Normative Entfremdung Roszak-1992 denaturierte Psyche
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Freuds Bestreben, die Psychoanalyse als Zweig der medizinischen Wissenschaften zu etablieren, veranlaßte einige seiner Zeitgenossen — beginnend mit seinem begabtesten Schüler Carl Gustav Jung — dazu, seinen Ansatz zur Erforschung des menschlichen Bewußtseins als beschränkt reduktionistisch zu kritisieren. Mittlerweile ist diese Kritik Allgemeingut. Sie behauptet, Freud habe versucht, das gesamte menschliche Verhalten auf physische, in erster Linie sexuelle Ursachen zurückzuführen; er habe geglaubt, sobald diese vorwiegend aus der frühen Kindheit stammenden Traumata dem Bewußtsein wieder zugänglich gemacht worden wären, sei der Patient geheilt.
Aber gerade Jung, der Freuds militant wissenschaftlicher Haltung mit zunehmender Ablehnung entgegentrat, gehört zu den wenigen Analytikern, die über die Beziehungen zwischen der Seele und der physischen Natur Spekulationen anstellten. Bei seinen Studien über die Alchimie fiel Jung auf, wie häufig die Zahl Vier in der religiösen Symbolik aller Kulturen der Welt auftrat. Er wies darauf hin, daß Quaternitäten (die vier Himmelsrichtungen, die vier Elemente, die vier Temperamente, die vier Seiten des Quadrats und so fort) häufig als Symbole der Ganzheit erscheinen.
Was war aus dieser »statistischen Häufung« der Zahl Vier in den Mythen und Überlieferungen der Völker zu schließen? Jung fand: »Es ist nun — ich darf die Bemerkung wohl nicht unterdrücken — ein seltsamer >lusus naturae<, daß der hauptsächliche chemische Baustein des körperlichen Organismus der durch vier Valenzen gekennzeichnete Kohlenstoff ist«12. Er nahm die Idee jedoch sofort wieder zurück, in der Befürchtung, eine solche Analogie könne »eine bedauerliche intellektuelle Geschmacklosigkeit« sein. Man fragt sich, woran Jung eigentlich dachte. An eine archetypische Erinnerung an die chemische Basis des Lebens vielleicht?
An einigen anderen Stellen seines Werkes spielte Jung mit dem Gedanken an mögliche Überschneidungsbereiche zwischen der Tiefenpsychologie und dem neuen Feld der Quantenphysik. Diese Überlegungen stehen mit Jungs Vorstellung vom unus mundus in Zusammenhang, der in Worten nicht beschreibbaren Erfahrung der Einheit, die den Kern der mystischen Erleuchtung bildet. Jung fragte sich, ob die Quantenmechanik, insbesondere das Prinzip der Komplementarität, nicht einiges an Einsicht in diesen sonst undurchdringlichen theoretischen Bereich ermöglichen könne. Wenn diese Reflexionen gerechtfertigt wären - so Jung -, müßten sie im Hinblick auf das Wesen der Psyche bedeutende Konsequenzen haben. Das Psychische müßte dann in enger Verbindung mit physiologischen und biologischen Phänomenen, aber auch mit physikalischen Ereignissen stehen — und zwar vor allem mit solchen im Bereich der atomaren Physik.13
Obwohl Jung mit dem Physiker Wolfgang Pauli (der sein Patient war) einen Briefwechsel über dieses Thema führte, entwickelte er die Idee kaum weiter. Einige jungianische Theoretiker, darunter Victor Mansfield und J. Marvin Spiegelman, bemühten sich seither, in dieser Richtung weiterzuforschen. In ihrer Sicht könnte zum Beispiel die paradoxe Beziehung von Partikel und Welle in der Quantenphysik das — zumindest symbolische — Äquivalent der Beziehung des Ich-Bewußtseins zum Unbewußten sein.
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Im Gegensatz zu Freud, dem urbanen Intellektuellen par excellence, blieb Jung gefühlsmäßig immer an die ländliche Umgebung gebunden, in der er aufgewachsen war. In seinen Schriften taucht die Bewunderung, die er für die Schönheiten und das ungezähmte Leben der Natur empfand, immer wieder auf. In seinen Memoiren »Erinnerungen, Träume, Gedanken« spricht er davon, daß er die Natur in seiner Kindheit als ein Reich der Wunder erlebte, in dem er sich verlieren und die menschliche Welt vergessen konnte; jeder Stein, jede Pflanze — alles, was er sah — erschien ihm lebendig und unbeschreiblich geheimnisvoll. 1923 bezeichnete er in einem seiner ersten professionellen Seminare »die Natur, das Tier, den primitiven Menschen und die kreative Phantasie« als die vier integralen Bestandteile der Psyche, die im Lauf des Zivilisationsprozesses der schwersten Verdrängung anheimgefallen seien.14
In den darauffolgenden Jahren ist Jungs Denken jedoch von einer stärkeren Reaktion auf das herrschende Wissenschaftsparadigma seiner Zeit gefärbt. In seinem reiferen Werk tritt der ehrgeizige Versuch, die Seele zur physischen Natur in Beziehung zu setzen, in den Hintergrund und wird durch eine konsequent nicht-physische Konzeption der Psyche ersetzt. Als Untergrund oder Wiege des Ich-Bewußtseins stellte Jung sich ein nichtmaterielles kollektives Unbewußtes vor, in dem die gesamte Weisheit der Menschheit enthalten ist.
Die Inhalte dieser tiefsten Region der Psyche teilen sich durch die Sprache der Archetypen mit, universeller Symbole, die alle kulturellen Grenzen transzendieren und deren Sinn ist, die Seele zur Erleuchtung zu führen. Wie dieses Reservoir erlösender Botschaften entstanden war, konnte Jung nicht erklären. Aber nach der Erhabenheit und Universalität zu urteilen, die er ihm zuschrieb, und nach der feierlichen Sprache, die er stets gebrauchte, wenn er sich darauf bezog, war das kollektive Unbewußte für Jung entweder Gott oder von Gott; er glaubte, daß dieses »Weltsystem des Geistes« traditionell von Menschen immer so verstanden wurde. Sie deuteten es als Person, und sie nannten dieses Wesen Gott, die Quintessenz alles Seienden.
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Jung war sich vollkommen darüber im klaren, daß seine Theorie vom kollektiven Unbewußten und den Archetypen den radikalen Bruch mit dem biologisch-medizinischen Reduktionismus Freuds darstellte. Jung hatte die Vorstellung von der »Omnipotenz der Materie« schließlich völlig aufgegeben zugunsten einer »unabhängigen Psyche, die nicht vom Körper determiniert ist«. Er wollte eine Psychologie schaffen, die nicht alles vom Physischen her erklärt, sondern sich auf eine Welt des Geistes beruft, deren oberstes Wirkungsprinzip weder die Materie mit ihren Eigenschaften ist noch irgendeine Energiedimension, sondern Gott.15 Freud mokierte sich in seinen späteren Jahren über die »prophetischen Ambitionen« seines einstigen Lieblingsschülers und ließ keinen Zweifel daran, daß er nur die Ideen akzeptierte, die Jung als »schlichter Psychoanalytiker« entwickelt hatte.16
Vielen religiös entfremdeten westlichen Menschen hat die Jungianische Psychologie Türen geöffnet, die durch das konventionelle rationale Denken lange verriegelt waren. Jung selbst nannte seine Arbeit einmal den Versuch, »die urbane Neurose des Atheismus zu heilen«. Manche Kommentatoren sehen in Jungs Werk eine modernisierte Form der alten Lehre der Gnosis — der Suche nach Erleuchtung durch die Kenntnis der Mysterien.17 Zweifellos stellt sein psychologisches System für die Diskussion der Dimensionen des Seelischen eine grandiose Erweiterung des Horizonts dar. Durch das kollektive Unbewußte kann unsere Kultur wieder Zugang zu den tiefsten Erkenntnissen der großen religiösen Traditionen der Welt erlangen und mit Hilfe des leichter zugänglichen psychologischen Idioms die Diskussion neu eröffnen.
Leider ist dieses Idiom für spirituelle Anliegen nicht immer das beste Vehikel. Jungs Analyse der Archetypen hat allzu oft einen trocken eklektischen Charakter. Es wird etikettiert und aufgelistet: hier ein Beispiel für den Archetyp des göttlichen Kindes, dort ein Beispiel für den leidenden Erlöser. Man ordnet die Fundstücke in die entsprechenden Fächer ein und geht weiter. Durch eine solche Herangehensweise mag es gelingen, den alten Mythen einen kleinen akademischen Lebensimpuls einzuhauchen; die gegenwärtige Popularität der Arbeiten des jungianischen Mythenforschers Joseph Campbell ist das beste Zeugnis dafür, mit welchem Interesse Menschen in den vergessenen Überlieferungsschatz der Welt eintauchen, wenn es um die Rettung von lebendigen Werten geht.
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Aber der Jungianische Ansatz kann in bedrückende Pedanterie ausarten. Schlimmer noch: Er kann eben die Spaltung zwischen Psyche und Natur vertiefen, die so dringend einer Heilung bedarf. Das erscheint paradox, denn Jung war davon überzeugt, mit seinem Werk zu einer »praktischen Psychologie« beizutragen, deren Erklärungsmodelle und Techniken sich in erster Linie an der Heilwirkung für den Patienten orientieren sollten. Eine praktische Psychologie, so Jung, muß danach streben, den Menschen lebensfähig und entwicklungsfähig zu machen. Wenn man nur naturalistische Werte anerkennt und alles in physischen Begriffen erklärt, unterdrückt und behindert man die wichtige spirituelle Entwicklung des Patienten oder zerstört sie sogar.
Jung sah den Ursprung vieler Neurosen darin, daß die »religiösen Ansprüche der Seele infolge des kindischen Aufklärungswahns nicht mehr wahrgenommen werden«. Obwohl er sein Interesse bekundete, dem »physischen Sein« seiner Patienten Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, wandte er sich letzten Endes so gut wie ausschließlich der »psychischen Realität« zu, die unter dem tödlichen Druck des wissenschaftlichen Materialismus nahezu unsichtbar geworden war.
Wie die Ansätze so vieler humanistischer Denker lief auch Jungs »praktische« Strategie letztlich darauf hinaus, die natürliche Welt an eine säkularisierte Wissenschaft abzutreten und so die Kluft zwischen dem Physischen und dem Spirituellen weiter zu vertiefen. Außerdem verwandelten sich gewisse Zweige der Jungianischen Schule infolge dieser Ausrichtung in quasireligiöse Sekten, was andere Therapeuten, die noch darauf Wert legen, ihren wissenschaftlichen Ruf zu erhalten, oft daran hindert, sich dieser Denkrichtung anzuschließen.
Wenn wir von den unausgearbeiteten Hypothesen über die Komplementarität und den Archetypus der Quaternität einmal absehen, ist es wohl gerechtfertigt zu sagen, daß Jungs Werk die eine wesentliche Qualität, die in Freuds Spätwerk hervortritt, gänzlich vermissen läßt.
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Obwohl Jung sich sein Leben lang in ländlicher Abgeschiedenheit, von Wäldern und Wasser umgeben, am meisten zu Haus fühlte, spiegelte sich in seinem formalen theoretischen Werk wenig Interesse an der Natur, abgesehen von der gelehrsamen Aufmerksamkeit, die Abstraktionen wie der Mutter Erde oder dem Vater Himmel vorbehalten bleibt. Im übrigen scheint Jung das gesamte Universum zu überspringen und unmittelbar in einem vergeistigten intellektuellen Empyreum zu landen. Das Resultat ist eine Art blutleere, unwirkliche Sammlung von Ideen über Psyche und Bewußtsein, die von der Welt, aus der Psyche und Bewußtsein hervorgingen, total abgetrennt erscheint. Wie alle Post-Freudianer nimmt auch Jung die Entfremdung des modernen westlichen Menschen von Wäldern, Seen, Flüssen und Bergen und von all unseren Bruder- und Schwester-Geschöpfen als etwas Gegebenes und Irreversibles hin. Unter der Voraussetzung dieser normativen Entfremdung tut die Therapie ihr bestes, die »urbane Neurose des Atheismus« durch eine nicht minder urbane Religiosität zu ersetzen.
In späteren Kapiteln werden wir auf gewisse Erweiterungen des jungianischen Denkens zurückkommen, die in ökologischer Hinsicht vielversprechend sind. Hier möchte ich mit dem Hinweis abschließen, daß die Natur in Freuds Werk — auch wenn Freud im physikalischen Universum nichts Verwandtes oder Tröstliches finden konnte — immer noch eine zentrale Rolle spielt, und sei es nur als tragischer Hintergrund. Die Menschen sind mit der Natur untrennbar verbunden.
Die Psyche ist ein Auswuchs — wenn auch ein anomaler — derselben Materie, aus der das gesamte Universum besteht; die Kräfte der Natur pulsieren in uns und erfüllen unser Leben mit animalischer Lust und animalischem Hunger. Der Geist ist das Gehirn, das Gehirn ist Fleisch, Fleisch ist Chemie, ist Molekularstruktur und elektrische Energie, und das alles gehört zum Gebiet der Naturwissenschaft. Jung wendet sich von den sogenannten exakten Wissenschaften ab; Freud klammert sich daran, denn er sieht in ihnen die einzig zuverlässige Methode, natürliche Objekte zu erforschen. Und für Freud ist die Psyche — auch wenn das ein deprimierendes Faktum ist — ein natürliches Objekt.
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Die denaturierte Umwelt
Obwohl Freuds desolate und von tiefer Verzweiflung geprägte Vision des Lebens in der professionellen Literatur selten diskutiert wird, geht ihr Gespenst in den Hauptströmungen des psychologischen Denkens immer noch um. Es ist eine Art negative Präsenz, nie erwähnt, aber im Hintergrund immer anwesend: die Vision eines Kosmos, der so unmenschlich, so fremd ist, daß er nicht ins Bewußtsein hineingenommen werden kann. Daß die moderne Psychotherapie sich für die Trennung von der Natur in ihrer Gesamtheit entschied und sich den Leiden der Seele nur innerhalb eines rein persönlichen oder sozialen Bezugsrahmens widmet, hängt damit zusammen, daß Freuds mutiger Versuch, eine menschlich akzeptable Verbindung zwischen der inneren und der äußeren Welt herzustellen, fehlschlug.
Mit krasser Deutlichkeit zeigen sich die Folgen dieses Fehlschlags in der Schule der existentialistischen Psychotherapie, die sich besonders entschlossen um eine Revision der Freudschen Orthodoxie bemühte. Der Daseinsanalyse, die sich aus der deutschen Existentialphilosophie und der Phänomenologie herleitet, geht es zunächst darum, die reale Welt des Patienten zu entdecken, »die Welt, in der er lebt und sich bewegt und sein Sein hat«. Damit ist inbesondere gemeint, daß der Therapeut — wie Rollo May es ausdrückt — »den Menschen nicht als Ansammlung statischer Substanzen oder Mechanismen oder Verhaltensmuster betrachtet, sondern als werdend und entstehend, das heißt, existierend.«18
In ihrem Bestreben, die lebendige, unmittelbare Wirklichkeit des Patienten zu entdecken, sind die Existentialisten sorgsam darauf bedacht, die Umwelt in ihren theoretischen Apparat einzubeziehen. Aber ihr Verständnis von »Umwelt« ist in trauriger Weise entlarvend. Die Umwelt ist nur eine von drei Welten, in denen die Psyche beheimatet ist; man übergeht sie rasch zugunsten der sozialen Welt (Mitwelt) und insbesondere der persönlichen Welt (Eigenwelt). Unter »Umwelt« versteht die Existentialtherapie kaum mehr als die Gesamtsumme der hinderlichen physischen Notwendigkeiten.
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In Mays Sicht besteht sie aus:
»biologischen Bedürfnissen, Trieben, Instinkten — die Welt, in der wir noch wären, wenn wir (...) kein Bewußtsein unserer selbst hätten. Sie ist die Welt der Naturgesetze und natürlichen Zyklen von Schlafen und Wachen, Geborenwerden und Sterben, Verlangen und Befriedigung, die Welt der Endlichkeit und der biologischen Determiniertheit, die Welt der >Geworfenheit< an die jeder von uns sich in irgendeiner Weise anpassen muß.«
All das, so erfahren wir, wurde von Freud in ganz angemessener Weise gehandhabt. Die Revision der Freudschen Orthodoxie bedeutet für die Existentialisten also nicht, Freuds Vision von der Natur zu revidieren, sondern vielmehr über dieser Vision neue Theoriegebäude zu errichten. Die Umwelt bedarf daher nur einer flüchtigen Erwähnung, während man rasch voranschreitet zum »unerforschten Grenzbereich der psycho-analytischen Theorie«. Und was ist damit gemeint? Die Eigenwelt — »das Selbst in Beziehung zu sich selbst«. Dies ist der eindeutig menschliche Bereich, wo wir uns von der objektiven Natur ablösen und über ihr stehen, eine wirkliche »Welt« im Gegensatz zu einer bloßen »Umwelt«. Das Tier, das — wie Ludwig Binswanger es ausdrückt — nicht fähig ist, ein »Ich-du-wir-Selbst« zu sein, hat überhaupt keine Welt. Es hat eine Umwelt, die es der Natur verdankt, aber der Mensch verdankt seine Welt der Freiheit, die Situation zu transzendieren.19
Was wir hier vor uns haben, ist die denaturierte Umwelt, wie urbane Therapeuten und ihr Klientel sie vermutlich kennen: ein blasser, charakterloser, eher lästiger Hintergrund, vor dem das »reale« Leben, das sozial und persönlich ist, sich abspielt. Das Ziel der Therapie, wie Rollo May es auffaßt, liegt darin, daß der Patient »seine Existenz als real erfährt«. Wahrlich, ein löbliches Ziel. Aber für die Existentialisten bedeutet das die Wendung nach innen und die Abwendung von der Umwelt. »Der Neurotiker reagiert überbesorgt auf die Umwelt und sorgt sich zu wenig um die Eigenwelt.«
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Die Umwelt als gemeinsame Welt aller Organismen findet hier kaum Beachtung. Die Eigenwelt dagegen ist das Reservoir faszinierender menschlicher Ängste, genau der Traumata eben, mit denen Menschen zum Psychoanalytiker kommen. Beim Kartographieren der Eigenwelt sind die Existentalisten, wie Freud vor ihnen, bereit, sich ihre Einsichten von der Literatur und der Philosophie zu holen. Aber die Autoritäten, die sie favorisieren — Nietzsche, Marcel, Tillich, Sartre, Camus — sind samt und sonders Spezialisten für die merkwürdige existentielle Angst des modernen Menschen. Und sie sind — bei allem Respekt vor ihren großen Einsichten — die eindeutigen Symptome einer neurotischen Kultur und nicht etwa ihr Heilmittel.
Selbst die Religiösen unter ihnen, Kierkegaard zum Beispiel, schließen sich der Vorstellung der modernen Wissenschaft von einem toten und fremden Universum an und ringen dann um die philosophische Überwindung dieser quälenden Grundvoraussetzung. Der Weg führt nicht durch die Natur hindurch; man versucht die Natur durch einen »wagenden Sprung des Glaubens« zu transzendieren. Die Natur ist das Gefängnis, dem wir entkommen müssen, auf der Suche nach einem Gott, der als das Unvorstellbare, dem Menschen gänzlich Fremde gedacht wird.
Zugegeben, man kann viel lernen, wenn man die Äußerungen so beredter Opfer unseres entfremdeten Status studiert. Aber wenn die Therapie eine Lehre daraus ziehen wollte, so müßte sie die eine Frage stellen, die diese sensiblen, aber völlig urbanisierten Denker nie aufwerfen: Wo liegt die Ursache der »epistemologischen Einsamkeit«, die das moderne Leben charakterisiert? Könnte sie in unserer ökologischen Ignoranz liegen? Der qualvolle Zustand des pathologisch isolierten Ich ist es, der Menschen dazu bringt, psychotherapeutische Hilfe zu suchen, und von diesem Ausgangspunkt aus müssen sie ihre Suche nach dem Selbst beginnen. Aber kann die verarmte, grundsätzlich negative Vorstellung von einer umgebenden Natur, die wir im Umweltbegriff der Daseinsanalyse verkörpert finden, wirklich etwas zur Heilung dieses Isolationszustandes beitragen?
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Mary Midgley, die sich darum bemüht, die subtilen und komplexen Verbindungen zwischen Tier und Mensch in unserem kulturellen Erbe nachzuzeichnen, sieht in der doktrinären Ablehnung der physischen und biologischen Welt das »wirklich monströse Element« des Existentialismus. Die existentialistische Philosophie argumentiert so,
10»als bestehe die Welt nur aus toter Materie (Dingen) einerseits und völlig rationalen, gebildeten erwachsenen Menschen andererseits, so als gäbe es überhaupt keine anderen Lebensformen. Der Eindruck der Verlassenheit und >Geworfenheit<, der das Lebensgefühl der Existentialisten prägt, geht mit Sicherheit nicht auf die Abwesenheit Gottes zurück, sondern auf diese verächtlich-ignorante Zurückweisung der Biosphäre, der Pflanzen, Tiere und Kinder. Wenn das Leben auf ein paar urbane Räume zusammenschrumpft, kann es nur noch absurd erscheinen.«
Auch in einer anderen Hauptströmung der postfreudianischen Psychologie, die Object Relations — Objektbeziehungen — zu ihrem Ausgangspunkt macht, ist »Umwelt« ein häufig gebrauchter Begriff. Aber bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, daß damit die soziale Umwelt gemeint ist, die nach der Auffassung dieser Schule unmittelbar nach der Geburt ihren prägenden Einfluß auf das Individuum auszuüben beginnt. »Die äußere Welt, an die der menschliche Organismus sich anpassen muß, ist ohne Frage eine soziale Welt«, erklärt Jay Greenberg.21
Genauer gesagt: Diese soziale Welt ist zunächst einmal die Mutter, die, wenn sie ihrer Aufgabe in idealer Weise gerecht würde, die »förderliche Umwelt« für die harmonische Entwicklung des Kindes wäre. Von keiner Mutter wird wirklich Perfektion erwartet; lediglich »gut genug« soll sie sein. Aber ob perfekt oder nur adäquat, die Mutter erfüllt jedenfalls eine sozialisierende Funktion. Sie muß dafür sorgen, daß der Ablösungs- und Individuationsprozeß des Kindes glatt vonstatten geht. Die Formung der Geschlechtsidentität und die Rollenerziehung sind Bestandteile dieses Prozesses, und wenn er abgeschlossen ist, wird eine weitere beglaubigte und gestempelte urban-industrielle Persönlichkeit in die Kultur entlassen, bereit, eine Berufslaufbahn einzuschlagen, eine Familie zu gründen, Vorteil zu ziehen aus dem, was der Markt zu bieten hat, und generell in demselben Zustand ökologischer Ignoranz zu leben wie zuvor die Eltern.
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Um ein letztes Beispiel anzuführen: Selbst wenn wir uns der kühn innovativen humanistischen Psychologie des späten zwanzigsten Jahrhunderts zuwenden, stoßen wir auf dieselbe kulturelle Beschränktheit, dieselbe Reduzierung der physischbiologischen Umwelt auf den Status des Nichtexistenten. Das bahnbrechende Werk Adam Maslows zum Beispiel ist nur in einer lammfrommen und defensiven Weise »humanistisch«; es strahlt dieselbe Aura von Resignation aus, die über den Geisteswissenschaften an unseren Universitäten liegt. Dort vegetiert das Studium der Literatur, der Philosophie, der Geschichte und der Kunstgeschichte als ghettoisierter Wissenskomplex dahin, in strikter Trennung von den Naturwissenschaften. Die Geisteswissenschaften widmen sich ausschließlich dem rein subjektiven Geschehen, das innerhalb des menschlichen Bewußtseins stattfindet. Die Welt außerhalb und jenseits davon überläßt man den Naturwissenschaften.
Ähnliches gilt für die humanistische Psychologie: Das »Wachstum« und die »Selbstverwirklichung«, die ihr so sehr am Herzen liegen, stehen nicht in Beziehung zur realen Welt außerhalb des Bewußtseins. Sie sind Privatangelegenheiten der individuellen Psyche. Laut Maslow hat die Psychologie ihren »ganz eigenen Zuständigkeitsbereich«. Sie befaßt sich mit jenen Dimensionen der Psyche, die »keine Spiegelung der Außenwelt oder eine Adaptation an sie« sind. Aber die einzige »Außenwelt«, die Maslow im Sinn hatte, war natürlich die Welt der sozialen Beziehungen. Aus seiner Gegenposition zur interpersonellen Psychologie — etwa eines Harry Stack Sullivan — heraus, der er eine fremdbestimmte Ausrichtung attestierte, entwickelte Maslow sich mehr und mehr zum Verfechter einer »reinen Psyche« oder eines »autonomen Selbst«. So wird er zu einem traurigen, aber aufschlußreichen Beispiel dafür, was aus einer ehrgeizigen psychologischen Theorie wird, wenn ihr die ökologische Dimension fehlt. Maslows Ideal war der »Widerstand gegen die Anpassung« und das »Transzendieren der Umwelt«, wobei »Umwelt« in rein sozialen Dimensionen zu verstehen ist.
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An einem gewissen Punkt nahm er sich jedoch zurück, weil er glaubte, sein Konzept vom autonomen Charakter allzu weit in Richtung Distanz von der Umwelt entwickelt zu haben. Die Suche nach dem »wirklichen Selbst« — so »paradox« es auch erscheinen möge — könne tatsächlich zu einer Form der Wieder-Verbundenheit mit der Umwelt reifen, erklärte er. Aber da Maslow, der Akademiker und Kliniker, sich keine Welt jenseits der sozialen Umwelt vorstellen konnte, konzedierte er lediglich die Möglichkeit einer »grundlegenden biologischen Verbundenheit mit allen anderen Menschen«. Soweit die humanistische Psychologie.22
Psychologische Schulen wie diese wurden aus einer gesunden Revolte gegen den tristen Reduktionismus und die engstirnige biologistische Ausrichtung der Behavioristen und Freudianer geboren, aber die Rebellion endete mit der Verkapselung in einem existentiellen Vakuum. Bei den Existentialtherapeuten oder bei Maslow sucht man vergebens nach irgendeiner Form von Sensibilität für die nicht-menschliche Welt. Diese Welt ist einfach nicht vorhanden; man hat sie an die »exakten« Wissenschaften abgetreten. Sinn, Wert, Bedeutung haben im Außen keinen Orientierungsrahmen; sie müssen innerhalb des menschlichen Herzens improvisiert werden.
Die Psyche und die Biosphäre
Es war völlig gerechtfertigt, daß die Post-Freudianer bestrebt waren, sich von den Beschränkungen der klassischen Psychoanalyse zu lösen und nach einem breiteren sozialen Kontext für die Psychotherapie zu suchen. Ebenso gerechtfertigt war es, daß sie sich in ihrem Bemühen, eine relevante und hilfreiche Therapie zu schaffen, von dem Weg abwandten, den Freud in »Jenseits des Lustprinzips« vorgezeichnet hatte. Dort draußen in der sternklaren Kälte des nichtmenschlichen Universums schien Freud nichts gefunden zu haben, was von praktischem, therapeutischem Wert gewesen wäre.
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Was seine Nachfolger nicht einschätzen konnten, war die Dynamik einer urbanen Kultur, die an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung störend und zerstörend in das Gleichgewicht der planetaren Umgebung eingreifen sollte. Da dieser Punkt nun erreicht ist, können wir der Frage nach der Beziehung zwischen der menschlichen Welt und der Welt der nichtmenschlichen Natur nicht länger ausweichen. Jetzt ist es von ausschlaggebender Bedeutung, die Familie und die Gesellschaft in einen ökologischen Kontext einzuordnen. Kranke Seelen können in der Tat die Produkte kranker Familien und kranker Gesellschaften sein, aber nach welchen Kriterien ist die Krankheit einer ganzen Gesellschaft zu diagnostizieren? Viele Kriterien könnten hier genannt werden, aber das Hauptkriterium, das über allen anderen rangiert, ist zweifellos dieses: Eine Spezies, die durch ihre Orientierung an falschen Werten und in halsstarriger Ignoranz dessen, was sie anrichtet, ihr eigenes Habitat zerstört, ist »verrückt«, im wahren Sinn des Wortes.
Innerhalb eines solchen ökologischen Bezugsrahmens finden wir vielleicht den Ansatzpunkt zu jener »höheren Vernunft«, auf die sich die radikalen Therapeuten bei ihrem Widerstand gegen die Willkür der herrschenden sozialen Autorität berufen. Das verwissenschaftlichte psychiatrische Establishment, mit dem sie im Streit liegen, gründet sich schließlich auf dieselbe Vorstellung von Natur, die in der offiziellen Politik der Industriegesellschaften vorherrscht. Aus dieser Erkenntnis könnte sich eine Psychologie der Beständigkeit ableiten, die das konventionelle Wissen und die flüchtigen Werte unserer Zeit transzendiert.
Die zwei kühnen neuen Wege, die Freud in seinen späteren Jahren beschritt — seine Suche nach einem transkulturellen Standard für Vernunft und geistige Gesundheit und sein Versuch, das Mentale und das Physische zu integrieren — vereinen sich innerhalb eines ökologischen Bezugsrahmens. Das Problem hat eine historische Dimension, die dem ökologischen Kriterium für Vernunft und geistige Gesundheit besondere Relevanz für unsere Zeit verleiht. In der Vergangenheit haben Gesellschaften in ihrer Ignoranz Teile ihres Habitats so gründlich ruiniert, daß ihr eigenes Überleben in Frage gestellt war, aber die Dringlichkeit des Problems war weitaus geringer, als wir sie heute erfahren.
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Flußtäler wurden verwüstet, Wälder abgeholzt, der fruchtbare Boden wurde vom Wind davongetragen, aber der Schaden war begrenzt und vorübergehend. Andere Gesellschaften, die weit von der Szenerie der Verwüstung entfernt lebten, erfuhren vielleicht nie von den tragischen Verlusten. Die Gattungen, mit denen wir den Planeten teilen, blieben von den Verheerungen, die ihre überklugen menschlichen Verwandten anrichteten, unbeeinträchtigt. Populationen wechselten ihr Terrain und vermehrten sich weiter. Bald nach der Katastrophe — im Lauf einiger Jahrzehnte oder Jahrhunderte — war das Land geheilt, die Verwüstung mit dem gnadenvollen Mantel der Natur bedeckt. Die Wellen rollten weiter auf den Sand, die großen natürlichen Systeme des Planeten schlossen die Wunden und kreisten unbeeinträchtigt weiter in ihren eigenen Zyklen.
Jetzt hat sich das alles verändert. Wir haben eine enorme Macht über die globale Umwelt gewonnen, eine einzelne menschliche Erfindung kann vermarktet und weltweit genutzt werden, ehe wir erkennen, welche Schäden sie der Umwelt zufügt. Immer wieder werden wir gewarnt, daß die Industriekultur aus purer Unachtsamkeit innerhalb weniger Jahrzehnte die Biosphäre so grundlegend aus dem Lot werfen kann, daß äonenalte ökologische Harmonien für Jahrtausende gestört bleiben werden.
Die Fluorchlorkohlenwasserstoffe, die als Treibgase und Kühlflüssigkeiten benutzt werden, sind ein lehrreiches Beispiel für eine so tödliche - und dennoch völlig alltägliche - Dynamik. Die FCKWs wurden in den dreißiger Jahren zum ersten Mal kommerziell genutzt und von diesem Zeitpunkt an rapide über die ganze Welt verbreitet, bis zwei Wissenschaftler (Frank Sherwood Rowland und Mario Molina von der University of California) in den siebziger Jahren aus purer Neugier auf die Idee kamen, sich zu fragen, welche Wege diese seltsame neue Chemikalie geht, nachdem man sie in die Atmosphäre entlassen hatte. Die Antwort war schockierend. Die FCKWs zerstören die Ozonschicht, die das Leben auf der Erde vor der potentiell tödlichen Ultraviolettstrahlung aus dem All schützt.
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Seit der Entdeckung des ersten Ozonlochs über der Antarktis begreifen wir endlich, daß von dieser Substanz eine tödliche Gefahr ausgeht. Aber selbst jetzt, da die Gefahr unwiderleglich bewiesen ist und uns klar vor Augen steht, bleibt ungewiß, ob wir - oder vielmehr die Regierungen - schnell genug und konsequent genug handeln werden, um den Schaden zu heilen oder auch nur zu begrenzen. Es gibt übrigens immer noch einige »Experten«, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Daten anmelden, so als wäre es das Klügste, das Risiko einzugehen und keinerlei Maßnahmen zu ergreifen, bis wir absolut sicher sind, daß unser Überleben auf dem Spiel steht.
Und dabei haben wir es hier noch mit einem eher unbedeutenden Produkt zu tun, dessen Nutzanwendung zu großen Teilen im Bereich unwichtiger modischer Konsumartikel liegt. Daraus könnte man schließen, daß uns als Spezies ein zentraler Instinkt oder Reflex fehlt, daß wir einfach nicht fähig sind, auf Probleme dieser Größenordnung zu reagieren. Statt dessen erfinden wir durchsichtige Ausreden, um unsere destruktiven Gewohnheiten ungehindert fortzusetzen; »die Arbeitsplätze«, sagen wir, »die Industrie muß zu Investitionen angeregt werden«, oder »wir wollen unseren Lebensstandard nicht opfern«. Kann es sein, daß unsere Überlebensinstinkte nur auf offensichtliche, unmittelbare, überschaubare Gefahren eingestellt sind? Wie würden wir einen Mann einschätzen, der sich nicht entschließen kann, aus einem lichterloh brennenden Gebäude zu flüchten, nur weil er seine Kreditkarten nicht finden kann? Wir würden ihn zweifellos für einen Irren halten. Aber genauso verhalten wir uns in der Konfrontation mit der globalen Krise; wir verzetteln uns mit ähnlich nichtigen Ablenkungen.
Eine psychologische Theorie, die zu irrationalem Verhalten von solchen Ausmaßen nichts zu sagen hat, ist zweifellos mit einem tiefen Makel behaftet. Eine Kultur, die das Gewebe des Planeten, der sie erhält, so tiefgreifend schädigen kann, und dennoch nicht innehält, um einen anderen Kurs einzuschlagen, ist wahnsinnig, ist von einem zwanghaften Vernichtungswahn befallen, der sich außer auf uns selbst auf das gesamte unschuldige Leben um uns erstreckt. Wir haben eine weltweite Monokultur geschaffen und ungemein viel Kreativität darauf verwendet, diesen Wahnsinn zu rationalisieren.
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In dieser Monokultur überlebt nur das, was sich der urbanen Industriezivilisation angleichen, zu ihrem Attribut oder Bestandteil werden kann. Ein solcher Raubbau an der planetaren Vielfalt ist ökologisch nicht nur höchst riskant, sondern könnte leicht auf einen Genozid hinauslaufen. Aber selbst wenn wir von dieser grauenhaften Vorstellung absehen, beraubt die Zerstörung der Biosphäre uns der Schönheit und Größe der Dinge. Und der Verlust, den dieses Verbrechen an der Biosphäre nach sich zieht, trifft uns genauso, wie er jede Pflanzen- oder Tierart trifft, die wir ausrotten. Der Planet wird natürlich fortbestehen und vielleicht in kommenden Äonen ein neues Abenteuer des Lebens zur Entfaltung bringen. Aber wir werden durch die Intensität unserer destruktiven Energien in einer Weise reduziert, die uns zu Krüppeln macht, unfähig, Freude zu empfinden, uns weiterzuentwickeln, schöpferisch zu sein. Wenn wir unsere »menschlichen« Fähigkeiten in so aggressiver und dominanter Weise entwickeln, verlieren wir unsere grundlegende Menschlichkeit.
Das Problem, das wir hier aufwerfen, ist zugleich ethischer und psychologischer Natur. Verhärtete Fronten lassen die Umweltdebatte stagnieren; zunehmend verzweifelte Ökologen stehen einer weitaus größeren Zahl unbelehrbar expansionsfreudiger Unternehmer gegenüber. In der tieferen Schicht, über der die Kontroverse sich abspielt, geht es um wesentliche Fragen, die sich darauf beziehen, was wir als »real« wahrnehmen und was wir unter dem »Guten« verstehen.
Gegen Ende der achtziger Jahre nahm das Science Advisory Board (SAB), das die amerikanische Umweltschutzbehörde (Environmental Protection Agency, EPA) berät, die Prioritäten, die diese Behörde im Lauf der politisch konservativen Ära für ihre Arbeit gesetzt hatte, in einem kritischen Bericht unter die Lupe. Besonders heftig wurde die Bereitwilligkeit der Umweltbehörde kritisiert, sich in ihrer Wächterfunktion so weit zurückzunehmen, daß sie nur noch mit minimalem Nachdruck auf Probleme reagierte, die eine unmittelbare Gefährdung für die öffentliche Gesundheit darstellten.
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Das SAB konzedierte in seinem Bericht, daß »gesunde Ökosysteme die Grundvoraussetzung für gesunde Menschen und eine gesunde Wirtschaft« sind, sprach sich aber gleichzeitig für einen Wandel in der ethischen Einstellung aus:
— im Unterschied zu ökologischen Risiken — ist völlig inadäquat, denn in der realen Welt gibt es zwischen beiden kaum Unterschiede.«23»Der Wert natürlicher Ökosysteme ist nicht auf ihre unmittelbare Nützlichkeit für den Menschen beschränkt. Sie haben einen intrinsischen ethischen Wert, der auch nur in ethischen Kategorien erfaßt werden kann, und sie müssen um ihrer selbst willen geschützt werden. (...) Die EPA hat den natürlichen Ökosystemen nicht genügend Aufmerksamkeit entgegengebracht. (...) Ihre Reaktion auf Risiken für die menschliche Gesundheit
Die Sprache ist vielleicht gestelzt und akademisch, aber wenn man genau hinhört, klingt in diesen Worten der aufrüttelnde Appell Chief Seattles an, der an einer früheren Stelle dieses Kapitels zitiert wurde. Was ihn bewegte, als er das Abschlachten der Tiere beklagte, die diesen Planeten mit uns teilen, bewegt auch die Wissenschaftler, wenn sie eine Umweltethik fordern, die das Lebensrecht der nichtmenschlichen Natur einbezieht. Aber bei einem beträchtlichen Teil der Unternehmenswelt traf der noble Appell des SAB auf taube Ohren. Eine der führenden Wirtschaftshochschulen des Landes formulierte eine Kritik an dem Bericht, in der es heißt:
»Wenn das Science Advisory Board natürliche Ressourcen dadurch mehr gewürdigt wissen will, daß man ihnen einen intrinsischen ethischen Wert zuschreibt, der auch nur >in ethischen Kategorien erfaßt werden kann<, dann wird der Prozeß in einen ideologischen Disput ausarten, in dem Entscheidungen ohne Rücksicht auf gesunde wissenschaftliche und wirtschaftliche Prinzipien getroffen werden. Ein Ökosystem >um seiner selbst willen< zu schützen, ist ein Blankoscheck-Ansatz, der beinhaltet, daß viele Opportunitätskosten getragen werden müssen — Verluste in bezug auf Wohlstand und öffentliche Gesundheit eingeschlossen. (...)
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24Oft ist das, was für Ökosysteme gut ist, auch gut für Wohlstand und menschliche Gesundheit. Wenn man das SAB beim Wort nimmt, wird von der amerikanischen Bevölkerung jedoch verlangt, die gefleckte Waldeule und den Deltastint genauso wichtig zu nehmen wie ihre Mitmenschen. Die meisten Menschen sind nicht bereit, sich der Vorstellung anzuschließen, daß sie im Universum nicht mehr Bedeutung haben als Eulen oder Fische.«
Ganz offensichtlich ist die »reale Welt«, wie die Wissenschaftler des SAB sie wahrnehmen, nicht die »reale Welt« leitender Wirtschaftsfunktionäre. Wenn man die Umweltproblematik allerdings in der Art angeht, wie die Wirtschaftsfunktionäre es tun, als Kosten-Nutzen-Analyse, die eine Spezies gegen die andere ausspielt, scheint jedes Umweltproblem, mit dem wir konfrontiert sind, auf dieselbe Frage hinauszulaufen: Ist die Erhaltung der Eule, des Stints, des Delphins es wert, daß Profite eingeschränkt werden, Arbeitsplätze verlorengehen, daß die dominante Spezies dieses Planeten Einbußen in bezug auf ihren Lebensstandard hinnehmen muß? Wenn wir von solchen »gesunden wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Prinzipien« ausgehen, würde dann nicht die Grenze erst bei der totalen Auslöschung der planetaren Vielfalt gezogen werden — angenommen, es läge in unserer Macht, ein so alptraumhaftes Ziel zu erreichen?
Die eng kalkulierte Logik eines solchen Denkens erinnert an Paranoide, die ihr Wahnsystem Punkt für Punkt mit juristischer Präzision belegen. Innerhalb dieses winzigen Universums unhinterfragter Grundvoraussetzungen fällt jedes Ereignis in das richtige Raster, ist jedes Argument vollkommen einleuchtend, aber das System als ganzes ist verrückt. Lewis Mumford nannte das einmal »verrückte Rationalität«; sie zeigt sich nirgends auffälliger als in unserer Beziehung zur nichtmenschlichen Welt der Natur, aus der unsere menschliche Welt hervorging.
Zu den führenden Gestalten der Existentialpsychologie gehört Viktor Frankl, der aufgrund seines persönlichen Schicksals die extremste aller »Grenzerfahrungen« in sein Lebenswerk integrierte.
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Als Überlebender des Holocaust hatte Frankl in den Konzentrationslagern der Nazis erfahren, wozu die menschliche Natur fähig ist. Er kehrte mit dem festen Entschluß in die Welt zurück, das Höllische, das er erlitten hatte, in die psychologische Theorie der Gegenwart hineinzunehmen. Obwohl er die Arbeit seiner Vorgänger respektierte, mokierte er sich über die behaglich-bourgeoisen Ursprünge seiner Profession:
Dort (...) ließen die Leute die Maske fallen, sowohl die Schweine als auch die Heiligen.«(25)»Dem Himmel sei Dank, daß es Sigmund Freud erspart blieb, die Konzentrationslager von innen kennenzulernen. Seine Analysanden lagen auf einer Couch im plüschigen Geschmack der viktorianischen Ära, nicht im Dreck von Auschwitz.
Es ist in erster Linie Viktor Frankl zu verdanken, daß die ernsthafte Psychologie sich dem Grauen der Konzentrationslager und des Krieges insgesamt stellte und dadurch gezwungen war, ihr Menschenbild zu revidieren. Diese Aufgabe war eine qualvolle Zerreißprobe, aber ihr auszuweichen, um das therapeutische Alltagsgeschäft ungestört fortzusetzen, wäre ein Akt der Feigheit gewesen. Frankl erklärte mit Nachdruck, es gäbe Parameter des Terrors und der Verzweiflung, denen man, so unfaßlich sie seien, nicht ausweichen dürfe: »Seien wir also wachsam — wachsam in zweifacher Hinsicht: Seit Auschwitz wissen wir, wozu der Mensch fähig ist. Und seit Hiroshima wissen wir, was auf dem Spiel steht.«
Jetzt erreichen wir auf unserem Erkundungsweg in die dunkelsten Sphären der Psyche einen weiteren Meilenstein, den bisher imposantesten. Unsere technologische Macht ist im Begriff, weltweite Verbreitung zu erlangen, und dies ist der Augenblick, in dem wir den Grenzbereich betreten. Was Auschwitz für die hinter seinen Stacheldrahtzäunen eingepferchten Menschen war — eine perfekt rationalisierte, effizient organisierte Tötungsmaschinerie —, wird unser urban-industrielles System in rapidem Tempo für die gesamte Biosphäre, und damit auch für uns selbst, die wir dieser globalen Umwelt als untrennbarer Bestandteil angehören.
Die Dimensionen der psychologischen Theorie und mit ihnen unser Verständnis unserer Verbundenheit mit allem Leben und Geschehen, dem menschlichen, dem nichtmenschlichen und dem transmenschlichen, müssen sich so weit ausdehnen, daß sie das planetare Habitat in seiner Ganzheit umfassen. Auch hier wieder wäre es ein Akt der Feigheit, sich der Herausforderung nicht zu stellen.
In einem seiner späten prophetischen Essays stellt Freud Überlegungen zum Problem des kollektiven Wahnsinns an und konstatiert dabei eine »besondere Schwierigkeit«: »Bei der Einzelneurose dient uns als nächster Anhalt der Kontrast, in dem sich der Kranke von seiner als >normal< angenommenen Umgebung abhebt. Ein solcher Hintergrund entfällt bei einer gleichartig affizierten Masse, er müßte anderswoher geholt werden.«(26)
Was nun folgt, ist eine Erkundung dieses »Anderswo«. Sie beginnt mit der ältesten Psychologie, die wir kennen.
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detopia-2023: Heute kann Viktor Frankl mit Warlam Schalamow ergänzt und erweitert werden .