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3. Steinzeitpsychologie: Eine spekulative Rekonstruktion

Roszak-1992

    Heiligen       Realität   

  Molchaugen und Froschzehen 

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In Amerika werden die Psychotherapeuten scherzhaft »shrinks« genannt — Kopfschrumpfer. Das bezieht sich auf Kopfjäger und auf die unheimliche Geschick­lichkeit ihrer Medizinmänner, abgetrennte Köpfe auf die Größe von Hühnereiern schrumpfen zu lassen. 

Es ist ein makabrer Scherz, aber jedesmal, wenn wir das Wort gebrauchen, deuten wir damit auch an, daß der Medizinmann, der Fetischpriester, der Schamane — der ursprüngliche Heiler der Seelen — Vorgänger des Psychotherapeuten war. Es liegt natürlich auch eine gewisse Häme darin, die sagen will, daß unserer aufgeklärten Wissenschaft von der Seele ein gewisser Rest von Quacksalberei und Hokuspokus anhängt. Aber könnte in der vermeintlich primitiven und abergläubischen Praxis der Medizinmänner und Schamanen nicht doch etwas von zumindest marginalem Wert zu finden sein? Haben traditionelle Kulturen unserer Industriegesellschaft vielleicht doch etwas mitzuteilen über Vernunft und seelische Gesundheit? 

Der Anthropologe Marshall Sahlins, der sich bemühte, ein Gesamtbild des Lebens unter Jägern und Sammlern nachzuzeichnen, unternahm einmal den Versuch, eine »Steinzeit-Ökonomie« zu rekonstruieren, denn er meinte, daraus könnten wir etwas über die Bedeutung von Armut und Reichtum lernen. Gibt es auch so etwas wie eine »Steinzeit-Psychologie«, eine archaische Schicht der Wissenschaft von der Seele, in der wir nach ähnlichen Einsichten schürfen könnten?

Noch bis zur Mitte dieses Jahrhunderts oder darüber hinaus hatten sogar ausgebildete anthropologische Beobachter die Neigung, Stammesheiler als Scharlatane und ihre Praxis als bloße Quacksalberei zu betrachten.

Manche der Gelehrten klassifizierten alle Schamanen als Psychotiker, die ihre Sonderstellung in der Stammes­gesellschaft nur ihrem bizarren Auftreten verdankten. Die Begriffe, in denen man sie beschrieb, rangierten von der distanziert-technischen Terminologie der Psychiatrie (»neurotisch-epileptoider Typus«) bis hin zum offenen Abwerten (»veritable Idioten«), aber letztlich lief alles darauf hinaus, die traditionelle Seelenheilkunde der Stammesgesellschaften als die Behandlung der Irren durch die Irren zu betrachten. 

Es ist vor allem dem französischen Anthropologen Claude Levi-Strauss und den von seinem Werk inspirierten Studien in transkultureller Psychiatrie zu verdanken, daß diese Vorurteils­haltung neuen Einsichten weichen mußte. Wir erkennen seither, daß Stammesgesellschaften über spirituelle und psychotherapeutische Traditionen verfügen, die bei der Behandlung ihrer eigenen Leute effektiver sind als die westliche Medizin, vor allem wenn es sich um mentale und psychische Störungen handelt. 

Der Anthropologe I.M. Lewis drehte die gesamte Fragestellung um und kam zu der Theorie, daß unsere Psychotherapie eigentlich nur eine verkleinerte Unterkategorie der traditionellen Heilkunst darstellt. »Die bedeutungs­vollere Entsprechung liegt darin«, erklärte er, »daß die Psychiatrie, und insbesondere die Psychoanalyse — wie Jung vielleicht sehr viel freimütiger konzediert hätte als die meisten Freudianer — begrenzte und unvollkommene Formen des Schamanismus darstellen.«1) Was Freud selbst angeht, ist die Bemerkung nicht ganz fair, denn er gab bereitwillig zu, daß Stammesheiler sich ebenso meisterhaft darauf verstehen wie viele Psychoanalytiker, eine Atmosphäre des »erwartungsvollen Vertrauens« herzustellen, die von großem therapeutischem Wert ist.2)

Am auffälligsten unterscheidet sich die alte Psychotherapie von der neuen durch ihre Komplexität und das breite Spektrum, in dem sie sich bewegt. In Stammesgesellschaften wird die Unterscheidung zwischen dem Physischen und dem Psychischen weitaus weniger rigide gehandhabt als in unserer Kultur. Man könnte fast sagen, daß die traditionelle Heilkunst alle Krankheiten psychosomatisch betrachtet, in dem Sinn, daß die Psyche immer mit der Ätiologie der Krankheit in Verbindung steht. Ein Eskimo-Schamane behandelt selbst einen erfrorenen Fuß als psychische Störung. Deshalb müssen zu seiner Heilung auch Gedanken, Träume und Emotionen mobilisiert werden.


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Die Steinzeitpsychologie arbeitet auf einer sehr breiten Ebene. E. Fuller Torrey, der den »psychiatrischen Imperialismus« der westlichen Gesellschaften kritisiert, weist daraufhin, daß Heilung in engem Zusammenhang mit den kulturellen Banden steht, die für den Therapeuten und den Klienten die gemeinsame Basis bilden. Ein gemeinsames Weltbild, ein für beide Seiten verständliches diagnostisches Vokabular, wechselseitig respektierte Ideen und Prinzipien bewirken das Vertrauen und die Überzeugungskraft, ohne die Heilung nicht stattfinden kann.4 

Aber selbst wenn wir gelernt haben, daß die Praktiken der Stammesheilkunde bei der Behandlung der Eingeborenen effektiver sein können als die moderne westliche Psychiatrie, hat dieses Wissen für uns wenig unmittelbaren Wert — es sei denn, wir finden zwischen uns und den Menschen in Stammeskulturen Gemeinsamkeiten, die uns erlauben, einen Teil ihrer Kultur zu übernehmen. Vielleicht ist der desolate Zustand der globalen Umwelt und unsere Verzweiflung darüber diese gemeinsame Basis. Wenn wir in unserer Beziehung zur Natur so gründlich versagt haben, wie die ökologische Krise es nahelegt, müssen wir überall nach Hilfe Ausschau halten, wo auch nur die mindeste Hoffnung auf Hilfe besteht, und müssen lernen, uns Einsichten zu öffnen, die aus unserer Kultur längst verschwunden sind. Wo sonst als in der Erfahrung unserer Mitmenschen, die in einer anderen Welt zu Hause sind und ein andersgeartetes Leben führen, sollten wir nach diesen Einsichten suchen?

Aber hier stellt sich für jeden, der an mehr als einer akademischen Betrachtung der Stammesheilkunst interessiert ist, ein schwerwiegendes Problem. Die Therapien der Stammeskulturen präsentieren sich uns als ein undurchdringliches Gemisch von exotischen, »irrationalen« Praktiken. Mit dem Wissensschatz, der dahintersteht, sind wir nicht vertraut; die verblüffende Vielfalt der Kräfte und Geister, die darin eine Rolle spielen, verwirrt uns. Jede Gruppe hat ihre eigenen Rituale, ihre eigenen Beschwörungs­formeln und Anrufungen.


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Als außenstehende Beobachter sind wir vielleicht überzeugt, daß den vielen Variationen gemeinsame Themen zugrundeliegen; wenn dem so ist, liegt es bei uns, sie herauszuhören. Dennoch ist dieser selektive und abstrahierende Prozeß eine Freiheit, die wir uns mit den lebendigen Überlieferungen anderer Leute herausnehmen. Die Gewohnheit zu generalisieren ist ein ausgesprochen moderner westlicher Ansatz beim Studium von Kulturen. Eingeborene Heilerinnen und Heiler haben wenig Interesse daran, ihre Methoden oder Prinzipien in den Status der Allgemeingültigkeit zu erheben. Wir sehen das vielleicht als natürliche Folge der kulturellen Isolation, aber andererseits kann kein Jungscher Archetypus — so differenziert er auch sein mag — der Bedeutung, die der Büffel für die Sioux oder der Seehund für die Inuit hat, gerecht werden. Menschen in Stammeskulturen meinen, daß Symbole und Riten ihre Kraft verlieren, wenn man sie aus dem kulturellen Boden herausreißt, in dem sie wurzeln. 

Verschiedene Stammesheiler wiesen jeden Versuch, einheimische Praktiken aus ihrem kulturellen Zusammen­hang herauszulösen, als vollkommen sinnlos zurück. Sudhi Kakar, der im Süden Indiens die Praktiken der Anhänger des Tantrismus studierte, stieß auf schroffe Ablehnung, als er die Mantras, die diese Menschen benutzen, um veränderte Bewußtseinszustände hervorzurufen, als das symbolische Äquivalent unbewußter emotionaler Mechanismen zu deuten versuchte. Seine Informanten erklärten mit Nachdruck, zwischen den physischen Schwingungen gewisser Klänge und den Stimmungen, die sie in den Praktizierenden hervorrufen, bestehe eine geheimnisvolle, aber unmittelbare Verbindung. Außerhalb der dörflichen Kultur Indiens aber hätten diese verbalen Formeln natürlich keine Bedeutung.

Traditionelle Therapie trägt oft die Züge eigenwilliger lokaler Beschränkung. Sie ist eingebettet in Ort und Geschichte, in die Rhythmen des Klimas, die Konturen einer Landschaft, deren Vögel und Tiere seit Jahrhunderten die vertrauten Gefährten der Menschen sind. In der lokalen Überlieferung nimmt ein Fluß, ein Berg, ein Hain den Charakter eines Stammesahnen an, einer Präsenz, deren Namen und Bedeutung über Generationen weitergegeben wird.


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Kultischen Gegenständen ist eine besonders sinnträchtige Macht eigen. Wenn die Manangs von Borneo ihre Patienten aufsuchen, tragen sie ein Medizinbündel mit seltsamen Utensilien bei sich; es enthält das Horn eines Riesenkäfers, ein Quarzamulett — den »Stein des Lichts« —, den Hauer eines wilden Ebers, der die Macht hat, verirrten Seelen den Weg zurück in den Körper zu weisen. Was können wir mit diesen Dingen anfangen? 

Sie erinnern an die sprichwörtlichen »Molchaugen und Froschzehen«, an die Merkwürdigkeiten, die magische Praktiken so grotesk erscheinen lassen. Aber die Effektivität der schamanischen Methode liegt eben in erster Linie im Besonderen und Spezifischen, in der Präzision, mit der sie die emotionale Befindlichkeit des Patienten zu orten weiß. Was wir, die modernen Beobachter, mit unserem Streben nach Allgemeingültigkeit und Übertragbarkeit erreichen, ist letztlich unsere ganz eigene Sache, eine neue Schöpfung, die vielleicht der Farbigkeit und der Kraft des Originals entbehrt.

Was nun folgt, sind einige zweifellos pauschalisierende, aber in meiner Sicht vertretbare Beobachtungen über die Bedeutung von seelischer Gesundheit und Wahnsinn in Stammeskulturen, verbunden mit zugegebener­maßen weniger vertretbaren Rückschlüssen auf die Prähistorie. 

Anthropologen weisen nicht umsonst darauf hin, daß es dilettantisch sei und zu gefährlichen Irrtümern führen könne, wenn man aus den Lebensgewohnheiten und Überlieferungen gegenwärtig existierender Stammesgruppen Erkenntnisse über prähistorische Gruppen zu extrapolieren versucht. Existierende Stammesgesellschaften haben ebensoviel Geschichte durchlebt wie der Rest der Menschheit; darüberhinaus kann sich heute keine von ihnen der aufdringlichen Allgegenwart der westlichen Zivilisation entziehen. 

Aber jene Gruppen, die sich einen gewissen Grad an Autonomie erhalten haben, können uns zumindest eine Ahnung davon vermitteln, wie die Kultur der frühen Jäger und Sammler vor der Entstehung der Städte einmal ausgesehen haben mag.


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Einen weiteren Punkt möchte ich vorausschicken: Da es mir bei meiner Erkundungsreise um die Bergung zentraler Wertvorstellungen geht, nehme ich mir die Freiheit, über gewisse Praktiken »schwarzer Magie«, die man vereinzelt in Stammeskulturen findet (Hexerei, Krankheitszauber, den bösen Blick oder, im Extremfall, Menschenopfer) und die ich als wirklich primitiv und abergläubisch zu betrachten geneigt bin, hinwegzugehen, was vielleicht nur bedeutet, daß meine Phantasie einfach nicht ausreicht, um solche Bräuche zu begreifen oder gutzuheißen. Hier ziehe ich für mich die Grenze, die sich übrigens auch auf Glaubensheilungen, die Christliche Wissen­schaft und viele Praktiken der New-Age-Medizin erstreckt, die heute in der amerikanischen Gesellschaft weit verbreitet sind.

Wir alle arbeiten innerhalb gewisser Grenzen von Verständnis und Toleranz. Damit will ich nicht sagen, daß wir die Existenz scheinbar unsinniger und rückständiger Praktiken in Stammeskulturen ignorieren sollten. Obwohl ich das Problem erkenne, das sie aufwerfen, schlage ich vor, darüber hinauszuschauen; anders verfahren wir auch nicht, wenn wir uns etwa dem goldenen Zeitalter der griechischen Polis als Quelle der Inspiration zuwenden und dabei die Laster dieser Gesellschaft — Sklaverei, Kindesmord und die Herrschaft des Mobs — nachsichtig übergehen. Wie Paul Goodman einmal sagte, liegt der politische Wert der Anthropologie darin, »zu zeigen, was der menschlichen Natur verlorengegangen ist, und Experimente zu ersinnen, wie man das Verlorene zurückgewinnen kann«. Vorausgesetzt natürlich, wir betrachten das »Verlorene« als einen Schatz, den wir wiederfinden wollen.

 

   Der Bereich des Heiligen   

 

Daß der populäre Humor den »shrink« mit dem Medizinmann oder Schamanen in Verbindung bringt, ist durchaus nicht abwegig; die Psychotherapie ist tatsächlich eine uralte, universell verbreitete Praxis, die in traditionellen Gesellschaften genauso durch­strukturiert und ritualisiert ist wie bei uns. Die Heilung der Seelen findet immer an besonderen Orten und zu besonderen Zeiten statt (nur nach Vereinbarung), unter der Obhut einer ausgebildeten Fachkraft — und mit einem Honorar (vielleicht in Form eines Tauschobjekts) für geleistete Dienste. In manchen traditionellen Gesellschaften ist die Psychotherapie sogar noch weiter spezialisiert als in der modernen westlichen Welt.


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Die Senegalesen zum Beispiel haben sechs spezielle Arten von spirituellen Heilern. Bei den Navajo wird ein sogenannter »hand-trembler« - ein Handzitterer - mit der Diagnose betraut; er erfühlt den Zustand der heilung­suchenden Person intuitiv, indem er seine Hände ohne direkte Berührung über den Körper bewegt. Es gibt feste, hochdifferenzierte Kategorien, in die Navajoheiler Krankheiten einordnen; die eigentliche Heilung wird dann »Sängern« übertragen, die für eine oder mehrere dieser Kategorien zuständig sind. Manche Sänger spezialisieren sich auf den Gesang, der die »Nachtfalter-Krankheit« heilt, andere auf Gesänge, die für die »Geister­krankheit« geeignet sind, oder für diverse andere Störungen, die dieses System genau identifiziert.

Wenn wir nicht fähig sind, den hochdifferenzierten Charakter der traditionellen Psychotherapie zu erkennen, liegt das vielleicht daran, daß die Elemente, die wir dem psychotherapeutischen Bereich zuordnen würden, hier unauflöslich mit dem politischen, wirtschaftlichen und spirituellen Leben der Stammesgemeinschaft verknüpft sind. 

Die Kategorien, mit denen die Stammes­heilkunst arbeitet, leiten sich aus den Mythen und Überlieferungen der Gemeinschaft her; ihre stärkste Wirkung entfaltet diese Heilkunst nicht selten in Zuständen der Trance oder Ekstase. Schamanische Heiler interpretieren eine Psychose oft als Zustand dämonischer Besessenheit; nicht die klinische Analyse, sondern der rituelle Exorzismus ist die Methode der Wahl. Wahnsinn vermischt sich mit Tabuverletzungen, mit Verfehlungen auf der spirituellen Ebene. Daraus ergeben sich vielfältige Unterschiede zu der Psychotherapie, wie wir sie kennen.

Jede Psychologie — ob traditionell oder modern — geht von der Grundannahme aus, daß im Seelenleben mehr vor sich geht, als uns normalerweise bewußt ist. Das bewußte Leben ist nur die äußere Schale einer viel größeren, schattenhaften Identität.


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Selbst doktrinäre Behavioristen, denen Begriffe wie »Geist«, »Seele« oder »das Unbewußte« ein Greuel sind, erkennen an, daß ein voll ausgebildeter Reflexbogen etwa sich unterhalb der Ebene des wachen Bewußtseins in den tiefen Abgründen des zerebralen Kortex abspielt. Die großen Kontroversen zwischen den verschiedenen psychologisch-psychiatrischen Schulen entzünden sich an der Frage, in welcher Beziehung dieser verschüttete und verborgene Teil des Bewußtseins zum Körper steht. Wie sollen wir uns das psycho-somatische (Körper-Seele-) Kontinuum vorstellen? Hier müssen wir mit Vorsicht vorgehen. Auf den ersten Blick scheinen unsere Kultur und die traditionellen Gesellschaften eine ähnliche Auffassung vom »Psychosomatischen« zu haben, aber diese Ähnlichkeit ist irreführend. In beiden Fällen geht man davon aus, daß zwischen der Psyche und dem Körper Verbindungen existieren. Aber welcher Status wird dabei jeweils dem Körper zugebilligt?

 

In der westlichen Welt wurde das biologisch-medizinische Modell der Psyche in Anlehnung an das bereits existierende biologisch-medizinische Modell des Körpers entwickelt. Der Körper, dem das Bild des Bewußtseins nun angeglichen wurde, war innerhalb dieses Modells schon ein entzaubertes Objekt. Man reduzierte ihn auf seine physiologischen Komponenten und sah in ihm nichts weiter als eine Maschine. Anatomische Zeichnungen aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert zeigen, wie fasziniert man damals von der Idee war, die Glieder und Organe des Körpers als Sprungfedern, Hebel, Pumpen und Kolben darzustellen und zu deuten.

Hier liegt der ferne Ursprung unserer Überzeugung, der Körper könne durch Ersatzteil-Chirurgie verbessert werden. Das Bild der Psyche büßte den Nimbus des Geheimnisvollen oder Heiligen ein, weil dem Körper, dem sie angeschlossen war, nichts Geheiligtes innewohnte. Das Nervensystem — vom medizinisch-biologischen Ansatz her als ein elektrochemischer Apparat verstanden — verbindet Körper und Seele. Dieser reduziert-physiologischen Auffassung gemäß behandelt man seelische Störungen durch Medikamente, Elektroschocks oder neurochirurgische Interventionen. Freud war nie bereit, dieses Modell aufzugeben; da er selbst von der Neurologie herkam, favorisierte er einen rein physiologischen Ansatz für seine Wissenschaft von der Seele.


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Dennoch entwickelte er eine Methode zur Erforschung des Seelenlebens, die mit so immateriellen und ungreifbaren Dingen wie Träumen, Erinnerungen und biographischen Erzählungen arbeitete und somit zu seiner Grundhaltung in krassem Widerspruch stand. Die Psychoanalyse nimmt Erfahrungen sehr ernst; zumindest in ihrer Vorstellung vom Unbewußten bewahrte sie sich etwas Quasi-Spirituelles. Die therapeutische Orientierung ist jedoch völlig säkular. Bildlich gesprochen taucht die Psychoanalyse in die Tiefe und geht dann in horizontaler Richtung weiter: durch die Psyche in das Gehirn und dann hinaus in die soziale Welt, wo die Quellen der Konditionierungen, der Handlungsmuster und der Traumata liegen. 

Unter den großen Theoretikern verteidigte nur Jung — ausgehend von seinem Postulat eines in mysteriöser Weise immateriellen kollektiven Unbewußten — die Möglichkeit einer transzendenten Erweiterung der Persönlich­keit. Trotz ihrer kämpferischen Abgrenzung gegen den hartnäckigen Materialismus Freuds hält die Jungsche Psychologie sich jedoch mit peinlicher Genauigkeit an die kartesianische Spaltung zwischen dem Physischen und dem Mentalen. 

In traditionellen Kulturen finden wir diese Dichotomie nicht; der Körper ist der Aura des Geheiligten nicht entkleidet. Hier spielen körperliche Funktionen und natürliche Objekte oft eine wesentliche Rolle bei der Heilung der Seele. Die gesamte Natur mit allen ihren Erscheinungen und Organismen, den menschlichen eingeschlossen, wird als lebendig, ja, göttlich betrachtet. Das Übernatürliche wohnt im Natürlichen als konstante, bewußte Präsenz. Die Steinzeitpsychotherapie leitet sich aus einer vorwissenschaftlichen Seelenkunde her; innerhalb des animistischen Weltbildes stellen Körper und Seele ein fließendes Kontinuum dar.

Eben weil der Natur die Qualität des Heiligen innewohnt, legt die traditionelle Psychotherapie größten Wert darauf, daß die lebenswichtige Verbindung zwischen Mensch und Natur nie abreißt und der permanente Dialog zwischen ihnen nie unterbrochen wird. Was Martin Buber die Ich-Du-Beziehung nennt, ist nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen oder die Beziehung zwischen dem Menschen und einer transzendenten Gottheit beschränkt.


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Der Mensch muß eine transaktionale Beziehung zur Natur etablieren, die von Geben und Nehmen, von Achtung und Respekt bestimmt ist. Man tauscht mit der Natur Gaben aus, entschuldigt sich, wenn man in sie eingreift, erbittet die Vergebung der Tiere, die man jagt und tötet, versucht die Verluste auszugleichen, die man verursacht hat, versöhnt durch Verehrung und bringt Opfer. Geistig-seelische Gesundheit ist eine Frage desselben Gleichgewichts, derselben Wechselbeziehung zwischen der menschlichen und der nichtmenschlichen Natur. Die bloße Vorstellung, beide Welten könnten voneinander abgespalten werden, die menschliche Welt könnte — oder sollte gar — als autonom und in sich geschlossen betrachtet werden, würde der traditionellen Psychotherapie als Gipfel des Wahnsinns erscheinen. Die Verbindung beider Welten ist nicht nur die Grundvoraussetzung des Überlebens, sondern auch der moralischen und spirituellen Gesundheit. Die Beziehung zur Umwelt ist ebensosehr von ethischen Gesichtspunkten bestimmt wie die Beziehung zu den Mitmenschen, ja — stärker sogar, denn der Bereich der Natur ist der Bereich des Heiligen. Abkehr von der Natur wäre nicht nur Wahnsinn, sondern das größte denkbare Sakrileg.

Die Grundannahme, daß die Natur lebendig und von wissenden und fühlenden Wesen erfüllt ist, erklärt viele der »mystischen« Praktiken, die in traditionellen Gesellschaften so universell verbreitet sind. Wenn man die Naturgeister ehren will, muß man mit ihnen in Dialog treten. Man muß sie hören und ihre Sprache sprechen. Dazu ist es notwendig, sich in besondere Bewußts­einszustände zu versetzen, mit Hilfe der Meditation, des Alkohol- oder Drogenrausches, der trance-erzeugenden Rhythmen des Tanzes, durch Fasten oder durch die verschiedenen Formen des freiwillig erduldeten Schmerzes, die den Menschen in Stammesgesellschaften ihren Ruf der »Barbarei« eingetragen haben. Innerhalb der christlichen Tradition waren die mystischen Strömungen immer ein außergewöhnliches, oft als suspekt betrachtetes Phänomen. Sie erregten Anstoß nicht nur bei den offiziellen Vertretern der Kirche. Während der Zeit der Aufklärung wurden mystische »Enthusiasten« mit Hohn und Spott übergössen; ihre Art der Suche nach Erkenntnis galt als der schlimmste Verstoß gegen das Prinzip der Vernunft und den Geist der Wissenschaft.


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In Stammes­gesell­schaften dagegen sind visionäre Praktiken, obwohl sie gewöhnlich strenge Vorbereitung erfordern, alles andere als ungewöhnlich; oft bilden sie den Kern tradierter religiöser Zeremonien und sind allen vertraut. Es wird als selbstverständlich betrachtet, daß eine andere Realität auch einen anderen Bewußtseinsmodus erfordert; schon im Schlaf erreichen wir eine solche Ebene der Empfänglichkeit, wenn unser träumendes Selbst die Botschaften der anderen Welt vernimmt. Traum und Ekstase sind die Medien der transhumanen Kommunikation.

In der modernen Gesellschaft mußten die Träume zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses erhoben werden, bevor irgendjemand — von den Romantikern und den Künstlern der Decadence abgesehen — sie ernstnahm. Was Freud für die Rückgewinnung der Träume tat - er betrachtete sie als den »Königsweg zum Unbewußten« - wird von vielen zweifellos als sein größter und dauerhaftester Beitrag zur modernen Psychologie geschätzt. 

In Stammesgesellschaften geht man dagegen unbefangener und zugleich respektvoller mit dem Traumleben um, es gilt als eine selbstverständliche und sehr wertvolle Erweiterung des wachen Tagesbewußtseins. Aus der Tatsache, daß Menschen in Stammesgesellschaften Träume für »wahr« hielten und ihnen große Bedeutung zumaßen, schlossen viele frühe Anthropologen, sie hätten es hier mit »Primitiven« zu tun; diese Leute waren ganz offensichtlich nicht in der Lage, Realität und Phantasie klar zu unterschieden. 

Vom Standpunkt der traditionellen Gesellschaften aus wäre es jedoch verrückt, das Traumleben zu unterdrücken oder nicht zu beachten. Man versucht vielmehr, mit dem träumenden Bewußtsein ständig in Rücksprache zu bleiben. Nach zivilisierten Standards »verschwenden« Stammesleute übermäßig viel Zeit darauf, sich mit ihren Träumen zu beschäftigen, sie nach Einsichten und Leitlinien für ihr Leben zu durchforsten. Bei uns beginnt jeder Arbeitstag mit dem träumevertreibenden Schrillen des Weckers, gefolgt von einer ordentlichen Dosis Koffein, die uns den Kopf für die Anforderungen der geschäftigen »realen« Welt klar machen soll.


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Manchmal hat man den Verdacht, daß die moderne Gesellschaft das Träumen abgespalten und an Film und Fernsehen delegiert hat; sie verwalten das offizielle elektronische Phantasieleben unserer Kultur. Anders die Stammeskulturen: Hier finden Rituale statt, die sich vielleicht über Tage erstrecken und ausschließlich dazu bestimmt sind, die Visionen großer Träumer zu deuten; unter Umständen basieren folgenschwere Entscheidungen über Krieg und Frieden, über wirtschaftliche und politische Angelegenheiten auf der Interpretation solcher Visionen. Black Elk, der Medizinmann der Oglala-Sioux, berichtet, daß sein berühmter Onkel Crazy Horse aufgrund eines einzigen machtvollen Traumes, in dem ihm ein wild herumtanzendes Pferd erschien, zum Häuptling des Stammes gewählt wurde. Die gesamte noch existierende Sioux-Bevölkerung versammelte sich zu einem späteren Zeitpunkt, um einen der großen Träume Black Elks zu feiern, weil sie darin ihre ganze Überlebenshoffnung verkörpert sah.5) 

Hier berühren wir einen entscheidenden Punkt, auf den auch die radikalen Therapeuten der Laing-Schule verweisen, wenn sie mehr Toleranz für vermeintlich psychotische Persönlichkeiten fordern. Wenn wir in übertriebener Unterwerfung unter ein enggefaßtes Realitätsprinzip die nichtmenschliche Welt auf weniger reduzieren, als sie ist, reduzieren wir auch uns selbst auf weniger, als wir sind. Wir spalten noch mehr von unserem Bewußtsein ab und bringen es hinter Schloß und Riegel, indem wir es der Zone der unzulässigen Erfahrung zuordnen, die wir »Wahnsinn« nennen.

Nach unseren Maßstäben sind Stammesgesellschaften in vieler Hinsicht ziemlich beschränkt. Ihre Welt ist so sehr viel begrenzter als die unsere; sie umfaßt vielleicht nicht mehr als eine Insel, einige Täler oder einen kleinen Teil des Waldes. Dennoch ist ihr Erfahrungsspektrum in mancher Hinsicht größer als das unsere. Da sie visionäre Formen der Erfahrung als Basis der Kommunikation mit dem Heiligen betrachten, gehen Menschen in Stammesgesellschaften toleranter mit Exzentrizität um und treffen Unterscheidungen, die sich dem Verständnisbereich unserer säkularisierten Psychologie entziehen. Es gibt schließlich Formen des »Wahnsinns«, die Ausdruck einer spirituellen Berufung sein können.


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Das erkennen auch wir widerstrebend an, wenn wir dem »Genie« ein höheres Maß an exzentrischem Verhalten zubilligen als dem normalen Sterblichen oder »Genie und Wahnsinn« miteinander in Verbindung bringen. Allerdings wird solcher Wahnsinn in unserer Kultur nicht verehrt, geschweige denn ermutigt. Wenn sich dagegen in einer Stammesgesellschaft ein Kind abnorm verhält, überläßt man es in der Regel der Obhut eines Schamanen, der dann Tage oder Monate damit verbringt, sein Verhalten sorgfältig zu beobachten. Er wartet auf Hinweise, ob dieser Wahnsinn übernatürlichen Ursprungs ist. Die Stammeskultur gibt Kriterien für eine solche Beurteilung vor. Der Schamane stellt vielleicht fest, daß das Kind tatsächlich ein inspiriertes Wesen ist, daß es sich bei ihm um eine schamanische Begabung handelt. Oder er kommt zu dem Schluß, daß es einfach gestört ist, und schickt es zur weiteren Behandlung nach Hause.

Unsere Psychiatrie tut sich sehr schwer damit, in der Beurteilung exzentrischen Verhaltens zu einer ähnlich reifen Unterscheidung zwischen Krankheit und Begabung zu kommen; man darf wohl vermuten, daß viele Menschen solche Differenzierungen überhaupt inakzeptabel finden. In unseren Städten wimmelt es von obdachlosen Psychotikern. Sie sind nur deshalb nicht hinter Schloß und Riegel, weil im sozialen Bereich kräftig eingespart wird. Die Asyle offenzuhalten wäre zu kostenintensiv. So streifen sie bettelnd durch die Straßen, murmeln vor sich hin, wüten und drohen. Welche zuverlässigen Kriterien könnten wir anlegen, um zu entscheiden, ob es sich bei ihren Wahnvorstellungen um Visionen handelt? Wer glaubt heute noch daran, daß die natürliche Welt eine spirituelle Dimension hat, die unserer Aufmerksamkeit wert ist? 

Bei all dem Beton und Verkehr, von dem wir umgeben sind, bekommen die wenigsten die natürliche Welt überhaupt zu sehen. Oft wird über die Wahnsinnigen gesagt, daß sie »Stimmen hören« oder »Dinge sehen«, die nach den Maßstäben des konventionellen Realitätsprinzips gar nicht existieren. Aber in Stammesgesellschaften gibt es viel mehr zu hören und zu sehen. Der Berg spricht, der Fluß spricht, der Bär spricht, der Regenbogen hat eine Bedeutung, die Sonnenfinsternis ist ein Zeichen.


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Für uns ist es wahrscheinlich schwierig, die animistische Personifizierung natürlicher Objekte in einem buchstäblichen Sinn nachzuvollziehen. Aber selbst wenn man nur nach intellektuellen Maßstäben urteilt, muß man wohl einräumen, daß die »primitive« animistische Weltauffassung eine weitaus differenziertere Wahrnehmung der materiellen Welt entwickelt hat als die westliche Wissenschaft bis zum ersten Drittel dieses Jahrhunderts. Menschen in Stammeskulturen billigen der Materie eine Tiefe und Komplexität zu, die dem, was wir heute über die ihr inhärente systembildende Tendenz wissen, in sehr viel stärkerem Maß gerecht werden. Für die animistische Weltauffassung ist die Materie alles andere als toter Stoff; sie wird vielmehr als geisterfüllt und von Wille und Absicht durchdrungen wahrgenommen. 

In späteren Kapiteln werden wir sehen, daß die animistische Weltauffassung als Verständnisbasis für die selbstorganisierende Komplexität der Materie wahrscheinlich ein weitaus besseres Ausgangsmodell bildet, als der Newtonsche Atomismus es je war. Man könnte sogar noch weiter gehen und der animistischen Weltauffassung eine erwiesene ökologische Brauchbarkeit bescheinigen; sie diszipliniert die Menschen in ihrer Beziehung zur Umwelt, indem sie ihnen ethische Verpflichtungen auferlegt, die der Ausbeutung und dem Mißbrauch Schranken setzen. 

Aber das ist nicht alles; wir müssen uns einem größeren Problem stellen. Für Menschen in traditionellen Gesellschaften ist die animistische Haltung kein bloßes »Modell«, und sie ist auch nicht nur durch reine Nützlichkeitsgesichtspunkte gerechtfertigt. Für sie ist es die Art, wie sie die Welt wirklich wahrnehmen. Diese Sensibilität trugen unsere Ahnen in sich auf ihrem Evolutionsweg zur menschlichen Intelligenz. Ist es möglich, daß der Verlust dieser Sensibilität nicht nur für unsere ökologische Krise verantwortlich ist, sondern auch für die nervenaufreibende Unzufriedenheit, unter der wir leiden?


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   Ein Stück historische Realität   

 

Freud war davon überzeugt, daß mit dem Fortschreiten des Zivilisationsprozesses eine immer weiter fortschreitende Neurose verbunden sei. Mit dieser deprimierenden Feststellung bezog er sich auf die zahllosen Beschränkungen, die das zivilisierte Leben den in seiner Sicht machtvollsten Trieben auferlegt: der Sexualität und der Aggression. 

Die meisten Freudianer gehen immer noch davon aus, daß der ödipale Konflikt den Kern des neurotischen Leidens bildet — ein Konflikt, dessen Ursprung Freud sehr phantasiereich auf die Vater-Sohn-Problematik in der prähistorischen Urhorde zurückführte. Im Wahnsinn liegt nicht nur Methode, meinte er, sondern »es ist auch ein Stück historischer Realität dabei«. Vielleicht haben wir dieses Stück historischer Realität aber gar nicht in der fernen Prähistorie zu suchen, sondern in einem Teil unserer Vergangenheit, der uns näher liegt: im Beginn des zivilisierten Lebens, in der sozialen und ökonomischen Umbruchsituation, die unsere Spezies aus ihrer ursprünglichen Umwelt herausriß und sie in der Stadt ansiedelte. Vielleicht war das »Urverbrechen« nicht der prähistorische Vatermord, sondern der Verrat an der Mutter, an »Mutter Erde«, wenn wir diese sprachliche Metapher für die planetare Biosphäre als lebendiges, selbstregulierendes System gebrauchen wollen.

Aber bleiben wir noch einen Augenblick lang bei der Freudschen Vorstellung vom Ursprung des Neurotischen. Freud, der die Neigung hatte, seine eigene psychoanalytische Mythologie zu erschaffen, nahm an, daß der Totemismus eine »Verschiebung« darstellte; an die Stelle des von der Brüderhorde getöteten Urvaters trat ein willkürlich gewähltes Tier als Träger der Liebe-Haß-Ambivalenz, die dem Getöteten einst von den wilden Söhnen entgegengebracht wurde. Die Funktion des Totems war, die Erinnerung an den Urvater aufrechtzuerhalten und mit Hilfe der erinnerten Autorität verschiedene Stammestabus durchzusetzen, insbesondere solche, die sich auf den »Schrecken des Inzests« bezogen.


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»Sie (die Söhne) widerriefen ihre Tat, indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totems, für unerlaubt erklärten, und verzichteten auf deren Früchte, indem sie sich die freigewordenen Frauen versagten. So schufen sie aus dem Schuldbewußtsein des Sohnes die beiden fundamentalen Tabus des Totemismus (das Totemtier nicht zu töten und auf den Sexualverkehr mit dem Totemgenossen des anderen Geschlechts zu verzichten), die eben darum mit den beiden verdrängten Wünschen des Ödipuskomplexes übereinstimmen mußten.«6

So dramatisch die Idee ist, so weit hergeholt erscheint sie auch. Anthropologen konnten ihr sicherlich nichts abgewinnen, und sie waren auch nicht bereit, den typisch viktorianischen Vorstellungen von Sexualität, die Freuds Theorien so oft ihre spezifische Färbung gaben, Allgemeingültigkeit einzuräumen. Freud übertrug die charakteristischen Familienstrukturen der Bourgeoisie des neunzehnten Jahrhunderts auf das Leben prähistorischer Stämme und übersah dabei Werte und Prioritäten, die für präzivilisierte Kulturen größere Bedeutung haben als Eltern-Kind-Konflikte.

Freud glaubte, seine Interpretation des Totemismus sei kompromißlos direkt und daher auch schonungslos offen, was seine tiefere Bedeutung anging. Es könnte aber durchaus überflüssig sein, überhaupt eine solche »tiefere Bedeutung« in den Totemismus hineinzuinterpretieren; vielleicht ist er tatsächlich das, was er zu sein behauptet, nämlich ein Ausdruck der Ehrerbietung dem Tier gegenüber, das im Leben des Stammes eine so zentrale Rolle spielt. Aus Bewunderung heraus eignet man sich die Macht, die ihren Bildern innewohnt, für den noblen Zweck an, Clan-Mitgliedschaft zu definieren und soziale Funktionen festzulegen. Die totemistischen Rituale, zu denen oft eine spielerische Imitation des Totemtieres gehört, sind symbolische Gesten, aber nicht in der Art, wie Freud sie interpretierte. Sie versinnbildlichen keine Sühne für eine vermeintliche vatermörderische Schuld, sondern sie drücken Wertschätzung für das Mitgeschöpf aus. Sie ehren die Klugheit des Raben, den Mut des Bären, die Majestät des Adlers.


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Sie sind ein Akt der Kommunion mit dem Geist, der in diesen bemerkenswerten Geschöpfen wohnt. Diese Wesen zu verstehen, sich mit Wissen und Einfühlung in ihr Bewußtsein hineinzuversetzen, ist für Stammesleute lebensnotwendig. Die nordamerikanischen Pawnee zum Beispiel gruppierten sich zu kultischen Gemeinschaften, die ekstatische Riten abhielten, um die verschiedenen Tierahnen über den medizinischen Wert von Wurzeln und Kräutern zu befragen. Man stellte sich vor, daß die Tierahnen in einem großen Versammlungshaus wohnten, das von Menschen nur im Zustand der Trance betreten werden kann. Jenen, die ihren Weg dorthin fanden, wurde eine Einweihung in die Geheimnisse des Heilens gewährt.7

Was sagt eine mythische Überlieferung aus, die Tieren ein so tiefes Wissen zuschreibt? Was Menschen in Stammesgesellschaften in den Tieren sehen und durch ihre Vermittlung wiederzugewinnen suchen — eine instinktive Solidarität mit der Natur, ein würdevoller Umgang mit dem eigenen Habitat —, ist vielleicht die geheimnisvolle Verbundenheit mit der Erde, an die menschliche Wesen sich von ihren eigenen evolutionären Ursprüngen her nur noch schwach erinnern können. Die Tiere bleiben Bestandteil einer ungeteilten Welt, wo sie in ungestörtem und unmittelbarem Austausch mit den Naturelementen leben. Die Verehrung der Tiere ist ein Versuch, zu dieser Qualität der Erfahrung wieder Zugang zu gewinnen. Man könnte das »große Versammlungshaus« als das evolutionäre Gedächtnis unserer Spezies betrachten; wenn wir dorthin zurückkehren dürfen, geschieht es mit der Erlaubnis der Tiere, die immer noch darin zu Hause sind.

Es ist begreiflich, daß städtische Intellektuelle sich mit einem so einfachen und offenen Ausdruck von Ehrerbietung schwertun; Freud hätte ihn vermutlich als kindlich betrachtet — und er ist es auch, im besten Sinn des Wortes: ein Ausdruck der Fähigkeit zu staunen, in einer Welt, die voller Wunder ist. Aber Freud nahm in seine verwickelte Totemismus-Konstruktion etwas hinein, das für seine Patienten und Kollegen leichter zugänglich und auch bedeutungsvoller war: die sexuelle Frustration nämlich, die mit den Erziehungspraktiken in Mittelschicht-Elternhäusern seiner Zeit einherging.


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In unserer Zeit haben die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sich sehr gewandelt, zumindest in jenen industriellen Gesellschaften, die in ihre Wohlstandsphase eingetreten sind. Die viktorianische Prüderie und ihre Beschränkungen, mit denen die Psychoanalyse sich früher fast ausschließlich zu befassen hatte, sind weitgehend aufgeweicht. In dem permissiveren Klima, in dem wir heute leben, können wir in den kulturellen Praktiken unserer Ahnen nach anderen, beständigeren Bedeutungen Ausschau halten.

Versuchen wir, die Ergebnisse dieses hochspekulativen Abstechers in die Steinzeitpsychologie zusammen­zufassen. Stellen wir uns die Sache so vor: eine individuelle Psyche, umgeben von einer Serie konzentrischer Kreise. Im Zentrum, im tiefsten Kern unserer Identität, finden wir das Freudsche Es, eine moderne Version der menschlichen Natur nach dem Sündenfall: eigensinnig, rebellisch, pervers. In der christlichen Theologie wurde dieses widerspenstige Element der menschlichen Natur mit dem altertümlichen Ausdruck »der alte Adam« belegt. Bei Hobbes ist es das Rohe, Primitive im Menschen, das nicht anders kann, als sich im Krieg aller gegen alle zu verzehren.

Der nächste Ring, der um diese gefährliche Ansammlung ungezähmter Instinkte liegt, sie einschließt und denaturiert, ist die Festung des Ich, unsere sozial definierte Identität, die mit der »Außenwelt« über unser Schicksal verhandelt. Diese soziale Außenwelt müssen wir tief introjizieren, als ermahnendes elterliches Über-Ich. Beginnend mit der Reinlichkeitserziehung, die früher einmal rigide-strafenden Charakter hatte, obliegt es dem Ich, uns gute Manieren beizubringen, Anstand und die notwendigen sozialen Umgangsformen. Das Über-Ich ist die Phantom-Familie in uns; ihre Macht bezieht sie von den tatsächlichen Eltern, von denen wir als Kinder abhängig sind, was unsere Versorgung und Erziehung angeht.

Um die Familie herum liegt der Ring der Gesellschaft, die elterliche Autorität definiert und durchsetzt. In unmittelbarer und einschüchternder Weise, mit der Androhung physischer Strafen, tritt die Gesellschaft uns in Form von Gesetzen, Gerichtshöfen, Richtern und Polizisten entgegen.


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Wenn die Introjekte des Über-Ich tief genug gehen, gibt es — sowohl von elterlicher Seite als auch von Seiten der legalen Autorität — außerdem die emotionale Drohung der Mißbilligung, des Liebesentzugs, der sozialen Schande. Da wir soziale Wesen sind, fürchten wir die Waffen der Nicht-Anerkennung — das Abwenden des Gesichts, das ins-Exil-getrieben-Werden wie die ungehorsamen Kinder von Eden — fast noch mehr als die physische Strafe. Franz Kafka machte diesen chronisch-psychotischen Aspekt des modernen Lebens zum Hauptgegenstand seiner Fiktion. Seine duckmäuserischen Antihelden bewegen sich mit ängstlich eingezogenen Köpfen durch eine Welt, in der von allen Seiten Maßregelung und Ablehnung droht. Selbst wenn die Mißbilligung von gesichtslosen Bütteln ausgeht, trifft sie bis ins Mark.

Weiter dehnen die meisten modernen psychiatrisch-psychologischen Systeme den Bereich der Psyche nicht aus. Sie verstehen sie als »interpersonell«, wobei mit »Personen« andere Leute gemeint sind: Eltern, Amtspersonen, Lehrer, Priester. Sie alle fungieren in der psychischen Ökonomie als Urheber repressiver Schuld und zwingen uns die festgelegten Identitäten auf, die eine umfangreiche soziale Organisation erfordert. Als Freud sich bemühte, den psychologischen Kontext bis in den Kosmos hinein auszudehnen, fand er, wie wir sahen, nur den allesverschlingenden entropischen Abgrund, vor dem seine Nachfolger verständlicher­weise zurückwichen. Wie schlagen wir nun aber den größeren Kreis, der Gesellschaft und Kultur umschließt? Wie nehmen wir die globale Umwelt in die Psyche hinein, den lebendigen Körper der Erde, aus dem alles Leben geboren wird, die letzte und eigentliche Quelle unseres individuellen und sozialen Seins? Wie kommen wir auf die Idee, ein so uralter, intimer Teil unserer organischen Entwicklung könnte bei der Beeinflussung unseres seelischen Gleichgewichts keine Rolle spielen?

Sudhir Kakar weist darauf hin, daß die moderne Psychotherapie, zumindest in ihrer klassischen freudianischen Form, den »Text« über den »Kontext« stellt. Mit dem »Text« meint er das Privatleben des Patienten, das als in sich geschlossene Geschichte eines autonomen Individuums betrachtet wird.


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Dieses Verständnis der Identität als heroisch-wehrhafte Festung geht auf den Glauben der westlichen Kulturen an die Realität der individuellen Seele zurück, ursprünglich als besondere Schöpfung Gottes betrachtet, die in die Welt entlassen wurde, um an ihrer eigenen Erlösung zu arbeiten. Auf dieser jüdisch-christlichen Lehre beruht die Begeisterung unserer Kultur für die Auto­biographie und das Porträt, für die Nabelschau in der Kunst und der Poesie und für die puritanische Fixierung auf Schuld, die uns in der Bekenntnisliteratur so oft entgegentritt. Als Basis für Psychotherapie bewirkt diese einseitige Konzentration auf das Selbst-als-Text, daß die Heilung der verwundeten Seele zu einem einsamen, rein intrapsychischen Kampf wird. Der Patient meldet sich beim Psychotherapeuten zu einer privaten Sitzung an, lehnt sich im ruhigen, abgedunkelten Behandlungszimmer auf der Couch zurück und wendet sich nach innen, um sein Leben Revue passieren zu lassen. Dabei assistiert nur der meistens schweigende Analytiker als mitfühlende, nicht urteilende Präsenz oder als leere Leinwand, auf die der Patient seine oder die Patientin ihre Ängste projizieren kann.

Kakar hebt hervor, daß die traditionelle Therapie dem persönlichen Text wenig Aufmerksamkeit schenkt. Traditionelle Therapie wurde vielmehr immer innerhalb eines größeren sozialen Kontexts praktiziert, von der Überzeugung ausgehend, daß »Glaube und Hingabe an eine größere, überindividuelle Macht besser sind als individuelles Bemühen und Kämpfen, (...) daß die Quelle der menschlichen Stärke in der harmonischen Integration in die eigene Gruppe liegt.«

Im dörflichen Leben traditioneller Gesell­schaften und in Stammeskulturen ist die Familie immer zur Stelle, um bei der Heilung zu assistieren, und möglicherweise wird die gesamte Gemeinschaft in den Prozeß einbezogen. In den westlichen Gesellschaften wuchs seit den dreißiger Jahren unter Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten die Überzeugung, daß die Isolation der Freudschen Psychoanalyse das Wieder­erleben des Verdrängten zu einer unnötigen Tortur macht.


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Die abgekapselte Privatheit der psychotherapeutischen Sitzung hat Ähnlichkeit mit der Privatheit der katholischen Beichte; sie bewirkt vielleicht nur eine Verstärkung des Gefühls der schuldbeladenen Heimlichkeit und Verstohlenheit. So finden wir also heute viele neue Formen der Familien- und Gruppentherapie, die den intra-psychischen Kampf in ein unterstützendes Umfeld verlegen, das Eltern, Verwandte, Freunde, Arbeitgeber und Mitarbeiter einbeziehen kann, Personen, die im Leben der oder des Hilfesuchenden eine wesentliche Rolle spielen.

Aber dennoch unterscheidet sich auch die moderne Gruppentherapie von der traditionellen Therapie; bei der letzteren ist das Spektrum immer noch wesentlich weiter, mehr und andere Elemente werden in den größeren Kontext einbezogen. Hier sind die Familie und das unmittelbare soziale Umfeld immer nur ein innerer Kreis, der noch überschritten werden muß; gewöhnlich ruft man die Ahnen an — eine machtvolle konservative Präsenz, die mit unserem Ideal der autonomen Psyche nicht zusammengeht. Im Stammesumfeld werden individuelle Probleme immens beziehungsträchtig; um sie zu lösen, müssen Verpflichtungen gegenüber fernen, längst verstorbenen Vorfahren berücksichtigt werden. Die traditionelle Therapie baut auf einem starken Gefühl für soziale und genealogische Verbundenheit auf.

Hier stoßen wir auf zentrale Probleme. Welchen Sinn hätte es in unserer mobilen, rastlosen, wechselhaften urbanen Industrie­gesellschaft, auf »Vorfahren« zurückzugreifen? Die wenigsten unter uns können Beziehungen weiter zurückverfolgen als bis zu den Großeltern, und die meisten betrachten frühere Generationen nicht als Quelle fortdauernder Weisheit. Darüber hinaus ist die westliche Vorstellung von der autonomen und moralisch verantwortlichen Persönlichkeit zweifellos die Basis für die Dynamik unserer Kultur, Teil dessen, was Freiheit und das Streben nach Selbstverwirklichung für uns bedeutet.

Was wir als »die Menschenrechte« verehren, stammt zu großen Teilen von diesem Individualismus her, mit dem unsere politische Philosophie so tief durchtränkt ist. Wären wir bereit, in unserer Fixierung auf das Selbst-als-Text etwas eher Krankes als »Normales« zu sehen? Könnten wir uns dazu durchringen, auf Individualität zu verzichten zugunsten der Sicherheit, die völlige Unterwerfung unter die Erwartungen der Gemeinschaft mit sich bringt?

Was würde dann aus der Überzeugung der radikalen Therapeuten, daß die »Wahnsinnigen« vielleicht die größte Hoffnung der Gesellschaft auf eine »höhere Vernunft« darstellen? Es gibt Aspekte der traditionellen Therapie, die für uns vielleicht nicht nur unmöglich zurückzugewinnen, sondern auch wenig wünschenswert sind.

Andererseits könnte in der Berufung auf die Ahnen auch die Möglichkeit einer provokanten Neuinter­pretation der modernen Welt liegen. Wir könnten uns unsere Ahnen als die ungeteilte Familie der Menschheit vorstellen, deren gesammelte kulturelle Überlieferungen jetzt, dank generationenlanger ethnographischer Forschung, offen vor uns liegen. In diesem großen und lohnenden Sinn könnten wir, die wir anscheinend entwurzelt in den modernen Metropolen leben, dennoch eine universelle Verwandtschaft für uns in Anspruch nehmen, die uns mit den Mythen, Traditionen und Weisheitslehren unserer gesamten Spezies in Verbindung bringt.

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 Von Theodore Roszak 1992