8. Kapitel       Start    Weiter

  Tiefensysteme und Tiefenökologie 

 

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Der neolithische Konservatismus gehört zu den wichtigsten Beiträgen zur ökologischen Politik der Gegen­wart. Er bildet die Basis für die »Tiefenökologie«, den mystischen, spirituellen Flügel der Ökologie­bewegung. Die Tiefenökologie führt uns die beunruhigende Tatsache vor Augen, daß viele der Kulturen, die von weißen Westeuropäern so herablassend als rückständig abgetan wurden und deren Erlöschen man ohne Bedauern sah und als gerechtfertigt betrachtete, eine zentrale Qualität besaßen, die uns möglicherweise abgeht: Überlebensfähigkeit — zumindest bis zu dem Punkt, an dem die Industriezivilisation diese Kulturen vernichtete.

Die »Große Subkultur«, die Gary Snyder beschwört, bestand ungebrochen mindestens zehntausend Jahre lang und brachte, wie bei den nordwestlichen pazifischen Stämmen und bis heute bei den Buschmann-Hottentotten, einen bescheidenen, aber würdigen und bequemen Lebensstandard hervor, der viel Muße für kulturelle Kreativität ließ. Der Anthropologe Marshall Sahlins, der über »Steinzeit-Ökonomie« schreibt, vertritt sogar die Auffassung, daß die Kultur der Jäger und Sammler als die eigentliche »Wohlstandsgesellschaft« betrachtet werden könnte:

»Die Mitglieder der primitivsten Gesellschaften der Welt haben wenig Besitztümer, aber sie sind nicht arm. Armut ist nicht durch eine bestimmte Menge von Gütern definiert; auch ist sie nicht einfach ein Verhältnis von Mitteln und Zwecken. Sie ist vor allem eine Beziehung zwischen Menschen. Armut ist ein Sozialstatus. Als solcher ist sie eine Erfindung der Zivilisation.«9

Platon erklärte, daß Armut nicht in geringem Besitz liegt, sondern in großen Wünschen. Ein Armer ist jemand, der viele Bedürfnisse hat, ein Reicher jemand mit wenigen Bedürfnissen. In diesem weisen Sinn, oder zumindest im Kontrast zu unserer grenzenlos bedürftigen Konsumgesellschaft, können Menschen in Stammeskulturen, die mit den Mitteln leben, die ihre Umwelt ihnen zur Verfügung stellt, als »reich« betrachtet werden. Die Tiefenökologie geht sehr ernsthaft mit solchen Überlegungen um, was dazu führte, daß die Umweltbewegung sich in zwei zuweilen heftig zerstrittene Lager spaltete.

Vom Standpunkt der Tiefenökologie aus ist die Prämisse, die meisten unserer ökologischen Probleme könnten durch gesetzliche Regelungen für einen zurückhaltenderen Umgang mit Ressourcen und durch ein besseres globales Management gelöst werden, unglaubwürdig und unsinnig. Vielmehr ist die ökologische Krise in ihrer Sicht weitaus mehr als eine Ansammlung von Irrtümern, Fehlkalkulationen und Fehlentscheidungen, die durch etwas mehr Sachkenntnis am richtigen Ort leicht wieder ausgebügelt werden könnten. Es ist nichts Geringeres notwendig als ein verändertes Bewußtsein, ein radikal neuer Begriff von Vernunft und geistig-seelischer Gesundheit, der die wissenschaftliche Rationalität entthront und die zentralen Paradigmen des industriellen Lebens an der Wurzel ausreißt.

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Der norwegische »Ökosoph« Arne Naess, einer der Begründer der Tiefenökologie, beschrieb sein Ziel 1973 in einem richtungweisenden Artikel als »radikale Zurückweisung des >Mensch-in-der-Umwelt<-Bildes zugunsten des beziehungs-orientierten Gesamtfeldbildes: Organismen als Knotenpunkte im biosphärischen Netz oder Feld intrinsischer Beziehungen«. Was er in dieser knappen Formulierung ausdrückt, ist, im Kontext der Biologie und der Sozialwissenschaften gesehen, geradezu revolutionär. Es ist ein Ruf nach »biosphärischer Gleichheit«, die jede Spezies einbezieht (»im Prinzip« zumindest, denn jede realistische Praxis macht, wie Naess zugibt, »Töten in einem gewissen Ausmaß notwendig«).

»Der ökologische Feldforscher erwirbt einen tiefverankerten Respekt, ja, eine tiefe Ehrfurcht vor den Arten und Formen des Lebens. Er kommt zu einem Verständnis von innen her, einer Art von Empathie, die andere nur für ihre menschlichen Mitgeschöpfe reservieren. (...) Für den ökologischen Forscher ist das gleiche Recht für alle Wesen, zu leben und sich zu entfalten, ein intuitiv klarer und eindeutiger ethischer Wert. Die Beschränkung dieses Rechts auf Menschen ist Anthropozentrismus, mit schädlichen Auswirkungen auf die Lebensqualität der Menschen selbst.«10

Wenn er von einem »Verständnis von innen her« spricht, sagt Naess, daß es in der Natur ein Tiefensystem gibt, das uns als Spezies umfaßt, und zu dem wir Zugang haben, wenn wir nur bereit sind, uns diesem Wissen zu öffnen. Die Tiefenökologie war von Anbeginn an der akademische und politische Ausdruck einer neuen Naturmystik; sie basiert auf einem alternativen, grundlegend animistischen Erfahrungsmodus statt auf einem Komplex theoretischer Prinzipien. Sie sieht die Wurzel des ökologischen Übels in unserer unausrottbaren Überzeugung, daß Menschen jenseits der Natur und über der Natur stehen, sei es als Herr oder als Wächter. 


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Viele große Umweltorganisationen (deren Vorstellungen von Ökologie »flach« sind) agieren immer noch von der Grundhaltung aus, daß der Planet uns gehöre und wir damit machen könnten, was wir wollen; ihre Methoden sind im wesentlichen die von Managern. Diese Grundhaltung — so die Kritik der Tiefenökologie — vergiftet alles, was getan wird. Sie bestärkt uns in unserem Gefühl der vermeintlichen Überlegenheit über die Natur und damit in unserer Entfremdung und Isolation von unseren Mitgeschöpfen, mit denen wir den Planeten eigentlich in biozentrischer Verbundenheit teilen sollten.

Dazu eine Frage, über die wir nachdenken sollten: Wenn wir Menschen einseitig unsere Überlegenheit über alle anderen Lebewesen deklarieren, was glauben wir eigentlich, wen das interessiert?

Was »Tiefenökologie« ausmacht im Kontrast zu »flacher« Ökologie, zeigt sich in den Unterschieden zwischen jenen Umwelt­politikern, die dem drohenden Aussterben der Wale durch internationale Fangquoten begegnen wollen, und Organisationen wie Greenpeace oder Earth First, die diese Quoten grundsätzlich bei Null ansetzen — auf der Basis der Überzeugung, daß keiner Spezies (oder zumindest keiner voll empfindungsfähigen Spezies — es herrscht noch keine klare Übereinstimmung darüber, wo man die Grenzen ziehen soll) das Recht auf Leben abgesprochen werden darf. In einer biozentrischen Demokratie gelten die »Menschenrechte« für alle Lebewesen. Die natürlichen Lebensrechte werden endlich auf die gesamte Natur ausgedehnt.11 

  

   Paläolithischer Konservatismus und feministische Spiritualität   

 

Nachdem sie sich als radikaler Flügel der Ökologiebewegung etabliert hatten, konnten die Tiefenökologen sich kaum vorstellen, daß sie von einer anderen Bewegung überholt werden würden, die noch kritischere und scharfsinnigere Einsichten anzubieten hatte. Aber genau das geschah.


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Eine neue Form des Feminismus — der Ökofeminismus — ging aus einem richtungweisenden Kongreß hervor, der 1973 an der University of California in Berkeley abgehalten wurde. Dieser neue Aufbruch sollte die Tiefenökologie und die Frauenbewegung selbst in gärende Unruhe versetzen.

Als die zweite Welle der Frauenbewegung um die Mitte der sechziger Jahre begann, hätte niemand voraus­sagen können, daß sie im Lauf eines Jahrzehnts zu einer der einflußreichsten Kräfte in der Umweltpolitik werden würde. Das ursprüngliche Anliegen der Feministinnen war der klassische demokratische Anspruch auf politische und soziale Gleichheit, für den auch die erste Frauenbewegung um die Jahrhundertwende gekämpft hatte. Gleichbehandlung im Beruf und in der Ausbildung waren die zentralen Ziele.

Betty Friedans 1963 erschienenes Buch »Der Weiblichkeitswahn« war eine unverblümt kritische Attacke gegen die diskriminierenden Stereotypen, die dafür sorgten, daß Mittelschichtfrauen in abgeschotteten Vorstadtghettos eingesperrt blieben, abgeschnitten von den Ausbildungs- und Berufschancen, auf die Männer in der Gesellschaft selbstverständlich zurück­greifen konnten, um ihre Karrieren voranzutreiben. Auch als die Frauenbewegung ihre Basis verbreiterte, um Frauen der dritten Welt und Frauen aus ethnischen Minoritäten einzubeziehen, blieb sie im wesentlichen integrationistisch und darauf ausgerichtet, armen und reichen Frauen gleichermaßen Zugang zu männlich dominierten Privilegien zu verschaffen.

Im Lauf der letzten zwanzig Jahre war diesem Aspekt der feministischen Bewegung beachtlicher Erfolg beschieden, mehr als aus dem Blickwinkel der Eisenhower-Ära in den fünfziger Jahren vorstellbar gewesen wäre. Man braucht sich nur einige Familien-Fernseh­serien aus dieser Zeit anzuschauen, um sich klarzumachen, wie kraß das heutige Image der Frau vom damaligen Frauenbild abweicht. Trotzdem gab es während dieser gesamten Anfangsphase der Bewegung immer die sozialistischen Feministinnen, die darauf bestanden, daß nur eine radikale Veränderung der Eigentumsverhältnisse und der Klassenbeziehungen die wahre Befreiung der Frau durchsetzen könne.


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Die sozialistische Kritik ging davon aus, daß alle Institutionen innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaft moralisch vergiftet seien, ganz unabhängig davon, wieviel Gleichstellungserfolge Frauen innerhalb dieses Systems erreichen könnten.

Was sowohl für die liberalen als auch für die sozialistischen Feministinnen völlig überraschend kam, war die Wende, die sich in den frühen siebziger Jahren innerhalb der Frauenbewegung vollzog. Man könnte sagen, daß die sozialistische Analyse soweit nach »links« vorangetrieben wurde, daß sie über den Rand des ideologischen Spektrums hinausschoß. Denn jetzt traten Frauen auf, die überzeugt waren, daß die fragliche »moralische Vergiftung« in einer viel tieferen Schicht zu suchen sei als in den Lastern des kapitalistischen Marktes.

Um an die Wurzel des Problems heranzukommen, hieß es, in der Geschichte viel weiter zurückzugehen. Die modernen Institutionen, ob kapitalistisch oder sozialistisch, waren bis ins Mark durch patriarchale Werte korrumpiert, die dem modernen Eigentumssystem und allen anderen Klassenbeziehungen lange vorausgingen; sie waren die prototypische Form der Unterdrückung. Um kulturelle Formen zu finden, die von diesem verbiegenden Einfluß frei waren, mußten Frauen sich der Früh- und Vorgeschichte zuwenden, den dörflich-agrarischen Lebensformen im alten Europa, die vom Kult der Großen Göttin geprägt waren. Was wir über diese präindoeuropäischen Kulturen wissen, die sich einst über das mediterrane Becken und ganz Europa ausdehnten, wurde aus erhaltenen Architekturdenkmälern, Gebrauchsgegenständen, Kunstwerken und Kultobjekten rekonstruiert. Diese stummen Zeugen einer versunkenen Kultur weisen auf eine matrilineare, egalitäre, nichtmilitaristische Lebensform hin, die auf der Religion der Großen Göttin basierte.

Manche Feministinnen gingen in ihrer spekulativen Rekonstruktion dieser prähistorischen Ära noch weiter und interpretierten sie als die ursprüngliche und einst universelle menschliche Kultur, ein matrizentrisches goldenes Zeitalter, dessen letzte Spuren sich bis in die frühe hellenistische Epoche hinein verfolgen ließen. Ein paläologischer Konservatismus, dessen Einsichten gleichermaßen politischer, psychologischer und ökologischer Natur waren, wurde zu ihrer Politik.12


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Sie machten sich keine Illusionen mehr über den hohen persönlichen Preis, den sie zahlen müßten, wenn »Fortschritt« für Frauen bedeutete, den Status von »Männern ehrenhalber« anzunehmen. Ein falsches Bewußtsein wurde ihnen aufgezwungen, sogar von ihren eigenen politischen Anführerinnen. Es wurde von ihnen erwartet, eben die männlichen Stereotypen zu imitieren, unter deren unterdrückender und einschränkender Macht sie so lange gelitten hatten.

Die Frauenbewegung war von ihren Anfängen an eine ernsthafte psychologische Bewegung, die sich auf Selbsterforschung und Bewußtseinsbildung gründete. Nun brachte diese Art der Auseinandersetzung eine tiefe Ebene der Unterdrückung ans Licht, die viel radikaler war als alles, was die Diskussionen um Familie, Ehe und Beruf enthüllt hatten. In Mythen, Metaphern und Symbolen, in sozialen Mechanismen und politischen Strukturen zeigte sich, wie tief das Schicksal der Frauen mit dem Schicksal des »Erdkörpers«, des Planeten verbunden war.

In allen Kulturen der Welt — von wenigen Ausnahmen abgesehen — stammt die Geschlechts­rollen­identität von der Annahme her, daß Frauen dem Reich der Natur zugeordnet sind, während Männer dem Bereich der Kultur angehören. Umweltpolitik ist in maßgeblicher Weise davon beeinflußt, daß selbst die moderne Wissenschaft mit ihren realistischen, aggressiv forschenden, emotional distanzierten Methoden einer rigiden Geschlechter­typologisierung unterworfen bleibt und sich zu einer Art intellektueller Allzweck-Gynäkologie entwickelt hat. Die traditionelle Metaphorik vom »Mutter Erde« oder »Frau Natur« ist keineswegs nur ein poetisches Gleichnis. Sie verkörpert die uralte Gleichsetzung des Weiblichen mit der natürlichen Welt, die beide, Frau und Natur, zum verachteten und verhaßten Ziel männlicher Herrschaft gemacht hat.

 

Kehren wir für einen Augenblick zu den historischen Ursprüngen der Stadt zurück. Es gibt Mythen, die diesen großen Übergang in der Geschichte der menschlichen Kultur widerspiegeln. Sie sind mit Geschlechter­politik durchsetzt. Der babylonische Vatergott Marduk wird in den Mythen als Schöpfer der zivilisierten Welt erinnert. Seine Leistung ging auf Kosten der machtvollen, archaischen Meeresgöttin Tiamat, der weiblichen Verkörperung des Chaos, die vor ihm die Erde regiert hatte.


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Wie wir in der vorangegangenen Diskussion der Thermo­dynamik gesehen haben, ist die Unterscheidung zwischen Ordnung und Chaos sehr weitgehend eine Frage der Einstellung und des Geschmacks. »Ordnung« ist etwas, das wir erwarten oder vorziehen; »Chaos« ist vielleicht nur eine andere Form der Ordnung, eine Ordnung, die nicht erwartet oder anerkannt wird. Im babylonischen Schöpfungsmythos repräsentiert Tiamats sogenanntes Chaos die alte Kultur, in der das Weibliche eine größere Rolle spielte, zeitweilig vielleicht eine dominierende Rolle.

Archäologische Funde aus jüngerer Zeit weisen darauf hin, daß Frauen in der Ära der dörflichen Kultur, die der Stadtkultur voranging, sozial und spirituell stark genug waren, das kriegerische, aggressive Männliche in einem Zustand partnerschaftlicher Kooperation zu halten und das Land gegen jeden Übergriff zu verteidigen. Marija Gimbutas klassischer Formulierung zufolge wurden die matrizentrischen Kulturen des alten Europa nach dem Einfall kriegerischer indoeuropäischer Nomadenstämme, die männliche Himmelsgötter verehrten, durch »androkratische Kriegergesellschaften« verdrängt, die in der Folge alle Tugenden der »Zivilisation« für sich selbst in Anspruch nahmen. Aber davor hatte es eine »Zivilisation der großen Göttin« gegeben, die durch Frieden und eine hochentwickelte Ästhetik gekennzeichnet war. Unter dem Einfluß Gaias, der alten Göttin, gab es sogar eine andere Form der Stadt, die in Achtung vor der Erde errichtet war und leicht auf ihrem Körper ruhte.13

Die Frauenbewegung kreierte ihre eigene, spekulative Geschichte, um diese ferne, fast vergessene Epoche zu erkunden. In welcher Form die Kultur der Großen Göttin tatsächlich existierte, läßt sich nicht nachweisen, aber ihre Ablösung wird in den Mythen als Kampf der Geschlechter von kosmischer Größenordnung erinnert. Marduk, der männliche Stadtgott, stürzt Tiamat, zerstückelt ihren Körper und benutzt die verstreuten Teile, um eine neue Weltordnung nach seinem eigenen Geschmack zu errichten. Es ist die Ordnung der Heerführer und der patriarchalen Herren.


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Marduk gibt der Welt, die er erschafft, Maße und Begrenzungen; er etabliert die festen Rhythmen der Jahreszeiten und der Sterne. Er ist der erste Astronom, Geograph und Überwacher. Nach ihm regieren die Gott-Könige die Flußtäler mit Hilfe von Gesetz und Gewalt. Weibliche Gottheiten überleben zwar im Götterpantheon, aber sie werden zunehmend auf Fruchtbarkeit und Fortpflanzung reduziert und nehmen grundsätzlich untergeordnete Positionen ein; selbst sterbliche Männer können über sie gestellt werden. Der Held Gilgamesch verschmäht die Liebe der grausamen und raffinierten Göttin Ishtar, der babylonischen Venus, und es wird ihm erlaubt, sie herauszufordern und zu besiegen. Ihre Liebe wird als etwas Verräterisches und Schwächendes dargestellt. Alle männlichen Rivalen, denen er im Kampf begegnet, werden übrigens als »Weiber« verspottet und mit mitleidloser Verachtung vernichtet.

Mit der Entstehung der Stadt ist ein Traum menschlicher Omnipotenz verbunden, aber es ist ein männlicher Traum, und er geht auf Kosten weiblicher Werte und weiblicher Lebensweisen. Ökofeministinnen nehmen die sexistische Grundströmung dieser historischen Episode zum Anlaß, um die folgenden Überlegungen anzustellen: Die Tiefenökologie sieht im Anthropozentrismus die eigentliche Ursache unserer ökologischen Krise.

Aber wenn der anthropos in »Anthropozentrismus« mit Eigenschaften wie Herrschsucht, Aggressivität, intellektueller Kälte und der Lust zu unterwerfen und auszubeuten assoziiert wird, dann bezieht sich das Wort anthropos nicht auf alle Menschen, sondern nur auf eine Hälfte: die Männer. Der anderen Hälfte der Menschheit — den Frauen — gehen diese Eigenschaften ab, allgemein gesprochen. Von Frauen wird erwartet, daß sie solche Eigenschaften nicht haben. Daraufhin werden sie erzogen und konditioniert. Man erwartet von Frauen, daß sie große soziale Nachteile in Kauf nehmen, eben weil ihnen diese Eigenschaften fehlen. Und vielleicht (dieser Punkt wird kontrovers diskutiert) sind Frauen tatsächlich genetisch anders angelegt, und es ist nicht nur eine Frage der Sozialisierung, daß ihnen diese Verhaltensweisen fremd sind. Wie dem auch sei — obwohl sie die Hälfte der Menschheit darstellen, müssen Frauen ihren Platz in der Welt jedenfalls unter »den Anderen« einnehmen, den »Feinden« — den Fremden, den sozial Depravierten, den Wilden, den großen Jagdtieren, der Natur insgesamt —, gegen die das Männliche in seinem Kampf um Herrschaft und Überlegenheit antritt.


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Ökofeministinnen bestehen auf dieser Unterscheidung: Androzentrismus und nicht Anthropozentrismus ist die eigentliche Ursache der ökologischen Krise. Männer sind das Problem, zumindest in der menschenverachtenden und lebenvernichtenden Rolle, die sie sich in der Geschichte angemaßt haben. »Der Haß auf Frauen und der Haß auf die Natur sind eng miteinander verknüpft und verstärken sich wechselseitig«, erklärt Ynestra King:

»Bei all ihrem Engagement für die nicht menschliche Natur haben Ökologen immer noch nicht begriffen, daß die Beendigung der Unterdrückung der Frau auch für sie von ausschlag­gebender Bedeutung ist. Sie verstehen nicht, daß ein zentraler Grund für die Unterdrückung der Frau darin liegt, daß Frauen mit der verachteten Natur assoziiert werden, um die sie doch so besorgt sind.«14

Von diesem Gesichtspunkt aus muß sogar die Tiefenökologie, wie Sharon Doubiago sagt, als »schockierend sexistisch« betrachtet werden. Und dafür sind einige ihrer zentralen Merkmale verantwortlich. In typisch männlicher Selbstherrlichkeit — so Doubiagos Kritik — nahmen die Tiefenökologen »weibliches Bewußtsein« für sich in Anspruch, ohne auf die Quelle zu verweisen. Sie erwiesen den amerikanischen Indianern, dem Buddhismus, der neuen Physik, der Mystik und den Transzendentalisten ihre Reverenz — allem »Exotischen, Fernliegenden und Maskulinen«, wo doch in Wahrheit

»ihr, die männlichen Ökologen, bei einiger Überlegung zugeben müßtet, daß eure Bettpartnerinnen und die Person, die wahrscheinlich eure Kindheit dominierte, euer Leben lang dieses Bewußtsein mit euch geteilt haben.«15

Doubiagos Überlegungen werfen Fragen auf, die innerhalb der feministischen Bewegung selbst zu einer Spaltung führten.


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Gibt es so etwas wie ein spezifisch »weibliches Bewußtsein«? Und wenn ja, ist es angeboren oder ein Produkt der Sozialisation?

Viele Ökofeministinnen neigen zu der Auffassung, daß tatsächlich eine spezielle, inhärente Verbindung zwischen dem Weiblichen und der Natur existiert - ein Standpunkt, der allzu leicht zur Bestätigung des uralten misogynen Vorurteils, die Biologie der Frau sei ihr Schicksal, mißbraucht werden kann. Innerhalb der Bewegung der feministischen Spiritualität wird dieses Schicksal von manchen stolz angenommen. Dazu gehört, in wahrer Loyalität gegenüber Gaia, die Verehrung irgendeiner Form der »Kultur der Großen Göttin«, des matrizentrischen goldenen Zeitalters der natürlichen Harmonie, das den ausgedehnten Bewässerungs­systemen und dem Aufstieg der Stadt vorausging. Mit diesen Bemühungen, den prähistorischen Kult der Göttin wiederzubeleben, geht zuweilen eine neue Form der Stereotypenbildung einher, die von den Frauen selbst ausgeht; Intuition, Sensibilität, mystische Kommunion mit der Natur werden von manchen als ausschließlich weibliche Fähigkeiten betrachtet. Hier tauchen Fragen von großer Bedeutung auf, die von Feministinnen, Sozialökologinnen und Ökofeministinnen noch geklärt werden müssen. Betty Roszak gibt eine treffende Zusammenfassung der Problematik:

»Wir müssen uns die Frage stellen: Sollen Frauen wieder einmal mit der archetypischen Mutter, >Mutter Erde< oder >Mutter Natur< identifiziert werden? Ist es die heilige Pflicht der Frauen, die Menschheit und die Erde durch ihre überlegene Weisheit und ihr überragendes Mitgefühl zu erretten? Oder ist das nur eine weitere Wiederholung der alten Klischees, die wir so mühsam zu durchbrechen versuchten? Werden wir nicht auf subtile Weise wieder benutzt und in den Dienst der männlichen Macht gestellt? Wenn wir eine spezielle Beziehung zwischen dem Weiblichen und der Natur annehmen und für uns anerkennen, verstärken wir dann nicht die Projektion der männlichen Verantwortung auf Frauen — als Retterinnen der Welt? (...) Als Feministinnen müssen wir uns vor der neuen sentimentalen Interpretation des Weiblichen ebensosehr in acht nehmen wie vor der Romantisierung der Natur.


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(...) Solange nicht jeder Mann das, was wir das > Weibliche< nennen, in seiner eigenen Natur erkennt und ausdrückt, und solange nicht jeder Frau erlaubt ist, das, was wir das >Männliche< nennen, in ihrer eigenen Natur zu erkennen und auszudrücken, müssen wir uns davor hüten, uns als Frauen selbst auszugrenzen und uns einer neuen Version der Rolle der edlen Wilden zufügen, die alle Weisheit in sich vereinen und denen die Aufgabe zukommt, alle Fehler und Ungerechtigkeiten der Welt zu beseitigen.«16

 

   Der Ärger mit den Männern    

 

Keine andere politische Bewegung der Gegenwart hat die erstaunliche Breitenwirkung der feministischen Bewegung erreicht. Seit sie in den sechziger Jahren als liberales Reformprogramm begann, im wesentlichen auf die Interessen gebildeter Mittelschicht­frauen ausgerichtet, wuchs sie immer weiter an und nahm ein immer größeres Spektrum von Interessen und Problemfeldern in sich auf: Fragen der ethnischen Diskriminierung, der Armut, der sexuellen Vorlieben, der Kindesmißhandlung und des sexuellen Mißbrauchs, der dritten Welt, der Religion, der gefährdeten Arten und gefährdeten Kulturen, der globalen Umwelt.

Frauen erlebten ihren eigenen Zustand des Ausgebeutet- und Ausgegrenztseins zunehmend als Spiegelung aller anderen Formen, in denen Menschen und Lebewesen allgemein Opfer von Beherrschung und Unterdrückung werden. Überall fanden sie das patriarchale Ego am Werk, von der Verehrung des alttestamentarischen, kriegerischen Vatergottes bis hin zu den gewalttätigen, zerstörungslüsternen Filmen und Videospielen, mit denen Jungen und männliche Jugendliche sich in ihrer Freizeit amüsieren.

Um die Ursprünge des Patriarchats und die Gründe für seine Macht besser zu verstehen, mußte die Frauenbewegung sich Fragen der psychologischen Theorie zuwenden. Warum sind Frauen - und Männer - das, was sie sind? Wo liegen die Ursprünge der Geschlechtsrollenzuschreibungen im Leben des Individuums und in der Geschichte unserer Spezies?


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Die Feministinnen entdeckten bald, daß die orthodoxe Psychologie auf diese zentralen Fragen keine befriedigenden Antworten parat hat. Sie ist in vieler Hinsicht Bestandteil des sexistischen Lagers. So wie Freud und seine Schule (darunter auch Analytikerinnen17) es sahen, waren Männer die offiziellen Repräsentanten der Spezies Mensch; die männliche Psyche war das Normgebende. Die Probleme von Frauen wurden oft als kleiner Zusatz nebenher erwähnt oder als geringfügige Abweichung behandelt. Die Feministinnen waren nicht allein mit ihrer Einschätzung, daß solche einseitigen Vorstellungen von der menschlichen Psyche ans Groteske grenzten. Vor allem der Penisneid, diese innerhalb der Freudschen Analyse so zentrale Vorstellung, wird mittlerweile von beiden Geschlechtern eher als Material für Kalauer und kabarettistische Einlagen betrachtet denn als seriöse Psychologie.

Jung war kaum besser als Freud, wenn es darum ging, Frauen innerhalb der psychoanalytischen Theorie angemessen zu repräsentieren. Obwohl er die Existenz einer Anima postulierte, einer seelischen Repräsentanz des Weiblichen in Männern, war das meiste, was er über dieses Thema schrieb, tief von den schwärmerischen Vorstellungen der deutschen Romantik über das »Ewig-Weibliche« durchtränkt. Feministinnen kennen die Gefahren einer solchen Überhöhung und haben gelernt, sich nicht auf dieses Podest stellen zu lassen. In der Jungschen Psyche sind Persönlichkeitsmerkmale wie Zärtlichkeit und Wärme, Ehrgeiz und heroisches Streben weiterhin geschlechtsgebunden; in ihrer neuen Verpackung als Anima und Animus bleiben die alten Geschlechterstereotypen intakt. Jungs Vorstellungen über den angemessenen Platz der Frau in der Gesellschaft waren — ebenso wie die Freuds — trostlos konventionell. Jung ging so weit, jede Frau mit beruflichem Ehrgeiz, die ihn konsultierte, zu warnen, daß sie mit ihrem Karrierestreben etwas täte, das ihrer »weiblichen Natur« unmittelbaren Schaden zufüge.


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Darüber hinaus stellte die mittlerweile durch umfangreiche historische Studien fundierte feministische Kritik an vielen Jungschen Archetypen, die sich auf Frauen beziehen sollen — und Frauen sogar als Inspiration dienen sollen —, fest, daß sie von den sexistischen Vorurteilen des olympischen Götterpantheons durchdrungen sind — einer späteren patriarchalen Umdeutung sehr viel älterer Mythen, die daraufhinauslief, die einst autonomen Göttinnen der Herrschaft des »Göttervaters« Zeus zu unterstellen. Den prähellenistischen und paläolithischen Göttinnen, die soviel robuster und potenter sind, wird dagegen weitaus weniger Beachtung geschenkt.18

Da so wenig Ausgangsmaterial vorhanden war, das nicht den Stempel patriarchaler und sexistischer Vorurteile trug, mußte die Frauenbewegung die Methoden, Theorien und Wertvorstellungen einer Psychotherapie, die Frauen angemessen war, praktisch neu erfinden. Jeder Schritt innerhalb dieses Prozesses führte zu impliziten oder expliziten ökologischen Folgerungen. Die Gestalttherapeutin Dorothy Dinnerstein war unter den ersten, die erkannten, daß das patriarchale Ego die Umwelt ebenso vergewaltigt wie die weibliche Natur. Sie hält es für eine zentrale Funktion von Therapie, »unsere beschützenden Impulse und fürsorglichen Gefühle für die irdische Natur zu mobilisieren«.

Der Weg, den sie für einen »neuen Umgang mit den Geschlechterrollen« vorschlägt, erscheint sehr simpel und bescheiden: Männer sollten weltweit fünfzig Prozent der Aufgaben in der Kinderpflege und -erziehung übernehmen, um die fürsorglichen Qualitäten, die mit dieser Aufgabe verbunden sind, zu erfahren und zu erlernen. Das Resultat davon wäre in Dinnersteins Vorstellung eine Welt voller »beziehungsfähiger Individuen«, die mit der besten denkbaren Kombination der traditionell als »männlich« beziehungsweise »weiblich« verstandenen Persönlichkeitsmerkmale ausgestattet wären. Unter diesen Voraussetzungen wäre es vielleicht möglich, die geschlechtsspezifische Charakterisierung menschlicher Eigenschaften aufzugeben und beiden Geschlechtern die freie Wahl zu lassen, welche Qualitäten sie sich selbst zuschreiben und in sich kultivieren wollen. Dinnerstein faßt das mit folgenden Worten zusammen:


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»Wenn Männer anfangen, sich ebenso intensiv wie Frauen mit der Initiation von Kindern in die menschliche Seinsweise zu befassen, wenn der weibliche und der männliche Elternteil gleichermaßen für uns die besonderen Bedeutungen der frühen Kindheit verkörpern, dann werden wir uns den Schwierigkeiten, die wir damit haben, diese Bedeutungen mit unserem Status als Persönlichkeiten in Einklang zu bringen, endlich stellen. Die Konsequenz wird natürlich eine vollständigere, realistischere, liebevollere und gleichzeitig anspruchsvollere Definition von Persönlichkeit sein.«21

 

»Object Relations« nennt man in den USA die postfreudianische Schule, der sich viele feministische Psychotherapeutinnen zuwandten, um einen konstruktiveren Ansatz für die Entwicklungspsychologie zu finden. Die Object-Relations-Theorie konzentriert sich besonders auf die präödipale Phase, in der Kinder beginnen, sich von einer Mutterfigur lösen, die als omnipotent erlebt wird, zumindest in Gesellschaften wie den unseren, in denen der Broterwerb den Vater gewöhnlich vom häuslichen Leben fernhält. Männliche und weibliche Kinder erfahren diese Trennung auf markant unterschiedliche Weise. 

Nach der Auffassung der feministischen Object-Relations-Schule lösen Jungen sich in einer Art von der Mutter ab, die zu emotionaler Isolierung und rigiden Ich-Grenzen führt. Zum »männlichen« Mann heranzu­wachsen beinhaltet, alle Spuren des Weiblichen in sich selbst einer strengen Zensur zu unterwerfen und so die Trennung abzusichern und dauerhaft zu machen. »Die Selbst-Identität des männlichen Kindes gründet sich also auf Negation und darauf, daß die andere Person zum Objekt gemacht wird«, erklärt Marti Kheel.20 In Abwehr dieses entfremdeten Anderen wächst das männliche Kind dazu heran, sich in scharfer, rivalisierender Weise abzugrenzen. Die Folgen dieser Entwicklung bleiben in aller Regel nicht auf die persönliche Psychologie begrenzt; sie färben auf die Naturphilosophie der Gesellschaft ab. Catherine Keller machte eine aufschlußreiche Beobachtung:

»Das Selbstgefühl, das Männern durch ihren Entwicklungsweg auferlegt wird, hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Newtonschen Atom. Es ist isoliert, undurchdringlich und nur äußerlich und zufällig mit anderen Monaden verbunden, mit denen es in seiner Leere zusammenprallt. (...) Je vollständiger ein Mann dieses Gefühl der Getrenntheit verkörpert, desto effizienter ist seine Anpassung an die Maschinen-Ökonomie des modernen Patriarchats.«21


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Dagegen gelingt es Frauen in aller Regel, sich in ihrer reifen Persönlichkeit eine wärmere, »intersubjektive« Qualität zu erhalten. Wenn weibliche Kinder zu »guten«, typischen Frauen heranwachsen, werden sie zu den fügsamen und fürsorglichen Müttern, die sie den Erwartungen der patriarchalen Gesellschaft gemäß sein sollen. Aber sie bleiben auch abhängiger als Männer und treten im öffentlichen Leben weniger selbstbewußt auf. Wenn diese geschlechtsbezogene Asymmetrie in der frühen Erfahrung der Individuation als universell betrachtet werden kann, dann erklärt sich daraus vielleicht, warum die Natur im Mythos und in der Metapher als weiblich wahrgenommen wird. 

Als Netzwerk von Systemen, die in komplexer Weise miteinander verbunden sind, zeigt sie die Beziehungsqualitäten, die Frauen in ihrer Sozialisation anerzogen werden. Männer interpretierten in die Welt, die sie umgibt, auch die fürsorgliche Wärme hinein, auf der sie bei Frauen bestehen, die sie von Frauen haben wollen und die sie in der Natur zu finden hoffen. Diese Einsichten sind wertvoll, aber wenn man sie in einer bestimmten Weise benutzt und interpretiert, können sie in äußerst nachteiliger Weise auf die feministische Sache zurückschlagen. Der Einfluß der Mutter kann als so übermächtig gedeutet werden (»apokalyptisch«, wie Nancy Chodorow es ausdrückt), daß Frauen sich schließlich in der Lage finden könnten, allein für die verzerrte Entwicklung ihrer Söhne geradestehen zu müssen. Frauen dürfen sich nicht darauf einlassen, zum Opfer des »Mythos von der perfekten Mutter« gemacht zu werden.

Dennoch hat die Object-Relations-Schule in ihrer engen Konzentration auf die Funktion der Mutter in der frühen Kindheit der Frauenbewegung vielleicht etwas von Wert zu bieten. Bedauerlich ist nur, daß ein großer Teil der Literatur dieser Schule in einer entsetzlich gestelzten und abstrakten Sprache abgefaßt ist.


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Das gehört zu den generellen und weitverbreiteten Untugenden des akademischen Stils, aber es ist genau das, was die Feministinnen selbst an der »offiziellen patriarchalen Prosa« so scharfsinnig kritisierten: eine Sprache, aus der jeder Tropfen emotionalen Lebenssaftes herausgepreßt wurde. Und was soll man schließlich von einem Namen wie »Object Relations« - Objektbeziehungen - halten, vor allem wenn die fraglichen »Objekte« die Mütter sind?

Trotz der intensiven Bemühungen der Ökofeministinnen muß die Verbindung zwischen Ökologie und Psychologie auf der professionellen psychologischen Ebene noch ausgearbeitet werden — eine Aufgabe, die längst überfällig ist. Wir haben mittlerweile eine solche Menge an historischen und anthropologischen Erkenntnissen über Geschlechterstereotypen, daß auf dieser Ebene kaum noch etwas zu wünschen übrig bleibt. Wir haben auch die lange Chronik der Ungerechtigkeit und des Leidens vor uns, die Frauen erdulden mußten, weil sie in den Augen des anderen, des emotional verkrüppelten männlichen Geschlechts, als die lebende Verkörperung der Natur erschienen. 

Alles, was vielleicht noch fehlt, ist eine Frau und Feministin mit dem intellektuellen Charisma eines Freud, die fähig ist, das leidvoll Erfahrene und die Theorie zusammenzuweben. Dafür besteht dringender Bedarf. 

Es steht außer Frage, daß die Art, wie unsere Welt das Bewußtsein ihrer männlichen Kinder formt, in zentraler Weise für unser ökologisches Dilemma mitverantwortlich ist. Solange die Männer, die die Medienwelt beherrschen, den Geist der männlichen Kinder und Jugendlichen, von denen sie offenbar glauben, daß sie ihr einziges Publikum sind, mit einer Diät von Terminatoren, Liquidatoren und Top-Guns füttern — amoklaufenden Muskelprotzen, die Menschen wie Fliegen vernichten und sich gigantische Materialschlachten liefern —, können wir nicht erwarten, uns von der Ideologie der Zerstörung zu befreien. Wir sind an sie gebunden durch die Seelen von Zwölfjährigen, die zu dreißigjährigen Firmenmanagern und vierzigjährigen Generälen und fünfzigjährigen Politikern heranwachsen. 


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Nehmen wir die <Robocop>-Filme als Beispiel, die sich unter Jungen und Männern zwischen zehn und fünfundzwanzig Jahren einer so ungeheuren Popularität erfreuen. Was haben wir hier als Ideal des männlichen Heldentums? Die mit den Mitteln einer fiktiven Wissenschaft wiederbelebte Leiche eines Polizisten, der, ausgestattet mit einem unzerstörbaren Metallkörper, einem elektronischen Gehirn und einem Arsenal phallischer Schußwaffen in die Straßen entlassen wird, wo er augenblicklich zur Massen­vernichtung schreitet. Körper fliegen umher, Gebäude explodieren, Fahrzeuge stoßen krachend zusammen, das Blut fließt in Strömen. 

Die eindringlichsten Appelle und liebevollsten Gesten von Seiten des ökologischen und spirituellen Flügels der feministischen Bewegung verblassen vor der bösartigen Macht solcher Bilder, die nicht etwa auf dem Weg des »Ausagierens« zu einer Beruhigung führen, sondern die gewalttätigsten Impulse des Todestriebes anstacheln.

Gewohnheiten, die so alt sind wie die Geschlechtsrollenunterschiede, wurzeln so tief, daß wir nicht mit Sicherheit sagen können, wo das Kulturelle aufhört und wo das »Angeborene« beginnt. Gegenwärtig scheinen selbst einige der sensibelsten Männer verzweifelt darauf aus zu sein, die traurigen Restbestände ihrer unsicheren Geschlechtsrollenidentität wiederzubeleben. Als Reaktion auf das selbstsichere Auftreten der Frauen in ihrer Umgebung fallen sie auf irgendeine Version der männlichen »Krieger«-Identität zurück. 

Ganz gleich, wie metaphorisch sie das Wort verstanden wissen wollen — sie berufen sich da auf eine Tradition, von der das Blut nicht leicht abzuwischen ist. Das läßt ihre Bestrebungen gleichzeitig jämmerlich pathetisch und bedrohlich erscheinen. Selbst bei den besten Leuten kommen die Bemühungen um die männliche Selbstfindung einem wutgeladenen Gegenschlag erschreckend nahe. Die »neuen Männer« hören sich ein bißchen zu sehr wie die konservativen Weißen an, die in den sechziger Jahren gegen die Bürgerrechtsbewegung der schwarzen Amerikaner mobil machten. 

Der Schriftsteller Robert Bly, der sich als Sprecher der Männer als gefährdete Art hervorgetan hat, ist überzeugt, daß das »tiefe Männliche« Sanftheit, Sensibilität und fürsorgliche Wärme nicht ausschließen muß. Hoffen wir, daß er recht hat. Aber wenn es ihm damit ernst ist, sollte er eigentlich wissen, daß er hier nicht über spezifisch männliche Eigenschaften spricht.


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An manchen Stellen gibt er das zu. So unterscheidet er den »wilden Mann«, den Männer seiner Auffassung nach in sich selbst freisetzen sollten, vom »primitiven Mann«. Anders als der »primitive Mann« akzeptiert der »wilde Mann« die »weibliche Seite« seiner Persönlichkeit und hat kein Bedürfnis, andere auszubeuten oder anderen Gewalt anzutun. Aber warum wird das alles dann noch als »männlich« klassifiziert? Es wird weder Frieden im Kampf der Geschlechter geben noch ökologische Vernunft, wenn wir nicht endlich mit dem gefährlichen Unfug Schluß machen, menschliche Tugenden in »männliche« und »weibliche« Schubladen einzuordnen.22 

  

   Die Wiedergewinnung des Ursprünglichen   

 

Verallgemeinerungen über »das Wesen des Mannes« oder »das Wesen der Frau« erweisen sich letztlich immer als Verall­gemein­erungen über die gesamte Spezies Mensch — und das ist grundsätzlich ein riskantes Unterfangen. Schon ein Augenblick der Reflexion über unsere persönlichen Erfahrungen bringt ganze Serien von Ausnahmen von der allgemeinen Regel hervor. Vielleicht liegt das »Wesen des Menschen« gerade darin, zahllose Ausnahmen zu allen Regeln zu bilden. Menschen gibt es viele, Rollenmodelle dagegen nur wenige, und es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Geschlechts­zugehörigkeit weitaus mehr mit Stereotypen befrachtet ist als jede andere menschliche Unterscheidung. 

Nehmen wir an, daß die ökologische Sensibilität, die der Planet braucht — wenn wir im Rahmen der tradierten Klischee­vorstellungen bleiben —, im »weiblichen Bewußtsein« zu finden ist. Dann bleibt die Frage, ob dieses Bewußtsein exklusiv weiblich und somit auch nur bei Frauen anzutreffen ist. Und wenn nicht, wie lange werden wir warten müssen, bis es sich auch in Männern zu bilden beginnt? Sind die Mütter so stolz auf die Qualitäten ihrer Weiblichkeit, daß sie bei ihren Söhnen eine ebenso große Entfaltung weiblicher Tugenden wünschen wie bei ihren Töchtern?


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Wenn die ökologische Krise tatsächlich so tief in den tradierten Sozialisationspraktiken unserer Gesell­schaft­en wurzelt, wie die Object-Relations-Schule glaubt, dann kann es sehr lange dauern, bis das patriarchale Ego seine kulturelle Herrschaft an die beziehungsorientierte Psyche abtritt.

Und was tun wir in der Zwischenzeit? Wie lange können wir von Frauen jetzt, da sie weitaus mehr Zugang zur männlich dominierten Welt von Beruf und Karriere und sehr viel mehr Wahlmöglichkeiten haben, noch erwarten, daß sie die geduldigen, leidensfähigen Musterbeispiele für die Tugenden abgeben, denen Männer nacheifern wollen? 

Vielleicht liegt die Bedeutung des Ökofeminismus und der feministischen Spiritualität für unsere Zeit vor allem darin, daß diese Bewegungen mit Nachdruck für jene bislang minderbewerteten menschlichen Eigenschaften und Tugenden eintreten, die gerettet werden müssen, wenn die Erde geheilt werden soll. In ihrem Bemühen um diese Werte haben die Ökofeministinnen einige der interessantesten Versuche unternommen, den Geist und das Ethos der Ära der Großen Göttin auf experimentellem Weg zurückzugewinnen. Weil sie den Mut hatten, konventionelle akademische Beschränkungen abzuwerfen, entdeckten die Ökofeministinnen durch die Kunst und durch rituelle Praktiken neue Wege, die animistische Sensibilität wiederzuerschaffen.

So bizarr diese Versuche Außenstehenden vielleicht erscheinen mögen, stellen sie doch eine seriöse archäologische Grabung in den Tiefen des kollektiven Unbewußten dar. Wer weiß, was dort, obwohl unter Trümmerbergen begraben, noch überlebt? Vielleicht ist ein kleiner Teil des Weltbildes unserer fernen Vorfahren innerhalb des Es, das sich der Zivilisierung nur widerwillig unterwarf, noch lebendig. Wenn wir eine Ökopsychologie entwickeln wollen, muß es ein Teil unserer Suche sein, den Weg zurück zu der ältesten Naturphilosophie unserer Spezies — oder zumindest einer Annäherung daran — zu finden.


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Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Zeremonie, an der ich teilnahm; eine kalifornische Gruppe, die ihre Berufung in einer Kreuzung von historischer Forschung und Performance-Kunst sah, gestaltete den Ritus. Es wurde kein Anspruch auf historische Treue erhoben. Alle Anwesenden waren sich der Tatsache bewußt, daß dies eine Versammlung von modernen westlichen Frauen und Männern war; wir waren im Auto angekommen und wir wußten die Vorteile der Zentralheizung und der Wasserleitung zu schätzen, die uns bei unserer Rückkehr zu Haus erwarten würden. Das Ziel der Veranstaltung war eine Würdigung und vielleicht eine Annäherung an die Naturvisionen anderer Völker, die durch Worte allein nicht zu erreichen ist. Die Zeremonie selbst — eine frei erfundene Wintersonnenwendfeier — war ein Gemisch aus den verschiedensten Komponenten: Eine Auswahl aus der Mythologie der amerikanischen Indianer wurde vorgetragen, es gab Musik und Chorgesang, Kultgegenstände wurden herumgereicht, Geschenke wurden ausgetauscht, man aß und trank gemeinsam, ein Feuer wurde angezündet, und Leute bewegten sich feierlich in einem selbsterfundenen Tanz um das Feuer herum.

Ein weiteres Beispiel: Ein Ritual, das den Namen »Council of All Beings« — Ratsversammlung aller Lebewesen — trägt, wurde in den USA an verschiedenen Orten aufgeführt, zum Teil im Freien, wie in der wilden Landschaft des Grand Canyon, zum Teil in den Theatersälen von Universitäten. John Seed, der Direktor des Rainforest Information Centre in Australien, und die amerikanische Therapeutin und Schriftstellerin Joanna Macy schufen dieses Ritual gemeinsam in den achtziger Jahren.

Es beginnt mit einer Phase der stillen Meditation, in der die Anwesenden ihren Weg in eine nichtmensch­liche Identität hinein zu imaginieren versuchen. Die Anregung zu dieser Übung stammt von dem amerikanischen Naturalisten Aldo Leopold, dessen »land ethic« aus den dreißiger Jahren gewöhnlich als eine der ersten Äußerungen der Tiefenökologie betrachtet wird. Leopold erklärte, man könne ein Ökosystem nicht wirklich verstehen, wenn man nicht versuche, »wie ein Berg zu denken«. In Anlehnung an diese Einstellung tragen die Leute, die in dem Ritual die »Ratsversammlung aller Lebewesen« repräsentieren, selbstgemachte Masken, die den Regenwald, das Wombat, die Wildgans, die Schnecke, das Herbstblatt, den Berg und verschiedene andere Lebewesen und Naturkräfte symbolisieren. Der Delphin zum Beispiel spricht die Worte:


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»Ich liebe es, mich im Wasser zu wiegen, zu spielen und zu springen. Ja, ihr Menschen, ich spiele mit euch, wenn ich euch vertrauen kann, denn wir Delphine empfinden eine große Affinität zu euch. Aber in euren Schleppnetzen verfangen wir uns und sterben. Ihr nutzt unsere Freundlichkeit grausam aus, indem ihr uns für militärische Experimente benutzt; ihr befestigt Sensoren und Sender auf unseren Rücken. Ihr haltet uns in Freizeitparks gefangen, für euer Amüsement. (...) Ich spreche für alle gefangenen Lebewesen. Menschen, findet zu eurer eigenen Freiheit, indem ihr die unsere achtet!«

Im weiteren Verlauf der Zeremonie werden Formen verwendet, die sich aus den traditionellen Riten des großen Medizinrades der nordamerikanischen Indianer herleiten, aber der vorherrschende Geist der Veranstaltung ist ausgesprochen modern und westlich. Gewöhnlich werden Mythen und Legenden, ökologische Forschung und aktuelle Ereignisse miteinander verknüpft. In einer klaren und eindeutig zeitgemäßen Sprache werden alle aufgerufen, sich in den Verlauf unserer bio-ökologischen Geschichte hineinzuversetzen, sich an den Evolutionsweg zu erinnern, »den unsere Spezies und alle ihre Vorläufer während der viereinhalb Milliarden Jahre des Lebens auf diesem Planeten nahmen.«23

Wenn die unbezweifelbare Aufrichtigkeit und der unprätentiöse Humor nicht wären, die solche Veranstaltungen beleben, könnte man sie zynisch als albernen New-Age-Klamauk abtun. Aber wenn man ihnen die Chance läßt, ihre Wirkung zu zeigen, wird mindestens ein Mensch unter den Anwesenden mit dem Wunsch fortgehen, daß man in unseren Gesellschaften noch Jahreszeitriten wie die Wiedergeburt der Sonne feierte, die einen ansprechenderen Gestus und mehr Würde haben als die alljährliche weihnachtliche Einkaufsorgie. Zweifellos geht man mit dem Gefühl fort, daß es dich irgendetwas zu erfahren gibt, Rhythmen der Erde, die in der Welt, in der wir leben, gewöhnlich weniger Beachtung finden als der jährliche Betriebsausflug.

Und aus welchem Grund haben wir diese Erfahrung aufgegeben? Weil frühe Kirchenväter in ferner Vergangenheit einmal entschieden haben, daß solche Riten eine heidnische Übertretung christlicher Glaubensregeln darstellten? Und weil die Väter der modernen Wissenschaft, die der animistischen Sensibilität nicht weniger feindselig gegenüberstanden, Jahrhunderte später erklärten, die Jahreszeiten seien lediglich das Resultat einer meßbaren Schräglage der Rotationsachse eines kleinen Planeten, der einen toten Ball brennenden Gases umkreist?

Solchen Diktaten zu folgen, trägt nicht zu unserer emotionalen Differenziertheit bei, und es bringt uns auch dem Geheimnis einer gesunden Ökologie nicht näher, die an irgendeinem Punkt - neben wissenschaftlicher Präzision - Liebe und Staunen als Antriebskraft braucht.

Übungen wie die »Ratsversammlung aller Lebewesen« haben wenig Ähnlichkeit mit den Techniken der konventionellen Psychotherapie. Sie sind Gruppenereignisse, sie erfordern Partizipation, sie beinhalten Drama, Gesang und Tanz, sie greifen auf nichtverbale Formen des Ausdrucks und auf das kathartische Erleben zurück. Es gibt keine regelnsetzende professionelle Präsenz, keinen Doktor oder Analytiker, der weiß, wo es entlanggeht und der die Oberaufsicht führt. Aber vielleicht muß eine Ökopsychologie in jeder Hinsicht neuen Boden betreten, in der Praxis ebenso wie in der Theorie.

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