Verantwortung einher. Wir gewinnen ein immer schärferes Bewußtsein von der Unantastbarkeit der Person, und zugleich wächst die Sorge um den Bestand unserer planetaren Umwelt.

Das soll nun nicht heißen, das ökologische Gewissen habe bereits das allgemeine Bewußtsein ergriffen. Deutlich hat jedoch das Verant­wort­ungsgefühl für die Umwelt in der Form persönlicher Verpflichtung und öffentlicher Initiative als ein hohes Ideal bei uns Fuß gefaßt – ein Brennpunkt politischen Handelns, ein Kristallisationskern ethischer Entschloss­en­heit. Endlich beginnen wir zu erkennen, daß unsere natürliche Umwelt das ausgebeutete Proletariat und der unterdrückte Nigger unseres industriellen Systems ist. In weniger als einer Generation kommen nachdenkliche Menschen in aller Welt zu der Einsicht, daß auch die Natur ihre natürlichen Rechte haben muß: Die Rechte des Planeten auf seine lebenserhaltende Unversehrtheit, seine natürliche Würde, ökologische Konferenzen sind eine der tragfähigsten Grundlagen für Dialog und Kooperation auf internationaler Ebene geworden. Vielleicht nicht genug Dialog und Kooperation, aber sehr viel mehr als je zuvor in der Geschichte.

Die Schnelligkeit, mit der diese Gedanken auch in die breite Öffentlichkeit eingedrungen sind, ist nicht weniger dramatisch als die plötzliche Entfaltung des Persönlichkeitsbewußtseins. Noch vor zehn Jahren hatte kaum jemand das Wort 'Ökologie' je gehört – ebensowenig wie die Begriffe 'human potential' und 'Selbst-Aktualisierung'. Heute finden wir es schon ganz normal, daß in politischen Programmen Erklärungen zum Schutz der unberührten Natur, des Meeres und der Luft abgegeben werden. Etwa ebenso schnell, wie sich in unseren größeren Institutionen die persönliche Beratung durchgesetzt hat, breiten sich Umweltschutzgedanken in der wirtschaftlichen Planung aus – wenn auch die angewandten Techniken in beiden Fällen oft manipulativ sind und nur den Schein wahren sollen.

Ist es bloßer Zufall, daß die Abweichungstendenzen innerhalb der industriellen Gesellschaft sich an diesen beiden Fronten zugleich zeigen – Schutz der Person und des Planeten? Oder besteht zwischen ihnen eine Verbindung, die sie zu einer Bewegung macht?

 

Der gemeinsame Feind  

Ich glaube, es gibt eine Verbindung. Sie wird sichtbar, sobald wir erkennen, daß beide, Person und Planet, vom gleichen Feind bedroht werden: der Größe der Dinge. Die Größe der industriellen Strukturen, Welt­märkte, finanziellen Verflechtungen, politischen Massenorganisationen, öffentlichen Einrichtungen, militärischen Apparaten, Städten, Bürokratien. 

Der empfindungs­lose Gigantismus dieser Systeme gefährdet die Rechte der Person und des Planeten. Derselbe hypertrophierte Industrialismus, der die Menschen zu genormtem Rohmaterial für den Konsum- und Arbeits­markt einebnet, zerschlägt zugleich die Biosphäre auf unzählige Arten, die niemand vorher­gesehen hat.

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Und das geschieht nicht, weil rücksichtslose Profitinteressen am Werk sind (wie manche radikale Sozial­kritiker immer wieder behaupten); manchmal ist es so, doch viel häufiger ist die industrielle Welt­wirtschaft insgesamt der wahre Schuldige, indem sie unter privatem ebenso wie unter sozialistischem Vorzeichen ihren weltumspannenden Griff zu festigen sucht. Das ist die fundamentale Tatsache, die wir nicht aus dem Auge verlieren dürfen.  

Das Kräftespiel dieser Art von Ökonomie ist einfach zu stark, zu schnell, zu rücksichtslos für das ökologische System, das diese Wucht absorbieren muß. Es spielt für die Natur keine Rolle, ob die Ölpest, die Pflanzen­schutzmittel, die radioaktiven Abfälle und die Industriegifte, mit denen sie fertigwerden muß, sozialistischen oder kapitalistischen Ursprungs sind; der ökologische Schaden ist keinen Deut geringer, wenn er von einer 'guten Gesellschaft' angerichtet wird, die ihren Reichtum gerecht verteilt und ihren Bürgern die feinsten Wohlfahrtsprogramme bietet. Das Problem der Biosphäre besteht darin, daß alle urban-industriellen Ökonomien zu einem einzigen weltweiten System verklumpen, dem es um nichts anderes als maximale Produktivität und uneingeschränkte Herrschaft des Menschen über die Natur geht.

Denken wir nur an ein jüngstes Beispiel für diesen wildgewordenen industriellen Dynamismus, das ein breites öffentliches Interesse gefunden hat. Eine Reihe von amerikanischen, europäischen und japanischen Firmen entwickelte die Treibgas-Spraydose – eine kommerzielle Neuheit von relativ geringer ökonomischer Bedeutung für diese Gesellschaften. Seit fast zwei Jahrzehnten wird dieses Produkt nun fröhlich in Massen hergestellt, angepriesen und weltweit vertrieben. Es war schon in jedem Haushalt, bevor irgend jemand seine ökologischen Auswirkungen untersuchen konnte – oder auch nur daran dachte, solche Fragen zu stellen. Dann deuteten ein paar neugierige Forscher aufgrund eigener privater Untersuchungen an, daß die verwendeten Treibgase (Fluorkohlenwasserstoffe) eine Katastrophe heraufbeschwören könnten, indem sie die Ozonschicht der Atmosphäre zerstören. Darüber entspann sich ein Disput, gefolgt von einer öffentlichen Diskussion. Inzwischen steigen die schon freigesetzten Treibgase weiter himmelwärts, um die Biosphäre vielleicht weltweit und auf Dauer zu zersetzen.

Natürlich sind dabei Profitinteressen im Spiel – aber das Produkt selbst könnte in jedem System hergestellt und verkauft worden sein. Und wäre es in einem der planwirtschaftlichen, zentralisierten sozialistischen Systeme erfunden worden, dann hätte es vielleicht nicht genügend Meinungsvielfalt und Zugang zu den Medien gegeben, um die Gefahren überhaupt ins öffentliche Bewußtsein zu heben. Es ist ja bekannt, wie wenig Bedeutung und Einfluß die Kräfte des Umweltschutzes in sozialistischen Gesellschaften haben. Es gibt einfach keine Grünen Bewegungen oder Lobbies in den kollektivistischen Gesellschaften, wo man annimmt, daß nur das Übel des Kapitalismus der Umwelt des Menschen schaden kann. Aber im Fall der Fluor­kohlen­wasserstoffe haben wir es mit einem Problem zu tun, das nicht aus absichtlicher Bösartigkeit oder gierigem Opportunismus entstanden ist, sondern aus schlichter Unwissenheit.

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Ein potentiell schädliches Produkt gelangte auf den Markt, bevor irgendjemand seine Langzeitwirkung absehen oder gar messen konnte. Aber als die Bedrohung öffentlich ausgesprochen war – und sogar bevor das Risiko für jedermann eindeutig bewiesen war –, stellten viele Erzeuger die Produktion freiwillig ein oder warteten mit Ersatzstoffen auf, die jetzt selbstgefällig als umweltfreundlich angepriesen werden.

Aber – und da liegt die Crux der Sache – was ist, wenn dieser Kurswechsel nicht schnell genug kam? Wenn eine ungeheure und irreversible Schädigung der globalen Ökologie schon in Bewegung gesetzt ist? Und was, wenn das jetzt geschieht, mit ungezählten Chemikalien und giftigen Abfallstoffen, deren einzelne oder summierte oder gar potenzierte Auswirkungen wir nicht überwachen und vielleicht auch gar nicht überwachen können? Erst jetzt machen wir uns bewußt, daß die ökologischen Probleme mit einer Zeitverzögerung auftreten, bei Stoffen wie Vinylchlorid, Asbest, Nahrungsfarbstoffen und den vielen Chemikalien der Landwirtschaft vielleicht erst nach Generationen. Und bis dahin sind sie überall, durchtränken das Gewebe unseres täglichen Lebens, die Erde und das Wasser, Fleisch und Knochen. Vor ein paar Jahren tauchte die Befürchtung auf, die Chlorierung des Trinkwassers – in den entwickelten Gesellschaften fast überall verbreitet – könne auf lange Sicht krebserzeugend wirken. Wenn das so wäre, hat dann irgendwer eine Ahnung, wie die Welt das Steuer herumreißen und eine so allgegenwärtige Gefahr bannen soll?

In den letzten zehn Jahren haben besorgte Wissenschaftler eine Reihe von ernüchternden Vermutungen über die menschheits­bedrohenden Auswirkungen industrieller Substanzen und Praktiken auf die gesamte Biosphäre ausgesprochen – Bedrohungen, die in nichts hinter den Fluorkohlen­wasserstoffen zurückstehen. Im einzelnen wurde gesagt:

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All diese Schreckensvisionen sind in den letzten Jahren durch die Presse gegangen; nichts davon ist entkräftet worden; und die Praktiken, auf denen sie beruhen, bestehen weiterhin oder sind sogar ausgebaut worden. Ich zähle diese Dinge hier nur auf, um ihr bedenklichstes gemeinsames Merkmal hervorzuheben: Sie sind unwägbare und möglicherweise irreversible Gefahren, und sie entstehen aus der kollektiven Aktivität aller urban-industriellen Gesellschaften. 

Fügen wir ruhig noch ein weiteres und weit weniger spekulatives Risiko hinzu: das Risiko des totalen Atomkriegs, den wir als augenblicklichen und kompletten ökologischen Zusammenbruch betrachten können. Das militärische Abschreckungssystem der Weltmächte ist das größte aller großen Systeme, die die Welt bedrohen. Und der hochempfindliche Zündmechanismus der Kriegsmaschinerie macht es möglich, daß eine Fehlbeurteilung oder ein Akt politischen Wahnsinns die Vernichtung des irdischen Lebens herauf­beschwört.

Es sollte klar sein, daß ein System mit einem solchen Zerstörungspotential selbst dann ein Frankenstein-Monster wäre, wenn es von allen egoistischen Motiven gesäubert werden könnte. Seine schiere Größe und Gangart machen es dazu: ein Ungetüm, das weder behutsam mit der Umwelt umgehen kann, noch einen Blick für den einzigartigen Personencharakter seiner Schöpfer hat.

 

Das Problem der Größe 

 

Die Person und der Planet. Diese Verbindung – eine politische Verbindung – ist eine Entdeckung unserer Zeit; sie konnte erst sichtbar werden, als unsere ökonomischen Institutionen eine bestimmte Größe und Komplexität erreicht hatten, ein schwindel­erregendes Maß an Ehrgeiz und unpersönlicher Effizienz. Jetzt erst sehen wir, daß die Größe der Dinge ein selbständiges Problem unseres gesellschaftlichen Lebens sein kann, ein Faktor, der selbst die besten politischen Absichten untergräbt. Um dies zu lernen, brauchten wir erst die Erfahrung mit öffentlicher und privater Bürokratie, mit dem Massenmarkt, mit dem Industrialismus von Staaten und Korporationen. 

Wir haben gelernt, daß Menschen Systeme erschaffen können, die den Menschen nicht verstehen und seinen Bedürfnissen nicht dienen. Und genau zur gleichen Zeit sehen wir, wie leicht dieses industrielle System zu einem Reißwolf für das ökologische Gewebe wird, von dem alles Leben abhängt. Uns wird klar, daß es nicht genügt, ein würdiges oder gar edles soziales Ziel vor Augen zu haben; man muß das Ausmaß des Unternehmens kennen, das dieses Ziel erreichen will.

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Und das ist nicht einfach eine Frage der Quantität, es ist im Grunde eine Frage der Qualität, der Qualität des Lebens und der menschlichen Beziehungen, die sich aus unserem kollektiven Handeln ergeben. Was immer uns unnatürlichen Abhängigkeiten unterwirft oder unsere persönliche Würde herabmindert, ist zu groß. Und in dem Gefühl, daß etwas zu groß ist, haben wir das beste Warnsignal für die Gefährdung der Umwelt.

Manche glauben, die globale Umwelt könne immer noch durch ein weltweites Überwachungs-, Planungs- und Verwaltungssystem gerettet werden, das den Weltindustrialismus endlich stabilisiert. Ich denke hier zum Beispiel an Buckminster Fuller und seine 'Welt-Planer' oder an Alvin Toffler mit seinem Aufruf zu einem 'superindustriellen Futurismus', deren Pläne von Regierungen und multinationalen Konzernen ausgeführt werden sollen. Aber auch an andere wie etwa den Club of Rome*, unabhängige intellektuelle Wachhunde, die mit argwöhnischen Augen die industrielle Weltwirtschaft verfolgen und Richtlinien erarbeiten. 

Mir fällt es schwer, in solchen Projekten nicht die Tendenz zu einer Art wohlwollender Diktatur im Sinne von H.G. Wells' Wings Over the World zu sehen – ein technokratisches Nonplusultra, dessen Hauptaufgaben in einer permanenten weltweiten Umwelt­beobachtung und in der Buchführung über die Rohstoffreserven bestünden. Kurz gesagt, ein Super-System, um all die anderen Systeme zu überwachen, die sich als unfähig erwiesen haben.

Doch wir haben noch eine andere Möglichkeit, und das ist die Alternative, für die ich hier stimme: die Verbindung von Person und Planet als Hauptindikator für gesunde ökonomische und ökologische Politik zu benutzen. Wir setzen bei der Einsicht an, daß alle Systeme und Institutionen, die groß genug werden, um unser persönliches Wachstum zu behindern, auch den Planeten gefährden. Wenn wir also daran arbeiten, das Gefühl der Menschen für den Wert der Person zu vertiefen, ihren natürlichen Instinkt für spirituelles Wachstum zu fördern, ihr staatsbürgerliches Bedürfnis nach Einflußnahme auf die lebensbestimmenden Institutionen zu stärken, dann werden sie in sich selbst das empfindlichste Meßinstrument für ökologisch intelligentes Maß finden.

Vielleicht ist das sogar die subtile Interaktion, mit der die Erde sich gegen die Ausplünderung wehrt. Parallel mit dem industriellen System wächst auch – zumindest in einer bestimmten Richtung des gegenwärtigen Dissens in der westlichen Gesellschaft – unsere Hoffnung auf Freiheit und Erfüllung, während wir zugleich immer weniger bereit sind, etwas zu dulden, das uns die Verwirklichung unseres einzigartigen Seins verweigern will. Das wiederum hemmt die weitere Vergrößerung und Konsolidierung des Systems; es beginnt denn auch, brüchig zu werden, aber die Ursachen dafür sind im Grunde schöpferischer Art.

Könnte man nicht sagen, die Sehnsucht der Menschen, ihr persönliches Potential voll auszuschöpfen, wirke wie eine Art Rückkopplungsschleife, die das menschliche Maß der Dinge wiederherstellt? Indem wir unsere Personalität zu retten versuchen, verteidigen wir das menschliche Maß. Indem wir das menschliche Maß verteidigen, stürzen wir das Regime des Großen. Indem wir das Große stürzen, retten wir den Planeten.

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Mutter Gaia

Ich werde singen von Gaia, Mutter Erde,
fest gegründet, älteste der Gottheiten.
Homer

Das ist für die meisten von uns im modernen Westen zweifellos eine ungewöhnliche Betrachtungsweise unserer Beziehung zur Erde. Ich vermute aber, daß diese Idee wenig enthält, dem man nicht eine fundierte wissenschaftliche Interpretation geben könnte, wenn man es darauf anlegte. Auf dieser Ebene des Denkens gehört dazu nicht mehr, als die fundamentale ökologische Erkenntnis, daß alle Dinge m der Natur aufs engste miteinander verbunden sind, so weit auszudehnen, bis sie uns als moralische, geistige und körperliche Wesen mit einschließt. Wir verfolgen die Idee so weit wie möglich und stellen uns die Erde insgesamt, uns selbst und unsere Kultur eingeschlossen, als ein einziges, evolvierendes System des Lebens vor: der große Mutterorganismus aller Organismen.

Das scheint das Bild zu sein, das die Umweltforscher James Lovelock und Sidney Epton in ihrer Gaia-Hypothese* entwickelt haben; sie stellen »ich die Erde in ihrem globalen ökologischen Ansatz als solch ein einheitliches Wesen vor, das die materiellen Bedingungen auf dem Planeten aktiv so gestaltet, daß für die besten Überlebenschancen und die größtmögliche Vielfalt aller lebenden Dinge gesorgt ist. Sie drücken diese Idee so aus:

Evident war für uns, daß die Biosphäre der Erde in der Lage ist, zumindest die Temperatur der Erdoberfläche und die Zusammen­setzung der Atmosphäre zu regeln... Das führte uns zur Formulierung der Behauptung, daß lebendige Materie, die Luft, die Meere, die Landoberfläche Teile eines gigantischen Systems sind, das die Temperatur, die Zusammensetzung von Luft und Meerwasser, den Säuregehalt der Erde und so weiter so reguliert, daß optimale Bedingungen für das Überleben der Biosphäre gegeben sind. Das System schien das Verhalten eines einzigen Organismus oder gar eines Lebewesens zu zeigen. Wer über solch gewaltige Kräfte verfügt, verdient einen entsprechenden Namen; der Romancier William Golding schlug Gaia vor – den Namen, den die Alten Griechen ihrer Erdgöttin gaben.

Bei Lovelock und Epton ist Gaia natürlich nur eine reizende Metapher, die das Feld der ökologischen Forschung kennzeichnet; und aus dieser Metapher ergibt sich eine hochtechnische chemische und geologische Analyse. Sie geben zu, daß Gaia nur eine Hypothese ist, keine Erfahrungstatsache.

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Dennoch schwingt in diesem Bild etwas von einer alten und einstmals universalen Naturphilosophie mit, die die Erde ganz spontan als ein göttliches Lebewesen mit eigenen Stimmungen und Absichten erlebte – als die uranfängliche Mutter Erde, die von ihren Kindern Ehrerbietung erwartete, von denen sie in Erwiderung ihrer Gaben mit Ritualen, Gebeten und Opfern bedacht wurde. Merkwürdig, wenn die moderne Ökologie nach einer Möglichkeit sucht, sich den Planeten dynamisch und ganzheitlich vorzustellen, tastet sie sich zum klassischen Akt der Personifikation zurück. Mutter Erde. Mutter Natur. Die weiße Göttin. Die Königin der Herden und der Ernten, so alt wie die menschliche Kultur selbst. Und obwohl diese Ökologen die Sprache der Systemanalyse verwenden, schließen sie mit einem dringenden moralischen Appell, den die antike Gaia sicher gutgeheißen hätte:

Eines der Gesetze der Systemsteuerung besagt, daß ein System, das stabil bleiben soll, in seinen Reaktionen variabel sein muß ... Es ist zu befürchten, daß der Mensch als Bauer und Ingenieur die Reaktionsmöglichkeiten, die Gaia hat, beschneidet... Die natürliche Verbreitung von Pflanzen und Tieren wird verändert, ökologische Systeme werden zerstört und ganze Arten müssen sich wandeln oder werden ausgelöscht ... Lange bevor die Weltbevölkerung derart angewachsen ist, daß sie den gesamten Ausstoß der Sauerstoff-Photosynthese verbraucht, könnten Instabilitäten aufgrund von Mangel an Reaktionsvariabilität diesen Zustand bereits unerreichbar gemacht haben.

Sie schließen mit einem Aufruf, der das Gebet eines Schamanen sein könnte: „Wir sollten mit Gaia unter ihren eigenen Bedingungen Frieden machen und zur friedlichen Koexistenz mit unseren Mit-Lebewesen zurückkehren."

 

Die Rückkehr der Göttin

Die Frauen versammeln sich, um die Göttin anzuflehen.
Die Frauen versammeln sich in einem Kreis und sprechen
Ihren Namen.
Die Frauen rufen die Herrin aus der Dunkelheit und
geben Ihr eine Gestalt, die sie erkennen.
Die Frauen versammeln sich in einem Kreis.
Mit ihren Worten
geben sie der Herrin Gestalt.

(aus einem Frauenritual zur Sommersonnenwende)*

Die Gaia-Hypothese mag in biologischen Kreisen nie mehr gelten als ein ein nur am Rande nützliches Leitbild in der noch nicht ganz flügge gewordenen Wissenschaft der menschlichen Ökologie. Aber in anderen Bereichen der Gesellschaft, außerhalb der professionellen Wissenschaften, hat das Bild von der Erde als lebender Persönlichkeit starke existentielle Saiten angeschlagen.

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Da gibt es zum Beispiel die verschiedenen Kulte des Neopaganismus, die in Amerika seit der Mitte der sechziger Jahre als Teil der allgemeinen Wieder­belebung von Religion und Mystik aus dem Boden geschossen sind. Sensationsgierige Journalisten haben diese Gruppen meist mit Astrologie, Tarotkarten, Hellsehen usw. in einen Topf geworfen und das Ganze dann eine 'Explosion des Okkulten' genannt, die angeblich die schlimmsten Auswüchse des Irrationalismus in sich vereinigte. 

Und zugegebenermaßen hat es in dieser sehr gemischten und undurch­sichtigen Szene genug Anlaß für Sensationen und Verunglimpfungen gegeben. Aber es gibt auch jene, deren paganistische Neigungen aus einem ernsthaften Verlangen entstehen, die Naturverehrung der vorchristlichen Vergangenheit wiederzubeleben und den Bedürfnissen unserer Zeit anzupassen. Manche dieser ,neuen Heiden' sprechen davon, eine 'ökopsych­ische' Mission zu haben; sie möchten den lebendigen Dialog zwischen Person und Planet – innerster Kern aller Magie – wiederherstellen. Margot Adler, die zu den kompetentesten und kritischsten Kennern des Neopaganismus gehört, schreibt über dessen Anhänger:

Sie sind meist Polytheisten oder Animisten oder Pantheisten oder mehreres zugleich. Sie haben das gemeinsame Ziel, in Einklang und Harmonie mit der Natur zu leben, und sie betrachten den 'Fortschritt' des Menschen und seine Trennung von der Natur als die Hauptursache der Entfremdung. Für sie ist das Ritual ein Mittel zur Wiedervereinigung des Menschen mit der Natur und zur Aufhebung der Entfremdung... Die Geschichte der Wiederbelebung von Wicca [abgeleitet von altengl. wicce = neuengl. witch: Hexe] ist die Geschichte von Menschen, deren Suche sich in machtvollen archaischen Bildern der Natur, von Leben und Tod, von Schöpfung und Zerstörung bewegt. Moderne Wiccans benutzen diese Bilder, um ihre Beziehung zur Welt zu ändern. Die Suche nach diesen Bildern und ihren Gebrauch muß man als berechtigt ansehen, wenn die äußere Form dieser Wiederbelebung auch manchmal sehr unvollständig erscheinen mag und zudem noch in der Presse völlig falsch dargestellt wird.*

 

Was die Neopaganisten wiederbeleben, kann manchmal wie eine Collage aus Mythen und Ritualen aussehen, die mehr an Forschung als an religiöse Erfahrung erinnert und modernen Autoren wie Robert Graves vielleicht mehr verdankt als irgendeiner ursprünglichen Quelle. Doch im Mittelpunkt dieser Bewegung steht die wichtige Einsicht, daß unser ökologisches Elend nicht durch wirtschaftliche Reform und ästhetisches Feingefühl allein zu heilen ist. Es muß ein Gefühl der Achtung, wenn nicht gar Verehrung hinzukommen, wie es nur zwischen Personen bestehen kann. Eine moderne Hexe drückte es im Gespräch mit Margot Adler so aus: "Paganismus ist die Spiritualität der ökologischen Bewegung."

Erklärte Paganisten sind natürlich eine winzige Minderheit in unserer Gesellschaft, und man darf ihren kulturellen Einfluß nicht überschätzen. (Margot Adler schätzt, daß nicht mehr als fünf- bis zehntausend Menschen in den USA direkt an dem Kult beteiligt sind, und selbst diese Zahl schließt noch viele Wochenend-Hexen und Hobby-Druiden ein.)

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Wichtiger ist ihre Existenz als ein markantes Symptom für die allenthalben wachsende Unruhe angesichts der asketischen Objektivität der modernen Wissenschaft und der zwanghaften Produktivität des Wirtschaftslebens. Die Materialien und Interessen, anhand derer die Paganisten ihr Weltbild formuliert haben, finden ein Publikum, das weit über ihren kleinen Kreis hinausgeht. Der reißende Absatz, den Carlos Castanedas Bücher, Tolkiens Fantasiegeschichten von Kampf und Zauberei oder die Science-Fiction-Mystik eines Robert Heinlein (Ein Mann in einer fremden Welt) finden, weist auf einen Hunger nach Geheimnis und Verzauberung hin, den unsere Wissenschaft nicht mehr stillen kann. 

Das gilt sogar – wenn auch auf einer etwas morbiden Ebene – für satanische und okkulte Filme wie Der Exorzist. Gewiß, die Quellen, aus denen die populäre Kultur gespeist wird, liefern oft Surrogate, zurecht­frisiertes, verzerrtes und sentimentalisiertes Zeug, und manche kritischen Geister betrachten ihre hartnäckige Popularität als Zeichen der unausrottbaren Neigung des Menschen zum Aberglauben. Ich glaube jedoch, daß diese Faszination durch das Außergewöhnliche nicht nur von Dummheit und Perversion zeugt, sondern auch mit dem echten Erkennen der Welt zusammenhängt – oder zusammenhängen sollte; denn diese Faszination macht das Erkennen persönlich und gibt ihm die Kraft metaphysischer Gewißheit und moralischer Überzeugung. William C. Gray, ein moderner Kenner der westlichen Magie, hat völlig recht, wenn er meint:

Die Aufgabe der Magie besteht in unserer Zeit vor allem darin, in der steigenden Flut des Kollektivismus, der unser aller Seelen zu verschlingen droht, das geradezu verzweifelte Bedürfnis höherstrebender Menschen nach Sicherung ihres spirituellen Identitätsbewußtseins zu befriedigen. Wenn sich spirituelle Wesenheiten sinnvoll entwickeln sollen, müssen sie genau das werden, was das Ich, das sie im tiefsten Grunde sind, sein sollte ... Einige magische Systeme behaupten, diesen spirituellen Ich-Sinn mit Prozessen wie zum Beispiel psychodramatischen Ritualen und Streß-Techniken wecken zu können. Sei dem wie ihm wolle, das Gebiet der unverfälschten Magie des Westens bietet einen einzigartigen Spielraum für das Ringen der Seele um Individuation in der modernen Welt.*

 

Seinen konzentriertesten Ausdruck und vielleicht auch seine größte kulturelle Kraft hat das Gefühl, daß die Natur lebendige Persönlichkeit besitzt, bis jetzt in der Frauenbewegung gefunden; hier hat ein lebhaftes Interesse für .feministische Spiritualität' zur Wiederbelebung von Hexerei, Geomantie und ritueller Magie geführt.* Diese Bemühung, die antike Mutter-Erde-Mythologie mit ihren weiblichen Mysterien auferstehen zu lassen, vereinigt ideologische und religiöse Energien so, daß politische Prinzipien, psychische Bedürfnisse und historische Tatsachen gelegentlich unbekümmert durcheinander­geworf­en werden.

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Aber der Wunsch, der wissenschaftlichen Kompetenz weiblicher Paganisten auf den Zahn zu fühlen, ändert nichts daran, daß sie den bedeutungsvollen Versuch unternehmen, eine neue Beziehung zur Erde herzustellen (beziehungsweise eine sehr alte zurück­zugewinnen), die dem Planeten seine Personalität und seine geheiligten Rechte einräumt. Wir können das eine Übung in partizipativer Forschung nennen, eine Suche nach der Wahrheit, auf der alle anthropologischen Fakten beruhen.

Unsere verödete und heilige Mutter
Trägt unsere Seelen in ihrem kargen
Schoß. Und wir steigen auf wie Gezeiten, um
Unser verbanntes Selbst in ihr zu grüßen.

Das sind Zeilen aus einer Anrufung der Erde beim ersten großen Festival, das der weiblichen Spiritualität gewidmet war; es fand im Frühjahr 1976 in Boston statt. Hexen und Amazonen, Priesterinnen und Töchter des Monds versammelten sich ohne alle Scham, um die Alte Religion zu zelebrieren, die (mit dem Ausdruck von Mary Daly) "jenseits von Gottvater" liegt. Unter dem Begriff der 'gynergenetischen Erfahrung' kamen Frauen verschiedenster Herkunft, politischer Überzeugung und Altersstufen zusammen. Von außen betrachtet, vor allem für Männer mit akademischen Neigungen, muß diese Versammlung über alle Maßen bizarr gewirkt haben.

Alles war darauf angelegt, formlos und fließend zu bleiben; Hierarchien und Strukturen wie bei Männer­konferenzen wurden nicht geduldet. Alles war vom Geist aktiver Teilnahme und freier Imagination durchdrungen. In einer Weise, die Kunst und Forschung verschmolz, wurden gemeinsame Rituale ausgeführt, Feiern und Riten improvisiert. Zweifellos war dies der Grund, weshalb es von frischen Einsichten und Ideen nur so sprühte: ein schönes Beispiel für das schöpferische Potential des Zerfalls etablierter Formen. Und wer mit einer Spur Wohlwollen zuschaute, konnte sich kaum den Anklagen gegen die ,maskulinistische und patriarchalische' Kultur und ihre Verbrechen an der Person und dem Planeten entziehen. Barbara Starrett stellte den Fall in ihrer Eröffnungsansprache mit feinfühliger Präzision dar:

Die männliche Gesellschaft hat die Vergewaltigung zum prototypischen Ausdruck ihrer Muster gemacht. Herrschaft über den anderen durch Gewalt: über die Natur, das Land und seine Rohstoffe, 'unterlegene' Nationen und Gruppen, Frauen, Geld, Märkte und materielle Güter ... Opfer, das ist das wichtigste Wort. Es ist die beste Beschreibung die wir haben, um die Rolle der Frau (des Homosexuellen, der Umwelt und Natur, der Völker der Dritten Welt usw.) zu bezeichnen. Die Rolle, die sie spielen muß, um das Ausagieren des gegenwärtigen Dramas innerhalb des Todesmusters zu ermöglichen ...

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Sehen wir uns die männlichen Institutionen an. Es gibt keine Möglichkeit, innerhalb dieser Institutionen als Person zu handeln. Man ist entweder das Opfer oder der Unterdrücker (meistens beides) innerhalb eines vertikalen, sado-masochistischen Systems. Das System selbst absorbiert die Verantwortung und die Schuld ... Werturteile, moralische Verhaltensweisen, emotionale und persönliche Beziehungen werden innerhalb der unpersönlichen aber in sich schlüssigen Struktur der vertikalen Macht-Richtlinien des Systems zerstört.*

Aber das Festival hatte mehr zu bieten als nur Anklagen; es brachte vergrabene weibliche Werte zu neuer Geltung, die bei der Wahrung der Rechte des Planeten eine zentrale Rolle spielen werden. Seit Henry Adams Anfang unseres Jahrhunderts seinen berühmten Essay Der Dynamo und die Jungfrau* schrieb, haben viele sensible Geister uns geraten, die traditionellen weiblichen Tugenden – das Intuitive, das Mitfühlende, das organisch Nährende und Vertrauensvolle – als lebenserhaltende Ausgleichskraft gegen die technologischen Exzesse unserer Gesellschaft wieder in unser Leben aufzunehmen. 

Diese Idee ist eine der zentralen Einsichten der Psychologie C.G. Jungs und ist auf diesem Wege in die Kunst, Literatur und Philosophie unserer Zeit eingeflossen. Und in den neuen, unverblümten Feiern feministischer Spiritualität wird diese Einsicht jetzt zu einer Erfahrung, und Erfahrung wird zu einer Bewegung. Viele Frauen wollen mehr tun als nur über unterdrückte Weiblichkeit zu reden; sie wollen diese Weiblichkeit leben, sie wollen, daß sie einen unverwechselbaren öffentlichen Ausdruck findet und heilsame kulturelle Kraft gewinnt. 

Spielt es da noch eine Rolle, daß ihre rituellen Improvisationen und mythologischen Abwandlungen oft auf wackligen historischen Spekulationen beruhen? Das ist bestenfalls ein pedantischer Einwand, und hat man ihn als eine Art warnende Fußnote ausgesprochen, so erschöpft sich darin auch schon sein Nutzen. Diese Frauen sprechen die gegenwärtigen Bedürfnisse unserer Kultur an, und deshalb, so glaube ich, ist die Kraft, mit der sie sprechen, größer als ihre eigene. Mit der Kampfbereitschaft, die aus persönlicher Not entsteht, treten sie für Inhalte ein, die sonst nur irgendwelche plausiblen Ideen wären. So und nur so können Ideen Geschichte machen. Eine Teilnehmerin an dem Bostoner Festival schrieb:

... die Seele der Erde erhebt sich wieder, und nachdem sie Jahrhunderte des Schlafs fortgegähnt hat, schaut sie sich die Verwüstung an, die der Mann ihr zugefügt hat. Langsam, ganz langsam wird sie wach, und ihr Zorn wächst! Langsam, ganz langsam, während ihr Zorn wächst, besinnen ihre Töchter sich darauf, daß sie Göttinnen sind, Uranfängliche, und sie empfinden den Zorn wie Ein Wesen und entzünden die Feuer des Wandels. Und jetzt regen wir uns. Und jetzt brennen wir wieder.*

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Es gibt also Menschen unter uns, zumindest in der Frauenbewegung, die die ökologische Misere unserer Zeit als das erkennen, was sie ist: ein bodenloses geistiges Versagen. Sie wissen, daß wir uns nicht mit neuen ethnologischen Lösungen oder besserem Rohstoffmanagement retten werden. Nein, die Göttin muß in unserer Mitte wiedergeboren werden, und nicht als systemanalytische Hypothese, sondern als lebendiges Wesen. Wo die Bewegung für die Befreiung der Frau zu diesem Bewußtsein vordringt, ist sie nicht mehr bloß eine politische Bewegung unter anderen, sondern wird etwas viel Größeres und Stärkeres. In der Tiefe ihrer gepeinigten Persönlichkeit verbünden die Frauen – einige Frauen ihre Kräfte mit dem Leben des Planeten und werden zu seiner ureigenen Summe.

 

Frankensteins Braut

 

Die gegenwärtige Erforschung der feministischen Spiritualität erinnert mich an eine Szene aus Mary Shelleys Frankenstein, ein einziger, grauenhafter Augenblick, der die ökologische Katastrophe unserer Zeit vorhersagt und diagnostiziert. Ich fand es schon immer beeindruckend, eine so glasklare Einsicht in einem so mangelhaften Buch zu finden, besonders in diesem ersten, amateurhaften Versuch eines Teenagers. Das beweist vermutlich, daß große Mythen sich selbst schreiben und ihre menschlichen Instrumente dabei über ihre eigenen Kräfte hinauswachsen lassen.

Die Szene ereignet sich unmittelbar nachdem der Doktor, der moderne Prometheus, seine unnatürliche Schöpfung zum Leben erweckt hat und das scheußliche Ding aufwachen sieht. Entsetzt über seine Tat, stürzt er aus dem Labor und schließt sich in seinem Schlafzimmer ein.

Doch ward solch innerer Aufruhr nach und nach abgelöst durch die Müdigkeit, und ich warf mich aufs Bett, angekleidet wie ich war, um wenigstens ein paar Atemzüge lang Vergessen zu finden. Doch vergebens: zwar schlief ich tatsächlich ein, aber nur, um von den ärgsten Träumen heimgesucht zu werden. Ich bildete mir ein, Elisabeth zu sehen, wie sie in blühender Gesundheit durch die Gassen von Ingolstadt wandelte. Voll entzückter Überraschung schloß ich sie in die Arme. Da ich aber den ersten Kuß auf ihre Lippen drückte, ward sie totenbleich, mit ihren Zügen ging ein Wandel vor sich, und mir schien's, als hielte ich jetzt den toten Körper meiner Mutter in den Armen! Ein Leichentuch verhüllte die Gestalt, und in den Falten des Flanells wimmelte es von dem Gewürm der Verwesung! Zutiefst entsetzt schrak ich aus meinem Schlummer, der kalte Angstschweiß brach mir aus der Stirn, der ganze Körper zog sich mir zusammen und zähneklappernd blickte ich um mich: in dem schwachen, gelblichen Mondlichte, welches durch die Fensterläden in die Kammer quoll, stand jenes erbärmliche Monstrum vor mir – der fürchterliche Popanz, welchen ich erschaffen!

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Er hielt den Bettvorhang zur Seite und heftete seine Augen – sofern sie diesen Namen überhaupt verdienen – auf mich. Seine Kinnladen klappten auf, und aus der klaffenden Öffnung ertönten irgendwelche unartikulierten Laute, dieweil ein Grinsen ihm die Wange furchte.*

 

Bedeutungsvolle Träume, die hier im fiebrigen Hirn des großen Wissenschaftlers aufbrodeln. Elisabeth ist die Frau, die er heiraten wird. Aber er hat die Hochzeit abgesagt und sich von seiner Verlobten abgewendet, um seine unheiligen Experimente fortzusetzen. Anstelle des Kindes, das er durch ihre Liebe in die Welt hätte bringen können, möchte er sich lieber selbst künstliche Nachkommen erzeugen – einen monströsen Sohn, der nicht mehr als ein belebter Kadaver ist. Ebenso methodisch wie besessen hat er tage- und nächtelang in seinem düsteren Labor gearbeitet und vom Friedhof gestohlene Leichenteile zusammen­geflickt. Jetzt bereut er und streckt im Traum die Arme nach der Liebe aus, die er hätte haben können ... aber seine Braut verwandelt sich in seinen Armen in eine Leiche, und die Leiche wird seine tote, von Würmern wimmelnde Mutter. In diesem Augenblick erwacht er und sieht das Gesicht des Ungeheuers auf sich heruntergrinsen und die Bilder von Braut und Mutter auslöschen. Später, am Abend des Hochzeitstags, kehrt das Monster zurück, um Frankensteins Braut zu töten.

Wer ist die Mutter, die Frankenstein im Arm hält? Mutter Natur ... Mutter Erde ... getötet von seinem skrupellosen männlichen Machtanspruch. Er würde sie übertreffen, sie ihrer Geheimnisse berauben, er würde sie mit seinem wissenschaftlichen Scharfsinn überflüssig machen. Deshalb stirbt sie für ihn, stirbt sie in ihm. Alles Weibliche in seiner Natur wird durch seinen überheblichen Plan vernichtet, und er bleibt allein in einer Welt zurück, die von seiner seelenlosen Kreatur in Schrecken versetzt wird. Wir sind gewohnt, solchen Bildern – ob wir sie nun in Schauergeschichten oder alten Mythen finden – eine psychologische Deutung zu geben. Für uns sind sie bloße Symbole, Ideen, die ausschließlich in unseren Köpfen entstehen und deshalb nichts 'Reales' oder Objektives sind. Sie sind nur Ängste oder Gefühle, Bruchstücke unserer seelischen Einrichtung; wir können aus ihnen machen was wir wollen, sie verzerren oder ignorieren. Wir erfahren sie nicht als Worte, die an uns gerichtet sind; für uns sind sie keine 'Fakten'.

Und das ist das äußerste Extrem, das die männliche Vorherrschaft in unserer technologischen Gesellschaft erreicht hat. Von Zahlen, Dingen, Eigentum und physischer Kraft besessen, haben wir gelernt, unsere Gefühle und unsere intuitiven Kräfte zu leugnen. Wir spalten das 'Innere' vom 'Äußeren' ab und behaupten dann vom Subjektiven verächtlich, es sei reine Fantasie, ganz von uns selbst ersponnen.

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So machen wir uns selbst taub für die Stimme der Erde, wenden uns von der Wahrheit des Symbols ab, das doch die Stimme des Heiligen in uns ist. Wir hören nicht auf die Botschaft der Göttin, denn ihre Sprache hat ja für uns keinen Bezug zur objektiven Realität. Wir beharren also darauf, daß Mythen, Symbole, Visionen, Rituale – alle Lehren der Alten Religion –, 'nur' eine persönliche Bedeutung haben. Aber was, wenn die Botschaft des Planeten gerade in dieser persönlichen Bedeutung zu finden ist? Wo hat denn Dr. Frankenstein die Wahrheit über sich selbst und seine Arbeit gefunden? Im Traum ... aber zu spät.

 

Was wir 'innen' über uns selbst erkennen, bestimmt letztlich, was wir 'außen' an Naturerkenntnis zulassen, denn die Natur ist auch wir. Die 'Natur in uns' ist all das, was von ihr in unsere physische, mentale und moralische Identität eingeflossen ist. Wir sind eng mit dem Muster verflochten, das wir zu verstehen suchen, wenn wir die Welt erforschen. Wenn wir einen Schritt zurück machen, um eine objektive Perspektive zu gewinnen, tritt die Natur mit uns zurück und ist immer noch da, Betrachter sowohl wie Betrachtetes. Das Gewebe des Universums durchzieht unsere Kunst, unser Träumen, unseren Intellekt. Das bedeutet die Welt 'organisch' zu empfinden: die Dinge von 'innen' – als Teil von ihnen – zu erkennen, und nicht als wären wir Computer, die in einem fremden Universum abgesetzt wurden, um sein Verhalten nur zu messen und zu klassifizieren. Visionen, Mythen und Rituale sind also Möglichkeiten, die Welt unter dem Gesichtspunkt unserer Verflochtenheit mit ihr zu erkennen; sie sind eine Wissenschaft unter Einbeziehung des Menschen. Das ist der kritische Punkt, den Noel Phyllis Birkby und Leslie Kanes Weisman allen Frauen nahebringen möchten:

Bei unserer Suche nach den Ursprüngen und Äußerungsformen des Sexismus müssen wir unsere Bilderwelt und Wertvorstellungen auf die Umwelt projizieren und zu ökologischen Formen weiterentwickeln... Am Anfang steht eine Beurteilung unserer von Männern gemachten Umwelt aus weiblicher Perspektive. An unserer materiellen Umwelt, den Gebäuden und Städten, können wir das Wesen unserer Institutionen und die Prioritäten der Entscheidungsträger ablesen... Wir glauben, daß sich dabei unser Bewußtsein von der machtvollen Verbindung von Fantasie und Wirklichkeit vertiefen wird. So können unsere Träume und Visionen zu Werkzeugen wirklicher Veränderung werden.*

Wenn heute Frauen unter uns sind, die nicht mehr Teil des 'Wir' sein wollen, dieses kollektiven, männlichen 'Wir', das ich hier so unbestimmt für unsere verwissenschaftlichte moderne Kultur verwendet habe, so ist das der Beginn eines historischen Aufbruchs. Und wenn sie Selbstwertgefühl und Orientierung in der Hexentradition suchen, so liegt das wohl daran, daß sie eine längst vergessene Sprache wieder hören. Der Planet teilt sich durch jene mit, die seine Unterdrückung teilen.

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Sie berührt die Frauen im Innersten, er-innert sie, er-innert uns. Ganzheit heißt unser Ziel; und an dem kritischen Punkt in der Geschichte, den wir jetzt erreicht haben, führt der Weg zur Ganzheit für uns alle, die wir tief in diese Frankenstein'sche Kultur zwanghafter männlicher Dominanz verstrickt sind, über das Weibliche. Barbara Starrett:

Das Neue Zeitalter wird das Zeitalter des Weiblichen sein. Wir müssen bewußt das Auftauchen dieses Zeitalters in uns selbst wollen, denn wir werden es gebären. Wir müssen aus den und durch die alten patriarchalischen Programmierungen brechen, Schritt für Schritt, bis dieser Planet wahrhaft frei ist, wahrhaft liebevoll, wahrhaft machtvoll.
Die stärkste positive Empfindung ist Liebe. Können wir anfangen einander zu lieben, unsere Visionen zu lieben, so intensiv, so leidenschaftlich, daß die Macht unserer Liebe in neue Wirklichkeiten verwandelt wird? Das ist die Bedeutung der Alchimie. Wir sind die neuen Alchimistinnen.*

 

Wissenschaft ohne Scheuklappen

 

Mit dem letzten Abschnitt habe ich mich wohl ziemlich weit auf ein Gebiet vorgewagt, das einige als feministischen Extremismus und andere vielleicht als sehr fadenscheinige mystische Spekulation betrachten. Die lebendige Kontinuität von Person und Planet, die ich hier erörtere, bildet indes einen bemerkenswert beständigen und ganz normalen Bestandteil meiner eigenen Erfahrung, und das gilt vermutlich auch für andere Menschen. Wenn diese Erfahrung 'mystisch' ist, dann nur in dem Sinn, daß sie in unserer Kultur ein paar Jahrhunderte lang von einem hochspezialisierten aber engstirnigen wissenschaftlichen Intellekt zensiert wurde. Wir haben uns einreden lassen, daß unsere Sicherheit als Spezies von unserer Herrschaft über die Natur abhängt; und daß unser Machtanspruch über die Natur wiederum erfordert, ihre Personalität aus unserem Bewußtsein zu streichen – genau wie ein Folterknecht die Personalität seiner Opfer leugnen muß, um sie ganz in seine Gewalt zu bekommen.

Aber jetzt erweist sich diese Annahme als falsch, und zwar als himmelschreiend falsch. Die Macht erweist sich als illusorisch; die Umwelt verkommt in den Händen ihres angeblichen Meisters, und die versprochene Sicherheit schwindet dahin. Können wir damit rechnen, daß sich bald ein neuer kultureller Konsens bildet, der die Personalität der Erde respektiert und uns zu mehr Vertrauen in ihre lebenserhaltenden Kräfte aufruft? Auf den ersten Blick scheint die Philosophie des urbanen Industrialismus eine solche Möglichkeit zu blockieren. In früheren Büchern und Artikeln habe ich ausführlich und ziemlich polemisch die .Scheuklappen' und die 'entfremdende Dichotomie' der modernen westlichen Wissenschaft kritisiert – Denkgewohnheiten, die es uns immer schwerer machen, den lebendigen Austauschprozeß zwischen Mensch und Natur zu erfahren.

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Aber dann habe ich in den letzten zehn Jahren bei vielen Begegnungen mit Wissenschaftlern immer wieder Männer und Frauen getroffen, die beteuern, daß Wissenschaft nicht so sein muß, daß sie selbst sich offengehalten haben und nicht dem – wie ich es genannt habe –, Mythos des objektiven Bewußtseins' erlegen sind. Sie haben mich davon überzeugt, daß dieses ungeheure, facettenreiche Abenteuer, das wir Wissenschaft nennen, keineswegs ein einheitlicher Block ist. Heute wie in der Vergangenheit gibt es unorthodoxe Strömungen und Wirbel des Widerstands, die abweichenden Methodologien und alternativen Realitäten zustreben. Unter dem Druck der Krise könnte es durchaus sein, daß diese Kräfte uns zu einer sakramentalen Sicht der Natur führen, die ein unverwechselbar modernes Gesicht trägt und den wissenschaftlichen Fakten weniger Gewalt antut als auf den ersten Blick notwendig erscheint. 

Vielleicht ist es nur eine Frage der respektvollen und richtig eingestellten Aufmerksamkeit – genauer gesagt, der befreiten Aufmerksamkeit, die auf Wahrnehmungen ansprechen darf, die wir sonst gewohnheitsmäßig abblocken. 

Ich möchte hier nur einige innerhalb der wissenschaftlichen Landschaft liegenden Quellen erwähnen, aus denen wir für die Entwicklung eines neuen Konsensus über das Wesen der Natur schöpfen können.*

 

1. Da gibt es zunächst eine Reihe von informierten Kritikern, darunter viele ausgebildete Wissenschaftler, die herausfordernde Fragen über die Angemessenheit der wissenschaftlichen Methode und Theorie gestellt haben – aber nicht, um die Wissenschaft zu stürzen, sondern um ihr Blickfeld zu erweitern und ihren Hang zum Reduktionismus abzubauen. Wo die Kritik weit genug vorangetrieben wird, geht sie über abstrakte Wissenschaftstheorie hinaus und wird zu einer Untersuchung der Psychologie und Metaphysik wissenschaftlichen Denkens – ihrer Art zu erfahren, ihrer Fähigkeit zu kritischer, korrektiver Selbsteinsicht. Abraham Maslow nannte das Programm, das sich aus solch einem Ansatz ableitet, „hierarchische Integration", die harmonische Verschmelzung der wissenschaftlichen Objektivität mit den sinnlichen, intuitiven und visionären Fähigkeiten des Bewußtseins. (Basislektüre ist hierzu Maslows wegweisende Studie Die Psychologie der Wissenschaft. Ebenso die Arbeiten von Michael Polanyi, Arthur Koestler, Seyyed Hossein Nasr, Owen Barfield, Jacob Needleman. Ich lege in diesem wie in den folgenden Abschnitten keine komplette Liste vor, sondern nenne nur einige repräsentative Namen, in deren Schriften auf weitere Literatur verwiesen wird. Weitere Autoren und Titel in den Anmerkungen zu diesem Kapitel.)

2. Dann gibt es das expandierende Feld der Bewußtseinsforschung und Parapsychologie, die von den noch nicht erkundeten Möglichkeiten des Bewußtseins ausgehen und die Natur eher mit mentalen als mit mechanischen Modellen beschreiben. Fast ohne Ausnahme gehen hier die Methoden von der Möglichkeit der Interaktion zwischen Geist und Materie, zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen aus.

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So spricht Charles Tart von der Notwendigkeit, 'bewußtseinszustands-orientierte Wissenschaften' zu entwickeln, die sich nicht mehr nur auf das Erkennen der physischen Eigenschaften der Gegenstände beschränken, sondern auch das Bewußtsein des Erkennenden ausbilden. (Tart, Lawrence, Le Shan, R.B. Thouless, Karl Pribram, Stanley Krippner, John White, Joseph Kamiya.)

3. Die theoretische Physik und Mathematik der Grenzbereiche hat es mit Paradoxen von Zeit, Raum, Masse und Wahrnehmung zu tun, die oft zu einer Rückbesinnung auf mystische und östliche Traditionen führen; und in all diesen Traditionen wird die Natur eher spirituell-mental-organismisch als materialistisch-mechanistisch gesehen. So vertritt J.H.M. Whiteman die Ansicht, „daß die Physik selbst uns ein neues Weltbild aufgezwungen hat, das erstaunlich gut mit dem übereinstimmt, was berühmte Philosophen und Mystiker aufgrund eigener Einsichten und Erfahrungen im Laufe von mindestens zwei Jahrtausenden erklärt haben (Buddha, die Upanischaden, Platon, Plotin, Leibniz). Wir haben heute den Punkt erreicht, an dem all diese Ströme der Forschung anfangen zuammenzufließen." (David Bohm, John Wheeler, Fritjof Capra, Charles Muses, Werner Heisenberg, C.F. von Weizsäcker.)

4. Die Morphologen und Systemtheoretiker, deren Wissenschaft auf die deutsche Naturphilosophie der Romantik zurückgeht, setzen sich mit schöpferischer Form, globalen Variablen, koordinativen und hierarchischen Prozessen und systematischer Integration auseinander, und zwar auf der Grundlage eines finalistischen, teleologischen Naturbilds. Wiederum ein Ansatz, der uns nahelegt, die natürliche Realität als Geist oder Bewußtsein zu betrachten. (Alfred North Whitehead, Lancelot Law Whyte, Ludwig von Bertalanffy, Adolf Portmann.)

5. Die Arbeit von ganzheitlichen und psychisch-mentalen Heilern mit autogenen Therapien, Biofeedback, Theta-Training, willentlicher Selbststeuerung usw. weist auf eine Kontinuität des Physischen und Mentalen hin, die einfach mehr Raum für mentale und organische Modelle in unserem Naturverständnis fordert (Eimer und Alyce Green, Kenneth Pelletier, Gay Luce, Carl und Stephanie Simonton). Das geht bis zur Körperalchimie von Michael Murphys Transformationsprojekt, das westliche Wissenschaft und Yogaübungen miteinander vereinigen will, um stoffliche Materie ätherisch zu machen.

6. Sir Allster Hardy (Religious Experience Research Unit am Manchester College, Oxford) verfolgt eine Richtung psychologischer Forschung, die in den Anfängen unseres Jahrhunderts von William James und Edwin Starbuck eingeschlagen wurde. Hardy, der als Biologe zu diesem Forschungsfeld kam, geht von der Annahme aus, daß das Bewußtsein seinen physikalisch-chemischen Apparat transzendiert und seine ihm eigenen Kräfte am deutlichsten in ekstatischen und visionären Erfahrungen zeigt.

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Diese Arbeit führte ihn zu vielen unorthodoxen Spekulationen, unter anderem zu der Möglichkeit des telepathischen Einflusses in der Evolution. Damit steht er auf seilen eines abweichenden biologischen Denkens, das Absicht und Willen in der Evolution eine größere Rolle zuspricht als der natürlichen Auslese. (Pierre Le Comte du Noüy, Edmund Sinnott, C.L. Morgan, W.M. Wheeler.)

7. Manche Anthropologen beziehen primitive Kulturen und Volksüberlieferung in ihre Arbeit ein, um ein schärferes Bewußtsein vom Wert der Mythen und Rituale für die Erhaltung eines gesunden Ökosystems zu gewinnen. (James Lovelock habe ich bereits erwähnt. Hierher gehören auch die Arbeiten von Ian McHarg, Dorothy Lee, Stanley Diamond. Unter den Ökologen, die den Sinn für eine moralische Beziehung mit der Umwelt zu entwickeln versuchen, finden wir Aldo Leopold, Paul Shepard, John Todd und seine Kollegen am New Alchemy Institute.)

8. Noch tiefer im Bereich strittiger Grenzgebiete arbeiten Wissenschaftler und Philosophen, die sich unter dem Gesichtspunkt der Vertiefung wissenschaftlicher Erkenntnis die Einsichten esoterischer, okkulter und alchimistischer Traditionen zunutze machen. Alles, was wir aus diesen Quellen schöpfen, vermehrt unsere Fähigkeit, die Natur personalistisch zu erfahren. (Ernst Lehrs, Theodor Schwenk, Arthur Young.)

9. Schließlich, und damit überschreiten wir die Grenzen professioneller Wissenschaft, stoßen wir auf den schwärmerischen Pantheismus westlicher Naturmystiker von Franz von Assisi bis zu Dylan Thomas, Gary Snyder, Wendell Berry, Allen Ginsberg. Heute vermischt sich diese Richtung in unserer Kultur zwanglos mit primitiven und östlichen Einflüssen und erspürt ihren Weg zurück zu dem, was Snyder ,die Große Tradition* nennt und ich in anderen Arbeiten als ,die Alte Gnosis' bezeichnet habe: die antike und ursprüngliche Naturphilosophie unserer Spezies. Aber weshalb soll dieser Fundus machtvoller und scharfsichtiger Erkenntnisse weiterhin abseits der Wissenschaft stehen? Die Naturerfahrung von Dichtern und Landschaftsmalern beruht nicht weniger auf Studium und Disziplin, ist nicht weniger empirisch als die von Wissenschaftlern; diese hrfahrung bildet die Wirklichkeit um uns und in uns so genau ab wie eine Btomistische Analyse oder ein Laborversuch. Dahin zielt auch der Chemiker Thomas Blackburn mit seiner Forderung nach einer 'Ergänzung von Sinnlichkeit und Intellekt in der Wissenschaft':

Indem die Wissenschaftler sich einseitig auf abstrakte Quantifizierung als Mittel der Erkenntnis verlegen, betrachten sie die Welt nur mit einem Auge. Es gibt andere Arten des Wissens und Erkennens als das Ablesen eines Zeigerausschlags. Geist und Körper des Menschen verarbeiten Informationen mit erstaunlicher Detailtreue und Empfindlichkeit durch direktes Erleben ihrer Umgebung.*

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Wenn Wordsworth uns also sagt

Jeder natürlichen Form, Fels, Frucht oder Blume, 
Sogar den losen Steinen auf der Landstraße 
Gab ich geistiges Leben: ich sah, daß sie fühlten,
...und alles, 
Was ich sah, atmete inneres Leben,

könnten wir diese Äußerung dann nicht als das sinnliche und imaginative innere Leben jener objektiven Kontinuitäten betrachten, die die moderne Wissenschaft in der Natur aufgedeckt hat? Wissenschaftliches Faktum von innen erlebt, so verstanden, wie wir die Muster des menschlichen Verhaltens zu verstehen versuchen – indem wir ihren intentionalen Sinn und ihre persönliche Herkunft erfassen.

 

Der lebendige Austausch

 

Einst, so hat uns die Wissenschaft von Jugend an gelehrt, war die Erde nackter Fels und Dampf. Dann wurde ihren lethargischen Chemikalien irgendwie Leben eingehaucht und so der Planet schließlich bevölkert – so spontan, wie ein Baum Früchte trägt. All das, die lange Naturgeschichte der Erde, tragen wir in uns. Das Salz uralter Meere findet sich noch in unserem Blut. Der Rhythmus des Mondes hallt im Zyklus des weiblichen Körpers wider. Die Gestalten unserer evolutionären Vorfahren wiederholen sich wie Erinnerungen in jedem menschlichen Embryo. Wir wurden aus den Substanzen der Erde geschaffen. Ihre Elemente, ihre Zyklen, ihre Schwerkraft-Umarmung, ihre feinen Schwingungen durchdringen immer noch unsere Natur, Milliarden Jahre tief in das Gewebe von Leben und Geist hineingewirkt. 

Selbst unser wunderliches Bewußtsein, das uns von all dem entfremdet, erhebt sich aus irgendeinem unerklärlichen Potential ihres elementaren Stoffes. Genügen ein paar Generationen Urbanisation und ein oder zwei Jahrhunderte wissenschaftlicher Skepsis wirklich, um uns von dem Gefühl des lebendigen Austauschs mit der Erde abzuschneiden, das einst universales Wissen unserer Rasse war? Keiner, der auch nur einen Schimmer von dieser lebendigen Kontinuität erfahren hat, wird Mühe haben zu akzeptieren, daß unsere Bestimmung an die Bedürfnisse und den Willen der Erde geknüpft ist. Vielleicht fehlt uns nur der Mut auszusprechen, was wir wissen.

Kein Wunder also, daß wir jetzt, wo wir in einen akuten ökologischen Ernstfall geraten, das Ziehen dieses Wechselverhältnisses spüren – als tiefe organische Erinnerung, als Warnung, als Auftrag. Aber wie erteilt die Erde wohl solch einen Auftrag? Können wir erwarten, daß er vom Himmel fällt oder uns von einer Göttin verkündet wird, die aus dem Meer aufsteigt?

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Das Netz der Natur ist feiner gesponnen: der Auftrag erreicht uns in der Sprache, die unser Verhalten am ehesten beeinflussen kann – nicht als Befehl von oben oder aus dem Jenseits, sondern als moralische Idee in uns. Wie der Planet durch uns denkt, so wird unser Denken vielleicht aus Themen und Bildern gespeist, die bis zur Feuergeburt des Planeten zurückreichen. In den Worten von Lovelock und Epton:

Wir sind sicher, daß der Mensch Gaia braucht, aber könnte Gaia ohne den Menschen auskommen? Im Menschen hat Gaia das Äquivalent eines Zentral­nervensystems und ein Bewußtsein von sich selbst und dem Rest des Universums. Durch den Menschen hat sie die rudimentäre, aber entwicklungs­fähige Kraft, Bedrohungen ihrer Existenz vorauszusehen und abzuwehren... Könnte es also sein, daß der Mensch im Laufe seiner Evolution im Schoße Gaias das Wissen und die Fertigkeiten erworben hat, ihr Überleben zu sichern?

 

Nehmen wir an, wir und die Erde seinen ein einziges organisches Geflecht, ein Lebensmuster, innerhalb dessen wir das riskante Experiment des Planeten mit selbst-bewußter Intelligenz sind. Nehmen wir an, das Hauptziel dieses Experiments sei nun erreicht: eine interdependente Weltgesellschaft, die allen physische Sicherheit verspricht, und eine weltumspannende kulturelle Verschmelzung, in der die Einheit der Menschen zum Ausdruck kommt, wie es dem überwältigenden Bild der Erde entspricht, das wir von Aufnahmen aus dem Weltraum kennen. Und fügen wir noch das Offensichtliche hinzu: das Wichtigste für die Erde ist jetzt, daß wir unsere technologischen und organisatorischen Exzesse abbauen, damit all ihre bedrohten Kinder leben können.

 

Was unternimmt die Erde? Sie spricht etwas in uns an – ein Lebensideal, ein Identitätsgefühl –, das bisher immer nur ein paar exzentrischen Randfiguren eigen war. Sie dringt tief in unsere unerforschte Natur ein und fördert ein leidenschaftliches Verlangen nach Selbsterkenntnis und persönlicher Anerkennung zutage, das wie ein Samenkorn, dem die richtigen Wachstumsbedingungen fehlten, in uns geschlummert hat. Und so taucht inmitten der urban-industriellen Gesellschaft ganz plötzlich eine Generation auf, die sich instinktiv nach einer Art zu leben sehnt, die mit dem Gigantismus unserer ökonomischen und technologischen Strukturen unvereinbar ist.

Der Aufschrei persönlicher Qual, der durch diese Generation geht, ist zugleich der Hilferuf der Erde, ihr Protest gegen die maßlose Größe der Dinge, der sich mit unserem vereinigt. Wir fangen an, nach Alternativen zu dieser Größenwut zu suchen, die Person und Planet zermalmt. Wir suchen nach Möglichkeiten, das Große zu zerkleinern, es schöpferisch in organisch ausgewogene Gemeinschaften und Systeme von menschlichem Maß zu zerlegen, die uns von der tödlichen industriellen Zwangsläufigkeit der Vergangenheit befreien.

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Daß die Bedürfnisse des Planeten die Bedürfnisse der Person sind, kann man natürlich als zusammen­fantasierte Mutmaßung abtun, aber damit riskiert man zugleich den Verlust einer wertvollen wissenschaftlichen Möglichkeit. Schließlich beruht ja die Wissenschaft, die unsere Kultur beherrscht, auf der Annahme, daß die Natur ein einheitliches Ganzes bildet. An einem bestimmten Punkt scheint diese Annahme jedoch steckenzubleiben, nämlich da, wo sie auf den menschlichen Geist angewendet werden müßte. Hier ist die konventionelle Wissenschaft noch nicht weiter gekommen als bis zu den Bemühungen, mentale Vorgänge als Entsprechung der neurologischen Hirntätigkeit zu beschreiben.

Aber das Gehirn kann offenbar die Gesamtheit der geistigen Prozesse nicht erklären. Es läßt sich darin erkennen, wie bestimmte niedere Funktionen ablaufen, vielleicht auch nur, wo sie ablaufen, aber nichts über die höheren Kräfte des Bewußtseins – Wille, Intuition, Kreativität, Inspiration, Humor, Erfindungsgabe, moralische Wahlfreiheit. Die Neurologie hat keinerlei Ansatzpunkt dafür zu ergründen, wie das Bewußtsein Sinn schafft – einschließlich des Sinns, der die Neurologie selbst 'sinnvoll' macht. Aus dem, was wir über die Elektrochemie des Gehirns wissen, können wir das Potential des Bewußtseins ebensowenig voraussagen, wie man Chopins Musik aufgrund einer minutiösen Analyse des Klaviers hätte voraussagen können. Der Geist benutzt das Gehirn wie der Komponist das Klavier – und in beiden Fällen werden die Möglichkeiten des Instruments dabei durch schöpferische Fantasie beständig erweitert.

Wo sollen wir aber nach Anzeichen für solch ein Bewußtsein in der Natur suchen, die mit unserer Erfahrung von Freiheit, Originalität und Sinn übereinstimmen? Oder sind mentale Vorgänge – Ursprung und Bewegungskraft der Wissenschaft – doch eine isolierte Anomalie im Universum? Macht die Natur doch 'Sprünge'?

Das Problem besteht vielleicht darin, daß die moderne Wissenschaft, vor allem Biologie und Psychologie, immer noch auf der Basis eines physikalisch-mechanistischen Naturmodells arbeitet und alles, auch das Bewußtsein, mit diesem Modell zu erfassen versucht; und dabei verfeinert sie ihre Metaphorik allenfalls so weit, wie die neueste Datenverarbeitungstechnologie reicht. Damit wird dem Gehirn und seiner Biochemie gerade soviel Komplexheit zugestanden wie einem Computer, aber das genügt nicht, um die Wandlungsfähigkeit und Erfindungsgabe des Geistes zu erklären, wie sie sich in Sprache, Kunst und visionärer Erfahrung zeigen. Im übrigen existieren alle Mechanismen, die wir kennen, nur deshalb, weil ein intelligenter Organismus sie geschaffen hat; diese Abfolge – erst Organismen, dann Maschinen – macht alle Bemühungen, Leben und Geist unter materialistisch-mechan­istischen Gesichtspunkten zu erfassen, zunichte. Maschinen machen sich nicht selbst, und der einzige Sinn, der in Materie existiert, ist vom Geist hineingelegt.

Was also, wenn das mechanistische Modell der Wirklichkeit das genaue Gegenteil der Wahrheit ist? Nehmen wir an, das Geistige sei das letzte und nicht weiter reduzierbare Kontinuum des Universums, in dem Sinne, daß geschlossene Ganzheiten, Muster, Zwecke und koordinierte Abläufe die alle aussehen, als seien sie Ideen nachgebildet — elementarer sind als die Stücke, aus denen sie sich aufbauen.

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Diese Hypothese spukt ständig an den Grenzen der Wissenschaft herum, was sich schon an den verschiedenen wissenschaftlichen Spekulationen zeigt, die ich in diesem Kapitel vorgestellt habe. Als Sir James Jeans vor fünfzig Jahren die physikalischen Entdeckungen seiner Zeit weiterdachte, überschätzte er gewiß die Bereitschaft der Wissen­schaftler, ihre reduktionistischen Gewohnheiten aufzugeben; aber seine Worte verkörpern etwas, das zum Leitbild für die nächste Revolution in der Wissenschaft werden könnte:

Heute ist man sich ziemlich einig darüber, und auf der physikalischen Seite der Wissenschaft fast ganz einig, daß der Wissensstrom auf eine nichtmechanische Wirklichkeit zufließt; das Weltall sieht nämlich mehr wie ein großer Gedanke als wie eine große Maschine aus. Der Geist erscheint im Reich der Materie nicht mehr als ein zufälliger Eindringling; wir beginnen zu ahnen, daß wir ihn eher als den Schöpfer und Beherrscher des Reiches der Materie begrüßen sollten.*

Ganz ähnlich schrieb Sir Arthur Eddington etwa zur gleichen Zeit: „Der Stoff der Welt ist Geist-Stoff."

Wenn das orthodoxe wissenschaftliche Denken sich noch nicht hat Überwinden können, solche Ideen zu akzeptieren, so deshalb, weil die moderne Wissenschaft in ihrem stürmischen Machtstreben von Anfang an darauf bestanden hat, die Natur auf einen Mechanismus zu reduzieren. Nur von diesem Standpunkt aus konnte sie die Naturkräfte, die sie beherrschen wollte, in den Griff bekommen. So wurde die Physik immer mehr als die Grundlagen-Wissenschaft betrachtet, denn sie untersucht die Natur auf der Ebene, wo sie absolut tot und unpersönlich ist. Wenn in der Natur Geist zu finden ist – als Entsprechung und Resonanz des menschlichen Denkens –, so kann er sich nur in einer Wissenschaft zeigen, die umfassende, sich selbst regulierende natürliche Ganzheiten und zweckgerichtete Strukturen der Interaktion erforscht, in denen das Menschliche ebenso enthalten ist wie das Nicht-Menschliche. Wir nennen diese Wissenschaft Ökologie, die letzte der Wissenschaften, die einen professionellen Status erlangt hat, und die einzige Wissenschaft, die Geist und Materie in einem sinnvollen Modell miteinander vereinigen will.

Ein Modell, das den Bedürfnissen der Ökologie gerecht würde, ist die persönliche Kommunikation: Geist, der sich zu Geist hinwendet, Absicht, die auf Absicht stößt. Ich weiß nicht, wie die Ökologen die Vorstellung, daß die Natur zu uns 'spricht', am besten veranschaulichen können; ich bezweifle, daß irgendein animistisches Weltbild aus der Vergangenheit direkt übernommen werden kann, denn diese Weltbilder sind zu sehr an bestimmte Sagen und Märchen, an eine bestimmte Bilderwelt gebunden, der wir uns entfremdet haben.

Aber die Empfänglichkeit für die Wechselwirkungen in der Natur, auf der all diese alten Naturphilosophien beruhen, ist noch immer eine Möglichkeit unserer Erfahrung, die darauf wartet, eine lebendige, auf die Gegenwart gemünzte Gestalt zu gewinnen.

Die Ökologie besitzt als einzige Wissenschaft die Fähigkeit, die Erfahrung der Natur als Persönlichkeit zurück­zugewinnen. Und sie etabliert sich genau zu dem Zeitpunkt als wissenschaftliche Disziplin, zu dem ein intensives Personalitätsbewußtsein in unser politisches Leben eindringt. So wie wir anfangen, die Erde von ihren falschen Identitäten zu befreien – von dem mechanistisch-reduktionistischen Weltbild, das die Natur zu einem Objekt gefühlloser Manipulation gemacht hat –, so kämpfen wir uns von den falschen Identitäten frei, die den Menschen zu einem Objekt gesellschaftlicher Macht degradiert haben.

In den beiden folgenden Kapiteln werden wir uns näher mit der Psychologie und Geschichte des neuen personal­istischen Ethos befassen. Wir werden zuerst erörtern, wie das Gefühl der Unschuld, das mit ihm einhergeht, die Kultur der Schuld untergräbt, aus der die industrielle Gesellschaft ihre grausamen moralischen Druckmittel schöpft. Dann werden wir die personalistische politische Philosophie durch eine unbekannte und lange Genealogie zurückverfolgen. Dabei wollen wir die planetaren Kräfte im Auge behalten, die vielleicht hinter der gegenwärtigen kulturellen Neuorientierung wirken. 

Was sich in unserer Erfahrung als politische Idee oder moralisches Ideal darstellt, könnte der Mutterinstinkt der Erde sein, die Entschlossenheit dieses erstaun­lichen Planeten, das Leben, das er trägt, zu beschützen und zu vervollkommnen.

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