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Teil 2

Kosmologie

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133-159

Die »Steinzeitpsychologie« bildet vielleicht einen aufschlußreichen Kontrast zur modernen Psychotherapie, aber ihre besondere Heilungskraft entstammt einer animistischen Erfahrung der Natur, die für unsere moderne Welt offenbar hoffnungslos verloren ist, verloren und von vielen nicht einmal vermißt. Die Bäume sprechen und die Sterne predigen zu hören, gilt — wenn es sich nicht um einen Ausdruck dichterischer Freiheit handelt — als primitiver Aberglaube oder als verrückt.

Während der letzten drei Jahrhunderte hat die orthodoxe Wissenschaft uns gelehrt, daß die natürliche Welt keine lebendige Präsenz darstellt, die zu uns spricht, sondern daß sie das Andere, uns gänzlich Fremde ist. Leben und Bewußtsein sind als unerklärliche Kuriositäten in einem galaktischen Niemandsland angesiedelt.

Aber die Wissenschaft hat auch ihre Geschichte, und sie mußte ihre Grundprämissen im Lauf dieser Geschichte viele Male revidieren. Wir durchleben gerade eine solche Phase des Paradigmenwandels. In der Kosmologie, der Physik und der Biologie haben sich im Lauf unseres Jahrhunderts konvergierende Entwicklungen vollzogen, die uns zu einem radikal veränderten Verständnis unserer Stellung im Universum hinführen.

Unser zunehmendes Gewahrsein der ethischen Verpflichtung, die wir der nichtmenschlichen Welt gegenüber haben, und der psychischen Kontinuität, in der wir zu ihr stehen, gibt uns die Chance, uns die Natursensibilität unserer Vorfahren bis zu einem gewissen Grad wieder anzueignen — auf unsere eigene, zeitgemäße Weise.

 

4.  Bewußtsein im Kosmos - Der Agnostizismus und das anthropische Prinzip

 Position  Materie  selbst   Ambivalenz   Zeit 

»Heute besteht eine weitgehende Übereinstimmung — ja, auf der physikalischen Seite der Wissenschaft nahezu Einmütigkeit — darüber, daß der Wissensstrom sich in Richtung einer nichtmechanistischen Realität bewegt; das Universum erscheint mehr und mehr wie ein großer Gedanke und nicht wie eine große Maschine. Das Bewußtsein wird nicht mehr so betrachtet, als sei es als zufälliger Eindringling ins Reich der Materie hineingelangt; wir beginnen vielmehr zu ahnen, daß wir ihm als dem Schöpfer und Lenker des Reichs der Materie huldigen sollten.« 

James Jeans, The Mysterious Universe - en.wikipedia  The_Mysterious_Universe (1930)

    Die atheistische Position   

Das erste Philosophieseminar, das ich am College belegte, war hauptsächlich dem Studium eines frühen Essays von Bertrand Russell mit dem Titel »A Free Man's Worship« (Das Credo eines freien Menschen) gewidmet. Obwohl dieser Text schon 1903 entstanden war, wurde er Studienanfängern mit Vorliebe vorgelegt — und zwar nicht wegen seines historischen Werts. Der Essay ist eine Verteidigungsschrift für ein Leben der Vernunft — ein Credo, das im Gefolge des Zweiten Weltkriegs besonders relevant geworden war — und entsprach somit der philosophischen Hauptströmung, die das Geistesleben an vielen amerikanischen und britischen Universitäten zu jener Zeit bestimmte.

Aus der Sicht vieler liberaler Intellektueller führte jede Abweichung von der strikten Logik und dem klaren Denken, für die Russell sich aussprach, auf direktem Weg zu faschistischer Hysterie.

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Mein Professor, ein doktrinärer Positivist, der bei Russell studiert hatte, trug die Worte seines Mentors mit dem unverkennbaren Eifer des Proselyten vor, in der klaren Absicht, seine Studenten für den heroischen Stoizismus des großen Mannes zu gewinnen. Was mich anging, hatte er Erfolg. Ich hatte den römisch-katholischen Dogmatismus meiner Kindheit gerade von mir geworfen und war auf der Suche nach einer neuen Orientierung. Russells Worte wurden für mich zu einer Art agnostischem Manifest, das ich während der nächsten Jahre stolz und kampflustig verteidigte.

Es besagte, daß der Mensch das Produkt von Ursachen sei, in denen das Endresultat, zu dem sie hinführen sollten, nicht angelegt war, daß die Ursprünge des Menschen, seine Entwicklung, seine Hoffnungen und Ängste, Leidenschaften und Überzeugungen nur das Resultat einer zufälligen Anordnung von Atomen seien, daß kein inneres Feuer, kein Heldentum, keine Intensität des Denkens und Fühlens ein individuelles Leben über das Grab hinaus erhalten könne. Vielmehr seien die Mühen aller Zeitalter, alle Hingabe, alle Inspiration, selbst das hellste Leuchten des menschlichen Geistes dazu bestimmt, im großen Tod des Sonnen­systems zu erlöschen, und alle menschlichen Errungenschaften würden schließlich unter den Trümmern des zerfallenen Universums begraben sein. Eine Philosophie, die sich ihre Glaubwürdigkeit erhalten wolle, dürfe sich diesen Erkenntnissen nicht verschließen. Nur innerhalb der Rahmenbedingungen dieser Wahrheiten, nur auf der festen Grundlage des »unbeugsamen Verzichts auf Hoffnung« könne die Seele künftig ihre Behausung sicher bauen.1

Aus dem Positivismus, der um die Jahrhundertwende seinen Zenit erreichte, leitete Russell seine strenge Auffassung von der Rolle der Philosophie her. Sie hatte den Naturwissenschaften zu dienen, deren methodologisches Instrumentarium zu überwachen und aufzupolieren. Als ihre zukünftigen Hauptgebiete sah Russell die komplexen Zusammenhänge der Logik, der Mathematik und der linguistischen Analyse. Philosophen hatten in erster Linie Techniker zu sein, Sanitäringenieure der intellektuellen Welt, und es war ihre Aufgabe, eine Kultur, die immer noch im Schlamm des Aberglaubens und des emotionalen Geplappers steckte, zu säubern und zu klären.

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Wenn sie ihre Arbeit gut erledigten, wären sie eines Tages davon erlöst, sich mit den unsauberen Problemen der Metaphysik, der Ethik oder der Theologie herumschlagen zu müssen. All diese spekulativen Dinge wären dann gleichsam verflogen wie giftige Dämpfe. In dieser Hinsicht war Russell jedoch bei weitem nicht der rigoroseste unter den Positivisten; er war ein Mensch von hoher Integrität, der sich sein Leben lang mit Energie und Hingabe ethischen und politischen Anliegen widmete.

Auf den folgenden Seiten werden wir untersuchen, wie es dazu kam, daß diese klare, kämpferische Vision der Philosophie durch Zweifel und Vorbehalte getrübt wurde. Die orthodoxen Naturwissenschaften lieferten kämpferischen Geistern wie Russell einmal die festen (wenn auch deprimierenden) Grundlagen für ein klares Weltbild. Aber jetzt sind diese Grundlagen so unsicher geworden, daß jene, die dem im Entstehen begriffenen wissenschaftlichen Weltbild unserer Tage philosophischen Sinn entnehmen wollen, sich Fragen von eindeutig religiösem Charakter zuwenden müssen. Können wir die Welt weiterhin als Resultat blinder Zufälle betrachten, oder gibt es ein Element grundlegender Zielgerichtetheit in der Natur, das auf die Anwesenheit von Intelligenz hinweist?

Können wir Leben und Bewußtsein immer noch als die zufallsbedingten Epiphänomene sehen, für die Russell und Freud sie hielten? Oder deutet die neue Kosmologie, deren Konturen jetzt, im späten zwanzigsten Jahrhundert, sichtbar werden, auf eine ganz anders geartete Zentriertheit auf den Menschen hin, die von uns fordern wird, unsere Stellung im Universum neu zu überdenken? Vielleicht stehen wir vor einer Wiederannäherung von Wissenschaft und Religion oder zumindest von wissen­schaftlichem Denken und gewissen religiösen Denkkategorien, die aus unserer säkularen Kultur seit langem verbannt sind.

Obwohl eigentlich ein großer Anreiz darin liegt, nach einer Alternative zu Russells »unbeugsamem Verzicht auf Hoffnung« zu suchen, hege ich doch den Verdacht, daß innerhalb der Naturwissenschaften nur eine Minorität — oder überhaupt nur ein geringer Teil der intellektuellen Welt — eine solche Entspannungspolitik gutheißen würde.

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Es ist wichtig zu begreifen, warum dieser Widerstand existiert, denn er könnte seriöse Bemühungen um eine intellektuelle Synthese unnötig behindern. Oft braucht man Distanz, um die Dinge klar zu erkennen, und so müssen wir auch hier, wenn wir den Charakter von Wissenschaft verstehen wollen, aus der Wissenschaft heraustreten in die sie umgebende Kultur.

Eine der denkwürdigsten — und zugleich erschreckendsten — Äußerungen aus der Ära der großen bürgerlichen Revolutionen stammt von Louis de Saint-Just, der gemeinsam mit Robespierre die blutige Phase des Terrors in der französischen Revolution einleitete. Er erklärte, die Menschheit könne nicht wirklich frei sein, »ehe der letzte König in den Eingeweiden des letzten Priesters erwürgt daliegt«. Der rabiate Antiklerikalismus dieser Ära war in erster Linie politisch motiviert, und in der Folgezeit wurde die atheistische Position zu einer Frage politischer Prinzipientreue. In Übereinstimmung mit diesem Zeitgeist stürzten die überzeugten Agnostiker der Aufklärung auch Gott von seinem Thron und erreichten damit unter anderem, daß die Büttel der Kirche aus Autoritätspositionen vertrieben wurden. 

Überzeugt, daß »die Religion erfunden« wurde, »als ein Scharlatan einem Narren begegnete«, verloren sie in ihrem Kampf gegen die politische Macht des Klerus eine wichtige Unterscheidung aus den Augen. Antiklerikalismus ist eine Frage der Politik, Atheismus ein Frage der Philosophie. Es ist eines der Mißgeschicke in der Geschichte der Moderne, daß diese beiden so unterschiedlichen Probleme in einem einzigen sperrigen Programm miteinander verschmolzen wurden. Als Folge davon nahm die neue Wissenschaft dieser Ära, die als Inbegriff der Vernunft gefeiert wurde, einen kompromißlos antireligiösen Charakter an. Die alten theologischen Kategorien, die zu großen Teilen zweifellos obsolet geworden waren, wurden nun in Bausch und Bogen abgeschafft. Das Studium des Universums wurde zu einer gänzlich säkularen Beschäftigung und so tief in physikalischem Determinismus verankert, wie es nur möglich war.

Lassen Sie mich an dieser Stelle mein Anliegen deutlich machen. Ich stehe rückhaltlos zu den politischen Idealen der Aufklärung; für mich sind sie nach wie vor eines der Glanzlichter des westlichen Kulturerbes. Wahrscheinlich sind diese Ideale sogar der nobelste Beitrag, den unsere Gesellschaft anderen Kulturen anzubieten hat.

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Es steht völlig außer Frage, daß klerikale Privilegien in ebenso großem Widerspruch zur Demokratie stehen wie aristokratische Herrschaft, und in Saint-Justs Tagen bildeten beide tatsächlich eine Machtallianz — und beide wurden gemeinsam gestürzt. Aber an den philosophischen Zielen, die im Lauf der Zeit mit den politischen Zielsetzungen der Revolution verschmolzen, habe ich mittlerweile ernsthaft zu zweifeln begonnen. Jetzt würde ich die militante Säkularisierung des liberalen Denkens als extreme intellektuelle Verkrüpplung bezeichnen. Ich sage das ohne jede doktrinäre Voreingenommenheit; ich bin nicht religiös in dem Sinn, wie die meisten gläubigen Menschen das Wort verstehen. Dennoch können wir aus dem theologischen Denken gewisse Vorstellungskonzepte übernehmen — Teleologie, Causa finalis, Emergenz —, Vorstellungen also, die sich auf eine immanente Zielgerichtetheit in den Ursachen aller Dinge beziehen und die ich für philosophisch fruchtbar, ja sogar wissenschaftlich brauchbar halte.

Die »religiöse Haltung«, für die ich mich hier ausspreche, geht nicht mit der Vorstellung von einem persönlichen Gott einher und wird folglich mit dem Credo gläubiger Christen, Juden oder Moslems unvereinbar sein; sie drückt sich in einer Gesinnung aus und nicht im Glauben an einen Gott, erst recht nicht in paternalistischer Autorität. Sie wird auch nicht notwendigerweise die Tröstungen bieten, die im Glauben an die Allmacht eines himmlischen Vaters liegen, der die Gebete der Gläubigen erhört. Aber ich kann den Gedankengang, um den es mir hier geht, nicht entwickeln, ohne auf Elemente zurückzugreifen, die aus den religiösen Traditionen stammen; an erster Stelle steht dabei die Vorstellung von einer kreativen Intelligenz, einer immateriellen Kraft, die in der Natur lebendig und am Werk ist — die Vorstellung vom Bewußtsein im Kosmos. 

Seit dem ersten Drittel dieses Jahrhunderts gehen Wissenschaftler — offenbar ohne daß sie es selbst klar realisierten — mit eben dieser Vorstellung um, die sie zweifellos weit von sich weisen würden, wenn sie sie mit dem Wort »Gott« assoziiert hörten. Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, die Zimperlichkeit in diesen Dingen abzulegen.

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Schließlich hat die Wissenschaft sich im Verlauf ihrer gesamten Geschichte aus der weiteren Kultur, in die sie eingebettet war, Begriffe, Modelle und Metaphern ausgeborgt und diese dann ihren eigenen Bedürfnissen angepaßt. Die Newtonsche Physik konnte ihre Theorien nur entwickeln, indem sie das Bild einer gesetzgebenden Gottheit übernahm, die der Natur ihre rationale Ordnung gab.

Es ist bemerkenswert, daß jetzt vielleicht eine viel ältere Schicht religiöser Vorstellungen — die Wahrnehmung der Beseeltheit, der kreativen Potenz und der Zielgerichtetheit in der Natur, die von den frühesten animistischen Stadien der menschlichen Kultur herstammt — die Rolle übernehmen wird, die der alte Uhrmacher-Gott einst innehatte. Vielleicht werden diese animistischen Vorstellungen den metaphysischen Rahmen für eine neue Kosmologie bilden. Schon weil dieses kulturelle Erbe »heidnisch« ist und Elemente der Naturmystik enthält, wird es sich für den religiös konservativen Geschmack vermutlich als noch ungenießbarer erweisen als der normale Atheismus. Religiöse Dogmatiker haben in fremden Göttern immer eine größere Bedrohung gesehen als in offen zur Schau gestellter Gottlosigkeit.

 

  Materie, Zufall, Unendlichkeit   

 

Um die Dinge im richtigen Verhältnis zu sehen, wollen wir uns noch einmal vor Augen führen, welche Strategien Agnostiker wie Russell seit den Tagen Tom Paines und des Barons d'Holbach benutzten, um Gott aus dem Universum zu streichen. Drei Eröffnungs­züge — mit den Figuren Materie, Zufall, Unendlichkeit — leiteten die Attacke ein.

Erstens: Man erklärt, daß alle Dinge aus Materie gemacht sind, wobei man Materie als unendlich kleine erstarrte Bröckchen eines unteilbar dichten Urstoffs definiert, der mit Leben und Bewußtsein nicht das mindeste zu tun hat.

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Zweitens: Man behauptet, daß die Materie dem Wirken diverser blinder, willkürlicher Kräfte und Energien ausgesetzt ist und daß diese Kräfte einen völlig wahllosen Einfluß auf die unendlich kleinen Urstoff­ballungen ausüben. Mit anderen Worten: Diese blinden Kräfte bewirken in der Materie unvorhersehbare Veränderungen; sie heizen sie auf, kühlen sie ab, schieben sie von einem Ort zum anderen, binden sie, sprengen sie auseinander und vermischen sie zu unvoraussagbaren Kombinationen.

Und drittens: Man erklärt, daß dieses ungesteuerte Wechselspiel von unbelebter Materie und unbeseelter Kraft — vorausgesetzt, es vergeht genug Zeit, unendlich viel Zeit — schließlich nicht nur die erkennbaren Phänomene der natürlichen Welt hervorbringt, sondern auch den menschlichen Geist, der sie erkennt.

Man verknüpfe dann diese drei Grundprämissen miteinander, und es bleibt kein Raum mehr für einen übergeordneten schöpferischen Geist. Die Welt passiert einfach; sie gestaltet sich selbst nach dem Zufallsprinzip. Wir Menschen sind ein kosmischer Unfall in bewußt wahrnehmender Form. Ein Gott ist dabei nicht notwendig.

Das ist im wesentlichen die Kosmologie der antiken griechischen und römischen Atomisten, auf den neuesten Stand gebracht durch das Hinzufügen moderner mathematischer Formeln. In beiden Fällen — in der Antike und in der Moderne — verfolgte man dabei dasselbe Ziel: die Notwendigkeit göttlicher Intervention aus dem Kosmos auszuschalten, seine Ordnung zu erklären, ohne dabei eine höhere Macht ins Spiel zu bringen.

Interessant ist, daß Atomisten wie Lucrez damit die Absicht verfolgten, die Menschheit von den Ängsten zu befreien, die mit einem Leben im Schatten launischer, omnipotenter Götter verbunden waren. Die atomistische Philosophie sprach von einer freundlichen, voraussagbaren Ordnung; ihr Ziel war Gelassenheit und innere Ruhe, Erlösung von der Bedrohung durch ein unabänderliches, von leicht erzürnbaren Göttern verhängtes Schicksal. Der doktrinäre Materialismus entstand unter ganz ähnlichen Vorzeichen; er versprach eben die psychologischen Tröstungen, von denen eingefleischte Atheisten gern behaupten, sie seien die feigen und duckmäuserischen Zielsetzungen der Religion.

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Die erfrischende, ja geradezu atemberaubende Einfachheit, die das wissenschaftliche Weltbild des siebzehnten Jahrhunderts kennzeichnete, wirkt so absolut überzeugend, daß man leicht eine wichtige Tatsache übersieht: Nichts war zu der Zeit, als diese Wissenschaft ihre Grundprämissen formulierte, schlüssig nachgewiesen. Niemand hatte je die Existenz eines Atoms bezeugt, geschweige denn seine Eigenschaften getestet. Niemand hatte je beobachtet, daß irgendein komplexes natürliches Objekt sich aufgrund zufälliger Faktoren einfach zusammenfügte. Was über die Kräfte der Natur bekannt war, beschränkte sich auf einige elementare Bewegungsgesetze, hauptsächlich die Gesetze der Schwerkraft. 

Diese elementaren Gesetze ließen sich jedoch nicht so weit verallgemeinern — damals nicht, und auch nicht zu späteren Zeitpunkten —, daß sie erfolgreich auf Phänomene wie Magnetismus und Licht oder auf die Komplexität vieler chemischer Reaktionen übertragen werden konnten. Das mechanistische Modell als solches, das der gesamten Naturanalyse zugrundelag, war pure Phantasie, denn niemand hatte je die Art von Maschine gebaut — oder würde sie je bauen —, als die man sich das Universum vorstellte: eine in ständiger Rotation befindliche Ansammlung von Objekten, deren Bewegung und Zusammenhalt auf der Wechselwirkung von Gravitationskräften beruhten. 

Zeit und Raum wurden absolut gesetzt; man ging davon aus, daß das Universum von unendlicher Dauer sei, aber weder gab es dafür einen Beweis, noch existierten überhaupt Methoden, sein Alter zu bestimmen. Kurzum: Das mechanistische Weltbild der Aufklärung war eine Kompilation apriorischer Annahmen, ebensowenig bewiesen wie die Existenz der Engelhierarchien und der kristallinen Sphären, von der die mittelalterlichen Scholastiker überzeugt waren. Das einzige, was wirklich für diese Weltauffassung sprach, war die Brillanz von Newtons Hauptwerk »Naturalis philosophiae principia mathematica« und die Inspiration des großen Mannes, der übrigens auch ein Mystiker war und vom Geist als einem einsamen Reisenden sprach, der sich ewig »durch die fremden Meere des Denkens« dahinbewegt. Das war schon viel, aber bei weitem nicht genug, um das Universum gänzlich zu erfassen.

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In der Rückschau über die Jahrhunderte hinweg können wir nun erkennen, daß sich das gesamte material­istische Programm wie ein säkularer Katechismus liest, der auf lauter Glaubensartikeln aufbaut. Dieses Weltbild, von feurigen Geistern aufgrund ihrer eigenen leidenschaftlichen Überzeugungen ins Leben gerufen, basierte nicht auf bewiesenen Erkenntnissen; es war vielmehr die programmatische Grundlegung eines ethischen und politischen Kampfes. In dieser Eigenschaft leistete es hervorragende Dienste, um auf der intellektuellen Ebene klar Schiff zu machen und Raum für neues Handeln zu schaffen. Die radikale, ja teilweise brutale Vereinfachung war ein Weg, ganz von vorn anzufangen, die ererbte Unordnung zu eliminieren und neue Ideen zu erproben. Aber das noble Anliegen der materialistischen Weltauffassung, die Gesellschaft auf den Grundlagen der reinen Vernunft neu aufzubauen, scheiterte schließlich an einem gewaltigen Hindernis: der Realität. Die Wahrheit ist nie einfach — weder in menschlichen Angelegenheiten noch im Reich der Natur.

Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts begannen die Grenzen des Newtonschen Wissenschafts­paradig­mas sich abzuzeichnen. Es bot mit Sicherheit keine sinnvolle Grundlage für die Biologie, die zur fruchtbarsten Wissenschaft dieser Ära werden sollte. Was noch schwerer wog: Es lieferte kein Erklärungsmodell für die wichtigsten neuen Entdeckungen in der Physik, Elektrizität und Strahlung. Als Michael Faraday versuchte, das verblüffende Phänomen der Elektrizität zu erklären, mußte er improvisieren, und kam zu einer radikal neuen", beängstigend nichtmechanistischen Modellvorstellung, die für das Newtonsche Wissenschafts­paradigma schließlich zur Zerreißprobe werden sollte: Er nannte sie »das Feld«. Obwohl Wissenschaftler es im allgemeinen nicht gerne zugeben, ist der Begriff des Feldes so schillernd wie eine der der theologischen Phantasie entsprungenen metaphysischen Konstruktionen. Der breiteren Öffentlichkeit konnte nie verdeutlicht werden, inwiefern ein Feld »physikalischer« oder »mechanischer« Natur ist in dem Sinn, wie Newton diese Begriffe gebraucht hatte.

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Wenn man dem Feld überhaupt materielle Substanz zuschreiben wollte, konnte man allenfalls von der Vorstellung eines subtilen Fluidums oder Äthers ausgehen - eine Lösung, die sich nicht als brauchbar erwies. Darüber hinaus werden Felder im leeren Raum zu Konfigurationen, in denen die einst soliden Atome als Wellen, Schwingungen oder Aktivitätsmuster erscheinen. Ein Feld als »physikalisch« oder »mechanisch« zu bezeichnen, bedeutet wirklich nur, ihm auf dem Weg der sprachlichen Metapher eine Realität zuzuweisen, die Wissenschaftler weiterhin respektieren können. Worauf läuft diese »Realität« letztlich hinaus, abgesehen von der Tatsache, daß Felder gemessen und als mathematische Probleme behandelt werden können? Hier stoßen wir auf ein Realitätsprinzip, das dem Mystiker Pythagoras mehr zu entsprechen scheint als den kühlen Empirikern, für die die meisten Naturwissenschaftler sich immer noch halten.

Um die Jahrhundertwende brachte die neue Physik Plancks, Bohrs, Heisenbergs und de Broglies die letzten Festungen des Materialismus zum Einstürzen. Materie konnte nicht mehr als etwas Einfaches und Endgültiges betrachtet werden. Statt mit »Dingen« war man nun mit »Ereignissen« von ambivalentem, wenn nicht hochgradig widersprüchlichem Charakter konfrontiert. Da die Trennungslinien zwischen Materie, Energie und Raum sich auflösten, war es auch nicht mehr möglich, ein kohärentes Bild der vermeintlich unerschütterlich festen »physikalischen« Grundlagen der Naturwissenschaften zu zeichnen.

Was Materie letztendlich sei, ließ sich nur noch in mathematischen Formeln ausdrücken, mit deren Hilfe man das flüchtige Etwas, das unter der soliden Oberfläche der Alltagsdinge lag, zwar messen, aber nicht mehr sichtbar machen konnte. An die Stelle des Atoms als des elementarsten Bausteins der Natur traten die »Partikel«. Aber Partikel waren nicht einfach eine kleinere Abart der Atome, sie präsentierten sich von Anfang an als nebelhafte Gebilde, die man einem Laienpublikum nicht in gewöhnlicher Sprache erklären konnte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Was immer Partikel auch sein mögen — flüchtige Impulse oder Entladungen oder Knoten, die sich durch die Raumzeit bewegen —, sie sind jedenfalls nicht als Objekte zu verstehen. Was heißt es also, die Dinge vom »materialistischen« Standpunkt aus zu betrachten, wenn Materie etwas so Ungreifbares ist?

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    Die Materie transzendiert sich selbst   

 

Es liegt eine gewisse Ironie in der gegenwärtigen Situation. Im Lauf von drei Jahrhunderten machten die Natur­wissen­schaften durch ihre immer weiter fortschreitenden Erkenntnisse über die Natur des Universums der anheimelnden Vorstellung, daß ein imposanter weißbärtiger Gott hoch droben in der höchsten Himmelssphäre auf einem goldenen Thron sitzt, endgültig ein Ende. Wir belächeln diese überholte Vorstellung als eine naive religiöse Phantasie. Aber nun, da Materie im Licht der neuen Physik als Ereignis erscheint, das sich innerhalb ungreifbarer Kräftefelder vollzieht, wird der materialistischen Weltauffassung ein ähnlich vernichtender Schlag versetzt. Auch sie erweist sich nun als eine überholte Idee. Ihre Basis — Materie — ist zu einem unbrauchbaren Konzept geworden. 

Hier sind es nicht wissenschaftliche und religiöse Vorstellungen, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, sondern die beiden Hauptzweige der Wissenschaft selbst: die Theorie, die den Materialismus als umfassendes Erklärungsmodell für natürliche Phänomene hervorbrachte, und die beobachtende Forschung, die ständig neue Gesichtspunkte und Aspekte der Realität entdeckt — Aspekte, die alte Theorien unterminieren und neuen Paradigmen den Boden bereiten. Die Erforschung der Kathodenstrahlröhre, des Radiums, der Röntgenstrahlung und der schwarzen Strahlung brachten einen Komplex von Daten hervor, der den Rahmen des Newtonschen Wissenschaftsparadigmas schließlich sprengte. Im neuen Quantenuniversum »transzendiert die Materie sich selbst«, wie Karl Popper es einmal ausdrückte.

Daß die materialistische Doktrin als veraltet betrachtet werden muß, stellt natürlich sowohl die Gläubigen als auch die Atheisten vor ein schwerwiegendes Problem.

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Beide Seiten brauchen den absoluten Gegensatz zwischen Geist und Materie als Basis für ihre Weltanschauungen. Beiden ist diese Basis nun entzogen. Wir können die Welt einfach nicht mehr auf diese Weise einteilen. Die Natur stellt eher eine Art Kontinuum dar; in einem bestimmten Moment der kosmischen Zeit und auf einer Ebene der Wahrnehmung nimmt sie die Festigkeit der Materie an, aber in einer früheren Phase und auf einer tieferen Wahrnehmungsebene hat sie mit der Alltagswelt des naiven Empirismus nicht die mindeste Ähnlichkeit. Der Physiker David Böhm begnügt sich damit, Materie als das zu definieren, »was Entfaltung verursacht, mittels welchen Mediums auch immer«.

Aber was heißt Entfaltung in diesem Zusammenhang, was entfaltet sich überhaupt? Eine »einbeschließende Ordnung«, die vorerst ein undurchdringliches Mysterium bleibt. Falls es uns je möglich sein sollte, dieses Mysterium zu entschlüsseln, müssen wir vielleicht Spinoza recht geben, der in der Materie »Gott in seiner weitesten Ausdehnung« sah. Wissenschaftler können mathematisch ausdrücken, wie Materie sich verhält, aber wir können nicht behaupten, wir hätten Klarheit über ihre Eigenschaften oder ihre Grenzen. Daher können wir auch nicht sagen, »Geist« sei etwas anderes als »Materie«, geschweige denn, Geist und Materie stellten einander ausschließende Gegensätze dar. Ein Gegensatz, auf den sich sowohl die Religion als auch die wissenschaftliche Theorie seit Jahrhunderten beriefen, um ihre anspruchsvollsten Lehrsätze zu untermauern, verliert in unserer Zeit jede Bedeutung.

Aber obwohl die neue Physik den klassischen Materialismus immer weiter unterminierte, machte sie das Universum nicht menschlicher. Im Gegenteil: Als die Atomwissenschaftler des frühen zwanzigsten Jahrhunderts mit ihrem Neuentwurf des Universums fertig waren, fanden der pragmatische Verstand und die normale Alltagserfahrung sich darin überhaupt nicht mehr zurecht. Selbst der forschende menschliche Geist findet zwischen den enormen Unwägbarkeiten dieses Alice-im-Wunderland-Kosmos nirgendwo festen Halt.

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Manchmal glaube ich, daß Wissenschaftler ein diebisches Vergnügen darin finden, das Laienpublikum an der Nase herumzuführen, indem sie die rätselhafte Substruktur des Universums in den ausgefallensten Termini beschreiben. Das gibt ihnen Gelegenheit, mit Vieldeutigkeiten und Paradoxien herumzuspielen. Diese Verspieltheit zeigt sich in dem farbigen Vokabular, das theoretische Physiker dieser Tage benutzen: Da gibt es »Quarks«, die in sechs »Geschmacks­richtungen« auftreten; diese sind wiederum in drei »Farben« unterteilt. Es gibt »Gluons« (von »glue« = Leim), die aneinanderkleben, »Wimps«, »Guts«, »Googles« und so fort — alles mit einem Augenzwinkern — Physik mit Humor.

Dennoch — und diesen Punkt kann man gar nicht genug betonen — läuft das dem eigentlichen Zweck von Wissenschaft zuwider. Seit Newtons Zeiten galt es als die vornehmste Aufgabe der Wissenschaft, die Welt auf eine klare, rationale Weise zu erklären, sie dem menschlichen Verständnis zugänglich zu machen, statt sie zu vernebeln und zu mystifizieren, denn gerade das warf man der institutionalisierten Religion vor. Unsere Stellung im Universum sollte durch den Intellekt definiert werden, die Fähigkeit, die klare und erfaßbare Logik des Universums zu begreifen.

Die Worte, mit denen der Physiker Richard Feynman einmal eine Vorlesungsreihe einleitete, stehen zu dieser Vorstellung von Wissenschaft in scharfem Kontrast. »Niemand, der eine naturwissenschaftliche Vorlesung besucht, erwartet, irgendetwas zu verstehen«, erklärte er. Und das fand er auch völlig in Ordnung. Wenn es um Themen wie Quantenelektrodynamik ging, brauchten weder seine Studenten etwas zu verstehen noch er selbst. Alles, was er erreichen wollte, war, seiner Zuhörerschaft »die Natur zu zeigen, wie sie wirklich ist: absurd«2. An die Stelle der kalten Leere des Newtonschen Universums war die schwindelerregende Absurdität des Einsteinschen Kosmos getreten. Was die menschliche Dimension angeht, war der Übergang von der alten zur neuen Ära der Physik kein Fortschritt. Hinter Feynmans vorgeblichem Avantgardismus steht nichts anderes als das vertraute existentialistische Weltbild - die große Leere -, an deren Rand die absurden Dramen Samuel Becketts spielen.

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Die Erosion des klassischen Materialismus war jedoch nur der Anfang der großen Demontage. Im Lauf der letzten fünfund­zwanzig Jahre kam es zu zwei weiteren bedeutsamen Entwicklungen, an denen keine auf Wissenschaft basierende Philosophie vorbeigehen kann. Die erste dieser Entwicklungen (auf die wir im fünften und sechsten Kapitel genauer eingehen werden) ist das zunehmende Wissen über natürliche Systeme — eine ständige Akkumulation neuer Einsichten, die unser Verständnis der Welt bereichern und auch in verwirrender Weise verändern. Die zweite ist die Entdeckung der kosmischen Evolution. Gemeinsam werfen sie für alle Erklärungsmodelle, die sich auf den Zufall berufen, beunruhigende Probleme auf. Wie zuvor die klassische Vorstellung von der Materie muß nun offenbar auch das Zufallskonzept zu den Akten gelegt werden — abgesehen von seinen schlichteren Anwendungsformen in Spielcasinos oder unter Computerprogrammierern.

Das Problem stellt sich folgendermaßen: Innerhalb der Elemente eines geordneten Ganzen gibt es eine schattenhafte, mysteriöse Präsenz. Sie ist das dauerhafte, immaterielle Muster der Teile, eine Struktur, die »da ist«, aber nicht in demselben Sinn, in dem die isolierbaren physischen Komponenten da sind. Die Struktur liegt zwischen den Teilen, oder sie ist eine Art Phantom-Rahmenwerk, das die Teile umgibt. Wenn diese Struktur zusammenhält, während sie sich durch die Zeit bewegt, und ihre Identität bewahrt, während sie ihre physische Gestalt permanent verändert, wird das Muster zu einem Prozeß, der sowohl zeitliche als auch räumliche Dimensionen hat. Struktur und Prozeß präsentieren sich nicht als empirische Momentaufnahmen wie bei der einfachen Beobachtung eines Objekts oder beim Ablesen eines Meßgeräts; der beobachtende Geist muß sie erkennen und entschlüsseln. Die Raupe erkennt das Blatt mit absoluter Sicherheit in dem Augenblick, in dem ihre Eßwerkzeuge es berühren, aber nur der menschliche Geist erkennt die Photosynthese, die sich darin vollzieht.

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Ervin Laszlo, einer der führenden Systemtheoretiker, erläutert die Veränderung der Betrachtungsweisen: Auf einer Ebene — der Ebene, mit der die Wissenschaft sich während ihrer ersten dreihundert Jahre befaßte — ist die Natur »Veränderung«, eine simple Abfolge von Zuständen, die man durch Messung erfaßt. Auf einer anderen Ebene, die im Lauf des zwanzigsten Jahr­hunderts mehr und mehr in unser Blickfeld geriet, geht es um die Ordnung der Veränderung, und die ist »Prozeß«. Erst jetzt beginnen wir, uns nach der Ordnung des Prozesses im umfassenden Sinn zu fragen, und die ist »Evolution«. Auf den letzten beiden Ebenen ist das Stadium der »Systeme« angesiedelt.

 

   Die Ambivalenz des Zufallsbegriffs    

 

Woher kommen solche systemischen Muster, wie werden sie in Gang gesetzt, warum sind sie von Dauer? Können sie zufällig entstanden sein? Genauer gefragt: Sind sie zufällig entstanden? Daß sie nichts anderes als ein Zufallsprodukt sein können, steht für die meisten Wissenschaftler immer noch völlig außer Frage; gelegentlich nimmt diese Überzeugung den unanfechtbaren Charakter eines Dogmas an. Der Nobelpreisträger Jaques Monod erklärt:

»Am Anfang jeder Innovation, jeder Schöpfung in der Biosphäre steht allein der Zufall. Reiner, absolut freier, aber blinder Zufall als Urheber des gewaltigen Bauwerks der Evolution: Dieses zentrale Konzept der modernen Biologie (...) ist heute die einzig vertretbare Hypothese. (...) Und nichts rechtfertigt die Annahme — oder die Hoffnung —, daß sich unsere Position in dieser Hinsicht je verändern wird.«7

Aber wie so viele in der Wissenschaft verwendete Begriffe werden »Zufall« oder »Wahrscheinlichkeit« in sehr unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht, im allgemeinen wie auch im speziellen Sinn. Wir können uns fragen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, daß wir am Würfeltisch zehnmal hintereinander die Sieben werfen. Die Antwort: Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering. Und wie steht es mit der Wahrscheinlichkeit, tausendmal hintereinander die Sieben zu würfeln?

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Sie ist natürlich noch weitaus geringer, aber man kann sie noch errechnen. Bei zwei Würfeln mit je sechs Seitenflächen, deren Zahlenwerte durch Punkte markiert sind, bleibt das Problem im Rahmen des Überschau­baren. Das Hauptproblem, mit dem die klassische Physik sich befaßte — das Sonnensystem —, lag ebenfalls noch im Bereich des Überschaubaren. Mittlerweile wissen wir, daß mit der »einfachen Mechanik« dieses Systems eine große Zahl schwer kalkulierbarer Vorgänge verbunden sind, die den frühen modernen Astronomen nicht bekannt waren, ganz zu schweigen von den Einsteinschen Gravitations­verschiebungen, die erst in diesem Jahrhundert beobachtet wurden. Dabei ist unser Sonnensystem eines der »einfacheren« unter den natürlichen Systemen. Trotzdem waren die meisten Wissenschaftler des siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts davon überzeugt, daß es eines Gottes bedurfte, um es zu erschaffen. Aber schließlich setzten sich die Agnostiker mit ihrer Überzeugung durch, das Universum könne durchaus das Resultat einer Serie von Zufällen sein, kaum durch mehr unterstützt als durch die klassischen Newtonschen Bewegungsgesetze.

Aber fragen wir uns nun, wie wir es am Beispiel des Glücksspiels taten: Wie hoch ist die Wahrscheinlich­keit, daß die Materie (wie immer wir sie auch definieren) durch eine Reihe blinder Zufälle so zusammengewürfelt werden kann, daß sie das existierende Universum ergibt? Das ist ganz offensichtlich eine unsinnige Frage. In diesem Spiel ist der Würfel nur einmal gefallen: im Augenblick des »Urknalls«, der explosiven Entfaltung des Universums aus der ursprünglichen Singularität. Dieser eine Wurf brachte alles Existierende hervor. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, daß das passierte? Natürlich können wir diesen Begriff hier gar nicht anwenden. Genauso sinnlos wäre es, zu fragen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, daß ein einzelnes Proteinenzym durch Zufall entsteht, es sei denn, wir hätten eine genaue Übersicht über die zahllosen Kombinationen und Rekombinationen vor uns, die in allerfernster Vergangenheit stattfanden. Soweit wir wissen, war auch dies ein einzigartiges Ereignis.

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Wir können vermuten, daß solche willkürlichen Kombinationsprozesse am Anfang standen, aber wirklich wissen können wir es nicht. Das einzige Argument, das man anführen könnte, um diese Annahme zu stützen, würde lauten: »Wie sollte es sonst geschehen sein?« Aber bei dieser Frage sollte Wissenschaft eigentlich beginnen und nicht enden.

 

»Zufall« ist ein Begriff, den wir verwenden können, wenn es um die Ziehung der Lottozahlen geht oder um irgendein Losverfahren. Statistiker arbeiten mit »Zufallsgeneratoren«, um sich bei ihren Auswahl­prozessen gegen Voreingenommenheit zu sichern. Manche Mathematiker halten die von Maschinen hervorgebrachten Zufallszahlen jedoch für »Pseudozufälle« — wegen der Grenzen, an die jede Art von Maschine notwendigerweise stößt, wenn es um unendliche Prozesse geht.

Alle Formen der Zufallsauswahl setzen gewisse Grenzbedingungen voraus. Jenseits dieser Grenzen kann es geschehen, daß die Unvoraussag­barkeit endet, daß Wiederholungen und Muster beginnen. In dem Topf, aus dem wir die Lose ziehen, befindet sich nur eine begrenzte Anzahl gerollter oder gefalteter Zettelchen; die Anzahl der Lottoscheine, die jede Woche ausgefüllt werden, ist begrenzt. Und wenn es nun sehr viel mehr wären? Wenn wir immer weiter mischten und Zahlen ausschütteten?

Solange es uns nicht möglich ist, eine Zufallsmaschine ewig laufen zu lassen, können wir auch nie sicher sein, ob sich an irgendeinem Punkt nicht doch ein voraussagbares Muster entfaltet. Die Maschine bringt Zufälle nur innerhalb gewisser praktischer Grenzen hervor. »Zufall«, meint Heinz Pagels, »ist möglicherweise absolut undefinierbar.«4

Ist das Verhalten der Dinge im Universum in irgendeiner definitiveren Weise »zufällig« als die Tätigkeit einer Zufallszahlenmaschine? Ein neuer Zweig der Wissenschaft hat seit einiger Zeit begonnen, Phänomene und Prozesse zu studieren, die einmal als völlig unvoraussagbar und total willkürlich galten — die Wellen­bewegungen der Ozeane zum Beispiel oder Wirbel in der Atmosphäre. Dieser Wissenschaftszweig nennt sich Chaosforschung. Die höchst unordentlichen Phänomene, die in ihr Gebiet fallen — wie beispielsweise die Turbulenzen —, waren ihrer hartnäckigen Unkalkulierbarkeit wegen für die Natur­wissen­schaften immer das rote Tuch.

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Die billige und schnelle Rechenkraft der Computer machte es möglich, Prozesse unter Einbeziehung von Variablen zu simulieren, die früher nicht erfaßbar waren — idealerweise (wenn auch nicht wirklich) bis hin zum Flügelschlag eines Schmetterlings und dem Einfluß, denn die dadurch ausgelösten Turbulenzen auf das Wetter nehmen. Die Schlußfolgerungen, zu denen solche Studien hinführen, sind ambivalent. Einerseits hat die Chaosforschung demonstriert, daß die Art von total deterministischer Voraussagbarkeit, die von der klassischen Physik einmal im Prinzip für möglich gehalten wurde, im Prinzip unmöglich ist.

In chaotischen Systemen wie dem globalen Klima ist die Sensibilität für Initialbedingungen so groß, daß anfängliche Kalkulationsfehler im Verlauf des Beobachtungs­prozesses leicht in akzelerierenden Raten anwachsen. Außerdem kann sogar ein einfaches System wie ein schwingendes Pendel, das man bereits völlig verstanden zu haben glaubte, auf unvoraussagbare Weise chaotisch und in seiner Bewegung somit »zufällig« werden. Das entstehende Chaos jedoch kann wiederum eine generell nichtzufällige Gestalt annehmen, zumindest in der Computersimulation. Es scheint fast, als fiele die Materie unter extremen Bedingungen der Verworrenheit und Turbulenz auf eine Kategorie von Ordnung zurück — das beste, was sie unter solchen Umständen tun kann. Zu dieser »Ordnung des letzten Auswegs« gehören »seltsame Anziehungspunkte«, mysteriöserweise favorisierte mathematische Sammelbecken, zu denen sonst unkalkulierbare Phänomene hinstreben. Kurzum: Wenn hinter der oberflächlichen Illusion der Regelhaftigkeit eigentlich der reine Zufall steht, so könnte hinter der Illusion des reinen Zufalls möglicherweise eine andere, tiefergehende Art von Ordnung stehen. Welten, die sich in Welten verbergen, die sich in Welten verbergen.

Überzeugte Materialisten könnten ihre Position immer noch gegen alle Zweifel behaupten und erklären, daß alle uns bekannten Systeme sich im Prinzip zufällig herausgebildet haben könnten — vorausgesetzt, man geht von einem genügend großen Zeitraum aus. Das Argument beruft sich darauf, daß selbst eine unendlich kleine Wahrscheinlichkeit im Verlauf von unendlich viel Zeit irgendwann einmal auftreten kann.

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Im neunzehnten Jahrhundert vertrat Ludwig Boltzmann, einer der Pioniere in der Erforschung der Gase (das Wort »Gas« leitet sich übrigens aus dem griechischen »Chaos« ab), die Position, daß nur der Zufall für die kohärente Struktur des Universums verantwortlich sei. Er errechnete sogar die Zeit, die der Zufall brauchte, um dieses Resultat zu erzielen: lOlo8°. Eine wahrhaft heroische Kalkulation: Zehn, zu einer Potenz erhoben, die durch eine weitere Zehn gefolgt von achtzig Nullen ausgedrückt wird. Die Seiten der Bücher in allen Bibliotheken der Welt würden nicht ausreichen, um eine solche Zahl aufzunehmen.

Eine Zahlenangabe von dieser Größenordnung erscheint wie reine Spielerei, aber Boltzmann war es damit ganz ernst. Seine Berechnung basierte auf der Grundprämisse von der Unendlichkeit des Universums. Wenn man Zeit absolut setzt, ergibt sich ein Paradox, das den unerbittlichen zweiten Hauptsatz der Thermodynamik außer Kraft setzt. Dieser, auch »Entropiesatz« genannt, ist eine Aussage über Wahrscheinlichkeit; er bezieht sich auf Vorgänge, die mit Energieumsetzungen verbunden sind, und besagt, daß allen geordneten Zuständen die Tendenz innewohnt, aus der Ordnung herauszufallen und zum Chaos hinzustreben — innerhalb von Minuten oder von Äonen.

Aber wenn dem so ist, warum gibt es dann überhaupt noch Ordnung im Universum (was ja offensichtlich der Fall ist) nach all den bereits abgelaufenen Äonen? Boltzmanns Antwort lautete: Die Unendlichkeit ist von permanenten Fluktuationen erfüllt. Die Atome, die auf ihrer Drift durch die Leere permanent zusammenstoßen, bewegen sich durch jede denkbare Fluktuation hindurch, können also auch zu geordneteren Zuständen zurückkehren. Das höchst geordnete Universum, das wir vorfinden, ist nichts anderes als eine solche Fluktuation. Es könnte in Zukunft zum Chaos hinstreben, würde im Lauf unendlicher Zeiträume aber wieder zu seinem geordneten Zustand zurückkehren. Zufall, auf die Unendlichkeit ausgedehnt, beinhaltet also auch das zufällige Zustandekommen von Ordnung. Entstand das Universum auf diese Weise? Oder, anders gefragt: Hat es bereits einen Zeitraum von 1010 hoch 80 * Jahren überdauert? 

* (d-2015:)  Also 10 hoch 10 hoch 80. Warum schreibt er nicht 10 hoch 800? Man sage es mir bitte.

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   Die Geschichte der Zeit    

 

Boltzmann ging von dieser Vorstellung aus. Aber wir wissen inzwischen, daß er unrecht hatte. Die neue Kosmologie konfrontiert uns mit der verblüffenden Entdeckung, daß das Universum und mit ihm die Zeit selbst keine unendlichen Ressourcen sind. Beide hatten einen Anfang, beide haben eine meßbare Dauer. Wir können nicht sicher sein, ob der »Urknall«, dieser Moment spontaner Schöpfung, sich vor fünfzehn oder zwanzig Milliarden Jahren ereignete, oder ob es überhaupt angemessen ist, vom Urknall als einem bestimmten »Zeitpunkt« zu sprechen. In jedem Fall können wir das Universum nicht mehr mit jener majestätischen Spanne von Äonen ausstatten, die Boltzmann als ausreichend dafür ansah, daß geistlose Materie zu einem kohärenten, mit physischem Leben und biologischen Strukturen angefüllten Kosmos akkumulierte.

Mittlerweile ist die Öffentlichkeit mit den Grundzügen der neuen Kosmologie vertraut. Es wird jedoch meistens nicht genügend gewürdigt, in welchem rasanten Tempo sie sich entwickelte und welche rabiaten Veränderungen unseres Wissenschafts­paradigmas sie uns abverlangt. Alle wichtigen Entdeckungen, die zur Herausbildung des neuen Weltbildes beitrugen, fallen in den Zeitraum zwischen den zwanziger und den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts.

Es begann damit, daß Edwin Hubble den Andromedanebel als Galaxis identifizierte, als erstes »Insel-Universum«. Mit dieser Entdeckung nahm die »Unendlichkeit« eine Größenordnung an. Um 1930 hatte Hubble auch den ersten soliden Beweis dafür gefunden, daß das Universum sich ausdehnt: die Rotverschiebung im Spektrum von Galaxien. Die Entdeckungen waren aufsehenerregend, aber die »exakten« Wissenschaften blieben skeptisch; in ihrer Sicht war die neue Kosmologie allzu spekulativ. In den Weiten des Alls schien es so wenig zu geben, das klar nachgewiesen werden konnte — zu wenig jedenfalls, um eine Entscheidung zwischen widerstreitenden Theorien zu treffen. Die Vorstellung, daß die Expansion des Universums auf eine

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Urexplosion zurückzuführen sei, blieb bis in die fünfziger Jahre hinein reine Theorie. Als der Astronom Fred Hoyle dieses hypothetische Ereignis als »the Big Bang« — den großen Knall — bezeichnete, war das als spöttische Zurückweisung der Idee gemeint. Erst um die Mitte der sechziger Jahre, als Arno Penzias und Robert Wilson zufällig auf die Mikrowellen­hintergrund­strahlung stießen, hatten die Wissenschaftler einen konkreten Anhaltspunkt dafür, daß dieses explosive Ursprungsereignis wirklich stattgefunden hatte, denn diese geisterhafte Strahlungshülle ist der letzte schwache Ausläufer der kosmischen Urexplosion. 

Zu diesem Zeitpunkt war bereits eine weitere astronomische Novität dokumentiert: die Quasare (quasistellare Objekte) — wahrhaft exotische Himmelskörper, wie man sie nicht mehr beobachtet hatte, seit zu Galileis Zeiten der erste Komet gesichtet worden war. Die Quasare bezeugen, daß es im Universum sehr weit entfernte Gebilde gibt, die außerdem von sehr seltsamer Beschaffenheit sind, weitaus seltsamer als alles, was mit Hilfe der Theorien der Vergangenheit erklärt werden konnte. Innerhalb eines expandierenden Universums, dessen Galaxien sich, wohin man auch blickt, rasch von uns fortbewegen, ist die Beziehung zwischen der Entfernung der Quasare und ihrer seltsamen Beschaffenheit ein sehr wichtiger Punkt.

Die Entdeckung der Quasare, wie wir sie jetzt beobachten können, Milliarden von Jahren nachdem ihr Licht die Reise zu uns begann, hat für die heutige Astronomie etwa die gleiche Bedeutung wie früher die Entdeckung fossilierter Saurierknochen für die Theoriebildung in der Biologie. Die Quasare sind Relikte eines älteren Universums, in dem Materie eigenartige Formen annahm. Im Zusammenhang mit dem »Urknall« beweisen sie, daß sich das Universum im Lauf der Zeit radikal gewandelt hat. Es hat eine Geschichte, einen registrierbaren Ablauf signifikanter Veränderungen. Und da diese Geschichte zwangsläufig die Geschichte alles Existierenden ist, müssen in ihr auch die Partikel vorkommen, die Nuklearphysiker mittlerweile als Grundbestandteile der Materie anerkennen. Auch diese Grundbestandteile wurden geschaffen, reiften und evolvierten. In den frühen siebziger Jahren »entdeckten« die Nuklearphysiker die Kosmologie und begannen, mit ihren Mitteln in diesen Bereich vorzudringen.

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 In der Hitze und dem immensen Druck des »Urknalls« erkannten sie das Potential eines Teilchen­beschleunigers, der zu Dingen fähig war, die keine ihrer eigenen Maschinen je leisten konnte: nämlich die Atome zusammenzubauen, die sie, die Wissenschaftler, zu Analysezwecken zu zertrümmern versucht hatten. Dieses einzigartige historische Ereignis, insbesondere das, was sich in den ersten Augenblicken der Schöpfung zugetragen haben mußte, verband sich schlüssig mit Aspekten ihrer eigenen Theorie. Diese bahnbrechenden Neuerungen — die Entdeckung der Hintergrund­strahlung, der Quasare, des »Urknalls«, und später Steven Hawkings Erkenntnisse über die Schwarzen Löcher — verwuchsen bald mit der Quantenmechanik und der Einsteinschen Relativitätstheorie und brachten ein radikal neues Weltbild hervor.

Wir wissen jetzt, daß Geschichte ein Aspekt aller Dinge ist — nicht nur der Evolution von Lebewesen. Wir wissen, daß die schwereren Elemente, aus denen wir gemacht sind, im Lauf dieser Geschichte in den glutheißen Kernen uranfänglicher Sterne geschmiedet wurden. Wir wissen, daß alles Existierende, wie komplex es auch strukturiert sein mag, innerhalb dieser Dynamik der kosmischen Evolution und im Rahmen der kosmischen Zeit erklärt werden muß. Sobald wir den Faktor der Zeitdauer einführen, ändert sich die Diskussion des Zufallsbegriffs radikal.

Jene, die sich auf den Zufall als Erklärungsmodell berufen, haben sich mit dieser Frage nie offen auseinandergesetzt. Sie stellten bei ihren abstrakten Wahrscheinlichkeits­rechnungen über das Fallen von Würfeln nicht in Rechnung, daß in der realen Welt Zeit vergeht, während die menschliche Hand den Würfel wieder und wieder wirft. Es ist eine Sache, eine Million Würfe durchzurechnen und die Ergebnisse aufzuzeichnen, aber die Würfel wirklich einemillionmal rollen zu lassen, ist eine ganz andere Angelegenheit. Es ergibt keinen Sinn zu behaupten, daß im Prinzip jedes Ergebnis möglich sei, wenn in der Geschichte der Zeit gar nicht soviel Zeit vorhanden ist, daß der Prozeß alle theoretisch denkbaren Permutationen durchlaufen könnte.

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 Die Geschichte des Universums umfaßt die gesamte Zeit, die es gibt; wenn wir darüber hinausgehen, stoßen wir auf den Punkt, an dem Null-Wahrscheinlichkeit herrscht. Diese Grenze bezieht sich nicht nur auf die Zeit, die die Ereignisse selbst brauchen, um sich zu vollziehen, sondern auch auf unsere Fähigkeit als Beobachter, über diese Ereignisse Aussagen von absoluter mathematischer Präzision zu machen — und das gilt auch für die sogenannten grundlegenden Naturgesetze, denen sie gehorchen.

Niemand würde zum Beispiel behaupten, ein Baseballspiel verstoße gegen die Gesetze der Physik, und dennoch würde kein Wissenschaftler, selbst wenn er die gesamte Informationstechnologie der Welt zur Verfügung hätte, je für sich in Anspruch nehmen, er könne jedes Detail des Spiels oder gar das Endergebnis mit Sicherheit voraussagen. Es sind einfach zu viele Variablen zu berücksichtigen. Beispielsweise würde es Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauern, präzise und erschöpfende Daten über die Initialbedingungen des Spiels zu sammeln: den Zustand des Spielfeldes und der Ausrüstung, die benutzt wird, die voraussichtlichen Veränderungen der Windrichtung und des Wetters, die Sehschärfe der Schiedsrichter, die Urteilsfähigkeit der Manager, die Gesundheit und den Kampfgeist der Spieler, und so fort. Bis diese Daten zusammengetragen wären, wäre das Spiel längst Vergangenheit.

Aus der Alltagsperspektive heraus betrachtet, erscheint ein solches Vorhaben einfach absurd, aber das Prestige der Wissenschaft beruht weitgehend darauf, daß sie für sich in Anspruch nimmt, solche Dinge im Prinzip leisten zu können. Wenn sie es nicht kann, sind Tür und Tor für einige beängstigend »übernatürliche« Möglichkeiten geöffnet. Es gibt zum Beispiel eine Untersuchung über Sport, die behauptet, Sportereignisse seien häufig von »okkulten« Ereignissen durchsetzt, die sich der wissenschaft­lichen Erklärbarkeit entziehen; angeblich kommen Momente außersinnlicher Wahrnehmung vor, übernatürliche Schübe von Leistungsfähigkeit und Kraft, Levitationen und dergleichen mehr.5  

Verhält sich das wirklich so? Wir mögen daran unsere Zweifel haben, aber um unsere Position zu erhärten, müßten wir klären, ob diese These gegen eine solide Voraussage über den Verlauf des Spiels verstößt. Und das ist unmöglich.

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Stephen Hawking gesteht diese Begrenztheit widerwillig ein, wenn er sagt, daß die Quantenmechanik uns »im Prinzip« ermöglicht, »innerhalb der von der Unschärferelation gesetzten Grenzen nahezu alles vorherzusagen, was wir um uns herum wahrnehmen. (In der Praxis sind jedoch die Berechnungen bei Systemen, die mehr als einige wenige Elektronen enthalten, so kompliziert, daß wir sie nicht mehr durchführen können.)«6 Dies könnten wir die zweite Unschärferelation nennen.

Hier stoßen wir auf einen wichtigen Punkt, der selbst in dieser kurzen Diskussion über Materie, Zufall und Wahrscheinlichkeit offen zutage tritt. Wenn wir darin übereinstimmen, daß sich die traditionelle Wortbedeutung dieser Begriffe nahezu völlig gewandelt hat, können wir sehen, daß ihre wahre Bedeutung nie technischer oder empirischer Natur war. Vielmehr wurde diese Sprache in die Wissenschaft als Bestandteil und Merkmal ihrer agnostischen Ausrichtung eingeführt. Das einzige, was von diesem orthodoxen Wissenschaftsparadigma heute im Bewußtsein vieler Wissenschaftler noch überlebt, ist die ihm zugrundeliegende, mittlerweile höchst dubiose Annahme, man könne alle Phänomene in der Natur ohne Verweis auf einen vorsätzlichen Plan oder Zweck erklären: Das wissenschaftliche Weltbild benötige keinen Gott. Das ist im Grunde alles, was gesagt wird, wenn Leute behaupten, sie erklärten die Dinge vom »materialistischen« oder »physikalischen« Standpunkt aus. Erklärungen auf dieser Basis gehören einfach zu den Regeln, nach denen in der Wissenschaft gespielt wird. Aber letztlich liegt dieser Haltung eine metaphysische Prämisse zugrunde, die an ein moralisch-politisches Programm gebunden war.

Das heißt nicht, daß man sich mit apriorischen Behauptungen begnügt hätte, ohne sie durch experimentelle Forschung zu untermauern, insbesondere was das größte aller Rätsel angeht: den Ursprung des Lebens. Seit Friedrich Wöhler 1828 die erste organische Zusammensetzung — den Harnstoff — synthetisierte, versuchten Wissenschaftler, das Geheimnis des Lebens im Reagenzglas zu ergründen, durch willkürliches Mischen, Erhitzen und Unter-Strom-Setzen. Stanley L. Miller machte den zielstrebigsten und langfristigsten Versuch, auf diese Art Leben, beziehungsweise die rudimentären Komponenten des Lebens, zu erzeugen.

Seit den frühen fünfziger Jahren experimentierte er mit verschiedenen Gasen, die er elektrischen Entladungen aussetzte, bis es ihm schließlich gelang, auf diese Weise Aminosäuren zu produzieren. An der Universität von Maryland, wo diese Studien fortgesetzt werden, gibt es ein Speziallabor, das der Erforschung der »chemischen Evolution« dient. Dort ist es Cyril Ponnamperuma und seinen Kollegen in den letzten Jahren gelungen, enzymähnliche Moleküle zu erzeugen, indem sie eine chemische Simulation der Uratmosphäre der Erde mit elektrischen Entladungen beschossen. Damit demonstrierten sie, daß möglicherweise komplexe Proteine existierten, bevor es lebende Zellen gab. Ein vergleichbares Resultat erzielte Julius Rebek 1990 am Massachusetts Institute of Technology; es gelang ihm, ein einfaches, selbstreproduzierendes Molekül zu synthetisieren, ein »primitives Zeichen des Lebens«, wie er es nennt.7 

Bei soviel experimentellem Aufwand sind diese Ergebnisse alles andere als eindrucksvoll. Außerdem ist es schwierig zu sagen, was die Ergebnisse, selbst wenn sie reichhaltiger wären, beweisen. Schließlich steht hinter diesen Experimenten eine denkende, planende Intelligenz, die eine klare Zielvorstellung vor Augen hat. Und die Forschungen werden jetzt durchgeführt, nach etwa fünfzehn Milliarden Jahren in der Lebensgeschichte des Universums, am Kulminationspunkt von Äonen der System-und Strukturbildung und ohne das mindeste Wissen darum, wie die Initialbedingungen dieses langfristigen kosmischen Prozesses ausgesehen haben.

Bis heute berufen Lehrbücher der Biologie sich auf Experimente wie die oben erwähnten, um die Ursprünge des Lebens zu erklären. Gewöhnlich enthalten diese Erläuterungen einige höchst zweifelhafte Prämissen, eingerührt in eine ordentliche Portion der legendären »Ursuppe«. Zum Beispiel:

»Also liegt die Vermutung nahe, daß es im Ozean der primitiven Erde zur spontanen Akkumulation einer großen Vielfalt organischer Moleküle kam. Der Ozean wurde zu einer Art dünner, organischer Suppe, (...) in der die Moleküle zusammenstießen und reagierten; so bildeten sich neue Moleküle von immer höherer Komplexität heraus. Purine, Pyrimidine, Nukleotide und alle anderen Komponenten des Protoplasmas entstanden. Die Verbindung von Nukleinsäuremolekülen und Proteinen sollte schließlich einen virusähnlichen Nukleo­proteinpartikel hervorbringen, der fähig war, sich selbst zu verdoppeln oder zu reproduzieren.«8

In den späten siebziger Jahren errechneten Fred Hoyle und Chandra Wickramasinghe, mit welcher Wahrscheinlichkeit Leben aus einem solchen planlosen Schwappen der Ursuppe entstanden sein könnte. Sie versuchten nicht, den Wahrscheinlichkeitsfaktor für die Entstehung eines primitiven Organismus zu ermitteln, sondern begrenzten das Problem auf eine Sequenz von zwanzig oder dreißig wichtigen Aminosäuren in den Enzymen einer hypothetischen Zelle. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß die Chancen für diese Art der Entstehung des Lebens 1 : 1040000 standen.9

Merkwürdigkeiten wie diese werden noch aufschlußreicher, wenn wir den Faktor Zeit einführen. F. B. Salisbury unternahm diesen Versuch. Er machte sich daran, zu errechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit es zur zufälligen Zusammenballung der rund tausend Nukleotide gekommen sein könnte, die notwendig sind, um ein simples Enzym, das nur etwa dreihundert Aminosäuren enthält, zu synthetisieren. Salisbury kam zu dem Schluß, daß die gesamte Geschichte des Universums nicht einmal einen Bruchteil der Zeit ausmacht, die dazu erforderlich gewesen wäre.

Zufall, so folgerte er, sei wahrscheinlich der Faktor, der aus der evolutionären Erklärung des Lebens ausgeschlossen werden müsse, wenn diese beweiskräftig bleiben solle. In diesem Vorschlag liegt eine gewisse Ironie. Der einst so machtvolle Zufall wird nun zu einem Hindernis für folgerichtige Erklärungen.10

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 Von Theodore Roszak 1992