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   Panikmache und Schuld-Trips     Roszak-1992 

 

Drinnen     Grenzen

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So kurzsichtig, irreführend und schlicht unmoralisch die neue Hetzjagd gegen die Ökologiebewegung sein mag, bis zu einem gewissen Grad tragen die Umweltschützer selbst die Verantwortung für ihre Angreif­barkeit. Ihre hartnäckige Gewohnheit, düstere Prophezeiungen abzugeben, apokalyptische Panik zu verbreiten und Schuldgefühle einzuflößen, stellte das Vertrauen der Öffentlichkeit auf eine harte Probe.

Zum Teil liegt das Problem in der Art, wie die ökologische Bewegung organisiert ist. Das vorherrschende Muster ist eine Fixierung auf Einzelprobleme. Es gibt einige Gruppen wie das Worldwatch Institute, Friends of the Earth und Earth Island, die versuchen, das planetare Habitat als Ganzheit zu behandeln und seine unzähligen Probleme in eine gewisse Prioritätenordnung zu bringen. 

In aller Regel wird die Biosphäre jedoch balkanisiert, so daß sie wie ein Flickenteppich von Katastrophenarealen wirkt. Zahllose Gruppen wetteifern um die Aufmerksamkeit und die Spendengelder der Öffentlichkeit; jede einzelne ist auf ein spezielles Szenario des Grauens ausgerichtet: Hunger, Waldsterben, Giftmüll, das Ozonloch, Bodenerosion, die Regenwälder, die Wale, die Wölfe, die Waldeulen ... 

Wenn man die Warnungen und Alarmrufe aller ökologischen Gruppen zusammennimmt, scheint es so, als könnten Menschen in den hochindustrialisierten Ländern kaum noch etwas tun, das nicht entweder verwerflich oder lebensbedrohend ist. Tödliche Gefahren bedrängen uns von allen Seiten — von den mit Dioxin versetzten Kaffeefiltern, die wir morgens benutzen, bis hin zu den elektrisch beheizten Decken, die uns in kalten Nächten wärmen. Schlimmer noch: Ohne es zu wissen und zu wollen, werden wir zu Mitschuldigen an den Verbrechen gegen die Biosphäre.

Die Warnungen sind nicht notwendigerweise falsch; ich halte die meisten für durchaus berechtigt. Nur prasseln sie erbarmungslos massenhaft auf uns herunter, aus immer neuen Bereichen, oft aus solchen, in denen man nie Gefahren vermutet hätte. Wie hätte ich je ahnen können, daß ich durch die Auswahl meines Brillenrahmens daran mitschuldig werde, daß eine Schildkrötenart vom Aussterben bedroht ist? Jäger schlachten die armen Tiere ab, damit ihre attraktiven Panzer in kommerziellen Schnickschnack verwandelt werden können. Wieder muß ich die zentrale ökologische Lektion lernen, daß alle Dinge im Geflecht der Biosphäre, die großen und die kleinen, Teil voneinander sind. Jetzt, da ich es weiß, fühle ich mich in ein großes Unrecht verwickelt. Es ist schlimm genug, unerwartet von so traurigen Enthüllungen überfallen zu werden; allzu oft sind die Berichte jedoch von einem neuen ökologischen Puritanismus geprägt, der fast darin schwelgt, die Sünden unserer Maßlosigkeit zu geißeln.

Zu Beginn des Jahres 1992 setzte die australische Ökologin Helen Caldicott, deren Umweltengagement ich zutiefst bewundere, uns bei einem Vortrag davon in Kenntnis, daß wir jedesmal, wenn wir eine elektrische Glüh­lampe einschalten, für die Entstehung eines weiteren Krötenkopf-Syndroms bei Ungeborenen verantwortlich seien. Sie ließ sich in allen Einzelheiten über das Leiden dieser Kinder aus, die ohne Gehirn auf die Welt kommen.

wikipedia  Helen_Caldicott  *1938 in Melbourne 

In den neuen, vorwiegend von amerikanischen Unternehmen errichteten Industriezentren entlang der mexikanischen Grenze, wo Umweltschutzbestimmungen praktisch nicht existieren, wurde eine übermäßig große Anzahl solcher anenzephalischer Babys geboren. Caldicott gab uns den strikten Rat, niemals mehr als eine einzige Glühlampe in unseren Wohnungen einzuschalten. Das Publikum applaudierte; ich fragte mich warum. Wenn ich von der Wahrheit ihrer Aussagen überzeugt wäre, würde ich überhaupt kein elektrisches Licht mehr einschalten wollen.

Andere Sprecher der Ökologiebewegung sind präziser in ihren Analysen, aber nicht weniger tadelnd und vorwurfsvoll. Anne und Paul Ehrlich gehören zu den führenden Köpfen in Fragen der Bevölkerungspolitik und zu den engagiertesten Kämpfern an der Umweltfront.


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Auch ihre Arbeit erfüllt mich mit aufrichtiger Bewunderung, und ich akzeptiere ihre demographische Analyse der globalen Mißstände. Aber ich fühle mich von Schuldgefühlen erdrückt, wenn ich mich genötigt sehe, mein Land, die USA, als »den Hauptschuldigen an der Umweltzerstörung« zu identifizieren und die Schuld in jedem kleinsten Detail des amerikanischen Lebensstils aufzuspüren:

»Wenige Einwohner von Laos fahren klimatisierte Autos, lesen Zeitungen, deren Produktion ganze Wälder in überquellende Müllhalden verwandelt, oder fliegen in Düsenjets. Sie essen keine Hamburger, besitzen keine Kühlschränke, haben nicht mehrere Fernseher und Videorecorder, häufen keinen Plastikkram in ihren Häusern an. Doch Millionen und Abermillionen von Amerikanern tun das. (...) Wir sind der Prototyp einer gigantischen, überbevölkerten, maßlosen Nation — einer Nation, der viele schlecht informierte Entscheidungsträger in armen Ländern nacheifern wollen. Wenn wir nicht mit gutem Beispiel vorangehen und an uns selbst demonstrieren, daß wir die schrecklichen Fehler einsehen, die wir auf unserem Weg zur Überindustrialisierung gemacht haben, und daß wir entschlossen sind, diese Fehler rückgängig zu machen, gibt es wenig Hoffnung für den Fortbestand der Zivilisation.«9

Die Zeitschrift <Earth Island Journal> zieht aus dieser Anklage die naheliegenden Schlußfolgerungen und läßt uns wissen, mit den »fünfzig einfachen Dingen, die man tun kann, um die Erde zu retten«, wie ein Umwelt-Bestseller aus den achtziger Jahren verspricht, sei es nicht getan. Wir müßten uns vielmehr zu fünfzig schwierigen Dingen durchringen. Die Liste beginnt mit folgenden Punkten:

  1. Demontieren Sie Ihr Auto.

  2. Werden Sie Vegetarier.

  3. Bauen Sie Ihr eigenes Gemüse an.

  4. Lassen Sie den Strom abstellen.

  5. Verzichten Sie auf Kinder.10

Das ist durchaus nicht nur satirisch gemeint. 


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Auch ein anderer Umweltaktivist hatte keine satirischen Absichten, als er in einem Artikel zur Fünfhundert-Jahr-Feier der Entdeckung Amerikas schrieb, »dieses grauenvolle Gebilde, das wir westliche Zivilisation nennen«, habe die Welt nun »bis an den Rand des Ökozids gebracht. (...) Es ist unsagbar traurig, ja, tragisch, daß ausgerechnet diese Kultur hinausgehen und die Welt entdecken und somit erobern und zerstören mußte.«11 

Angesichts solcher Jeremiaden fühlt sich der englische Autor Jeremy Burgess, ein entschiedener Verfechter der Ökologie­bewegung, zu der Frage gedrängt: »Geht es nur mir so, oder fühlen sich auch alle anderen dafür schuldig, daß sie am Leben sind? (...) Letztlich, und vermutlich bald, werden wir uns nur noch unter unserer Schande krümmen und bei den einfachsten Lebensgenüssen nervös zusammenzucken.«12

Aus einer sehr andersgearteten ideologischen Haltung heraus stößt sich das Competitive-Enterprise-Institute an der permanenten »Miesmacherei« der Umweltschützer. Sie seien »menschenfeindlich« - so das Institut -, und ihrer Kritik läge die Prämisse zugrunde, »jedes für den Konsum bestimmte Produkt und jedes konsumbezogene Handeln sei von vornherein umweltschädlich«. Das CEI sieht darin das »grüne Äquivalent zur Erbsünde« und ruft nach einer Rückkehr zu »den prometheischen Werten«, die der westlichen Welt den Anstoß zu ihrer industriellen Entwicklung gaben.

Selbst wenn solche Worte die Einleitung zu einfältigen Empfehlungen für eine brutale Unternehmenspolitik bilden, hallt in ihnen das Echo des großen »Evangeliums der Hoffnung« wider, das Francis Bacon zu Beginn der Neuzeit so stolz verkündete. Dieser inspirierende Zukunftsglaube übt immer noch seine Wirkung auf uns aus. Die enormen Risiken des ökologischen Roulettes, das unsere Gesellschaft während der letzten beiden Jahrhunderte spielte, lassen es jedoch angezeigt erscheinen, Besonnenheit zur Forderung des Tages zu erheben — und sei es nur für den Fall, daß die Untergangs­propheten doch recht behalten.

Aber Besonnenheit ist eine glanzlose Tugend, sie kann mit der Euphorie des heroischen Tatendurstes, zu dem der Mythos des grenzenlosen Fortschritts uns aufruft, nicht mithalten.


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Wenn ökologische Weisheit nicht so aufregend und attraktiv gemacht werden kann wie die Umformung von Kontinenten, das Kultivieren von Nahrung in den Weltmeeren und die Erforschung des Weltraums, wenn sie mit der materiellen Befriedigung, die das industrielle Wachstum bietet, nicht wetteifern kann, wird sie bei jenen, die auf starke Emotionen ansprechen, immer nur einen armseligen zweiten Platz belegen.

Ich spreche das hier aus, obwohl ich die Warnungen der besorgtesten Ökologen für berechtigt halte und der Kritik beipflichte, die von den zornigsten unter ihnen geäußert wird. Ich teile ihre Empörung und unterstütze ihr Drängen auf sofortiges Handeln. Ich verstehe, daß sie angesichts des öffentlichen Phlegmas zu Übertreibungen greifen. Aber wir haben wahrscheinlich den Punkt erreicht, an dem die ökologische Bewegung andere psychologische Strategien entwerfen muß. Sind Angst und Verzweiflung wirklich die einzigen Motivationen, an die wir uns wenden können? Welche freudigen, großherzigen, selbstlosen und vielleicht heroischen Gefühle sprechen wir eigentlich im Menschen an?

Der faustische Elan, der dem industriellen Abenteuer innewohnt, bringt einige der besten Eigenschaften unserer Spezies zum Vorschein. Manche Menschen finden eine einfachere, aber nicht weniger wertvolle Befriedigung in dem Selbstwertgefühl, das mit ein wenig frei verfügbarem Einkommen einhergeht. Wenn ökologische Vernunft als strenge Schulmeisterin daherkommt, die uns verbieten will, die Tiere zu sein, die wir sind — und sei es auch zu unserem eigenen Besten —, wird sie nicht viele überzeugte Anhänger gewinnen. Wie alle politischen Aktivisten, die in ihrer Mission aufgehen, haben Umweltschützer oft wenig Einsicht in die menschliche Motivationsstruktur; sie rechnen nicht mit der Unvernunft, der Perversität, den krankhaften Begierden, die in den Tiefen der Psyche verborgen liegen. Ihre Strategie ist das Schockieren und Beschämen. Leuten das Gute und Richtige klar vor Augen zu führen, ist eine Sache, aber sie dazu zu bewegen, das Gute und Richtige auch zu wollen, ist ein ganz anderes Problem.


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Die ökologische Bewegung muß anfangen zu begreifen, warum Menschen wider alle Vernunft an offen­sichtlich überholten Wunschvorstellungen festhalten. Die begeisterten Bastler und Techniker, die das Automobil, die elektrische Glühlampe, den Computer erfanden, suchten nicht nach Methoden, die Ressourcen der Erde zu plündern; die Wissenschaftler, die zur Entwicklung der Atombombe beitrugen, waren keine »Genies des Bösen« à la Dr. Mabuse; die Straßenbauingenieure, die Trassen durch den Regenwald legen, sind keine amoklaufenden Perversen.

Selbst die Leiter der internationalen Großkonzerne, die aus schierer Habsucht heraus zu agieren scheinen, hängen vermutlich einem Fortschrittsmythos an oder sind von einer Wettbewerbsobsession getrieben, die ihre Wurzeln in tiefen und geheimen Strebungen der Psyche hat. Sie alle sahen in dem, was sie taten, und in den Dingen, die sie haben wollten, etwas unbedingt Wertvolles; es ging dabei um Würde, um das Abenteuer, um ein gutes Lebensgefühl.

Und Anna, die weinend vor den vollen Regalen des Supermarkts stand, vergoß keine Tränen der Gier. Die Armen Osteuropas und die Armen der dritten Welt wollen nicht nur ihren gerechten Anteil an dem materiellen Überfluß, den wir genießen; sie sehnen sich nach aktiver Mitwirkung beim Aufbau einer Welt, von der sie sich diese Würde, dieses große Abenteuer, dieses Lebensgefühl erhoffen.

Ich für meinen Teil würde es fast für eine Bankrotterklärung halten, zu glauben, das Schicksal unseres lebendigen Planeten hinge ausschließlich vom moralischen Eifer einer kleinen Zahl von Mitgliedern unserer Spezies ab, von Gruppen überarbeiteter ökologischer Aktivisten, die sich jeweils auf eine spezielle Umweltkatastrophe konzentrieren und ihre soziale Umwelt nicht anders ansprechen können als durch ethische Denunziation, Panik oder allenfalls durch den Appell an aufgeklärten Eigennutz. Gibt es keine Alternative zu Panikmache und Schuld-Trips, die der ökologischen Notwendigkeit das Feuer der Intelligenz und der Leidenschaft verleiht? Doch, es gibt sie. Es ist das intensive Interesse, das aus einer gemeinsamen Identität entsteht, daraus, daß zwei Leben eins werden. Die tiefe Erfahrung dieser gemeinsamen Identität nennen wir Liebe. Wird sie etwas distanzierter empfunden, nennen wir sie Mitgefühl. Dieses Bindeglied müssen wir finden zwischen uns und dem Planeten, der uns das Leben gibt.


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An irgendeinem Punkt müssen ökologisch Engagierte sich entscheiden, ob sie ernsthaft an die Existenz dieses Bindeglieds glauben. Sie müssen sich fragen, wo sie es in sich selbst finden können und in den anderen, deren Gewohnheiten und Wünsche wir so verändern möchten, wie nur die Liebe uns verändern kann. 

 

   Hier drinnen — dort draußen   

 

Vernünftige Umweltpolitik bedarf einer neuen psychologischen Sensibilität, einer Fähigkeit, mit dem dritten Ohr auf die Leidenschaften und Sehnsüchte zu lauschen, die den scheinbar gedankenlosen ökologischen Gewohnheiten unserer Kultur zugrundeliegen. Offenbar speisen diese Gewohnheiten sich aus vielen Quellen, durch machtvolle, oft ehrenwerte und zweifellos intensiv anregende menschliche Motivationen.

Die Psychologie erforscht diese Motivationen: die tiefen Bedürfnisse, die verborgenen Sehnsüchte, die inspirierenden Ideale. In ihren therapeutischen Formen, als Psychiatrie und Psychotherapie, hat sie den Auftrag, die verdrehten Verbindungen zwischen dem, was Menschen zu wollen behaupten, und dem, was sie wirklich wollen, aufzuspüren. Es muß irgendeinen Grund dafür geben, daß sich Menschen überall auf der Welt dafür entschieden haben, die wahnsinnige Vernichtung ihres eignen Planeten zu betreiben. Wichtiger noch: Es muß einen Weg geben, sie zu überzeugen, daß nichts von dem, was sie wirklich wollen, durch diese Vernichtung erreicht werden kann. Es gibt wertvollere Ziele als die Unterwerfung der Natur, zuverlässigere Formen des Sich-Wohlfühlens als physische Dominanz; es gibt einen Reichtum, der größer ist als die schrankenlose Anhäufung materieller Dinge. Die Veränderung dieser Wahrnehmungen auf der tiefsten persönlichen Ebene ist für die Bewältigung unserer ökologischen Krise genauso wichtig wie jede denkbare Wirtschaftsreform.


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Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet erscheint die Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen und kosmologischen Fragen, die sonst vielleicht als abgehobener intellektueller Zeitvertreib gewertet würde, in einem ganz neuen Licht. Was Menschen im Leben erwarten, wertschätzen und wünschen, hängt eng damit zusammen, wie sie ihren eigenen Stellenwert im Universum definieren. 

Die modernen Industriegesell­schaften wuchsen mit einer Naturvorstellung heran, die unter anderem lehrt, das menschliche Leben sei innerhalb der galaktischen Wildnis eine bloße Zufallserscheinung, wir seien »angsterfüllte Fremde« in einer Welt, die wir nicht geschaffen haben. Welche andere Haltung als die der Unsicherheit, der Furcht, ja der Feindseligkeit können Menschen unter solchen Umständen der Welt, der Natur gegenüber einnehmen? Wie Kinder, die ihre Eltern als kalte, machtvolle und strafende Autoritäten erleben, glauben sie, sie hätten keine andere Wahl, als permanent auf der Hut zu sein, und halten nach Gelegenheiten Ausschau, selbst zum Schlag auszuholen. Ihr Verhältnis zur Natur gründet sich nicht auf das Gefühl der Sicherheit oder des Vertrauens, geschweige denn auf Liebe. Dies ist der Punkt, an dem Erkenntnistheorie, Kosmologie und Psychologie sich überschneiden. Das Bild des Kosmos, das wir in uns tragen, kann ein ganzes Spektrum existentieller Befindlichkeiten diktieren. Wir können in freudloser, defensiver Verzweiflung dahinvegetieren oder uns aufgehoben und in der Welt zu Hause fühlen. Es zählt nicht nur, was wir wissen, sondern auch, wie wir etwas erfahren, in welchem Geist wir uns der Welt zuwenden.

Abraham Maslow, der Begründer der humanistischen Psychologie, gehörte zu den wenigen, die sich mit der emotionalen Tönung befaßten, die dem Wissen zugrunde liegt, insbesondere in den sogenannten exakten Wissenschaften. Er kam zu dem Schluß, daß es »kognitive Pathologien« gibt, die bis in die Grundbegriffe der Philosophie und der Theoriebildung eindringen können und dann alles verzerren, was auf diesen Grundlagen aufgebaut wird.


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Wissenschaft, so Maslow, »kann vor allem eine Philosophie der Abwehr sein, ein Sicherheitssystem, ein komplizierter Weg, Ängste und beunruhigende Probleme zu vermeiden. Im Extremfall wird sie zu einem Weg der Lebensvermeidung, einer Form des Sich-Abschließens von der Welt.«13 Wissenschaftler, die aus solchen Motiven heraus handeln, halten sich vielleicht für leidenschaftslose Beobachter, unterliegen aber tatsächlich einem »unflexiblen neurotischen Bedürfnis, stark, mächtig, furchtlos und hart zu sein«. Sie wenden sich dann vielleicht einer Weltauffassung zu, die nicht Wahrheit sucht, sondern Herrschaft verspricht.

 

Was wir hier zur Diskussion stellen, ist eine der ältesten und rätselhaftesten Fragen in der Geschichte der Philosophie: die Beziehung zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt. Wie nimmt das Bewußtsein hier drinnen Verbindung zu der Welt dort draußen auf? Können wir hier drinnen die Welt dort draußen so erfahren, wie sie wirklich ist? Kann die Welt da draußen »wissen« oder irgendeine angemessene Erklärung dafür bieten, was wir hier drinnen sind? Diese Frage gehört zu den täuschend einfachen Problemen, deren Lösung an der Wahrnehmungsgrenze unseres Bewußtseins stets präsent zu sein scheint; aber wenn wir uns umwenden, um genau hinzuschauen, geht die Tiefenschärfe verloren, und alles verschwimmt.

An einem Pol des philosophischen Spektrums haben wir die radikalen Idealisten, die behaupten, zwischen den Gedanken und Sehnsüchten in unserem Inneren und der uns umgebenden Realität bestehe keine nachweisbare Beziehung. Der Geist, dessen Rohmaterial die gestaltlosen Sinneseindrücke sind, forme die Welt den vorhandenen Konturen unseres Begreifens gemäß, könne jedoch vermutlich nie eine exakte Spiegelung dessen hervorbringen, was jenseits unserer Augen und Ohren existiert. Am anderen Pol haben wir den primitiven Empirismus, der uns glauben machen will, die Natur der Dinge — samt ihren beherrschenden Gesetzen und ursächlichen Prinzipien — präge sich dem unbeschriebenen Blatt des passiven Geistes einfach auf, vorausgesetzt, dieser Geist sei frei von Aberglaube und Vorurteilen.


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Diesen Extremen würde sich heute wohl niemand mehr anschließen. Bis an seine äußerste Grenze getrieben wird Idealismus zum Solipsismus, dem Glauben, daß ich allein in einer mentalen Leere existiere, in der alles andere meine Illusion ist. Das mag die unangreifbarste aller philosophischen Positionen sein, aber auch die uninteressanteste. Kant, der Begründer der idealistischen Philosophie, räumte selbst ein, daß andere geistige Instanzen als die Vernunft, nämlich Inspiration und Intuition, in der Lage seien, die Kluft zwischen dem »gestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir« zu überbrücken.

Und auf der anderen Seite ist die moderne Wissenschaft, das Kind des simplen Empirismus, zu der Einsicht gelangt, daß wir die Welt durch die Brille der Theorie sehen, die eher ein Geschenk der Vorstellungskraft ist als etwas von der Natur Vorgegebenes. Das Innen und das Außen, das Subjektive und das Objektive, koexistieren in einer Art empfindlichen Gleichgewichts; was genau aber dieses Gleichgewicht ausmacht, ist verblüffend schwer zu definieren. Als erkenntnistheoretisches Problem formuliert, kann die Beziehung zwischen dem Wissenden und dem Gewußten als unlösbares Rätsel erscheinen. 

Ich gehe wie Abraham Maslow davon aus, daß dieses Problem eine psychologische Dimension hat, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, wenn wir einen sinnvollen Weg finden wollen, das Bewußtsein und die Welt zueinander in Beziehung zu setzen. Von der emotionalen Gestimmtheit, mit der wir der Welt entgegentreten, hängt es ab, wie klar wir die Welt erkennen. Fürsorge, Vertrauen und Liebe determinieren diese Gestimmtheit, ebenso wie sie die Art unserer Beziehung zu einem anderen Menschen determinieren. Unser Gefühl, von einer »Außenwelt«, die uns keine freundliche Reaktion entgegenbringt, abgetrennt zu sein, steht in ursächlichem Zusammenhang mit unserem obsessiven Bedürfnis, zu erobern und zu unterwerfen.

Einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma eröffnet uns die Evolutionstheorie. Aus der bloßen Tatsache, daß die menschliche Natur, sowohl körperlich als auch geistig, ein Evolutionsprodukt des physikalischen Universums ist, ergibt sich zwangsläufig, daß zwischen der Natur der Dinge und der menschlichen Natur eine sinnvolle Verbindung existieren muß. Durch den langen, mühevollen Weg der Anpassung an die Umwelt erlangt das Leben Kenntnis vom Kosmos.


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Die Kontaktstelle, die es zwischen dem Wissenden und dem Gewußten schafft, ist jedoch vielleicht nicht der logische Verstand, sondern eine andere Dimension der Persönlichkeit. Die Brücke, die wir finden müssen, um zu einem Gefühl elementarer Verbundenheit mit der Natur zurückzukehren, liegt vielleicht in jenem schattenhaften Bereich des Geistes, den wir bisher als »irrational« oder sogar »verrückt« bezeichneten. Wenn es für die moderne Philosophie ein solches »Problem« war, eine kohärente und überzeugende Erkenntnistheorie zu formulieren, hat das vielleicht nicht nur rein akademische Gründe. Vielleicht liegen die Schwierigkeiten eher darin, daß wir uns zu lange um eine Erkenntnis­theorie bemühten, die große Teile unseres geistigen Potentials unter dem Sammelbegriff der »Verrücktheit« beiseite tat. Wir haben die wahren »Pforten der Wahrnehmung« verschlossen; also sollten wir nicht so erstaunt sein, daß es so unendlich vieles gibt, was wir nicht mehr »sehen« können.

Es ist kein Zufall, daß zu Beginn der Industrialisierung im späten achtzehnten Jahrhundert der Wahnsinn das große Thema wurde, das Künstler und Philosophen faszinierte. Auf jeder Stufe des Prozesses, der sich während der nächsten zwei Jahrhunderte abspielte, lief das abenteuerlustige Vordringen des Menschen in die äußere Natur mit ebenso riskanten Expeditionen in die fremden und seltsamen Landschaften des Unbewußten parallel. Mit jeder Generation tauchte die Erforschung der Träume und Alpträume, der Trancezustände, Halluzinationen und Ekstasen tiefer und tiefer in die geheimen Winkel der Psyche ein. 

Die Romantiker, die dieses Eintauchen in den Strom des Irrationalen initiierten, und nach ihnen die Poeten der Decadence, die Surrealisten, die Expressionisten, waren die kompensatorische Reaktion auf die Exzesse der Newtonschen Wissenschaft, die »Eingleisigkeit der Wahrnehmung«, wie William Blake es ausdrückte. Blake war unter den ersten, die wissenschaftliches Erkenntnisstreben mit dem tödlichen Druck in Verbindung brachten, den die neuen industriellen Technologien auf die Landschaft ausübten. Seine Attacken gegen »Satans mathematische Heiligkeit« verschafften ihm jedoch nur einen Ehrenplatz im Pantheon der ersten wahnsinnigen Künstler der Moderne.


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Eine Generation später, 1820, als Percy Shelley seine berühmte »Verteidigung der Poesie« veröffentlichte, waren die Fronten bereits mit schmerzhafter Klarheit abgesteckt. Die Dichotomien, auf denen die moderne Psychiatrie aufbauen sollte, waren erfaßt und kartographiert: Gefühl im Gegensatz zum Verstand, das Primitive im Gegensatz zum Zivilisierten, das Kind im Gegensatz zum Erwachsenen, die unberührte Natur im Gegensatz zur Stadt, das Organische im Gegensatz zum Mechanischen, Poesie im Gegensatz zur Wissenschaft. Shelley, selbst ein großer Bewunderer der Wissenschaften, hatte vielleicht die Absicht, diesen tödlichen kulturellen Riß mit seinen Worten zu heilen, aber sein Essay traf schließlich genau den Ton, den der verzweifelte Appell des machtlosen Außenseiters immer haben muß: den des polemischen Gegenschlags. Seine Anklage ist eine klassische Definition von Unterdrückung:

»(...) die Kultivierung jener Wissenschaften, welche die Grenzen der menschlichen Herrschaft über die äußere Welt ausdehnten, engte, da sie der poetischen Kraft ermangelte, die Grenzen der inneren Welt proportional dazu ein, und nachdem er die Elemente versklavte, findet der Mensch sich selbst als Sklave vor. Worauf sonst als auf die Kultivierung der mechanischen Künste, in einem Maß, das zur Gegenwart der schöpferischen Kraft, der Basis allen Wissens, im Mißverhältnis steht, sollte man den Mißbrauch aller Erfindungsgabe zurückführen, die zu beschränkender und versklavender Arbeit, zum verzweifelten Zustand der Ungleichheit unter den Menschen führt? Welcher anderen Ursache zufolge haben diese Erfindungen, die das menschliche Los erleichtern sollten, dem Fluch, der Adam auferlegt wurde, zusätzliches Gewicht verliehen?«

Die poetische Imagination war für Shelley die Antithese zum »pedantischen Kalkül« des rationalen Verstandes. Anders als das logische Denken ist Poesie, so Shelley, eine Fähigkeit, die sich dem Einfluß von Willensentscheidungen entzieht.


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»Sie unterliegt nicht der Kontrolle der aktiven Kräfte des Geistes (...); ihre Geburt und ihr Wieder­hervor­treten stehen nicht notwendigerweise mit dem Bewußtsein oder dem Willen in Zusammen­hang.« Shelley sah darin die erlösende Kraft der poetischen Imagination, aber was er da beschrieb, sollte von nun an als »Wahnsinn« verstanden werden: der Zustand nämlich, in dem der rationale Verstand hinweggefegt wird und dem Einfluß von Kräften unterliegt, die jenseits seiner Machtsphäre stehen.

Als Freud sich um die Jahrhundertwende darum bemühte, diesen Wahnsinn als Forschungsgegenstand in die medizinischen Wissenschaften einzuführen, gab er offen zu, er habe nichts entdeckt, was die Poeten nicht lange vor ihm gewußt hätten. Er hätte mit seiner Hommage an die Künstler - zumindest die Romantiker, die er im Sinn hatte - durchaus noch weiter gehen können. Die romantischen Dichter wagten sich nicht nur bis in die dunklen Winkel der gequälten Seele vor, sondern dehnten ihre Empfindsamkeit auch auf die Natur aus, die sie umgab. Als Bewunderer und Verteidiger der Schönheiten der Natur setzten sie die poetische Imagination symbolisch mit der Wildnis gleich, in der intuitiven Erkenntnis der Gefährdung, die das Fortschreiten des industriellen Prozesses für die Existenz beider darstellte. 

Freud, ganz der urbane Intellektuelle, konnte bei allem, was er von den romantischen Dichtern übernommen haben mag, ihre Hingabe an die Natur nicht nachvollziehen. Das Resultat war eine Psychotherapie, die das Individuum vom Planeten trennte. Freud mühte sich — nicht weniger als die positivistischen Philosophen seiner Zeit — mit dem machtvollen Einfluß einer der alltäglichsten Metaphern unserer Sprache ab, mit der räumlichen Metapher, die das Seelische »innen« und die reale Welt »außen« ansiedelt. Das Bemühen um eine neue Definition und eine neue Deutung dieser nebelhaften Grenze zwischen den beiden angeblich voneinander abgespaltenen Bereichen der Erfahrung ist das große Projekt unserer Zeit, ein Problem, dessen Dimensionen zugleich philosophischer, psychologischer und politischer Natur sind.


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  Die Grenzen des Ich   

 

Es gibt eine Redewendung, die jeder Gymnasiast mit dem Typus der religiösen Erfahrung, die wir Mystik nennen, assoziieren lernt: »Alles ist eins«. Die Erkenntnis der Einheit aller Dinge, diese nahezu einmütige Übereinkunft der Mystiker aller Religionen, bedeutet die bewußte Auflösung der unterscheidenden Grenzen zwischen dem Innen und dem Außen, dem Subjektiven und dem Objektiven. Freud verfolgte den Ursprung dieses »ozeanischen Gefühls« der Einheit von Ich und Außenwelt bis zu den Erinnerungen aus der frühesten Kindheit zurück:

»Die Pathologie lehrt uns eine große Anzahl von Zuständen kennen, in denen die Abgrenzung des Ichs gegen die Außenwelt unsicher wird oder die Grenzen wirklich unrichtig gezogen werden (...) Der Säugling sondert noch nicht sein Ich von einer Außenwelt als Quelle der auf ihn einströmenden Empfindungen. Er lernt es allmählich auf verschiedene Anregungen hin.«14

Aus der Beobachtung, daß der Yoga und andere mystische Praktiken es bewußt darauf anlegen, dieses primitive Ich-Gefühl wiederzuerwecken und zu kultivieren, folgerte Freud:

»Ich kann mir vorstellen, daß das ozeanische Gefühl nachträglich in Beziehungen zur Religion geraten ist. Dies Eins-Sein mit dem All, was als Gedankeninhalt ihm zugehört, spricht uns ja an wie ein erster Versuch einer religiösen Tröstung, wie ein anderer Weg zur Ableugnung der Gefahr, die das Ich als von der Außenwelt drohend erkennt.«

In der strikt rationalistischen Weise, die für den vorherrschenden wissenschaftlichen Stil seiner Zeit typisch war, etikettierte Freud die Kultivierung solcher Praktiken als »neurotisch«, aber er war hellsichtig genug zu bemerken, daß »die Grenzen des Ich nicht konstant sind« und daß die vernunftbestimmte Erhaltung


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der klaren und scharfen Demarkationslinien, durch die das Ich sich von der Außenwelt abgrenzt, kurzum: die »normale« Anpassung des Erwachsenen an das Realitätsprinzip, auch mit gewissen Verlusten verbunden ist:

»Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ich-Gefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja — eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ich mit der Umwelt entsprach.«

Das ist ein verblüffendes Eingeständnis. Freud sagt hier, das klar definierte und gut verteidigte Ich, das in den Augen der Wissenschaft als »normal« und »gesund« erscheint, sei nur der »eingeschrumpfte Rest« von etwas viel größerem, das sich einst harmonisch mit der Welt verband. »Normalität« würde sich dann als das Maß definieren, in dem jemand fähig ist, diesen Verlust abzuschreiben.

Auch für die Romantiker und ihre rebellischen Nachfolger war es selbstverständlich, daß die Wissenschaft kein Weg sei, ein entgrenztes, befreites Selbstgefühl zu erlangen, sondern daß man sich dazu anderen, exotischeren Formen der Erfahrung öffnen müsse: dem Rausch, den drogeninduzierten Halluzinationen, den Zuständen ekstatischer Begeisterung. Sie bejahten das Abenteuer schrankenlos, obwohl die Hingabe an diese veränderten Bewußtseins­zustände gefährlich war und im Extrem zu bleibenden Schädigungen führen konnte. Daher kommt unsere merkwürdige Gewohnheit, ästhetische Inspiration mit Wahnsinn zu assoziieren. Der »wahnsinnige Künstler« und der »wahnsinnige Wissenschaftler« sind kulturelle Parallelen — beides Metaphern für einen aus der Bahn geworfenen Geist, der sich an eine verzerrte Vision der Realität klammert.

Die grobe Dichotomie, die das Innen vom Außen scheidet, ist eine beschränkte und nicht sehr weit zurück­liegende Erfindung der menschlichen Kultur. Als philosophisches Postulat entstammt sie den ziemlich willkürlichen Entscheidungen einer Handvoll wissen­schaftlicher Denker im Europa des siebzehnten Jahrhunderts.


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In ihrem ungeduldigem Bestreben, ihrem Ansatz zum Verständnis der verblüffenden Komplexität der Natur praktische Klarheit zu verleihen, schnitten sie den Teil der Welt ab, der sich für die wissenschaftliche Beobachtung als schwer faßbar und vor allem schwer quantifizierbar erwies: den Bereich des Gefühls und der persönlichen Erfahrungen. 

Galilei ging bei der Definition der Grenzen der Erkenntnis besonders unbarmherzig vor. In seiner Sicht waren die empirisch unbezweifelbar existenten, aber bis dato un-quantifizierbaren Erfahrungen des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Tastens lediglich »sekundäre Eigenschaften«, mit denen der Geist die reale Welt der Formen und Maße, des Gewichts und der Bewegung ausstattete. 

»Ich denke, daß Geruch, Geschmack, Farbe und so fort bloße Namen sind, was das Objekt, mit dem wir sie ausstatten, anbetrifft, und daß sie nur im Bewußtsein existieren. Wenn wir also die lebende Kreatur entfernten, würden alle diese Eigenschaften hinweggefegt und zunichtegemacht.« 15)

»... wenn wir die lebende Kreatur entfernten« — ist das nicht ein bemerkenswerter Vorschlag?! Diese »Kreatur« ist der Wissen­schaftler selbst, der die Welt mit seinen wachen Sinnen wahrnimmt und zu ihr in lebendigem Kontakt steht. Stellen wir die Frage im Ernst, selbst wenn wir sie an den großen Galilei richten: Liegt nicht in dieser Art der Weltauffassung etwas wirklich Wahnsinniges? Sie verlangt, daß der Erkennende sich selbst aus der Existenz streicht. Die wahrnehmenden Sinne erlöschen und mit ihnen die Farben, Gerüche und Klänge der Welt — aber seltsamerweise nicht die Quantitäten. Sie überleben in einer ungreifbaren, farblosen, geräuschlosen, unwirtlichen Leere, die als die »reale« Welt gelten soll.

Aber irgendwann im Lauf ihrer langen Geschichte gingen aus dieser Leere Augen und Ohren hervor, Lebewesen entstanden, die diese Sinne benutzen, um ihre Welt zu erkunden und sich an ihr zu erfreuen, und schließlich entwickelte sich das menschliche Bewußtsein; es ist »hier«, ebenso wie jeder Stern, jeder Komet, jedes Elementarteilchen. Galileis traurige, aber aufschlußreiche Übung in erkenntnis­theoretischem Suizid ist Fiktion, mehr als jedes Kunstwerk.


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Zu diesem Zugeständnis müßte die Wissenschaft in ihrer beharrlichen Suche nach der Wahrheit der Dinge schließlich selbst bereit sein.

Vielleicht ergibt die brutale Spaltung der Welt, die wir bei Galilei beobachten, für die »exakten« Wissen­schaften wie Physik, Chemie, Astronomie, Geologie in ihren jeweiligen Pionierphasen eine Art vorläufigen methodo­logischen Sinn. In allen diesen Forschungsbereichen richtet der Beobachter seine Aufmerksamkeit auf einzelne Objekte in der Welt (oder vielmehr im Labor), die zum Zweck der genauen Erforschung isoliert werden. Aber in anderen Bereichen der Wissenschaft ist diese Isolierung nicht so leicht zu erreichen. Die Biologie könnte als Wissenschaft schwerlich überleben, wenn sie »die lebende Kreatur entfernte«. Die Kosmologie, die ein umfassendes Bild der Welt zeichnen soll und die damit das einstige Aufgabengebiet der Theologie erbt, kann die Existenz des Bewußtseins nicht einfach beiseite lassen. Was im Bewußtsein enthalten ist — ob es sich um wissenschaftliche Theorie handelt oder um pure Halluzination —, ist auch im Universum enthalten und ebenso Teil von ihm wie jeder Stern, jedes Molekül. 

Was die Psychologie als wissenschaftliche Disziplin angeht, so liegt es auf der Hand, daß sie dem Bewußtsein den Status eines ernstzunehmenden Forschungsgegenstandes zugestehen muß. Und im Forschungsbereich der Ökologie schließlich muß das menschliche Bewußtsein als integraler Bestandteil jedes Ökosystems, das man vollständig zu erforschen gedenkt, aufgefaßt werden, und sei es nur deshalb, weil die Wertvorstellungen, die in diesem Bewußtsein vorhanden sind, die Beziehungen der Menschen zu ihrer Umwelt bestimmen. 

Überall dort, wo es darum geht, in unseren Beziehungen zu dieser Umwelt urteilsfähig zu werden und Veränder­ungen zu vollziehen, muß uns die Kraft einer großen Überzeugung leiten, die emotionale Unbedingt­heit, die Kunst oder Religion hervor­bringen kann. Wenn Wissenschaft zu diesen höheren und subtileren Verständnisebenen heranreift, integriert sie das Kulturelle in ihre Auffassung vom Universum. Denn die Kultur — unsere Kultur — ist sowohl der Auslöser der ökologischen Krise als auch der Weg, der uns künftig aus dieser Krise herausführen kann.

Die großen Veränderungen, die unsere wildgewordene industrielle Zivilisation vollziehen muß, wenn wir den Planeten am Leben erhalten wollen, werden durch die Macht der Vernunft oder den Einfluß der Tatsachen allein nicht zustande kommen. Was wir brauchen, ist vielmehr eine psychologische Transformation. Was die Erde braucht, muß in uns fühlbar werden; wir müssen es so spüren, als seien es unsere persönlichsten Bedürfnisse.

Fakten und Zahlen, Vernunft und Logik können uns die Fehler in unserer gegenwärtigen Lebensweise aufzeigen, uns vor Augen halten, welche Risiken wir eingehen. Aber sie können uns nicht motivieren, uns keine bessere Lebensweise lehren, uns nicht zu einer besseren Vorstellung inspirieren, wie wir leben wollen. Diese Motivationen, diese Vorstellungen müssen aus unseren Überzeugungen heraus geboren werden. Und vielleicht kann diese Geburt nicht anders als schwer und schmerzhaft sein.

Das Neurotische ist der Schmerz, der in den Industriegesellschaften als Antrieb zur Veränderung fungiert; es erfüllt das Leben selbst der Wohlhabendsten unter uns mit vernichtender Unzufriedenheit. Eine moderne Wissenschaft von der Seele, die ihrer Aufgabe gerecht werden will, muß sich dieser Unzufrieden­heit annehmen, mehr in ihr sehen und sie anders betrachten als ein sexuell, familiär oder gesellschaftlich bedingtes Phänomen. 

In unserer Zeit braucht die individuelle Psyche einen Kontext, der alles umfaßt, was die Wissenschaft uns über die Evolution des Lebens auf der Erde zu sagen hat — über die Sterne und Galaxien, die der ferne Ursprung unserer Existenz sind.

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    Von Theodore Roszak 1992