7 Die Sonderstellung des Menschen - Die Bedeutung von Omega
I
believe the first living cell
And
the whale's-track sea; I believe this globed earth
This
giant atom of the universe |
Ich
glaube, in der ersten lebenden Zelle
Und
das waldurchwanderte Meer; ich glaube, diese kugelförmige Erde
Dieses
Riesenatom, der Kosmos |
Robin
Jeffers,
|
Die Milliarden und das Milliardstel
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Das Eindrucksvollste an der Weltauffassung der modernen Wissenschaft sind die Größenordnungen, mit denen sie operiert: die Winzigkeit des Atoms, die immense Ausdehnung der Galaxien. Das sind die ersten kosmologischen Fakten, die jedes Schulkind lernt, die Leitmotive populärwissenschaftlicher Dokumentationen.
Astronomen erforschen Entfernungen im Raum, die unsere Vorstellungskraft übersteigen. Am anderen Ende der Skala sind die allerkleinsten Teile der Welt; die Atomphysiker verblüffen uns mit der Erkenntnis, daß wir uns Tag für Tag durch ein geisterhaftes Geflecht tanzender, unsichtbarer Gebilde bewegen. Wir haben gelernt, daß es zwischen dem Bereich der Milliarden und des Milliardstels keine Grenzen dafür gibt, wie klein oder wie groß die Schöpfungen der Natur werden können. Die Folge ist eine Mystik der Quantitäten, die uns gleichzeitig verwirrt und bezaubert. Wir scheinen zwischen Größenordnungen eingebettet zu sein, die jedes menschliche Maß übersteigen.
Der Wissenschaftshistoriker Alexandre Koyre meint, daß der Übergang von der geschlossenen Welt des Mittelalters in das unendliche Universum der Galilei-Ära die schwierigste und konflikthafteste intellektuelle Erfahrung der modernen westlichen Welt gewesen sei.1 »Unendlich« heißt nicht einfach sehr groß; es heißt sinnlos groß, so immens, daß jede Vorstellung von Richtung, Ziel und Wert bedeutungslos wird.
In der frühen Geschichte des unendlichen Universums gab es nur zwei Quantitäten, die in philosophischer Hinsicht von Bedeutung waren: uns, die unvorstellbar winzigen Staubkörnchen, und Es, das unvorstellbar Große. Nur der Glaube an einen Schöpfergott konnte das Vakuum füllen, das dazwischen lag. Als Gott verblaßte und aus dem Denken der Skeptiker verschwand, blieb nichts, um die Kluft zu überbrücken. Die Unendlichkeit wurde zu einer Wildnis, in der die Erde planlos wanderte, ohne Ziel und Orientierung, ohne einen barmherzigen Zeugen für ihre Existenz.
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Es ist sehr gut möglich, daß wir alle — selbst die Religiösesten unter uns — mit einer permanenten, tiefen Verstörtheit und Verletztheit durch unser Leben gehen, einer lähmenden Angst, die auf der Vorstellung beruht, daß unser Raumschiff Erde im Abgrund des unendlichen Raums verloren und verschollen ist. Wir sprechen vielleicht nie darüber, aber irgendwo im Hinterkopf ist diese bange Frage stets präsent. Welchen lebendigen Sinn können wir angesichts dieser vernichtend immensen Größe in unserem begrenzten Leben finden?
Die doppelte Unendlichkeit des Großen und des Kleinen nimmt allerdings einen völlig anderen Charakter an, wenn wir den Faktor Zeit einführen, wie er in der neuen Kosmologie gebraucht wird. Im Kosmos Newtons und auch im Universum Einsteins war Zeit, als unendlich verstanden, kaum mehr als ein neutraler, grauer, ewig präsenter Hintergrund, der nur vorhanden war, damit Materie und Zufall davor ihr geistloses Spiel willkürlicher Interaktionen treiben konnten. Aber in der neuen Kosmologie wird Zeit zu Geschichte. Und innerhalb dieser Geschichte nehmen Raum und Materie eine Qualität an, die ihre menschliche Bedeutung wiederherstellt; ihre immense Ausdehnung wird zur Vorbedingung des Lebens.
Das anthropische Prinzip besagt, daß Leben nur innerhalb eines bestimmten Intervalls der kosmischen Geschichte entstehen konnte. Ohne die schweren Elemente als Grundbausteine wäre kein Leben möglich gewesen. Aber schwere Elemente konnten nur in der notwendigen Fülle vorhanden sein, nachdem mindestens zwei Generationen von Sternen ihre Lebenszyklen durchlaufen und ihre Substanz in die Leere des Raums ergossen hatten. Die Vorbedingung für die Entstehung von Leben ist eine lange Periode kosmischer Expansion, während derer das Universum abkühlt und die Galaxien Stabilität erreichen. »Wenn der Geburt des Lebens eine Schwangerschaft von vielen Milliarden Jahren vorangeht«, sagt Hubert Reeves, »dann muß das expandierende Universum sich über Milliarden von Lichtjahren hinweg ständig ausdehnen.«2
Die beiden Aspekte unseres modernen Weltbildes, die oft so erdrückend erschienen — die immense Größe und das immense Alter des Kosmos —, erweisen sich nun als lebenschaffend. Sie müssen genau das sein, was sie sind, um Leben zu ermöglichen.
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So wie der Mutterleib die befruchtete Eizelle, die er nährt und schützt, an Größe immens übersteigt, so hegt und schützt auch die einschüchternde Größe des Kosmos das Leben, das in seinen Weiten verloren scheint.
Außerdem nimmt das Universum in einer als geschichtlich verstandenen Zeit eine erzählerische Dimension an; es erzählt die Geschichte einer klar umrissenen Evolution, die in Richtung immer höherer Ebenen von geordneter Komplexität voranschreitet. Kommen wir noch einmal auf Mario Bunges Hierarchie der neu hervortretenden und untertauchenden Strukturen zurück, die wir im vorangegangenen Kapitel erwähnten. Die Pyramide der geordneten Formen, die er beschreibt, ist nicht statisch; Zeit entfaltet sich zwischen den Ebenen.
Ganz gleich, wie bescheiden man das anthropische Prinzip auslegt, es beruht jedenfalls auf dieser einen grundlegenden kosmologischen Einsicht: daß Zeit, Materie, Leben und Bewußtsein historisch miteinander verflochten sind. Bis hin zu seinen allerkleinsten Partikeln läßt sich die Biographie des Universums verfolgen, und es gibt darin ein bedeutsames »Vorher« und »Nachher«. Wir wissen nun, daß die von der Astronomie und der Physik erforschten Strukturen (die Atome, die Sterne, die Galaxien) frühe Schöpfungen des Universums sind, die auf die ersten paar Milliarden Jahre nach dem Urknall zurückgehen, oder, wie im Fall der Basispartikel, auf die ersten Momente. Die neue Kosmologie beginnt mit den ersten Sekundenbruchteilen in der Geschichte der Zeit, Intervallen, deren Bedeutung sehr schwer faßbar ist, da sie der Existenz von Zeit in unseren Begriffen vorausgehen.3
Auf das Frühstadium der unvorstellbaren Hitze, des Drucks und der Ausdehnung folgten die Generationen der uranfänglichen Sterne, die in einer Arbeit von Äonen die schwereren Elemente schmiedeten, aus denen schließlich die Planeten hervorgehen sollten — Planeten, wie wir sie in unserem eigenen Sonnensystem und nach der Auffassung mancher Wissenschaftler wahrscheinlich überall im Raum vorfinden. Im Lauf der letzten paar Milliarden Jahre erscheint zumindest auf diesem einen Planeten, von einem Stern erster Ordnung, der seine Lebensspanne etwa zur Hälfte durchlaufen hat, in Wärme eingehüllt, das organische Leben.
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Im letzten Kapitel der Geschichte der Zeit, in der letzten Zeile des letzten Absatzes, tritt die Spezies Mensch auf, die Kulminationsebene der Komplexität. Alle Systeme, die davor waren, sind entweder Subsysteme unserer biologischen Struktur oder die Supersysteme (Galaxien und galaktische Wolken), die eben die kosmische Struktur begründeten, in der das Leben die einzigartige Chance hatte, sich zu entwickeln.
In diesem Sinn, als emergente Form am äußeren Rand der kosmischen Evolution, nimmt unsere Spezies im Rahmen dieser Geschichte eine — anders als früher gedachte — Sonderstellung ein. Bei all der immensen quantitativen Größe des Universums stellen das Leben und das Bewußtsein eine Besonderheit im qualitativen Sinn dar, und sie sind somit mehr als ein unbedeutender Zwischenfall in irgendeinem dunklen Winkel der Unendlichkeit.
Wenn wir der einschüchternden Kraft der schieren Quantitäten mit genügend Gelassenheit begegnen, erkennen wir, daß nicht das Hervorbringen von Größe das erste Charakteristikum des Universums ist, sondern das Entfalten von Komplexität. Dafür setzt es Ausdehnung und Materie ein: um seine Idee von den Dingen zu verkörpern. Das Größte und das Kleinste sind gleichermaßen von dieser Komplexität erfüllt; jede Ebene erhält ihre Gestalt durch die Erfordernisse der nächsthöheren Ebene. Das ist zumindest eine Lesart, die die Systemtheorie innerhalb der Prämissen des anthropischen Prinzips anbietet.
Atome mit bestimmten Eigenschaften, stabile galaktische Strukturen, Raum von einer gewissen Ausdehnung — all das muß da sein und den Primärkräften der Natur standhalten, wenn komplexer organisierte Gestaltungsebenen in Erscheinung treten sollen. Seit das Atom entstand und die Galaxien sich formten, fächerte das Universum sich weiter und weiter aus, bis hin zu den höchsten Ordnungen von Komplexität, bis hin zu Formen, die so subtil und komplex sind, daß sie nur aus der empfindlichen Dynamik des menschlichen Geistes hervorgehen können. Und das, was auf dem Gipfelpunkt der Hierarchie steht, nimmt eine krönende Stellung ein. Es verkörpert das volle Potential all dessen, was ihm voranging, verwirklicht es, bringt es zum Ausdruck. Es markiert den Grenzbereich des Kosmos. Wie könnte diese Tatsache bedeutungslos sein?
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Der neue Zeitpfeil
Der heroische Fatalismus der Freudschen Psychoanalyse war, wie wir gesehen haben, zutiefst von der Idee der Entropie geprägt. Wie so viele andere seiner Generation war Freud vom letztendlichen Wärmetod des Universums überzeugt. Angesichts der neuen Erkenntnisse, die uns die Systemtheorie und die neue Kosmologie vermitteln, verlangt diese Bereitschaft, sich einer so pessimistischen Auffassung des Lebens anzuschließen, eine eingehendere Betrachtung.
Neben der Evolutionstheorie war die Thermodynamik, in deren Zusammenhang »Entropie« als theoretische Größe eingeführt wurde — und insbesondere ihr zweiter Hauptsatz — ein Höhepunkt der Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts. Obwohl der Entropiebegriff seine Karriere als technisches Problem beim Studium von Wärmekraftmaschinen begann, sollte er sich weit über die Grenzen der exakten Wissenschaften hinaus verbreiten und jeden Bereich der sie umgebenden Kultur berühren. Um die Jahrhundertwende wurde der Entropiesatz oft als die höchste Einsicht der Menschheit in die Natur des Universums gepriesen.
Eine seiner Besonderheiten liegt darin, daß er die erste statistische Verallgemeinerung der modernen Wissenschaft war, die den Status eines universellen Prinzips erlangte. Entropie ist schließlich eine Zustandsgröße, die keine absolute Regelhaftigkeit, sondern eine Tendenz, eine Wahrscheinlichkeit ausdrückt. Von Newtons Bewegungsgesetzen konnte man vielleicht sagen, daß sich in ihnen die Macht Gottes ausdrückte; im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik drückt sich dagegen die menschliche Ohnmacht aus.
»Es erscheint merkwürdig«, erklärt der Wissenschaftshistoriker Charles Gillespie, »daß die Formulierung eines fundamentalen Naturgesetzes auf einer Negation beruht, nämlich auf dem Ausschluß dessen, was dem Menschen nicht gelingen kann: das perpetuum mobile zu erschaffen.«4 Man könnte die Entropie fast als eine kosmische Projektion der Hilflosigkeit auffassen, die so viele Menschen in dieser Zeit empfanden angesichts der enormen, unerbittlichen Kräfte, die durch die industrielle Revolution in die Welt entlassen worden waren.
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Es gibt eine tiefe psychologische Verbindung zwischen der vernichtenden Verzweiflung, mit der die Charaktere in Franz Kafkas Romanen geschlagen sind, und dem entropischen Weltbild des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.
Man hätte von seiten jener, die eine aus der Berechnung von Wärmekraftmaschinen hervorgegangene theoretische Größe so unbefangen auf das gesamte Universum übertrugen, vielleicht etwas mehr Vorsicht erwarten dürfen, zu einem Zeitpunkt, da in der Kultur der Wissenschaften so vieles unsicher geworden war. In einer früheren Periode waren der Materialismus und der Atheismus, die mit dem Fortschritt der Wissenschaften in Zusammenhang standen, Kräfte der Befreiung, denen die Aufgabe zukam, die abergläubischen Vorstellungen der Vergangenheit hinwegzufegen. Aber im späten neunzehnten Jahrhundert verbreitete sich eine düstere Auffassung von der Zukunft der industrialisierten Welt. Das Dahinsiechen, die Erschütterung und der letztendliche Zusammenbruch des Systems erschienen unausweichlich. Optimismus war nicht mehr angezeigt. Die letztendliche thermale Auslöschung des Universums definierte, so sah man es nun, die Richtung, die die Zeit selbst nahm — ein Problem, das Newtons zeitreversible Formeln für die Bewegungsgesetze offengelassen hatten.
Seltsamerweise stellte selbst Freud, der Erforscher des Subjektiven, sich nie die Frage, warum die Richtung der Zeit überhaupt ein »Problem« sein sollte. Da Newton von der Existenz eines absoluten Raumes, einer absoluten Zeit und einer absoluten Bewegung ausging, wirken seine Formeln, wenn es um die Beobachtung der Anziehung und Abstoßung von Körpern geht, auf unseren Zeitsinn widersprüchlich, aber spontan bildet das menschliche Bewußtsein Zeit als richtungsbestimmt ab. Die Zeit bewegt sich von der Geburt zum Tod, vom Gedanken zum Handeln, von Handeln zu den Auswirkungen des Handelns. Wenn ein Film rückwärts abgespult wird, haben wir keine Schwierigkeiten, zu erkennen, daß es rückwärts läuft -es sei denn, der Film zeigte nichts anderes als Billardbälle, die über einen Tisch rollen. Kommen aber die Billardspieler mit ins Bild, wissen wir sofort, ob die Handlung vorwärts oder rückwärts läuft.
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Die menschliche Erfahrung der Zeit stammt vom Gedächtnis her, der eigentlichen Grundlage der Persönlichkeit. Das Gedächtnis sagt mir, wer ich bin; es ist das Gesamtverzeichnis der Entwicklungs- und Reifeprozesse, das Register der moralischen Verantwortung. Das Wiedergewinnen verdrängter Erinnerungen ist der zentrale Prozeß, aus dem die Psychoanalyse schöpft, wenn sie versucht, Menschen zur Selbsterkenntnis und zur klaren Einschätzung der Realität hinzuführen. Aber in der großen Ära des Materialismus zögerte selbst der Begründer einer neuen Wissenschaft von der Seele, so »subjektive« Überlegungen in das Studium der Natur hineinzutragen. Statt dessen stellte Freud seine Autorität in den Dienst der Überzeugung, daß nur physikalische Prozesse uns die Richtung der Zeit zeigen könnten, und daß der Flug des »Zeitpfeils« in die mathematisch berechenbare Richtung der zunehmenden Entropie gehe.
Die moderne Wissenschaft legte ein seltsames Widerstreben an den Tag, von dieser trübseligen Vision abzulassen, selbst nachdem sie gute Gründe dazu hatte. In einem bemerkenswerten Buch, das 1930 erschien, zählte der Astronom Harlow Shapley etwa fünfzehn Ebenen der geordneten Komplexität auf, die sich von den subatomaren Partikeln bis zu den entfernten Galaxien erstreckten. Das Universum, erklärte Shapley, demonstriert »Fortschritt in Richtung des Geordneten«.
Shapley war einer der ersten Wissenschaftler, die galaktische Strukturen erforschten; seine Beobachtung bezieht sich nicht auf einige marginale und flüchtige Aspekte des Universums, sondern auf eines seiner zentralen Entwicklungsmerkmale, und es erschien ihm folgerichtig, daß der menschliche Geist den höchsten Punkt dieser Entwicklung darstellte. Obwohl Shapley sich sehr vorsichtig über das Thema äußerte, fühlte er sich doch zu der Frage gedrängt: »Wenn Bewußtsein überhaupt in Erscheinung tritt, wäre es dann nicht möglich, daß es auf jeder Ebene und Sub-Ebene vorhanden ist?«5 Mit anderen Worten: Könnte Bewußtsein nicht von Anfang an potentiell präsent gewesen sein?
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Dennoch hielt die Wissenschaft unerschütterlich an der Entropievorstellung fest. Als der Physiker Erwin Schrödinger sich der biologischen Forschung zuwandte, mußte er anerkennen, daß die Entwicklung von Lebewesen die eigentliche Antithese zur Entropie darstellt. Es scheint fast so, als habe er diese offensichtliche Tatsache einer Zensur unterwerfen wollen, als er dem Phänomen eine adäquate Bezeichnung verweigerte; er gab ihm die schattenhafte Realität einer negativen Definition: Phänomene, die dem Gesetz der Entropie nicht folgen, zeigten die Tendenz der »Negentropie« — der negativen Entropie. Das ist so, als würde man Liebe als »Antihaß« definieren oder Schönheit als »negative Häßlichkeit«. Die Folgerung ist eindeutig: Im Universum dominiert tote Materie, was davon abweicht, ist abnorm.
Auch Norbert Wiener fand es angemessen, der Entropie bei der Grundlegung seiner Systemtheorie eine bedeutungsvolle Rolle zuzuweisen. Wiener sah in der Einführung des Entropiesatzes »die erste große Revolution in der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts«. Darüber hinaus entdeckte er eine auffallende Parallele zwischen der Formulierung des Entropiesatzes und Freuds Entdeckung des Unbewußten. In der Vorstellung der Entropie und in der Vorstellung vom Unbewußten spiegelte sich Wieners Auffassung nach die Erkenntnis des absolut Willkürlichen und Irrationalen — einerseits im Außen, andererseits innerhalb des Bewußtseins. In beiden konnte man also Aspekte des Negativen oder des »Bösen« erkennen, im Sinn von Augustinus als das Unvollkommene verstanden.6
Ausgehend von dem Wissen über die Bedeutung von Systemen und Strukturen im Universum, das uns jetzt zur Verfügung steht, sollten wir fähig sein zu erkennen, daß der früher omnipotente Entropiesatz auf einer exzentrischen Interpretation von »Ordnung« oder »Gesetzmäßigkeit« beruht. Wie so viele Elemente des wissenschaftlichen Vokabulars wurden auch diese Begriffe aus anderen Bereichen ausgeborgt, aus dem Recht und aus der Ästhetik. Aber ihre Bedeutung wurde im Prozeß der Übertragung nahezu auf den Kopf gestellt. Nach dem Entropiesatz gab es in den frühesten Stadien der Entwicklung des Universums nicht mehr »Ordnung« als jetzt. Und worin bestand diese Ordnung?
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In einer expandierenden Welle von Strahlung, die keine Form oder Substanz enthielt und in der (aller Wahrscheinlichkeit nach) keine Naturgesetze wirksam werden konnten. Und in welchem Sinn kann der Einsatz dieser Primärenergie zur Schaffung all der darauffolgenden physikalischen und organischen Realität als zunehmende »Unordnung« bezeichnet werden?
Innerhalb gewisser Grenzen haben Wissenschaftler die Freiheit, ihre Begriffe so zu definieren, wie es ihnen paßt. Aber Worte und Begriffe stehen innerhalb einer Geschichte, die Beachtung verdient, insbesondere dort, wo große philosophische Fragen beteiligt sind. Was mit Hilfe der theoretischen Größe »Entropie« auch immer zu berechnen sein mag, »Ordnung« sollten wir es jedenfalls nicht nennen. Ein Künstler, der viele Jahre seines Lebens darauf verwendet, eine Skulptur zu schaffen, verbraucht Energie, die er nie wiedergewinnen kann. Er braucht Zeit auf, die nie wieder gelebt werden kann. Materialien werden durch seine Arbeit in irreversibler Weise verändert. All das könnte als eine Form von »Entropie« betrachtet werden. Aber andererseits steht am Ende dieses Prozesses ein Kunstwerk da, das die isolierten Einheiten Zeit, Energie und Material in sinnvoller Weise in sich vereint. Was einmal nur potentiell da war, als unrealisierte Idee in der Phantasie des Künstlers, ist nun präsent, für alle sichtbar und für alle mitzuerleben. Ist das ein Verlust oder ein Gewinn? Ist nun weniger oder mehr »Ordnung« in der Welt?
Dem traditionellen Wortsinn gemäß könnte der Urknall, der anfängliche Ausbruch roher, ursprünglicher, ungeformter Energie als die völlige Abwesenheit von »Ordnung« angesehen werden. Mythologisch gesprochen ist dies das Chaos, das dem Schöpfungsakt voranging. Da es nichts anderes war als unverwirklichtes Potential, wäre es von den meisten Schulen der Metaphysik als »nicht-seiend« betrachtet worden. Im übrigen würde der normale Alltagsverstand, von den gewohnten Wortbedeutungen ausgehend, darauf beharren, daß in einem Universum der galaktischen Systeme und der Lebewesen mehr »Ordnung« existiert als in einem tosenden Feuerball. Vom gesellschaftlich-pragmatischen Standpunkt aus ist im Flügel eines Rotkehlchens oder in einem simplen Kinderreim mehr Ordnung, als man sich im Urknall vorstellen kann, als außer der puren Energie noch nichts existierte.
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Die Theorie der komplexen Systeme baut sowohl auf diesem traditionellen Bedeutungsgefüge als auch auf dem Alltagsverstand auf, wenn sie den Kosmos als Evolution in Richtung zunehmend höher organisierter Ebenen von Ordnung interpretiert.
In dieser Hinsicht können wir ohne jede subjektive Implikation sagen, daß Ordnung »im Auge des Betrachters« liegt, denn die Betrachter (wir selbst) sind die Erben all dessen, das vor uns da war. Wir erkennen, daß Ordnung sich auf uns hin entwickelt, uns hervorbringt, in all unserer physischen, mentalen, sozialen, kulturellen Komplexität. Der »Zeitpfeil«, von dem man einmal glaubte, er müsse notwendigerweise auf den Wärmetod des Universums hinzielen, fliegt vielmehr in die Richtung der Strukturen und Systeme, die schließlich im bewußten Leben gipfeln, in die Richtung des menschlichen Grenzbereichs. Die Entropie ist der Pfeil der ausgebrannten Materie, nicht der Pfeil des lebendigen Bewußtseins.
»Während das Universum verebbt und der maximalen Entropie, dem endgültigen, formlosen Wärmetod entgegensteht, bringt es erstaunlicherweise interessante Strukturen hervor«, beobachtet James Gleick. Die große Frage ist dann, »wie ein zielloser Strom von Energie Leben und Bewußtsein in die Welt hineinschwemmen kann«7.
Das Paradox der dissipativen (ableitenden) Schöpfung
Aus der Sicht der Systemtheorie ist nicht Entropie, sondern geordnete Komplexität das Leitmotiv der Veränderungen im Universum. Entropie schrumpft zu einer sekundären Größe, einem begrenzten Phänomen innerhalb des strukturbildenden Kosmos in seiner Ganzheit. Entropie ist ein Charakteristikum von Systemen, die keinen Stoff- oder Energieaustausch mit ihrer Umgebung haben, so daß sie schließlich den Zustand erreichen, in dem die Energie gleichmäßig auf alle Moleküle des Systems verteilt ist.
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Das bedeutet die thermale Erschöpfung, den Zustand größter Unordnung. Solche Systeme, von manchen Wissenschaftlern »geschlossene«, von anderen »isolierte« Systeme genannt, sind jedoch ein fast ausschließlich hypothetisches Phänomen. David Layzer trifft die schlichte Feststellung: »In der Natur gibt es keine geschlossenen Systeme.« Dagegen gibt es zahllose »offene« Systeme, die sich unbegrenzt gegen das Absinken zum entropischen Gleichgewicht behaupten und sich den Luxus der Zeit erkaufen, indem sie die belebenden Ressourcen des Universums verbrennen. Manche offenen Systeme entfernen sich durch ihre Fluktuationen immer weiter vom Gleichgewicht und gelangen so vielleicht in den Bereich, der nun von der Chaosforschung untersucht wird. In den vierziger Jahren begannen Ilya Prigogine und Paul Glansdorff mit der Erforschung solcher ungleichgewichtigen oder nichtlinearen Systeme. Sie fanden heraus, daß nichtlineare Systeme die Fähigkeit besitzen, auf der anderen Seite der Instabilität neue geordnete Strukturen zu produzieren. Solange sie einen stetigen Energiefluß von »außen« empfangen, sinken sie nicht in den Zustand der größten Unordnung ab, sondern werden selbstorganisierend. Prigogine fand dafür den Begriff der »dissipativen Strukturen«.8
Das Leben ist eine Struktur, das sich durch solche dissipativen (ableitenden) Prozesse ständig selbst erneuert. Für die Theorie der Tiefensysteme ist es von größter Bedeutung, daß das Leben in der Geschichte des Universums »später« — und nicht »früher« — erscheint. Die Zeit baut sich in Richtung der dissipativen Strukturierung auf. Darauf weisen nicht nur die Quasare und die galaktischen Cluster in den weitesten Entfernungen des Raums hin, sondern auch die Tatsache, daß sich zumindest auf diesem einen Planeten die erstaunliche Komplexität des organischen Lebens, der sozialen Gefüge, der menschlichen Kultur herausgebildet hat — und die Wissenschaft selbst, dies großartige Bauwerk des Bewußtseins. Letzten Endes wird das Leben auf der Erde an einem gewissen Punkt natürlich alle Energieressourcen ausgeschöpft haben, die wir uns jetzt vorstellen können; sogar die Sonne wird sterben. Aber wird damit das Ende der dissipativen Strukturierung — alles Leben eingeschlossen — erreicht sein?
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Das ist, als würde man fragen, ob Entropie in einem universellen System zunimmt, und für universelle Systeme haben wir nur ein einziges Beispiel. Zweifellos ist das Universum ein unvergleichliches System. Aus einem einzigartigen Ausbruch explosiver oder inflatorischer Energie hervorgegangen, ist es alles, was existiert. Kann ein solches System je den Zustand des maximalen Gleichgewichts erreichen? Oder speist es sich aus einer unerschöpflichen »äußeren« Quelle, die es zu einer allumfassenden dissipativen Struktur macht? Manche Theoretiker erörtern die Möglichkeit der Existenz von »Raumzeit-Tunneln«, die Materie aus anderen Universen durch Schwarze Löcher in unser Universum leiten.9
Vielleicht fluktuiert das Universum zwischen großen Urexplosionen und großen Kollapsen, so daß es sich permanent in Bewegung befindet — ein energetisches System, das in seiner Kreativität nie erlahmen wird. Wir haben keine Möglichkeit, die gültige Antwort zu finden. Aber auch jene, die dem Universum den Wärmetod voraussagen, haben diese Möglichkeit nicht. Wie können sie soviel Vertrauen in den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik legen, daß sie ihm Gültigkeit bis in alle Ewigkeit zuschreiben? Ist er letztlich nicht nur eine morbide Vision?
Für den Systemphilosophen Erich Jantsch finden dissipative Strukturen in der Evolution, dem großen Abenteuer, das Zeit einsetzt, um Überraschungen hervorzubringen, zu ihrer höchsten Bestimmung.10 In Jantschs Absatz zeigt sich die radikal neue (und hoch kontroverse) Perspektive, die das Studium der komplexen Systeme in seiner anspruchsvollsten Erweiterung zu bieten hat. Die Systemtheorie tendiert zur Ausdehnung statt zur Reduktion. Von Ausnahmen (wie der Wienerschen Schule der Kybernetik, die an einem mechanistischen Modell festhält) abgesehen, neigen die meisten Systemtheoretiker zum »Aufrunden« zur nächsthöheren Ebene; sie erklären die Phänomene durch Zielrichtung und Zweckbestimmung. Die Systemtheorie ist nicht weniger rational und analytisch als die konventionelle Wissenschaft, aber sie zieht es vor, ihre Analyse nach vorn zu projizieren, von der Ursache zur Wirkung (dem voll entwickelten System) hin, statt in der isolierten Ursache nach Hinweisen auf dieses Resultat zu suchen.
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In der aristotelischen Wissenschaft früherer Zeiten war dieser Ansatz als das Studium der »Finalität« bekannt, jener Idee, die den Prozeß seiner Vollendung entgegenzuführen scheint. Philosophen wie Jantsch führen diese Vorstellung weiter und denken über die Kulmination aller Prozesse im Universum als Ganzem nach. Der rote Faden, das Generalthema, das die gesamte Entwicklung des Universums von Anbeginn an zu bestimmen scheint, ist die Evolution des Bewußtseins, des letzten und komplexesten aller Systeme. Wie wir aus dem folgenden Schaubild ersehen können, strebt Jantschs Universum einer »Großen Vereinheitlichten Theorie« entgegen, die den Bereich der Materie und den Bereich des Geistes gleichermaßen umfaßt. Die Evolution ist die Integration beider Bereiche (Abb. 2).
Von links oben nach rechts unten gelesen, stellt dieses Diagramm das Leblose und Einfache zusammen mit dem Lebendigen und Komplexen in einem Kontinuum dar. Zunächst mag es Anstoß erregen, daß Physisches, Biologisches, Mentales und Kulturelles hier einfach ohne Unterscheidung nebeneinandergestellt wird; vor allem vorsichtigere Wissenschaftler, die daran gewöhnt sind, diese Bereiche strikt getrennt zu halten, oder anzunehmen, das Komplexe lasse sich durch Reduktion auf das weniger Komplexe erklären, werden sich dagegen verwahren.
Aber als Repräsentation der Totalität des heutigen Wissens könnte man ein solches Diagramm als nichtmathematische Erweiterung des vertrauten periodischen Systems der Elemente betrachten; dazu braucht man ihm nur die Dimension der Zeit hinzuzufügen (wie die neue Kosmologie es tut). An einem bestimmten Punkt in der Geschichte der Zeit gab es nur einige leichte Nuklei, die aus dem Urknall hervorgingen, hauptsächlich Wasserstoff und Helium; alle anderen Elemente traten später in Erscheinung, und jedes war mit überraschenden Qualitäten ausgestattet, die aus den zuvor existierenden Bausteinen nicht deduzierbar gewesen wären. Dann, während die Geschichte der Zeit ihren weiteren Verlauf nimmt, ordnen diese Elemente sich in ebenso überraschender Weise zu dem Universum, das wir kennen, einem Universum der geordneten Komplexität, das keinerlei Anzeichen einer entropischen Auflösung zeigt. Einem Bonmot aus naturwissenschaftlichen Kreisen zufolge ist »Wasserstoff ein leichtes, geruchloses Gas, das sich, wenn man ihm genügend Zeit läßt, in die Leute in deiner Stammkneipe verwandelt.«
Abbildung 2 - Das Paradox der dissipativen (ableitenden) Schöpfung
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Wie die wissenschaftliche Forschung insgesamt, leidet auch die Systemforschung oft unter dem Syndrom der blutleeren Abstraktion. Manchmal aber gewinnen wir lebhafte Einblicke in die Prägnanz und die Dramatik von Schlüsselkonzepten wie »Potentialität«. Die gegenwärtige Verhaltensforschung bietet uns einen solchen Einblick. Im Bereich der Erforschung der Kommunikation unter Tieren wurde nichts heißer diskutiert als das Sprachverständnis der Affen.
Verhaltensforscherinnen und -forscher, die intensiv mit Affen arbeiten, kommen fast ausnahmslos zu der Überzeugung, daß diese Tiere eine bemerkenswerte Fähigkeit haben, die menschliche Sprache zu verstehen, zu lernen, neue Wörter zu erzeugen, einfache Sätze zu meistern. Kritiker halten dagegen, daß Sprache ein ausschließlich menschliches Phänomen sei. In ihrer Sicht fehlt den Affen das »kognitive Substrat«, das zum Umgang mit Sprache — außer in rudimentären, rein nachahmenden Formen — unentbehrlich ist.
Die Debatte dreht sich offenbar um die Schwierigkeit, ein Verbindungsstück beziehungsweise einen verbindenden Begriff zwischen Kontinuität und Diskontinuität in der Evolution zu finden. »Potentialität« ist dieser verbindende Begriff. Er bezeichnet die Zone der Möglichkeiten, die zwischen den hierarchischen Ebenen liegt und darauf wartet, durchquert zu werden. Sie ist gleichzeitig existent und nicht-existent. Unter diesem Aspekt können wir also sagen, daß Sprache bei Affen im Bereich der Potentialität liegt, das heißt, sie haben eine gut entwickelte Fähigkeit, Sprache zu gebrauchen, aber nicht die Fähigkeit, Sprache zu erfinden oder voll zu entwickeln, wie ein menschliches Kind es kann. Potentialität ist der unsichtbare formgebende Anstoß, der die Realität vorwärtsbringt, von einer Ebene der Hierarchie zur nächsten.
Einen Eindruck von Potentialität in Aktion vermittelt der 1980 geborene Zwergschimpanse Kanzi, der so oft studiert wurde, daß er mittlerweile zu einer Berühmtheit geworden ist; er lebt im Language Research Center in Atlanta im Staat Georgia. Dort hat er im Umgang mit Sprache mehr Fortschritte gemacht als jedes andere Versuchstier.
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Seine Leistungen sind bemerkenswert, aber besonders eindrucksvoll ist die Schilderung der Trainerin, wie Kanzi sich verhält, wenn er an die Grenzen seiner angeborenen Fähigkeiten stößt:
11»Sein Sprachverständnis übertrifft seine Fähigkeit, mit Hilfe von Wortsymbolen Sprache zu produzieren, bei weitem. >Er reagiert mit extremer Frustration<, sagt Sue Savage-Rumbaugh. Oft wird er bei solchen Gelegenheiten laut und setzt seine Stimme ein, gibt hohe, quiekende Laute von sich. Versucht er, Sprache zu imitieren? >Er gibt sich enorme Mühe. Er schaut einen direkt an und macht diese Geräusche. Wenn man dann mit ihm spricht, vokalisiert er mehr und mehr.<«
Die Vorstellung dieser hohen, quiekenden Laute rührt etwas in uns an. Drückt sich darin die Qual und die Anstrengung aus, die sich einstellt, wenn ein Wesen in den Bereich der unverwirklichten Potentialität vordringt? Ertönte ein solcher Schrei im Inneren unserer fernen Vorfahren, als sie sich abmühten, den Spielraum ihrer Erfahrung zu erweitern? Vielleicht hören wir diesen Schrei zuweilen in uns selbst, wenn wir bei der Verfolgung sehnlichst erwünschter Ziele auf unüberwindliche innere Grenzen stoßen. Ist dieses Leiden, das wir »neurotisch« nennen, vielleicht in bedeutsamer Weise an Begegnungen mit jener größeren Identität geknüpft, die wie hinter einer verschlossenen Tür in unserem Inneren liegt?
Satans Anus
Die Vorstellung vom menschlichen Bewußtsein als einem Grenzbereich der kosmischen Evolution könnte sich als intellektuell anregend erweisen, aber ich vermute, daß es für viele eine emotionale Barriere gibt, die diese Idee inakzeptabel macht. Sobald von einem anthropozentrischen Universum die Rede ist (in jedem denkbaren Sinn), spürt man das Unbehagen säkularer Skeptiker, die nichts anderes wahrnehmen als die verabscheuungswürdige Arroganz, die darin zu liegen scheint.
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Auch hier wieder werden die immensen kosmischen Dimensionen in die Diskussion hineingebracht. Wie kann etwas so kleines wie die Erde, etwas so winziges wie das Leben, das sie trägt, im Universum wirklich von Bedeutung sein? Und wenn man sich darauf beruft, daß eher Qualität als Quantität die Essenz des Kosmos ausmacht, daß Kreativität, Überraschung, Zielgerichtetheit von größerer Bedeutung sind als enorme Dimensionen, dann bringt das sofort die dümmliche Selbstüberhebung von Menschen innerhalb des traditionellen jüdisch-christlichen Weltbildes in Erinnerung, den irrationalen Anspruch, »Krone der Schöpfung« zu sein. Es ist wahr: Menschen betrachteten sich einmal als besondere Schöpfung Gottes, dazu ausersehen, ihren Platz im Zentrum des Universums einzunehmen. Für einen Psychoanalytiker könnte das Ausdruck einer bloßen infantilen Größenphantasie sein, eines auf kosmische Dimensionen ausgedehnten narzißtischen Größenwahns.
Aber es gab auch immer eine andere Deutung des Genesis-Mythos, eine Interpretation, die den Aspekt der Verantwortung hervorhob, statt zu Dünkel und Selbstgefälligkeit zu ermutigen. Allein der Versuch, einem Menschenbild gerecht zu werden, das den Menschen ins Zentrum rückt und ihm den Stempel des Göttlichen aufprägt, stellt eine enorme moralische Anstrengung dar. Und die jüdisch-christliche Tradition lehrte, daß der Mensch bei der Aufgabe, dieses Ideal zu verwirklichen, erbärmlich versagte.
In der Sicht der alten geozentrischen Astronomie war das Zentrum, die Welt, in der wir leben, schließlich die niedrigste Stufe, der Bodensatz des Universums, ein Jammertal und ein Abgrund an Lasterhaftigkeit. Die christliche Theologie sah darin die angemessene Behausung für den Menschen, eine mit Mängeln behaftete, gefallene Kreatur, die viele Sünden abzuarbeiten, viele Fehler gutzumachen hatte. Im christlich-ptolemäischen Weltsystem waren der Himmel und die Engel in ihrer Vollkommenheit der ferne Grenzbereich, der Kulminationspunkt des Universums; die Erde war die Senkgrube der Schöpfung, so verderbt und allen Arten von Greueln und Lastern verfallen, daß sie, um mit den Worten eines Theologen des sechzehnten Jahrhunderts zu sprechen, »der Ort zu sein scheint, der allen Unflat und Schmutz aller anderen Welten und Zeitalter auf sich vereinigt hat«.12
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Die allerniedrigste Stufe der Schöpfung lag im Kern der Erde selbst; er war die Hölle, der Punkt der hoffnungslosesten Entfernung von Gott. Dante drückte das in seiner »Göttlichen Komödie« noch unverblümter aus: Der tote Punkt des Universums war Satans Anus, auf ewig in den eisigen Tiefen der Verdammnis eingefroren. Zentralität war, von dieser Warte aus betrachtet, schwerlich ein begehrenswerter Status. Es waren die vorchristlichen Griechen und die hochgesinnten Humanisten der Renaissance in ihrem Bestreben, den Geist der Antike wiederzubeleben, die das Selbstvertrauen aufbrachten, zu erklären, daß der Mensch »das Maß aller Dinge« sei.
Der stolze Anspruch, den Pico della Mirandola in seiner berühmten Lobrede auf die Würde des Menschen formulierte, war eine bewußte Anstrengung, das Gefühl der Scham und der Wertlosigkeit abzuwerfen, das die christliche Demut den Menschen aufzuerlegen schien. Ein ähnliches Freiheitsstreben erfüllte die frühen kopernikanischen Astronomen; sie sahen ihre Berufung darin, die Würde der Erde und ihrer menschlichen Bewohner gegen die verleumderische Herabsetzung zu verteidigen, die das geozentrische Weltbild beinhaltete. Der englische Kleriker John Wilkins, der seine Werke um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts verfaßte, schloß sich dieser Zielsetzung an. Das alte Weltbild, so kritisierte er, brachte die Vorstellung mit sich, das Fernste sei zugleich das Edelste; die Erde sei somit »aus einem schlechteren und gemeineren Stoff gemacht« als die anderen Planeten und damit der Hölle näher, die dann nur noch im Zentrum unserer Erde angesiedelt sein könne.13
Wir sehen also, daß Anthropozentrismus mit sehr unterschiedlichen Einstellungen einhergehen kann; die Stellung im Zentrum kann als selbstverständliches Privileg betrachtet werden, was zu Selbstüberhebung und Dünkel führt, oder sie kann als Verpflichtung und Herausforderung aufgefaßt werden. Sie kann für eitle Prahlerei mißbraucht oder als schreckliche Bürde empfunden werden. In jedem Fall aber fordert sie von uns, das Auftreten der Spezies Mensch als ein Hauptmerkmal in der Entwicklung des Universums wahrzunehmen.
Sie verlangt von uns, Wissen über die Natur nicht nur außerhalb von uns, sondern in uns und durch uns zu suchen. Die Vorstellung vom menschlichen Grenzbereich stellt selbst jene, die bereit sind, sie zu akzeptieren, vor große Probleme. Ein Grenzgebiet ist unbekanntes Territorium, ein Ort voller Gefahren, wo man leicht in die Irre gehen kann. Wenn der menschliche Geist die Grenzlinie markiert, an der dieses neue Territorium beginnt, dann sollten wir uns vor Augen führen, daß er ein Instrument ist, das viele Modulationen hervorbringen kann.
Wie wir aus unserer Alltagserfahrung wissen, tritt Intelligenz in vielfältigen Formen auf. Wir verfügen über ein reichhaltiges Arsenal mentaler Fähigkeiten, die den Spielraum des Geistes definieren: Wissen, Urteilsfähigkeit, Vernunft, Intuition, Einsicht. Welche dieser Fähigkeiten ist ausschlaggebend, welche bringt uns dem Bewußtsein im Kosmos am nächsten? Ein noch größeres Problem stellen die verschiedenen Psychopathologien dar, die wir in Rechnung stellen müssen, die Verbiegungen, Verdrehungen, Fehlleistungen des Geistes. Ein brillanter Geist kann schwer gestört sein, ein langsamer Geist kann die Gabe des Mitgefühls besitzen. Rationalität kann kalt und fehlgeleitet sein. Trägt das Bewußtsein im Kosmos solche Züge auch? In Science-fiction-Romanen treten fremde Intelligenzen auf, die feindselig sind, uralte Mythen sprechen von bösartigen, ja von wahnsinnigen Göttern. Wenn es im Universum ein Ordnungsprinzip wie Intelligenz gibt, ist es dann an ein ähnliches Konzept wie die Persönlichkeit gebunden? Ist es zu Wärme, Einfühlung, Tröstung fähig? Wenn Bewußtsein sich entwickelt, evolviert es dann zwangsläufig in Richtung Weisheit?
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