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2  Die moderne Psychologie auf der Suche nach ihrer Seele

Kränkung     Wahnsinn    Thanatos  

   Bart Simpson und der Tiger   

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Ich sitze in einer überfüllten Flughafenhalle und warte auf meinen Heimflug aus dieser fremden Stadt, in der ich an einem Kongreß über künstliche Intelligenz teilgenommen habe. Die Stadt ist Rio de Janeiro, die dahin­siechende Metropole eines Landes der dritten Welt, dessen politische und wirtschaftliche Führung einen der letzten Regenwälder der Erde mit manischer Zerstörungs­wut ausplündert. 

Brasilien braucht seine Dschungel mehr, als es Computer und von Experten entworfene Software-Systeme braucht. Und außerdem brauchen die von Gewalt­tätigkeit erschütterten und von Unrat überschwemmten Städte Brasiliens soziale Gerechtigkeit und eine vernünftige Kanalisation. Aber die Brasilianer, die ich auf dieser Reise kennenlernte, waren nur an Modems, Telefax und modernen elektron­ischen Medien interessiert, so als sei High-Tech der Zauberstab, der die brutalen Mißstände dieser Gesellschaft in Luft auflösen könne. 

Neben mir im Warteraum sitzt ein etwa sechsjähriger Junge, der flüchtig eine amerikanische Zeitschrift durchblättert. Auf einer Seite hält er inne, um das Bild eines Tigers zu betrachten. Das Foto ist Teil einer Reklame für Exxon-Öl. Mehrere Sekunden lang schaut der Junge fasziniert auf das Bild des großen Tieres, das selbst in dieser geschmacklosen kommerziellen Aufmachung eine gewisse königliche Würde ausstrahlt.

Dann blättert er um und ist mit einer weiteren Reklameseite konfrontiert. Plötzlich strahlt der Junge auf. Er erkennt das Bild wieder. Es ist eine Zeichentrickfigur, die den Namen Bart Simpson trägt — zur Zeit der Renner in den Medien. Aufgeregt wendet der Junge sich seiner Mutter zu, um ihr das Bild zu zeigen, das übrigens auch als Emblem auf seinem T-Shirt prangt.     wikipedia  Bart_Simpson 

Ich denke: Wenn dieser Junge so alt ist, wie ich es jetzt bin, wird es keinen Bart Simpson mehr geben; unzählige Male werden andere, ebenso oberflächliche Fiktionen diese Figur abgelöst haben. Aber auch Tiger wird es dann nicht mehr geben, und nichts wird sie ersetzen. Vielleicht überleben sie nicht einmal in den zoologischen Gärten; nicht alle wilden Tiere sind bereit, sich zu unserer Unterhaltung in der Gefangenschaft fortzupflanzen. Wenn ihnen ihr wirklicher Lebensraum für immer genommen wird, gehen sie lieber in den Tod.

Eines Tages werden Kinder, die auf das Bild eines Tigers stoßen, dieses Tier so sehen, wie wir die Dinosaurier sehen, und sich fragen, ob solche Wesen je wirklich existierten. Aber mit dem Aussterben der Tiger, der Gorillas, der Wölfe und der Wale wird es sich anders verhalten als mit dem Aussterben der Saurier. Wir werden diejenigen sein, die diese Arten ausgelöscht haben, gedankenlos, grundlos und ohne Mitgefühl.

Ich habe nie einen frei in der Wildnis lebenden Tiger gesehen. Auch keinen Gorilla oder Wolf. Doch obwohl ich ein Stadtmensch bin, besteht irgendetwas in mir darauf, daß diese Geschöpfe da sein und irgendeinen Teil meiner Welt mit mir teilen sollen. Wenn sie untergehen, geht mit ihnen ein Kapitel der planetaren Geschichte zu Ende, das Millionen Jahre Evolution repräsentiert.

Zugegeben, das Aussterben von Arten ist ein konstantes Thema des Lebens auf der Erde; so beschneidet die Natur ihre ausufernde Fülle, bringt Verbesserungen an, schafft Raum für Neues. Aber wenn das geschehen muß, geschieht es am besten im Rahmen einer gewaltigen globalen Transformation von großen geologischen oder sogar kosmischen Dimensionen. Manche Forscher sind der Ansicht, daß die Dinosaurier vor sechs Millionen Jahren zugrunde gingen, weil ein Meteor mit der Erde kollidierte und die enormen Staubmassen, die ins All geschleudert wurden, den Planeten für lange Zeit in winterliche Kälte hüllten.

Andere Arten starben aus, weil Kontinente auseinanderdrifteten oder immer weiter vorrückende Gletscher das Land bedeckten, aber bald darauf traten neue Arten ins Leben ein. Solche Prozesse betrachten wir mit Ehrfurcht, denn ihnen wohnt eine nahezu feierliche Grandiosität inne, die der Größenordnung der Katastrophe entspricht.


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Zerstörungen solchen Ausmaßes könnten wir als »Gottesakte« auffassen, nicht nur in dem Sinn, daß sie vor unserer Zeit geschahen und daß wir auf solche Vorgänge keinen Einfluß nehmen können, sondern auch insofern, als sie von der höchsten über uns stehenden Macht — wie immer wir sie nennen wollen — ausgehen.

Aber dem Tiger in der Exxon-Reklame ist kein so würdevolles Ende bestimmt. Der Untergang seiner Art wird durch Nachlässigkeit und Willkür herbeigeführt werden, durch vermeidbare Umweltkatastrophen wie die von Exxon in rückhaltloser Profitgier verschuldete Ölpest, die vor einigen Jahren die Küsten Alaskas heimsuchte. Auch der Flughafen, auf dem ich mich aufhalte, steht mit diesem Sterben in Beziehung, und die Flugzeuge, deren Treibstoffe von Exxon-Oil produziert werden, und die Zerstörung des brasilianischen Regenwaldes, die irgendwo westlich von meinem augenblicklichen Standort Tag und Nacht weitergeht.

Mitschuldig ist auch die moderne Technologie der elektronischen Medien, das Thema dieses höchst überflüssigen Kongresses, der mir eine achttausend Meilen weite Reise wert war. Auf eine weniger offensichtliche Weise mitschuldig ist sogar die witzige kleine Zeichentrickfigur Bart Simpson, deren fiktive Existenz von der Technologie abhängt, die ich gerade mit anderen Experten, die von überall auf der Welt hierher einflogen, diskutiert habe.

All das ist Ausdruck der besinnungslosen Machtentfaltung einer amoklaufenden menschlichen Kultur, die ihre technische Erfindungsgabe und ihre industrielle Energie wild in alle Richtungen verpufft. Und zu welchem Zweck, der das Aussterben einer Art wert wäre? Wieviel von dem Überfluß, den wir produzieren, verwenden wir darauf, die Hungrigen zu speisen, die Kranken zu heilen und die Verzweifelten zu trösten? Zwischen dem Schicksal der Erde und dem überflüssigen Luxus, dem Schund und dem gierigen Profitstreben, in deren Dienst wir unsere technologische Macht stellen, besteht ein eklatantes Mißverhältnis. Und dennoch leben wir in diesem Ungleichgewicht und entwürdigen unseren Planeten, ohne daß wir fähig wären, seine Schreie der Not und der Wut zu vernehmen.

Der kleine Junge blättert eine Seite um. Eine Spezies stirbt aus. Eine Zeichentrickfigur nimmt den Platz dieser Spezies in seinem Leben ein. Er weiß es nicht, er fühlt es nicht.


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In seinem Alter war ich genauso gleichgültig, ein Kind, das mit den berauschenden Illusionen der urbanen Kultur aufwuchs. Die Worte des halb legendären amerikanischen Indianerhäuptlings Chief Seattle, die für ökologisch Engagierte nahezu den Charakter einer großen Weissagung angenommen haben, gehen mir nicht aus dem Kopf. Ich weiß, daß diese Worte apokryph sind, aber sie bewegen mich deshalb nicht weniger:

»Was ist der Mensch ohne die Tiere? Wenn die Tiere alle verschwänden, würden die Menschen an einer großen Einsamkeit des Geistes sterben, denn was immer mit den Tieren geschieht, geschieht auch mit den Menschen. Alle Dinge sind miteinander verbunden. Alles was der Erde widerfährt, widerfährt auch den Söhnen und Töchtern der Erde.«1

So sehr sich die Schulen der modernen Psychiatrie in Theorie und Praxis auch unterscheiden mögen, in einem Punkt sind sie sich alle einig: Wahnsinn hat in seinem tiefsten Kern immer mit der Frage der Wahrheit zu tun. Wir werden verrückt, wenn wir uns selbst belügen, wenn wir uns schmerzhaften Realitäten nicht stellen wollen, wenn wir unsere beschämenden Phantasien vor uns selbst verbergen. Sexuelle Begierde, die sich auf die Mutter richtet, Haß auf den Vater ... diese schuldbeladenen Geheimnisse wurden von der Psychologie längst offengelegt. 

Aber was ist mit der Schuld — der realen, nicht imaginierten Schuld — am Tod ganzer Gattungen unserer Mitgeschöpfe, die wir ausrotten, nicht weil wir es tun müssen, um zu überleben, sondern aus Ignoranz und für keinen besseren Zweck als kurzlebige Vergnügungen, armseliges Amüsement, schnellen Reichtum? Schließlich sind wir in einer Weise, die vielleicht sogar Bestandteil unseres tiefsten genetischen Erbes ist, an die Tiere gebunden, von denen wir herstammen. Welches Maß an Wahnsinn droht uns, wenn wir Verrat an ihnen üben?


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   Die dritte Kränkung   

 

Auf ihrem höchsten Niveau ist Psychologie die Suche nach geistiger Klarheit. Und geistige Klarheit auf höchstem Niveau ist die vollkommene Gesundheit der Seele. In dieser Hinsicht hat die Psychologie, ganz unabhängig davon, welche Techniken sie verwendet, notwendigerweise auch eine philosophische Dimension; sie muß sich mit ethischen Standpunkten, moralischen Zielsetzungen, mit der Sinnfrage auseinandersetzen. Jede große philosophische Richtung, jedes religiöse System der Vergangenheit gründete sich auf eine Wissenschaft von der Seele, versuchte die Seele von ihren Wunden zu heilen und sie auf den Weg der Erlösung zu führen.

Anders die moderne Psychologie; sie stellt ganz entschieden den Versuch dar, die Erkenntnis seelischer Vorgänge von der »Subjektivität« der philosophischen oder religiösen Betrachtungsweise zu trennen. Sie folgte darin dem Beispiel anderer Forschungsbereiche — der Ökonomie, der politischen Wissenschaften, der Soziologie — und wählte ein »objektives« Erkenntnismodell, in der Hoffnung, unverfälschte, klare, von subjektiven Meinungen ungetrübte Ergebnisse zu erzielen. Die extremste Position in der Verfolgung dieses Ideals nahmen die Behavioristen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts ein. Obwohl der Hauptgegenstand ihrer Forschungen das menschliche Bewußtsein war, dessen Leidenschaften und Sehnsüchte sie, wie man wohl annehmen darf, teilten, trugen sie die unbeteiligte, distanzierte Haltung des Astronomen zur Schau, der einen fernen Himmelskörper beobachtet, oder des Biologen, der einen Frosch seziert. 

Clark Hull, einer der Begründer der behavioristischen Schule, beschrieb seine Methodologie einmal als »Prophylaxe gegen den anthropomorphisierenden Subjektivismus«. Er erklärte es zu seinem Ziel, sein Studienobjekt, den »Organismus in seinem Verhalten«, so zu behandeln, als sei er ein »ganz und gar selbstgesteuerter Roboter, aus Materialien konstruiert, die mit uns so wenig Ähnlichkeit haben, wie man sich nur vorstellen kann« — eine Einstellung, mit der man ebensogut in die Folterkammer gehen könnte wie ins Labor.


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Freud, der gewöhnlich als der Hauptopponent der behavioristischen Schule betrachtet wird, strebte sein Leben lang nicht weniger entschlossen nach größtmöglicher wissenschaftlicher Objektivität — ein Ziel, das er mit dem größten Teil seiner Arbeiten glücklicherweise verfehlte. Eben deshalb hatten seine Studien einen weitaus größeren Einfluß auf die Künste, die Literatur und die Philosophie als die Werke jener Psychologen, deren Erkenntnisse über die menschliche Natur auf Experimenten an Nagetieren und Tauben basierten. Aber obwohl Freud zu dem Zugeständnis bereit war, daß im schattenhaften Inneren der menschlichen Natur Geheimnisse liegen, die dem Begreifen schwerer zugänglich sind als die Logik des bedingten Reflexes, hoffte er dennoch, die dunklen Kräfte und verborgenen Phantasien der Psyche zum Gegenstand objektiver Erforschung machen zu können.

Seit Freuds Zeiten hat sich in der Theorie und der Praxis der Psychologie vieles verändert. Trotzdem soll Freud hier der Ausgangspunkt unserer Betrachtungen bleiben, denn er erkannte mit weitaus größerer Klarheit als die Behavioristen, welche philosophische Probleme sich beim Betreiben einer wissenschaft­lichen Psychologie stellen, und er formulierte diese Probleme auf dem anspruchsvollsten Niveau. In seiner Sicht war die Psychoanalyse nichts Geringeres als eine epochemachende Erfindung. Sie war der letzte Abschnitt auf dem langen, mühsamen Weg der Menschheit aus dem Reich des finsteren Aberglaubens in die Zivilisation. 

Doch soviel Wertschätzung ein Leben in aufgeklärter Vernunft auch verdiente — Glück und Zufriedenheit brachte es, wie Freud offen eingestand, nicht mit sich. Ganz im Gegenteil: Der Fortschritt der Wissenschaft war eine quälende Zerreißprobe. »Zwei große Kränkungen in ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Lauf der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen«, erklärte Freud. »Die erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexandrinische Wissenschaft ähnliches verkündet hatte.


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Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungs­vorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies.« Schlimm genug, aber die schlimmste und empfindlichste Kränkung sollte »die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Haus, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht.«2

Mußte die Psychoanalyse unbedingt eine weitere Kränkung für den naiven Narzißmus der Menschheit sein? Sie mußte es insofern, als Freud darauf beharrte, seine Psychologie auf die Basis der Wissenschaft Newtons und Darwins zu stellen. Der Vater der Psychoanalyse, der sich durch öffentliche Mißbilligung nie einschüchtern ließ, sagte selbst voraus, daß es unweigerlich zu einer »universellen Revolte gegen unsere Wissenschaft« und zur »Freisetzung der Opposition aus allen Bereichen der beschränkten und voreingenommenen Logik« kommen müsse. Er sei darauf eingestellt, gegen diese Reaktion anzukämpfen, bis die Öffentlichkeit endlich bereit ist, die bittere Pille zu schlucken. Es kam ihm nie in den Sinn, daß in dieser Revolte mehr liegen könnte als infantile Abwehr, daß sich in ihr ein legitimes Bedürfnis nach transzendenter Sinngebung ankündigte — ein Bedürfnis, das seine Wissenschaft allzu rasch als unerheblich abtat.

Zu Beginn seiner Laufbahn traf Freud die folgenreiche Entscheidung, das medizinische Modell auf die Erkrankungen der Seele zu übertragen; für die verwundete Psyche galt im wesentlichen nichts anderes als für einen gebrochenen Knochen: Es bestand ein offensichtlicher Schaden, der ebenso offensichtlich einer Reparatur bedurfte. Für den Neurologen Freud lag es nahe, von dieser unangreifbaren Minimalprämisse auszugehen, und er durfte auch erwarten, damit die Zustimmung seiner Kollegen zu finden. Zeitweilig übertraf er die Behavioristen in seinen mechanistischen Metaphern, wenn er das Bewußtsein als ein von Zwängen, Trieben und Entladungen beherrschtes Gebilde schilderte, eine Art Dynamo im Kopf, der von der Kraft der primitiven Instinkte angetrieben wurde.


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Doch obwohl er eine Schwäche für technische Metaphern hatte und den reduktionistischen Methoden anhing, die in der Wissenschaft seiner Ära dominierten, wählte Freud für seinen Forschungsgegenstand das poetische Wort »die Seele«, das auch ein Dichter oder Philosoph gebrauchen würde.3

Mit seiner Entscheidung für das medizinische Modell verband Freud die Hoffnung, der Psychoanalyse sei dadurch Wissen­schaft­lichkeit garantiert. Um diesem Kriterium gerecht zu werden, brauchte er jedoch auch einen objektiven Maßstab für geistig-seelische Gesundheit. Wie die Behavioristen war er der Meinung, der vorherrschende soziale Standard von Normalität könne diesen Maßstab liefern. Was Vater und Mutter, Kirche und Staat, Freunde und Nachbarn als normal definierten, war das Normale. 

Für die Assimilierung des Kindes in die Erwachsenenwelt fand Freud den spröden Terminus »das Realitäts­prinzip«. Sobald das Realitätsprinzip einsetzt, muß sich das infantile »Lustprinzip« mit seinem unerfüllbaren Anspruch auf unmittelbare Befriedigung einem vernünftigeren Haushaltsplan unterwerfen. Das Kind lernt, sich mit aufgeschobenen Befriedigungen abzufinden. Wenn das heranwachsende Kind bei diesem Übergang in die Erwachsenenwelt eine humane, erfüllende Lebens­qualität vorfände, wäre dieses Ideal von »Normalität« durchaus annehmbar. Aber natürlich ist dem gar nicht so. Die Welt des Realitätsprinzips ist die Welt der Kriege, Hexenjagden, Kreuzzüge und Pogrome, der Gefängnisse, der kriminellen Gewalt, der Unterdrückung und Ausbeutung. Dennoch war Freuds ursprüngliche Position unbeugsam und stoisch: Man mußte sich diesen Kräften unterwerfen. Die Aufgabe des Psychiaters lag darin, den widerspenstigen Patienten auf die Pfade der gesellschaftlichen Normalität zurückzuführen.


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   Kollusiver Wahnsinn   

 

Versimpelnde Prämissen wie diese sind charakteristisch für die frühe Schaffensperiode Freuds, als er noch hoffte, beim medizinischen Establishment seiner Zeit Anerkennung zu finden.

Aber in seinen späteren Jahren stach er zwei außerordentlich ergiebige Goldadern der Theorienbildung an, die alles andere als simpel und potentiell der klare Gegenpol zum reduktionistischen Weltbild sind.

Der erste dieser neuen Ansätze entstand aus Freuds wachsenden Zweifeln über den sozialen Kontext von Vernunft, aus einer Skepsis, die ihn schließlich dahin brachte, das medizinische Modell der Neurose, das er selbst eingeführt hatte, wenn nicht vollständig zurückzuweisen, so doch entschieden in Frage zu stellen. Der Schock des Ersten Weltkriegs setzte Freuds selbstzufriedener Akzeptanz eines Normalitätsbegriffs, der auf sozialer Übereinkunft beruhte, ein jähes Ende. Was die leichen-übersäten Schlachtfelder ihm zeigten, war eine Welt, die einem mörderischen Berserkertum verfallen war — im Namen von Idealen, politischen Konzepten und Interessen, die lange Zeit als »rational« respektiert worden waren. Wie konnte eine solche Gesellschaft sich anmaßen, Kriterien für Vernunft vorgeben zu wollen? War es gerechtfertigt, jene, die dieses Normen­system nicht übernehmen konnten oder wollten, als wahnsinnig zu bezeichnen? Konnte es wirklich die Aufgabe des Psychoanalytikers sein, sie mit diesem Etikett zu versehen und in den Gleichschritt mit der »Kollektiv­neurose« zurück­zupeitschen? 

Freud wies als erster auf die unheilvolle Möglichkeit hin, daß die Gesellschaft selbst psychopathologische Züge trage und sich daher als Maßstab für Vernunft nicht eigne. Er fragte:

»... soll man nicht zur Diagnose berechtigt sein, daß manche Kulturen — oder Kultur­epochen — möglicher­weise die ganze Menschheit — unter dem Einfluß der Kultur­strebungen <neurotisch> geworden sind?«4

Mit diesen Worten war Freud nahe daran, die Psychiatrie zu verlassen und die Aufgaben eines zornigen Jeremia zu übernehmen. Aber für diese Rolle fühlte er sich nicht geeignet. »Ich habe nicht den Mut, mich als Prophet vor meine Mitmenschen hinzustellen«, erklärte er. Diesem Bekenntnis gemäß zog er aus seiner großen Erkenntnis nie politische Schluß­folgerungen und machte auch nicht den Versuch, sie in seine klinische Praxis zu integrieren.


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Nach allem, was durch Zeitzeugen über ihn bekannt ist, war Freud, der Vater, der Ehemann, der Lehrer zu autoritätsgebunden, um die herrschenden Mächte herauszufordern; seine politische Haltung war die des elitären Intellektuellen, der sich von der Revolte der Massen abwendet. In letzter Instanz war er bereit, sich der offiziellen Autorität zu beugen, selbst wenn er diese als pathologisch erkannte. Nur Anarchie konnte in seiner Sicht die Alternative sein. Umgeben von verrückten Regierungen und sozialen Unruhen in einem Europa, das ins totale Chaos abzustürzen drohte, kam Freud resigniert zu dem Schluß, die Zivilisation sei von einer hoffnungslosen Unzufriedenheit zerrissen, die sich leicht als genozidal erweisen könne: mehr Frustration, daraufhin explosivere Ausbrüche von Rebellion, gefolgt von stärkerer Unterdrückung und immer wahnsinnigeren Kriegen. 

Abgesehen von Freuds exzentrischem Schüler Wilhelm Reich, auf den wir später noch zurückkommen werden, griff niemand die Idee der gesellschaftlichen Psychopathologie auf; erst nachdem ein zweiter Weltkrieg ausgebrochen und beendet war, trat eine psychologische Schule hervor, die Freuds Hypothese vom kollektiven Wahnsinn ernst nahm und mit ihrer Zivilisationskritik eine ganz andere Richtung einschlug. 

R.D. Laing, dessen Hintergrund ebenso stark marxistisch-existentialistisch wie freudianisch geprägt war, gehörte zu den ersten, die in der Frage, was Wahnsinn sei, eine völlig konträre Position bezogen. Aus der Überzeugung heraus, daß die Wahnsinnigen (oder zumindest ein Teil derer, die als »schizophren« galten) eine seltene und gefährdete Gattung darstellten, die dringend des Schutzes bedurfte, argumentierte Laing, der psychische Zusammenbruch könne der erste Schritt zu einem Durchbruch zur Erleuchtung sein.

Die »Verrücktheit« jener, die zumindest noch widerstandsfähig genug sind, den Schmerz der gesellschaft­lichen Unterdrückung zu fühlen, könne den beginnenden Aufbruch zu authentischer geistiger Klarheit bedeuten. Die Verantwortung des Psychiaters lag in Laings Sicht also darin, sich auf die Seite des Wahnsinnigen zu stellen und ihn gegen die verbohrte soziale Autorität zu verteidigen. Wir leben, so Laing, inmitten von »sozial akzeptierten Halluzinationen; (...) was wir Vernunft nennen, ist unser kollusiver Wahnsinn.«5  Von diesem Faktum ausgehend muß sowohl die Theorie als auch die Therapie ihre Position bestimmen.


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Wenn die Familie der Nährboden für Neurosen ist, dann muß der Familie Widerstand geleistet werden; wenn der Staat Ansprüche stellt, die vernünftige Menschen in den Wahnsinn treiben, dann muß dem Staat Widerstand geleistet werden. Die Psychiatrie ist zu einer revolutionären Aufgabe berufen. 

Aus Laings Arbeit und dem Werk von Thomas Szasz (»Geisteskrankheit, ein moderner Mythos?«) entwickelte sich die kleine aufrührerische Schule der radikalen Therapie (manchmal »Antipsychiatrie« genannt), die sich selbst als eine Art psychiatrische Befreiungsfront versteht, als Fürsprecherin und Verbündete der leidenden Seelen gegen alle gesellschaftlichen Kräfte, die sie an ihren Platz in einer verrückten Welt »anpassen« wollen. Eine Gruppe von Laing-Schülern, die »Activists For Alternatives«, die sich selbst eine »Organisation früherer Psychiatriepatientinnen und -Patienten« nennt, faßt ihre Anklage in die folgenden Worte:

»Unsere Position ist kompromißlos. Unserer Meinung nach hat das psychiatrische Establishment die amerikanische Bevölkerung hereingelegt. >Geisteskrankheit< ist eine irreführende und entwürdigende Metapher. Die >Therapien< in psychiatrischen Einrichtungen sind zum größten Teil Formen physischer und emotionaler Mißhandlung. Psychiatrische >Diagnosen< sind erniedrigende Etikettierungen ohne jeden wissenschaftlichen Wert. (...) Es gab in der Behandlung von Menschen, die psychiatrisch stigmatisiert wurden, keine Revolution; es gibt vielmehr nur eine ununterbrochene Geschichte barbarischer Praktiken, die von Experten als medizinische Prozeduren gerechtfertigt werden, mit dem Ziel, die vorgeblichen Geisteskrankheiten von Patienten unter Kontrolle zu halten.«6

 

Die Schule der radikalen Therapie ist eine einfühlsame und sehr mutige Bewegung, aber ähnlich wie viele politisch radikale Bewegungen ist sie im Anprangern besser als im Entwickeln praktikabler Alternativen. Sie vertritt das Recht auf Rebellion, liefert aber kein klares Bild jener höheren Vernunft, die über der Autorität von Familie und Gesellschaft stehen soll.


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Ich habe den Eindruck gewonnen, daß die Anhänger der radikalen Therapie über den heroischen Widerstand gegen das psychiatrische Establishment vermutlich nie hinauskommen werden. Oft scheint es so, als gehe es eher um einen politischen Kampf als um die Gesundheit des Individuums, wenn auch immer in der Hoffnung, daß beide Ziele zusammengehen werden, in einer »Psychologie von unten«, die »innerhalb des revolutionären Prozesses den integrativen Faktor des Selbst-Gewahrseins entwickelt«.7

Ich stimme mit den radikalen Therapeuten darin überein, daß psychische Störungen innerhalb eines politischen Kontexts definiert werden; sie stehen folglich in engem Zusammenhang mit der Gesundheit und Harmonie der sozialen Strukturen, in denen das Individuum lebt. Ich halte es auch für richtig, daß die radikale Therapie jede Form von Psychiatrie angreift, die es als ihre Aufgabe betrachtet, sozial Abweichenden ihre Definition des »psychisch Gestörten« einfach überzustülpen, ohne das Diskussions­würdige eines solchen Aktes zu erkennen. Hier verfolge ich aber das Ziel, diese Kontroverse mit einer zweiten großen Einsicht im Spätwerk Freuds zu verknüpfen, einer Erkenntnis, die eine noch größere intellektuelle Herausforderung darstellt als sein Konzept des kollusiven Wahnsinns.

 

   Thanatos   

 

Als Freud nach dem Ersten Weltkrieg daranging, die Psychoanalyse aufzupolieren, verließ er die Ebene des Lustprinzips und des Realitätsprinzips und wagte sich in sehr viel fremdartigere, unerforschte Bereiche des Seelenlebens vor. Er entwarf eine kühne neue Theorie, die der Psychologie nichts Geringeres als eine kosmische Dimension verleihen sollte. Aus seinen Studien über die tiefsten Schichten des Unbewußten schloß er, daß es Instinkte geben müsse, die tiefer gehen als die Sexualität. Unter der Ebene der Libido pulsiert der elementare biologische Trieb des Lebens selbst, der — so Freuds Überzeugung — der physikalischen Natur gegen den Strich geht.


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In einem gleichgültigen Universum ist das Leben ein »unnatürliches« Phänomen, das in ewiger Opposition zum konservativsten aller Triebe steht: zu Thanatos, dem Todestrieb. Dem Organischen ging das Anorganische voraus; Thanatos strebt danach, das Leben auszulöschen und das Universum in den Zustand des Anorganischen zurückzuführen. Das Lebende — so meinte Freud — liegt im Krieg mit eben der Materie, aus der es sich speisen muß, um den lebenden Körper und das denkende Bewußtsein zu schaffen:

»Irgendwann einmal wurden in unbelebter Materie durch eine noch ganz unvorstellbare Krafteinwirkung die Eigenschaften des Lebenden erweckt. (...) Die damals entstandene Spannung in dem vorhin unbelebten Stoff trachtete danach, sich abzugleichen; es war der erste Trieb gegeben, der, zum Leblosen zurückzukehren.«8

Obwohl diese Vorstellung in den Bereich der Metaphysik zu gehören scheint, versuchte Freud, sie in der Praxis anzuwenden. Eine Zeitlang glaubte er, der neurotische Wiederholungszwang sei möglicherweise mit dem primitiven biologischen Bedürfnis verknüpft, zu früheren Lusterfahrungen zurückzukehren und sie wieder und wieder heraufzubeschwören. Die letzte Ursache dafür könnte der verborgene Trieb alles Lebenden sein, zum uranfänglichen Zustand des Anorganischen zurückzukehren. »Das Ziel alles Lebens ist der Tod«, schrieb Freud — eine Aussage von überwältigender Ambivalenz, die höchste Weisheit oder abgrundtiefe Verzweiflung ausdrücken kann.

Da dem Todestrieb die Kraft innewohnt, existentielle Angst zu überwinden, nannte Freud ihn auch das »Nirwana­prinzip«, das Bedürfnis nach absoluter Stille, die in seiner Sicht nur im totalen Erlöschen gefunden werden kann. Das ist eine ziemlich dilettantische Interpretation dessen, was der Buddhismus meint, wenn er vom Nirwana als dem Erlöschen der Begierden spricht; in Freuds Lesart klingt eher die frühe deutsche Romantik an, der Weltschmerz eines Novalis, der die Qualen eines unerfüllten Lebens lieber mit dem Tod vertauschen wollte.


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Dennoch ist es eine provokativ anspruchs­volle Vorstellung. Freud bringt das Bewußtsein aufgrund seiner neurophysiologischen Beschaffenheit im Gehirn mit dem physikalischen Universum als ganzem in Verbindung. In dieser dramatischen Begegnung des Lebenden mit dem Toten ist das Leben der Benachteiligte. Freuds tiefer Überzeugung nach ist die Natur das ewig Unnahbare und Fremde; »sie bringt uns um, kalt, grausam, rücksichtslos«9.

Diese tragische und unerbittliche Wahrheit ist so grauenerregend, daß die meisten Menschen sie nicht ertragen können. In ihrer schrecklichen Gegenwart kann die Majorität unserer kleinmütigen Spezies nicht anders, als ihre Zuflucht zu den Illusionen der Religion zu nehmen oder vor Angst und Schmerz verrückt zu werden. Solche desolaten Einstellungen waren um die Jahrhundertwende unter agnostischen Intellektuellen sehr verbreitet; die Naturwissenschaften dieser Ära räumten dem Leben im Universum nur den Stellenwert einer eher belanglosen Ausnahmeerscheinung ein. Das Phänomen des Lebens galt als Resultat zufälliger Fluktuationen in leblosen chemischen Elementen.

Erst wenige theoretische Physiker tasteten sich in den neuentdeckten Bereich der subatomaren Paradoxien vor, in denen alle Gewißheiten der Newtonschen Wissenschaft sich in nichts auflösten. Trotzdem gab die neue Physik dem Leben und dem Bewußtsein keinen »natürlicheren« Platz im Quantenuniversum. Für die breite Öffentlichkeit bedeutete »Materie« immer noch nichts anderes als kleine Kugeln und Ballungen toten, anorganischen Stoffes, so völlig unterschiedlich vom Organischen, daß es keinen Weg zu geben schien, die Existenz von Leben überhaupt zu erklären, es sei denn als monströsen »Unfall«, der die unumschränkte Herrschaft des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik zeitweilig außer Kraft setzte.

Leben war ein vergänglicher Zustand, dem Untergang anheimgegeben durch die unvermeidliche Tendenz aller chemischen Prozesse im Universum zu maximaler Entropie, dem »Wärmetod«, der allem ein Ende bereiten würde. Nichts, absolut nichts würde danach existieren, außer dem leeren Raum, in dem — weit verstreut — die ausgebrannte Asche längst erloschener Sterne triebe.


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Diese Schreckensvision des unentrinnbaren Verhängnisses beherrschte um die Jahrhundert­wende nicht nur die Wissenschaften, sondern beeinflußte auch die Philosophie und die Künste. Daraus erklärt sich die Aura des unüberwindlichen Pessimismus, die über der Dichtung Housmans und Dowsons, den historischen Studien Henry Adams' und Oswald Spenglers, den Bühnenstücken Eugene O'Neills und den Romanen Thomas Hardys liegt. Der Dichter Swinburne klagte:   wikipedia  Algernon_Charles_Swinburne  1837-1909

Then star nor sun shall waken, 
Nor any change of light, 
Nor sound of waters shaken, 
Nor any sound or sight; 
No wintry leaves nor vernal, 
Nor days or things diurnal, 
Only the sleep eternal 
In an eternal night.

Dann ist da nicht Sternenlicht noch Sonnenglanz,
Kein Wechsel von Hell und Dunkel,
Kein plätscherndes Wasser,
Kein Klang oder Anblick,
Kein Herbstlaub oder Frühlingsgrün,
Kein Tag und kein Ding, das bei Tag sich entfaltet,
Nur der ewige Schlaf
In einer ewigen Nacht.

Dies war die düster brütende intellektuelle Atmosphäre der Zeit, in der Freud sich daranmachte, Bewußtsein und Kosmos zueinander in Beziehung zu setzen. Als doktrinärer Materialist sah er die Aufgabe der Psychoanalyse in erster Linie darin, die Probleme zu erforschen, die sich dem Bewußtsein infolge seiner Gebundenheit an den Körper stellten. Der Körper war das Reservoir der Instinkte, und wenn Freud von Instinkten sprach, dann gebrauchte er das Wort im evolutionären Sinn: Die Instinkte waren das, was den Menschen in seiner biologischen Geschichte mit dem Tier verband.


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Letzten Endes erreichte Freuds Suche nach den physikalischen Grundlagen der Psyche jedoch buchstäb­lich einen toten Punkt. Seine Vision eines leblosen, gleichgültigen Universums war so unerbittlich und deprimierend, daß sie sich in der Psychologie nicht durchsetzen konnte. Verbunden mit dieser Vision war ein Bild der menschlichen Seele als Fremde in einer weiten Unendlichkeit, in der sie keinen Trost und kein Mitgefühl fand, keine Antwort auf ihr Verlangen nach Wärme, Liebe und Akzeptanz. In einer Kosmologie wie dieser gibt es nichts, woran der menschliche Geist sich wärmen kann.

Auf einige kraftvolle Naturen mag es anziehend wirken, sich der absoluten Leere mit fatalistischem Heldenmut zu stellen. Die existentialistischen Philosophen zum Beispiel betrachteten das Leben als kosmische Absurdität ohne jeden Sinn; nur der Sinn existierte, den jedes isolierte individuelle Bewußtsein dem Leben in einem heroischen, wenn auch willkürlichen Akt zuschrieb. Im Extrem finden wir in den Äußerungen gewisser Anhänger der existentialistischen Philosophie, die mit freudianischem Pessimismus um sich schlagen wie mit einer intellektuellen Peitsche, ein unverhülltes sadistisches Vergnügen, wie zum Beispiel bei Ernest Becker:

»Was haben wir von einer Schöpfung zu halten, die es Organismen zur Routinehandlung macht, andere Organismen zu zerreißen, mit Zähnen aller Art zuzubeißen, Fleisch, Pflanzenteile, Knochen zwischen Kiefern zu zermalmen, die breiige Masse mit gierigem Genuß herunterzuschlingen, die Essenz in den eigenen Metabolismus zu integrieren und dann den Rest auszuscheiden, mit übelriechenden Gasen und widerlichem Gestank (...) Die Schöpfung ist ein alptraumhaftes Schauspiel, und die Bühne, auf der dieses Schauspiel stattfindet, ist ein Planet, der seit Äonen vom Blut aller seiner Kreaturen durchtränkt ist.
Freud
änderte seinen Standpunkt, als er allmählich erkannte, daß das Böse in der Welt nicht nur im Inneren der Menschen liegt, sondern außen, in der Natur; darum wurde er realistischer und pessimistischer in seinem späteren Werk. (...) Was der Mensch auf diesem Planeten auch tut, muß in der gelebten Wahrheit des Grauens der Schöpfung getan werden, des Grotesken, des dumpfen Grollens von Panik, das unter allem liegt.«
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wikipedia  Ernest_Becker 1924-1974

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Was fängt der praktizierende Therapeut mit einer Vision wie dieser an? Wenn verzweifelte Patienten zu ihm kommen, mit den Wunden ungelöster infantiler Konflikte und Sehnsüchte, von zermalmender Unsicher­heit und lähmenden Ängsten gepeinigt, soll er sie dann mit dem »Grauen der Schöpfung« konfrontieren?

Trotz (oder vielleicht wegen) ihrer weitreichenden metaphysischen Dimensionen sind der Todestrieb und das Nirwanaprinzip in der Geschichte der westlichen Psychologie intellektuelle Kuriositäten geblieben. Noch vor Freuds Tod bezeichnete der Psychiater Edward Bibring sie als »theoretische Konstrukte«, die in der klinischen oder empirischen Diskussion nicht herangezogen werden könnten.11 Dementsprechend schlug die Psychologie nach Freud andere, pragmatischere Richtungen ein. Generell kann diese Entwicklung als die Suche nach einem größeren sozialen Bezugsrahmen für die Betrachtung und Behandlung von Neurosen beschrieben werden.

Die übliche Kritik an Freud lautet, seine Theorien seien in klaustrophobischer Weise auf den Bereich der intrapsychischen Mechanismen beschränkt, den vertrauten Kampfplatz von Ich, Es und Über-Ich. Freuds Schüler fühlten sich gedrängt, dieses winzige Psycho-Kästchen zu verlassen und in die Welt der Familie, der Gruppe, der Kultur in ihrer Gesamtheit hinauszugehen, um die Ursachen des neurotischen Leidens zu entdecken. Die meisten psychologischen und psychotherapeutischen Schulen, die sich im Lauf dieses Jahrhunderts entwickelten, haben diesen Charakter; sie stellen Variationen zu interpersonellen Themen dar, und in aller Regel setzen sie sich zum Ziel, das Verhalten des Individuums in sinnvoller Weise an die Anforderungen der Gesellschaft anzupassen.

Daß Freuds Nachfolger diese Kehrtwendung vollzogen, ist verständlich, denn es ging ihnen um die praktische Anwendbarkeit ihrer psychologischen Arbeit. Damit war jedoch ein bedeutsamer Verlust verbunden, der unbemerkt blieb.

Da diese psychotherapeutischen Alternativen Freuds Vordringen in den nebelhaften Bereich jenseits des Lustprinzips einfach ignorierten, erschienen sie zunächst als die größeren, die umfassenderen therapeut­ischen Systeme. In einer gewissen Hinsicht sind sie das auch; sie sind sozial integrativer. Aber in anderer Hinsicht engten sie den Horizont der psychologischen Theorie in entscheidender Weise ein, weil sie auf die universelle Dimension verzichteten, die Freud in seinen späteren, prophetischen Essays für seine Wissenschaft anstrebte. Die neofreudianische Schule wurde, wie zu erwarten war, zur Psychotherapie der urbanen Industrie­gesellschaft, und sie teilt auch die unbekümmerte Ignoranz dieser Gesellschaft in ihrem Verhältnis zur natürlichen Umwelt, von der wir alle mit Körper, Seele und Geist abhängig sind.  

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detopia-2023: Heute kann Viktor Frankl mit Warlam Schalamow ergänzt und erweitert werden .

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