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   Der ökologische Kontext    

 Kontext     Wahnsinn   Empfinden    Wissenschaft

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Die traditionelle Therapie bedient sich nicht nur des engmaschigen sozialen Geflechts, sondern zieht ihren Kreis immer noch weiter, bis hin zu den Göttern und dem Stammeshabitat, um das psychische Gleichgewicht wieder herzustellen. In seiner Studie über die Pawnee schildert Gene Weltfish die ausführlichen tagelangen Vorbereitungen, die einst die Büffeljagd einleiteten. Dazu gehörten besondere Reinigungsriten, bei denen die Gottheiten der Erde, des Wassers und der Sterne angerufen wurden. Eine zentrale Figur innerhalb der Jagdriten war der Taxpiku, ein Mann, der zu diesem speziellen Amt erwählt wurde und die heiligen Verpflichtungen des Stammes gegenüber dem Land und den Büffeln verkörperte, die nun bald von den Jägern getötet werden sollten. Der Taxpiku war während der Woche der Jagd von rigiden Tabus umgeben, die den Sinn hatten, die Reinheit und Würde der Stammesangehörigen zu wahren.   wikipedia  Gene_Weltfish  1902-1980

Er war mit der Aufgabe betraut, den höheren Mächten im Austausch für ihr Wohlwollen Gaben und Opfer darzubringen.9 Solche Riten befassen sich mit der Psychologie von Schuld und Sühne, aber nicht als begrenztes individuelles Problem, sondern als kollektive Erfahrung, die sich vor einem kosmischen Hintergrund abspielt.

Bei den Navajo werden die Tiere und die elementaren Naturkräfte oft als Mächte der Heilung angerufen. Die Medizinmänner des Stammes kennen die Tiergeister durch ihren Einweihungsweg, ihre Suche nach Visionen, in deren Verlauf sie den Schutzgeistern begegnen, die ihnen ihre Macht verleihen. Die Figuren der Sandbilder, die bei den Heilungszeremonien der Navajo eine zentrale Rolle spielen, repräsentieren das Windvolk, das Büffelvolk, das Kaktusvolk, das Schlangenvolk, das Coyotevolk. Der machtvollste Ritus der Navajo ist der Blessing Way, der Gesang der Segnung, der oft benutzt wird, um bei den Wahnsinnigen und aus der Bahn Geworfenen das innere Gleichgewicht wiederherzustellen. Seine Gesänge und Gebete wenden sich an die lebensspendenden Mais- und Blütenstaubgottheiten. Donald Sandner beschreibt diesen Ritus als »methodische spirituelle Einführung in die Mysterien der Fruchtbarkeit und der Heilung«.10 

Das zentrale Ereignis der zweitägigen Zeremonie ist ein Akt mystischer Einswerdung mit der »inneren Gestalt der Erde«, die das spirituelle Prinzip des Lebens ist. Die Navajo haben eine überaus subtile Naturphilosophie. Sie betrachten alle physischen Objekte als »tot«; nur ihre »innere Gestalt« erfüllt sie mit Leben. Die gewaltigste unter all diesen Lebenskräften ist die innere Gestalt der Erde; in ihr sind alle Kräfte der Natur konzentriert. Wie der westliche Psychotherapeut arbeitet auch der Navajo-Medizinmann mit der erlösenden Kraft des offenen Bekennens und dem Prozeß der Übertragung, aber hier sind diese Erfahrungen in ein komplexes Symbolsystem eingebunden, das den Sinn hat, ein »neues, in seiner Ordnung wiederhergestelltes Universum« zu schaffen, in dem die gequälte Seele nach Haus zurückfinden und sich in Sicherheit fühlen kann.

Die Praktiken der Eskimo-Schamanen vermitteln besonders eindringlich, wie bedeutungsvoll der ökologische Kontext ist.

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Die Stammeskulturen, in denen diese Heilerinnen und Heiler leben, sind im Vergleich mit anderen Gesellschaften sehr wenig strukturiert. Da die Schicht der Bräuche und Institutionen, die menschliche Kultur und Natur voneinander trennen, sehr dünn ist, treten die Schamanen unmittelbar in den Dialog mit den Naturgeistern ein. Wenn es um die Wiederherstellung des kollektiven seelischen Gleichgewichts geht, werden selbst die Stammesahnen weniger gewürdigt als die Naturgeister, insbesondere die Geister der Tiere, denen die Jäger das Leben nehmen müssen. Wale, Robben, Fische und Seehunde werden als vollkommen gleichberechtigte intelligente und beseelte Wesen betrachtet. Der Polarforscher Knud Rasmussen, der zu Beginn unseres Jahrhunderts als einer der ersten die spirituelle Kultur der Eskimo studierte, erfuhr von einem Schamanen:

»Das größte Verhängnis des Lebens liegt in der Tatsache, daß die menschliche Nahrung fast ausschließlich aus Seelen besteht. Alle Wesen, die wir töten und essen müssen, alle Geschöpfe, die wir erschlagen und zerstören, um Kleidung für uns herzustellen, haben Seelen wie wir, Seelen, die nicht mit dem Körper vergehen, und die versöhnt werden müssen; sonst rächen sie sich an uns dafür, daß wir ihnen ihre Körper genommen haben.«11

Dieses intensive Gewahrsein, daß der Stamm durch eine Austauschbeziehung von Leben und Tod an sein Habitat gebunden ist, führt zu harten, strapaziösen Reinigungsriten, in denen Sühne und Buße vehement ausagiert werden. Man könnte die schamanische Seance als die ursprünglichste Form der Gruppen­therapie­sitzung auffassen. Der Schamane beruft sich gewöhnlich auf seinen Tier-Schutzgeist, der ihm Einsichten vermittelt und Autorität verleiht; in seiner Trance prüft er die Seelen und bewegt die Stammesmitglieder dazu, ihr Innerstes auszuschütten, was zu einer kollektiven Katharsis führt. Die Vergehen und Verstöße, die hier offengelegt werden — gegen die eigenen Mitmenschen und gegen die Stammestabus —, sind allesamt Elemente einer alles umfassenden Disharmonie.


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Die Reinigungsriten enden damit, daß die Tiere, von denen das Überleben des Stammes abhängt, durch die Vermittlung des Schamanen ihre Zufriedenheit ausdrücken und ihre Bereitschaft erklären, der Gemeinschaft Nahrung zu geben, indem sie ihr Leben opfern. Das Ergebnis ist, wie Jane Murphy sich erinnert, sowohl eine Durchsetzung der Regeln, die das Ökosystem schützen, als auch eine tiefgehende emotionale Reinigung.

»Die St.-Lawrence-Eskimo waren von der lebenswichtigen Bedeutung der Riten überzeugt, denn sie glaubten, wenn man es an der angemessenen Rücksichtnahme und Ehrerbietung den Tieren gegenüber fehlen ließe, wären die Tiergeister tief gekränkt und würden die Tiere veranlassen, sich von der Insel zurückzuziehen und sich den Menschen nicht länger als Nahrung für ihr Überleben darzubieten. Als die schlimmsten Verstöße Sünden, die so schwerwiegend waren, daß sie zu Krankheit oder Tod führten —, wurden also jene Verhaltens­weisen definiert, die als Bedrohung für das Überleben der gesamten Gruppe galten, oder als Verletzung der Gesetze, die das Verhältnis von individuellem Anspruch und sozialer Verpflichtung in bezug auf das Verteilen und Verwalten der wichtigsten Nahrungsquellen regelten.«12

Lange bevor die moderne Biologie ihre Theorien über die Herkunft des Menschen formulierte, beriefen die traditionellen Therapien sich auf eine evolutionäre Priorität, die älter ist als die Familie und die Gesellschaft und die sich auf die Grundlagen des Lebens selbst bezieht: den Anspruch der lebensspendenden Erde auf unsere Loyalität. Wo unsere Gesellschaften versuchen, durch Herrschaft und Eroberung Sicherheit zu gewinnen, setzen die Stammesgesellschaften auf wechselseitiges Vertrauen, in der Erwartung, daß ihre Loyalität belohnt wird.

Ob wir auf lange Sicht mit unseren Methoden wirklich besser fahren als sie mit den ihren, ist vorerst noch eine offene Frage. Falls unsere gierige und rücksichtslose Industriezivilisation wirklich das böse Ende nehmen sollte, das einige Ökologen ihr voraussagen, dann wird sich erweisen, daß wir eine idiotische Wahl getroffen haben, die uns weder inneren Frieden noch langfristiges Gedeihen brachte — vielleicht nicht einmal mensch­liche Glaubwürdigkeit vor uns selbst und vor der Welt.


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   Ökologischer Wahnsinn    

 

Aber selbst wenn wir in der längst versunkenen animistischen Weltauffassung etwas Wertvolles erkennen: Besteht für uns, die wir in der urbanen Industrie­zivilisation leben, überhaupt die Möglichkeit, uns diese Haltung wieder anzueignen?

Paul Shepard, der eine provozierende Interpretation des »ökologischen Wahnsinns« vorlegt, meint, diese Möglichkeit läge näher bei der Hand, als wir vielleicht erkennen. Er bietet eine evolutionäre Erklärung für die ursprüngliche Harmonie an, die zwischen präzivilisierten Menschen und ihrem Habitat existierte.  en.wikipedia  Paul_Shepard  1925-1996

Während des lange andauernden Jäger-und-Sammler-Stadiums der menschlichen Kulturentwicklung könnte ein Muster der intuitiven psychischen Einfühlung in die unmittelbar umgebende natürliche Umwelt entstanden sein, eine psychische Entwicklung, die möglicherweise durch den evolutionären Selektionsdruck begünstigt wurde. Vielleicht hatte diese Prägung ihre allerersten Ursprünge in der Erfahrung der Geburt, wie sie für präzivilisierte Gesellschaften charakteristisch ist. 

Kinder werden an einem abgeschiedenen, stillen Ort in der Natur unter freiem Himmel geboren; Wind und Gräser streifen ihre Haut, sie sind vom Gesang der Vögel, von den Lauten und Gerüchen der Wildnis umgeben. »In gewisser Weise ist die Wildnis auch ein innerer Raum«, beobachtet Shepard, »eine Art Spiegelung der intrauterinen Landschaft, die nicht so konstant ist, wie einmal angenommen wurde. (...) Die Welt so zu erfahren bedeutet zunächst, daß die Mutter immer da ist.«13

Aus den Eindrücken einer solchen Kindheit entwickelt sich ein Gefühl tiefer Verwandtschaft mit der natürlichen Welt, das ein Leben lang anhält. Zum großen Bruch - so Shepard - kam es vor etwa zehntausend Jahren mit der Herausbildung der Ackerbaukultur.


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Die Menschen begannen, ihre Umwelt in einer Weise zu manipulieren, die ihre uralte empathische Verbundenheit mit der Natur zerstörte; das bewirkte eine »onto-genetische Verkrüppelung«, die »chronischen Wahnsinn« zur Folge hatte. Trotz dieses unerbittlichen Urteils läßt Shepard die Möglichkeit offen, daß Spuren dieser uralten ökologischen Empathie noch latent in uns vorhanden sind, »als ererbte Gabe, (...) als Vermächtnis einer evolutionären Vergangenheit, in der die menschliche und die nichtmenschliche Natur noch in einer unmittelbaren, gesunden Beziehung zueinander standen.«

Ihrer lamarckianischen Anklänge wegen würden die meisten Biologen Shepards Formulierung wohl zurück­weisen (weil sie die Erblichkeit erworbener Eigenschaften zu behaupten scheint), aber seine These hat dennoch etwas Überzeugendes. Wir wissen, daß unser hochentwickeltes Gehirn in einem fortgeschrittenen Stadium der menschlichen Evolution viele Funktionen übernahm, die bei anderen Lebewesen der Steuerung durch die Instinkte unterliegen. Von diesem Punkt an wird Kultur zu einer »zweiten Natur«, die durch Erziehung und soziale Disziplin prägend auf uns einwirkt. Aber bevor die Spezies Mensch dieses Stadium erreichte, wirkte der Evolutionsprozeß lange Zeit direkt auf die Psyche ein und bereitete sie auf diesen großen Übergang vor. 

Es liegt nahe, zu vermuten, daß die protomenschliche Psyche in derselben spontanen Austauschbeziehung mit der natürlichen Umwelt stand, wie wir sie bei anderen Lebewesen finden, und daß die frühen Menschen über die Fähigkeit verfügten, in ungebrochener Übereinstimmung mit ihrem Habitat zu leben, jedes seiner Signale aufzufangen, auf jede seiner Forderungen zu reagieren. Das Stammhirn, in dem die elementarsten Impulse und Reflexe angesiedelt sind, ist immer noch eine physische Komponente des menschlichen Gehirns. Die Grenze zwischen dem Protomenschlichen und dem Menschlichen ist eine nebelhafte Zone, die sich über Generationen und Zeitläufe erstreckt; wo sie überschritten wird, lebt das instinktive Repertoire dennoch weiter, aber es nimmt jetzt eine Form an, in der es sich seiner selbst bewußt ist. Es verliert dabei die unmittelbare Empfänglichkeit, die wir bei Tieren beobachten, und findet schließlich seinen Ausdruck in Ritualen, Zeremonien, Mythen und Symbolen — in Lehren und Bildern, die das verkörpern, was einmal instinkthaft ablief.


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Was einfacher strukturierte Lebewesen unwillkürlich verstehen, durch den Anblick einer Farbe, durch einen Geruch oder einen physischen Drang, müssen wir auf dem Weg der diskursiven Intelligenz lernen, aus einer mythischen Erzählung oder religiösen Zeremonie. Vielleicht liegt hier der Ursprung der Kunst — in einem Akt kollektiver Imagination, der den Sinn hatte, die Erinnerung an das instinktive Einssein wieder wachzurufen. Die beeindruckende Schönheit und Klarheit der prähistorischen Malerei spiegelt etwas von diesem ursprünglichen Sinn wider. In traditionellen Gesellschaften geht von einer einfachen Rezitation, einer rituellen Geste, selbst wenn sie unbeholfen ausgeführt wird, oft eine emotionale Kraft aus, an die selbst das ausgefeilteste Kunstwerk des zivilisierten Künstlers in seiner Wirkung nicht heranreicht; die rituelle Geste steht der wahren Quelle der begeisternden Macht der Ästhetik näher.

Nehmen wir die Kunst der Cro-Magnon-Menschen, die in Gestalt der berühmten Höhlenbilder von Lascaux erhalten geblieben ist, als Beispiel. Es bleibt ein Geheimnis, warum diese kraftvollen und präzisen Bilder ausgerechnet in den tiefsten Winkeln stockdunkler Höhlen angebracht wurden; die Schwierigkeiten, sie dort zu schaffen, müssen immens gewesen sein. Wir können nur spekulieren: Stand das Dunkel der Höhle für die dunklen Tiefen der Psyche, wo die uralte instinkthafte Weisheit immer noch lebendig war? War die Reverenzerklärung an die großen Tiere eine solche Erinnerung, mit den Mitteln der künstlerischen Gestaltung nach außen verlegt, aber dennoch mit dem Sinn, die Innerlichkeit und das Geheimnisvolle der psychischen Inhalte zu wahren? Dann wird die Höhle zu einer Metapher für das alte Stammesbewußtsein, das nun, da individuelle Intelligenz an die Stelle des kollektiven Instinkts tritt, eine radikale Transformation durchläuft. 


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   Das sublime Empfinden   

 

Wenn ich die poetischen Überlieferungen alter Stammeskulturen lese — soweit sie noch aufgezeichnet werden konnten —, oder wenn ich ihre Kunstwerke betrachte, stelle ich fest, daß ich aus meiner eigenen Erfahrung heraus nicht nachvollziehen kann, was diese Menschen empfanden, wenn sie die Tiere und die Elemente so ansprachen, als seien sie Freunde, Geschwister, intelligente, beseelte Mitgeschöpfe. Natürlich kann ich auch nicht nachfühlen, was die alten Griechen empfanden, wenn sie ihre Götter anriefen. 

Ich glaube zwar, daß ich die Dramen des Sophokles als Kunstwerke durchaus würdigen kann, aber ich greife ins Leere, wenn ich nachzuvollziehen versuche, was in den zeitgenössischen Zuschauern vorging, wenn der Chor den Gott Apollo um Erbarmen anflehte, oder was den Dichter bewegte, als er diese Passagen schrieb. Ebensowenig weiß ich, was der Bildhauer Praxiteles, ein durch und durch urbaner Künstler, beabsichtigte, als er den Gott als schönen, athletischen Jüngling darstellte. 

Nur in einem bin ich mir sicher: Die Kulte der heidnischen Völker — ob auf der hohen Kulturstufe der griechischen Antike oder der primitiven Stufe der Neandertaler — waren nie so naiv, so kindlich, so dumm oder pervers, wie feindselige jüdische und christliche Beobachter sie seit der Zeit der Propheten darstellten. Natürlich glaubten die Athener nicht, die Götter, die sie um Erbarmen, Beistand und Weisheit anflehten, seien eine Truppe übermenschlich großer, wohlgenährter Männer und Frauen, die in den Wolken umherspazierten. Und natürlich stellten die amerikanischen Ureinwohner sich den Geist des Adlers oder des Büffels, an den sie ihre Gebete richteten, nicht als einen Menschen mit Tierkopf und Fell- oder Federumhang vor.

»Der Heide in seiner Blindheit beugt sich vor Holz und Stein«; in dieser Zeile eines anglikanischen Chorals schwingt die Arroganz von Jahrhunderten mit. Ein britischer Missionar, der in Kalkutta stationiert war, verfaßte ihn zu der Zeit, als die ersten Baumwollspinnereien den Himmel über Manchester mit einer Wolke von Ruß zu verhüllen begannen.


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Da ich den Vorteil genieße, mit einiger Distanz auf diese industrielle Gründerzeit zurückblicken zu können und in nachträglicher Einsicht zu erkennen, welche Verheerungen wir heute in der Welt anrichten, kann ich in den Kulten der heidnischen Volker keine »Blindheit« sehen. Die Blindheit liegt bei uns. Kein Volk der Welt - ganz unabhängig davon, auf welcher Kulturstufe es stand - sah eine Steinskulptur je als göttlich an. Soviel wissen wir durch die moderne Anthropologie. Wir haben eine Qualität der Erfahrung verloren, die uns erlauben würde, die Welt so zu sehen, wie Stammesleute sie sahen, oder vielmehr so durch die Welt hindurchzusehen, wie sie es taten. Denn ich meine, daß die animistische Weltauffassung genau das leistete: Die Dinge der Welt waren für das menschliche Auge einst transparent; größere Realitäten bewegten sich hinter ihnen und durch sie hindurch, leuchteten hier und dort auf, waren in dieser und jener Erscheinung zu erkennen, wie durch ein Guckloch. Daraus ergab sich die Vorstellung vom »Geist«, der in den Dingen wohnt, dieses einst tief vertraute, völlig normale Empfinden, daß sich hinter der Materie etwas Immaterielles bewegt, eine Kraft, die sie zusammenhält und mit Leben erfüllt. 

Dieser Kraft begegneten Menschen in Stammesgesellschaften mit Ehrfurcht, wie auch der Dichter Wordsworth es noch tat, als er in seine Erinnerungen eintauchte, um die versunkenen Reste einer visionären Kindheit ans Licht zu heben:   wikipedia  William_Wordsworth  1770-1850

And I have felt
A presence that disturbes me with the joy
Of elevated thoughts; a sense sublime
Of something far more deeply interfused,
Whose dwelling is the light of setting suns,
And the round ocean and the living air,
and the blue sky, and in the mind of man;
A motion and a spirit, that impels
All thinking things, all objects of all thought,
And rolls through all things.

Und ich fühle
Ein Gegenwärtigsein, das mich aufstört mit der Freude
erhabener Gedanken; ein sublimes Empfinden
Von etwas, das die Dinge viel tiefer durchdringt,
Das im Licht sinkender Sonnen wohnt,
Und im Kreisen der Ozeane und in der lebendigen Luft,
Und im blauen Himmel und im Geist des Menschen;
Eine Bewegung und einen Geist,
Der alles Denkende vorantreibt und alle Inhalte
allen Denkens, Und dessen Wellen durch alle Dinge hindurchrollen.

Am Anfang reicht dieses »sublime Empfinden« aus; es ist ein reines und kraftvolles Wissen davon, wie die Welt wirklich ist. Aber dann kommt unweigerlich die bewegliche Phantasie ins Spiel, die danach drängt, diesem Empfinden Gestalt zu geben, und begreift es als Wesenheit, die uns geistig und physisch gleicht. Die Bilder, die so entstehen, symbolisieren, was in Worten sonst nicht ausgedrückt werden kann: die körperlose, allgegenwärtige, zielgerichtete Intelligenz, die überall um uns her machtvoll wirkt.

So jedenfalls stelle ich mir die Welt der animistischen Sensibilität vor. Mir ist bewußt, daß ich mich nur sehr vorsichtig darüber äußern sollte, denn für mich hat diese Welt, die einmal von pulsierender spiritueller Lebendigkeit erfüllt war, ihre Transparenz verloren; sie ist gänzlich opak geworden und somit auf eine einzige Ebene reduziert. Mit der Verfinsterung, die sich über das Gewahrsein des Heiligen legt, beginnt die »moderne Zivilisation«. Robert Bly findet dafür treffende Worte:

»Wenn wir leugnen, daß die Natur mit Bewußtsein erfüllt ist, sprechen wir damit auch den Welten, die wir finden, wenn wir durch die Natur hindurchschauen, das Bewußtsein ab. Am Ende bleibt uns dann nur noch eine Welt: die Welt von McDonald's, und die ist ausbeutbar.14

Manche von uns beginnen jetzt zu erkennen, wie hoch der Preis für diese Verleugnung ist. Aber wie sollen wir den Schaden reparieren? 


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   Die Wissenschaft und das Heilige    

 

Gegenwärtig bemühen sich verschiedene ökologische, neoheidnische und ökofeministische Bewegungen darum, die animistische Weltauffassung wieder aufleben zu lassen. In späteren Kapiteln werden wir uns mit diesen Versuchen auseinandersetzen, die man als Reverenzerklärung aus den Reihen der Privilegierten, die im Herzen der industriellen Welt leben, an die zahllosen Unterprivilegierten, die an ihren Rändern dahinvegetieren, gar nicht hoch genug einschätzen kann. Diese Gruppen führen uns vor Augen, was wir im Lauf des Zivilisationsprozesses und der Industrialisierung alles geopfert haben. Sie machen von der globalen Annäherung der Kulturen in unserer Zeit den denkbar besten Gebrauch, indem sie die historische Vielfalt und den Reichtum der kulturellen Überlieferungen retten, die Wissenschaftler und Gelehrte zusammengetragen und vor uns aufgehäuft haben. 

Aber in meiner Sicht reichen diese Bemühungen für sich genommen nicht aus. Der Weg zurück in die Vergangenheit ist nicht der Weg, der uns aus der ökologischen Krise herausführt. Wenn wir Teile der animistischen Sensibilität zurückgewinnen wollen, müssen wir uns bemühen, die moderne Wissenschaft in dieses Vorhaben zu integrieren. Die Arbeit der Naturwissenschaftler — so eindimensional sie in psychologischer Hinsicht sein mag, wenn es um nicht-logische, nicht-mathematische Dimensionen der Erfahrung geht — basiert auf empirischen Fakten, die man nicht leichthin von der Hand weisen kann. Außerdem verdanken wir den Naturwissenschaften und ihren akribischen Methoden einen reichen Schatz an erstaunlichen Erkenntnissen über die kleinsten und die größten Zusammenhänge, die unser Verständnis des Universums immens erweitern. Wenn das menschliche Verhalten allein durch Vernunft gesteuert wäre, würde das, was die Wissenschaft uns über die großen ökologischen Muster und Zyklen des Planeten gelehrt hat, genügen, um uns in ökologischer Hinsicht zu einer radikalen Umkehr zu bewegen.

Heute ist der Einfluß der Wissenschaften aus dem Leben der Menschen überall in der modernen Welt nicht mehr wegzudenken.


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Das ist vielleicht die größte Annäherung an eine universelle Kultur, die unsere Spezies seit den Tagen der Jäger und Sammler je erreicht hat. Selbst hartgesottene Fundamentalisten wie die Christian Evangelicals in den USA, die darum kämpfen, die gute alte Religion vor dem Einfluß der »säkularen Humanisten« zu bewahren, nehmen die Errungenschaften der modernen Wissenschaft, die sie so sehr verachten, mit der größten Selbstverständlichkeit in Anspruch, wenn sie einen Lichtschalter betätigen oder wenn Videoaufzeichnungen ihrer Gottesdienste über das Fernsehen ausgestrahlt werden. Nicht anders die islamischen Fundamentalisten, die sich mit gewalttätigem Fanatismus gegen westliche Wertvorstellungen abgrenzen. Die Erfindungen der westlichen Wissenschaft nehmen sie dennoch gern in Anspruch, und sie leben von dem Markt, den der Westen für ihre Ressourcen bereitstellt. Wenn die Ayatollahs zu ihren Anhängern sprechen, tun sie das durch Mikrophone und vor laufenden Fernsehkameras. 

Wir alle machen Gebrauch von den Erfindungen und Errungenschaften der Wissenschaft; wir sind so sehr darauf angewiesen wie die frühen Jäger und Sammler auf ihre Fähigkeiten, Jagdtiere aufzuspüren und zu erlegen und in der Wildnis eßbare Pflanzen zu finden. Nichts hat zur Zeit bessere Chancen, uns zu vereinen und zur großen Familie der Menschheit zu machen. Im Bild der Erde, von Astronauten aus dem Weltraum heraus fotografiert, ist dieses Versprechen verkörpert; der Blaue Planet, der sich leuchtend wie ein Juwel vor der samtenen Schwärze des Alls abhebt, ist die Ikone unserer Zeit.

Das ist nicht die Natur, wie unsere Vorfahren sie kannten — eine lokale Landschaft, mit deren üppigem Detailreichtum man intim vertraut war. Es ist ein Produkt raffinierter Technologie, ein Muster von Licht und Farben, aufgezeichnet mit Hilfe einer chemischen Emulsion und aus einer Perspektive, die sich nur den Passagieren eines Raumschiffs darbietet. Aus der Distanz des Weltraums betrachtet, verliert die Erde ihre »Erdhaftigkeit«; sie erscheint kühler und abstrakter als unsere Vorfahren sie kannten, eher ein Studienobjekt als eine lebendige Präsenz, die angesprochen und verinnerlicht werden kann.

Dennoch könnte dieses Bild für uns einmal zur Metapher des Lokalen und Vertrauten innerhalb der galaktischen Wildnis werden. Immer wenn ich es anschaue, bin ich von dem Gefühl erfüllt, daß dies wieder eine andere Form ist, in der die lebendige Erde uns daran erinnert, wie intim wir an sie gebunden sind; sie ist der fragile, blau schimmernde Außenposten des Lebens im tiefen Dunkel der Unendlichkeit.

Da Naturwissenschaftler auf kühle Präzision und auf eine unpersönliche Rhetorik festgelegt sind, können sie von der Erde nicht so sprechen, wie unsere Vorfahren es taten; sie können ihr kein Gesicht und keine Stimme geben und ihren Namen nicht mit Ehrerbietung nennen. Es ist allerdings bemerkenswert, wie oft sie sich in ihren Beschreibungen anthropomorpher Metaphern bedienen — eine kuriose Gewohnheit, auf die wir in späteren Kapiteln noch näher eingehen werden. 

Dennoch: Je tiefer die moderne Wissenschaft in die Natur der Dinge eindringt, desto häufiger stößt sie auf Spuren jener Präsenz, die der uranfänglichen animistischen Weltauffassung so tief vertraut war — auf das Bewußtsein im Kosmos, wie wir es hier nennen werden. In der für sie charakteristischen, zögernden und umständlichen Weise entwerfen Wissenschaftler ein Bild von der Welt als lebendige, zielgerichtete, bewußte Wesenheit, obwohl sie die letzten wären, die das zugeben würden. 

Die objektiven Wahrheiten, mit denen diese neuen Entdeckungen uns konfrontieren, zwingen uns dazu, unsere Naturphilosophie einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Und ich denke, es kommt noch etwas anderes ins Spiel: die »wilden« Überreste in uns, das ökologische Unbewußte, wie wir es nennen könnten, meldet sich auf der subjektiven Ebene zu Wort, um den ökologischen Notwendigkeiten unserer Zeit zu begegnen. 

Neue theoretische Ansätze wie die Gaia-Hypothese und das anthropische Prinzip, die wir im folgenden genauer untersuchen werden, sind deshalb von so großer Bedeutung, weil sie die ersten unsicheren Schritte in Richtung einer Wissenschaft darstellen, die uns von dem toten und bedeutungs­losen Universum der Vergangenheit erlösen kann. Sie eröffnen uns die Möglichkeit, wieder mit dem Kosmos in Beziehung zu treten.

In uranfänglichen Zeiten — oder vielmehr bevor die Zeit überhaupt existierte — waren die Welt hier drinnen und die Welt dort draußen in einem einzigartigen kreativen Impuls untrennbar vereint, in der unbeschreiblichen »Singularität«, aus der — wie die neue Kosmologie uns lehrt — alle Dinge hervorgingen. Nachdem sie so lange durch einen unüberbrückbaren Abgrund getrennt waren, finden diese beiden Welten nun vielleicht endlich zu ihrer ursprünglichen Einheit zurück. 

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 Von Theodore Roszak 1992