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9  Das Neontelefon - Ein moralisches Äquivalent zum zügellosen Konsum 

 

Luxus     Ausgewogenheit   Transformationen   Ethik    Narren

   Ein Produkt ist ein Produkt ist ein Produkt    

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Es war einer jener Läden, die man heutzutage in allen großen Einkaufspassagen findet, ein Glitzerpalast voller Elektronikneuheiten und Spielzeug für Erwachsene, im Stil eines Las-Vegas-Casinos aufgemacht. Anspruchs­volle Versionen solcher Elektronikparadiese wurden von einem Feuilletonisten »Warenhäuser für das verwöhnte Millionärsbalg in uns allen« genannt. Eine digitalisierte Personenwaage mit Computerstimme kann in einem dieser anspruchsvollen High-Tech-Paläste bis zu 450 Dollar kosten.

Man tritt auf die Plattform, und die Computerstimme intoniert das Gewicht, das man auf die Waage bringt, mit einem fröhlichen »Herzlichen Glückwunsch« wenn man (je nach Idealgewichtprogrammierung) abgenommen hat, oder einem bedauernden »Leider ...«, wenn Pfunde dazugekommen sind. Man hat die Wahl zwischen männlich und weiblich klingenden Computerstimmen.

Der Ort, von dem ich hier spreche, war ein greller Billigladen, »Headlines« genannt, dessen Aufmachung einen Hang zu zügellos schlechtem Geschmack zeigte. Und als Blickfang mitten im Schaufenster stand der letzte Schrei: das Neontelefon. Nicht ein Modell, sondern ein Dutzend Varianten, flimmernd und blinkend, glitzernd und piepend. Die meisten hatten ein Gehäuse aus transparenten Plastikmaterial, das den Blick auf regenbogenfarbig aufblitzende Pseudo-Schaltungen freigab. Eines der Geräte hatte die Form einer alten Wurlitzer-Musikbox, ein anderes sah aus wie das Neon-Entree eines Kinopalastes der fünfziger Jahre. Es waren fraglos die häßlichsten kommerziellen Objekte, die ich seit Jahren gesehen hatte.

Auch im Laden standen sie für neugierige Kunden griffbereit da. Ich hob eines auf und drehte es um: »Made in Taiwan« stand auf der Bodenplakette.

Irgendein einfallsreicher Unternehmer hatte achttausend Meilen zurückgelegt, um diese High-Tech-Monstrosi­täten in einem asiatischen Billiglohnland produzieren zu lassen. Irgendein Designer hatte die fluoreszierenden Windungen und Kringel aus einem Alptraum heraufgeholt; Hunderte von Arbeiterinnen und Arbeitern hatten mikros­kopisch kleine Teile zusammengesetzt, Kabel befestigt und Gehäuse zusammengeschraubt, zweifellos zu einem Niedrigstlohn. Vermutlich hatte irgendein Außenhandels­attache monatelang vorsichtige Verhand­lungen geführt, um das Produkt so zu plazieren, daß es seiner Nation ein Maximum an ausländischer Währung brachte. Taiwan ist bekanntlich innerhalb der boomenden Wirtschaft der pazifischen Randstaaten ein Faktor, mit dem man rechnen muß. Dies war der Beweis für diesen Wirtschaftsboom: das Neontelefon.

Im 19. Jahrhundert bestanden antikapitalistische Kritiker wie Marx darauf, daß die Wirtschaft in einen ethischen Kontext eingebunden sein müsse; soziale Gerechtigkeit sollte vor industrieller Effizienz oder privatem Profit Vorrang haben. Jetzt, im späten zwanzigsten Jahrhundert, versuchen ökologische Kritiker der Gesellschaft zu vermitteln, daß sowohl die Wirtschaft als auch die Ethik in einen ökologischen Kontext eingebunden sein müssen. Wir können nicht darauf verzichten - und sei es auch nur aus aufgeklärtem Eigeninteresse -, die Wale, die gefährdeten Wälder und die Ozonschicht in unsere Konzeption einer gerechten Verteilung einzubeziehen. 

Wieviel Wohlstand wir produzieren - und verteilen - können, muß danach entschieden werden, was nicht nur sozial, sondern auch ökologisch vertretbar ist. Aber Produkte wie das Neontelefon stehen für ein furchtbares Dilemma, mit dem jede Wirtschaftsform, sei sie marxistisch oder kapitalistisch, konfrontiert ist. Die Nationen der dritten Welt mobilisieren heute alle Reserven und alle Kräfte, um den Sprung in die industrielle Wohl­stands­gesellschaft zu schaffen. Für Fließbandarbeiterinnen und -arbeiter in Singapur oder in Mexiko-City bedeuten Produkte wie das Neontelefon einen Arbeitsplatz, einen Job, der genug einbringt, um die Familie zu ernähren, bis man vielleicht eines Tages in ein reicheres Land emigrieren kann.


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Für ehrgeizige Unternehmer bedeuten solche Produkte Aufstiegsmöglichkeiten für den eigenen Betrieb und für die Wirtschaft des Landes; vielleicht winkt eines Tages die Chance, in die großen Unternehmensgruppen eingegliedert zu werden, von einem japanischen, amerikanischen oder deutschen Konzern aufgekauft und übernommen zu werden, der dann mehr Kapital investieren und mehr Leute einstellen wird, um die nächste Generation größerer, protzigerer Neontelefone zu bauen. Für Regierungen, die darum kämpfen, wirtschaftlich aufzuholen, weil sie mit der Revolution der steigenden Erwartungen konfrontiert sind, bedeutet ein marktgängiges Produkt Geld, um die Weltbank soweit zufriedenzustellen, daß ein neuer Kredit aufgenommen werden kann.

Manches von dem, was im Rahmen dieses wahnsinnigen Rennens um wirtschaftliche Entwicklung produziert wird, ist vertretbar genug, wenn man den gängigen Lebens­standard der Industriegesellschaften als Maßstab anlegt: Autos, Fernseher, Flugzeuge, Computer ..., obwohl Länder, die sich ernsthaft zu umwelt­verträglichen Produktionsweisen entschließen, vermutlich bald auch die Produktion solcher Güter einschränken müssen. Vieles andere, was die aufsteigenden Wirtschaften produzieren — billige Mode, Dekor-Kitsch, Computerspiele — ist offensichtliche Vergeudung.

Aber ist diese Unterscheidung überhaupt erwähnenswert? Was im Sinn der orthodoxen ökonomischen Rechnungsführung zu Buche schlägt, ist das Faktum des Produzierens selbst, des Produzierens verkäuflicher Produkte. Solange die Ware auf dem Markt zirkuliert, spielt es keine Rolle, daß Gesellschaften, denen das Lebensnotwendige fehlt, ihr Kapital, ihre Ressourcen, ihre Arbeitskraft und ihre Intelligenz auf die Produktion des Wohlstandsmülls von morgen verschwenden. Schließlich ist das ihr Weg in die moderne Welt; zumindest hoffen sie das. Man findet ein geeignetes Produkt, macht es billiger, verkauft es in St. Louis oder Stockholm oder Sydney. Man verkauft Massen davon, um dann noch mehr herzustellen. Ein Produkt ist ein Produkt ist ein Produkt.


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In den späten achtziger Jahren gaben Amerikaner für elektronische Geräte achtzig Milliarden Dollars aus — für schnurlose Telefone, Anrufbeantworter, Computerspiele und Videorecorder mit so vielen Schaltern und Knöpfen, daß sich niemand ihre Funktionen merken kann. Für den praktischen Ökonomen sagen diese nackten Zahlen alles. Wir haben die Grenzen des intellektuell Nachvollziehbaren erreicht. Jenseits davon liegt Dunkelheit.

Im Lauf der letzten fünfzehn Jahre haben einige der hochindustrialisierten Länder die Kategorie der »Umwelt­belastung« eingeführt. Bei großangelegten industriellen Projekten müssen nun Gutachten vorgelegt werden, die solche Belastungen rechtfertigen. Wie sinnvoll solche Gutachten sind, hängt voll und ganz davon ab, wie ernst es der jeweiligen Regierung mit ihrem ökologischen Engagement ist und wie wachsam die Öffentlichkeit sich verhält. Damit ist es in aller Regel nicht weit her. 

Aber selbst wenn authentisches Engagement und öffentliche Wachsamkeit vorhanden sind, bleiben viele Unwägbarkeiten. Wo zieht man bei der Einschätzung von Umweltbelastungen die Grenzen in Zeit und Raum? Stellen wir die globalen kumulativen Wirkungen ebenso in Rechnung wie die kurzfristigen lokalen Effekte? Beziehen wir das Schicksal kommender Generationen mit ein? Und welcher Generationen? Auch der Generationen der Bäume, der Flüsse, der Wölfe?

Die meisten Wirtschafts­wissen­schaftler würden die letzteren in die Kategorie der sozialen Werte und ethischen Prioritäten einordnen, für die es in ihrer Wissen­schaft keinen Raum gibt. Was das angeht, spielt auch die Vorstellung, daß die Zukunft der Spezies Mensch — oder gar ihre spirituelle Gesundheit — vielleicht eine nichterneuerbare Ressource darstellt, keine Rolle innerhalb der ökonomischen Analyse. 

Es ist seit langem unsere Gewohnheit, die Zukunft als den Teppich zu betrachten, unter den man die Folgen des ökologischen Raubbaus kehrt. Das wird dann »Externalisierung der Kosten« genannt, bedeutet aber, daß man sie auf unsere Kinder und Kindeskinder verschiebt. Aus den Augen, aus dem Sinn ... Andererseits besteht die eindeutige und akute Notwendigkeit, den Aufbau der Wirtschaft in Entwicklungs­ländern zumindest soweit voranzutreiben, daß Menschen nicht mehr den Hungertod sterben müssen und zumindest das pure Existenzminimum gewährleistet ist. Wie bringt man solche konkurrierenden Interessen auf einen Nenner?


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Es gibt militante Umweltschützer und Tierschützer, die das gleiche Lebensrecht für jede Spezies fordern — eine Position, die unter den hungernden Massen wohl keine breite Unterstützung finden wird; sie werden wenig Verständnis dafür aufbringen, daß ihre Lebensinteressen denen der Tiere gleichgeordnet werden sollen.  

 

   Das Zeitalter des egalitären Luxus   

 

Die orthodoxe Ökonomie hat jedoch recht, wenn sie uns darauf hinweist, daß ein florierendes Waren­angebot steigende Nachfrage voraussetzt. Die dritte Welt würde keinen nutzlosen Glitzermüll produzieren, wenn die erste Welt keinen so aufgeschlossenen Markt dafür bereitstellte. Diese Tatsache führt uns zu einem anderen, tiefergehenden Problem. Wenn Sie irgendwelche Leute auf der Straße fragten, ob sie ein Neontelefon brauchen — welche Antwort würden Sie erwarten? Wahrscheinlich doch ein einmütiges »Natürlich nicht!«. Aber fragen Sie dieselben Leute noch einmal, nachdem sie ein Neontelefon oder zwei gesehen haben, und einige unter ihnen würden vielleicht verlegen lächelnd zugeben, daß sie ein solches Ding zwar nicht wirklich brauchen, aber daß es vielleicht doch »ganz lustig« wäre, eines zu besitzen. 

»Spaß« nimmt in Wohlstandsgesellschaften ein großes Territorium ein, viele Waren werden verkauft, weil es Spaß macht, sie zu haben. Es gibt Filme, die Spaß machen, lustige »freche« Mode, witzige Kosmetik­neuheiten — warum nicht auch »witzige« modische Telefone? »Spaß«, das bedeutet Impulskäufe, die weniger des Warenwerts wegen als um des Impulses selbst willen genossen werden; das vermittelt ein Gefühl des Wohlbehagens, einen Hauch von Luxus. Es macht Einkaufen zu einer der Hauptvergnügungen unserer Zeit. In jedem Schaufenster winkt eine andere entzückende kleine Modetorheit, die man stolz nach Haus tragen und über die man mit anderen reden kann.


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In vergangenen Zeiten waren Luxus und Verschwendung nur den Oberschichten der Gesellschaften vorbehalten. Die Prachtentfaltung der Reichen wurde wie eine Art Zuschauersport gehandhabt; sie stellten Prunk zur Schau, und die arbeitenden Massen durften ihn aus zweiter Hand mitgenießen. Von einem strikt ökologischen Standpunkt aus könnte man beinahe sagen, daß eine feudal-aristokratische Gesellschafts­ordnung gut für die Umwelt ist. Sie begrenzt die Verschwendungssucht auf so wenige, daß ökologisch verhältnismäßig wenig Schaden entsteht. Die knappgehaltenen Massen sind gezwungen, sich vor Verschwendung jeder Art zu hüten, wenn sie nicht jede Nacht hungrig zu Bett gehen wollen. Wenn das Neontelefon nur für den Bedarf einer kleinen Elite vermarktet würde, könnte die Biosphäre die überflüssige Vergeudung von Ressourcen leicht verkraften. Wie sieht es aber aus, wenn Neontelefone zu Millionen produziert und von Millionen konsumiert werden? Selbst ein solcher Discount-Luxus ist vielleicht mehr, als die Erde verkraften kann, wenn er für alle bereitgestellt werden muß.

Lester Brown vom Worldwatch Institute erklärte die Erhaltung von Ressourcen zum obersten Kriterium einer sinnvollen Umwelt­politik; was er damit meint, definiert er genauer als »die Kapazität, bestehende Bedürfnisse zu befriedigen, ohne die Zukunftsaussichten kommender Generationen zu gefährden«. Aber wer soll entscheiden, was unter »bestehenden Bedürfnissen« zu verstehen ist? Auf der Ebene der physischen Bedürfnisse können Ernährungswissenschaftler und Ärzte die Kriterien von Gesundheit mit einiger Sicherheit spezifizieren. Aber an einem bestimmten Punkt geht Ökonomie in Psychologie über, und in diesem Bereich ist es sehr viel schwieriger, objektive Kriterien festzulegen. In diesem Grenzbereich befinden wir uns jedesmal, wenn wir einen Konsumwunsch überprüfen, der über die reine physische Notwendigkeit hinausgeht. Wie werden Wünsche auf dieser Ebene zu Bedürfnissen? Diese Frage betrifft nicht nur industrialisierte Gesellschaften.


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In gewissen Stammesgesellschaften, die unter weitaus eingeschränkteren materiellen Bedingungen leben, gibt es den sogenannten Potlatch, eine Zeremonie, die Gelegenheit bietet, materielle Güter zu verschwenden und sogar zu vernichten. Die Güter werden für eben diese Gelegenheit angesammelt und aufgespart; der Akt der Verschwendung verleiht hohen Status. Das Ereignis hat den Charakter einer rituellen Entladung und wird von allen als Erfahrung zügelloser Extravaganz genossen. Durch die Industrialisierung, zumindest in ihrer Anfangsphase der primitiven Akkumulation, wurden die Chancen, eine solche Extravaganz zu erfahren, für die arbeitenden Millionen drastisch verringert — aber nur einige Generationen lang. Mangel und die Entbehrung wurden schließlich nicht nur untragbar, sondern auch überflüssig.

In der zweiten Phase jeder industriellen Wirtschaft kommt es zu einem Umschlagpunkt, von dem an Konsum nicht nur zu einem Vergnügen, sondern zur Pflicht wird. Die Wirtschaft lebt davon, daß die Waren auf dem Markt zirkulieren; also müssen raffinierte Methoden erfunden werden, um den Appetit auf mehr zu steigern. Eine ganze Werbeindustrie wird einzig zu dem Zweck geschaffen, den Konsum zu stimulieren, denn wenn nicht weiter konsumiert würde, käme das gesamte System zum Stillstand. Aber sobald unsere menschliche Schwäche für ausgelassene, zügellose Verschwendung sich mit der ungeheuren Produktivität eines industriellen Systems verbindet, ist die Katastrophe vorprogrammiert.

Frühkapitalismus verbindet sich für uns mit der Vorstellung von unmenschlicher Schinderei, unterbezahlter Arbeit und Ausbeutung bis aufs Blut. Es ist keine Frage, daß die Infrastruktur der kapitalistischen Wirtschaft einem machtlosen Proletariat abgepreßt wurde, von dem man erwartete, daß es klaglos als Arbeitsarmee des Systems fungierte. Aber schon zwei Generationen nach Marx wurde vom Heer der Werktätigen etwas völlig anderes gefordert: Nun war ihnen die Pflicht auferlegt, zwanghaft zu konsumieren. Ein Henry Ford gab bereitwillig zu, das Florieren seines Unternehmens sei davon abhängig geworden, daß seine Arbeiter sich die Blechkisten, die er produzierte, leisten konnten. Heute gibt es in Gesellschaften, in denen viele nicht einmal das Lebensnotwendige haben, einen Hunger nach »Luxusgütern«, der dem Kampf um die pure Lebenserhaltung an Intensität nahezu gleichkommt.


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Die Verdammten dieser Erde leben heute nicht mehr so weit von einem Kino, Fernsehgerät oder Videorecorder entfernt, daß sie noch nie Bilder des Lebens in hochindustrialisierten Gesellschaften gesehen hätten, Bilder von Leuten, die nicht anders sind als sie selbst und die im Wohlstand schwelgen. Sie sehen das, sie wollen es auch, sie brauchen es. Annehmlichkeiten, die für die Elenden in den frühkapitalistischen Arbeitshäusern unvorstellbar gewesen wären, gehören heute weltweit zu den Alltags­prioritäten.

Die Leidenschaft zu haben, zu besitzen, ja, sogar zu vergeuden, ist mehr als ein Ausdruck geistloser Ausschweifung. Die Gleichberechtigung der Konsumenten ist natürlich eine unvermeidliche Begleiterscheinung der politischen Gleichberechtigung. Das unveräußerliche Recht auf Streben nach Glück schließt in der modernen Welt mittlerweile einen universellen Anspruch auf frei verfügbares Einkommen ein. Die Betonung liegt auf »frei verfügbar«.

Darin liegt inzwischen die wesentliche Unterscheidung zwischen Gleichheit als einem individuellen politischen Recht und Uniformität als einer kollektiven wirtschaftlichen Grund­voraussetzung. Selbst in wohlhabenden Gesellschaften wie Großbritannien und den skandinavischen Ländern führte hohe Besteuerung, die den Spielraum des freien Konsumierens empfindlich beschnitt, dazu, daß die steuerzahlende Mittelschicht gegen den Wohl­standsstaat revoltierte. Nicht simple Gier ist in allen Fällen der Grund für den Aufruhr, sondern die Beschränkung der Möglichkeiten, auf einem freien Markt frei auszuwählen. Etwas Überflüssiges kaufen zu können, vermittelt ein Gefühl der Freiheit und der Würde.

Eine demokratische Gesellschaftsordnung muß notwendigerweise eine ökologische Ordnung sein, und je authentischer demokratisch eine Gesellschaftsordnung ist oder werden will (das heißt, daß Gleichberechtigung in bezug auf den Zugang zu Machtpositionen und Gütern keine Fiktion, sondern Realität ist), desto realer muß die kollektive ökologische Intelligenz der Gesellschaft sein. Normen des Konsums, die von einer aristokratischen Oberschicht und von der frühen industriellen Bourgeoisie etabliert wurden, können einfach nicht auf Gesellschaften en masse übertragen werden.


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Vielmehr müssen die Bedürfnisse, die solchen Normen zugrunde liegen — das Verlangen nach Besonderheit, Würde, persönlichem Wert —, aufgedeckt, neu überdacht und in andere Bahnen gelenkt werden. Die Ambitionen, die dahinterstehen, müssen bis in ihren tiefsten Kern zurückverfolgt werden. Was bedeutet der alte Slogan »Gleiches Recht für alle« im praktischen ökologischen Sinn?

 

   Ausgewogenheit   

 

Freud lehrte uns, Gesellschaften hätten zwei grundlegende Möglichkeiten, mit moralischer Verderbtheit umzugehen. Die Gesellschaft kann versuchen, das unmoralische Handeln durch eine Kombination von Einschüchterung und Bestrafung zu unterdrücken. Wie jedes unartige Kind weiß, funktioniert das nur, solange eine wachsame Autorität bei der Hand ist, die das Diktat durchsetzt. Schaut diese Autorität einmal weg, kommt das Delikt wieder zum Vorschein und wird nun, als verbotenes Vergnügen, möglicherweise mit um so größerem Genuß verübt. 

Laut Freud war eine Gesellschaft besser beraten, wenn sie Wege fand, die inakzeptablen Verhaltensweisen in akzeptable, ja sogar konstruktive Formen der Befriedigung umzuwandeln. Diesen Vorgang nannte er Sublimation; sublimieren — so könnte man sagen — heißt einen Rest von Würde oder Größe retten, die in sonst minderwertigen Verhaltensweisen verborgen liegen. Die Strategie, die die Umweltbewegung bisher im Umgang mit dem Laster des verschwenderischen Konsums verfolgte, war im großen und ganzen die der Repression. Engagierte Ökologen zeigten zu oft doktrinäre Intoleranz in ihrer scharfen, unnach­sichtigen Kritik an unseren menschlichen Schwächen.

In der Umweltpolitik engagierter ökologischer Gruppen gibt es eine eisern asketische Unterströmung, die verhinderte, daß der Zusammenhang zwischen zügellosem Konsum und der Suche nach persönlicher Erfüllung erkannt, geschweige denn mit Nachsicht behandelt wurde.


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Es mag armselig erscheinen, wenn solche tiefen persönlichen Bedürfnisse an einem Objekt wie dem Neontelefon festgemacht werden, aber die Strategie des Scheltens und Beschämens wird an den verschwenderischen Gewohnheiten der Konsumgesellschaft nie etwas ändern, wenn man nicht fragt, warum Menschen den Reichtum des Planeten so oft in dieser Weise vergeuden. In gewissem Sinn braucht niemand ein Neontelefon; in einem anderen, wichtigen Sinn steht jedem eines zu. Wie können wir es erreichen, Luxus demokratisch verfügbar zu machen, ohne daß er ökologisch untragbar wird?

Vor einem Jahrhundert, als in der westlichen Welt militaristischer Pomp der allgemeine Standard für nationale Größe war, erkannte der Philosoph William James, daß viele der edelsten menschlichen Eigenschaften — wie Mut, Opferbereitschaft, Loyalität und Tapferkeit — einer tragischen Verwechslung mit dem krassen Chauvinismus der Epoche zum Opfer gefallen waren.

James meinte, die politische Aggressivität müsse zwar abgeschafft werden, aber die damit verknüpften Tugenden solle man erhalten und fördern. Was gebraucht würde, sei »ein moralisches Äquivalent zum Krieg«. 

Solange William James lebte, wurde nichts dergleichen gefunden. Aber in unseren eigenen Tagen gibt es Gruppen wie Greenpeace, die vielleicht auf genau die Lösung gestoßen sind, die James vor Augen hatte: ein ökologisches Äquivalent zur Kriegführung, ein entschlossenes Engagement für die Verteidigung der Biosphäre, das eine Art speziesübergreifende Ritterlichkeit wachruft.

 wikipedia  William_James  1842-1910

Eine ähnliche Strategie der kreativen Umlenkung muß auf das Problem des zügellosen Konsums angewandt werden. Die Macht der industriellen Produktion ist eine der größten Leistungen unserer Spezies; nie waren wir der Möglichkeit so nahe, eine Welt zu schaffen, in der Gesundheit, langes Leben, Muße und materielle Sicherheit für alle und ein wahrhaft globale Gemeinschaft potentiell zu erreichen sind. Aber wir sind in Gefahr, dieses gesamte Potential zu verlieren, wenn es uns nicht gelingt, ein moralisches Äquivalent zum zügellosen Konsum zu finden.


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In einem seiner letzten Werke, dem »Pentagon der Macht«, setzte Lewis Mumford, der erste Historiker der industriellen Kultur, sich mit diesem Problem auseinander und empfahl die Einführung einer neuen Kategorie in das ökonomische Denken: Ausgewogenheit — ein Gefühl des Genügens, das nur erreicht werden kann, wenn Menschen zu der Frage ermutigt werden: »Reichtum — wozu?«

»In einer Ordnung der Ausgewogenheit ist Wohlstand zulässig, aber kein Zwang; Ausgaben über das Notwendige hinaus sind möglich, wenn es darum geht, die höheren menschlichen Bedürfnisse nach Wissen, Schönheit oder Liebe zu befriedigen. (...) Gleichzeitig kann eine solche Ordnung in bezug auf weniger würdige Ziele strengste Sparsamkeit verlangen. Emersons Rat, auf den niedrigen Ebenen zu sparen und auf den höheren Ebenen Großzügigkeit walten zu lassen, trifft den eigentlichen Kern dieser Konzeption.«

Mumford glaubte, daß man unter Stammesgesellschaften hie und da Beispiele für eine Wirtschaftsform der Ausgewogenheit finden könne, aber sein Ansatz war nicht rückwärtsgewandt. In Mumfords Sicht wohnte »primitivsten Formen der Ausgewogenheit« oft die Gefahr der Stagnation inne; sie waren isoliert, dürftig, ereignislos, mit einer Tendenz, »in apathische Kargheit und Abstumpfung« abzusinken. Mumfords Interesse lag darin, industriellen Fortschritt mit Ausgewogenheit vereinbar zu machen. »Es geht für kommende Generationen nicht darum, den Weg zurück zu einer solchen primitiven Ausgewogenheit zu suchen, sondern nach vorn zu schauen und ihre Pläne auf eine großzügigere Lebensweise hin auszurichten.« Wo wahrer Wohlstand herrscht, kann man sich durchaus »den Luxus leisten, dem trügerisch Luxuriösen den Rücken zu kehren«.

Was Mumford im Sinn hatte, ist vielleicht so wenig utopisch wie die heute bereits existierenden Bestrebungen, Leute dazu anzuregen, sich ihre Leistungen in der Währung der Muße honorieren zu lassen (zum Beispiel in Form von Sabbatjahren), statt in Lohn oder Gehalt, in Form freier Zeit zum Nachdenken, Kreativsein, Spielen, Meditieren.


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Muße ist etwas anderes als »Freizeit«, und ich bezweifle, daß irgendjemand auf die Idee käme, daß Muße etwas mit Konsum zu tun hat. Bis zu einem gewissen Grad ist das »Job-sharing« — zwei Leute teilen sich einen Job — bereits ein Schritt in die Richtung, Geld für Muße einzutauschen, obwohl oft genug die schlichte Notwendigkeit dahintersteht, einer Familie ein zweites Einkommen zu verschaffen. Andererseits: Kann die Bedeutung von Muße in einem Wirtschaftssystem, das seine Kalkulationen weiterhin an einer so fiktiven Größe wie dem Bruttosozialprodukt festmacht, wirklich gewürdigt werden? Aus dem Blickwinkel des Bruttosozialprodukts gesehen ist Muße die Verschwendung von Zeit, die für die Produktion von Neontelefonen eingesetzt werden könnte.

Ausgewogenheit ist kein ökonomischer Berechnungsfaktor; sie ist keine Größe, mit der Vorgänge auf dem Markt gemessen werden können, und sie gibt keine Richtung für die Finanzpolitik vor. Der Wert dieser Idee — wie vieler anderer guter Ideen — liegt in ihrer sokratischen Provokation. Sie fordert uns dazu heraus, unsere wirklichen Bedürfnisse zu definieren, zunächst auf der persönlichen, dann auf der sozialen Ebene. Wenn man Wirtschaftsexperten, egal welcher Couleur, eine solche Herausforderung vorlegte, wäre die Antwort vorhersehbar: »Das sind Fragen der Philosophie oder der Ethik, mit denen wir nichts zu tun haben.« Aber schon dies ist eine bedeutsame Aussage. Sie enthüllt die selbsterklärten Grenzen des wirtschaftlichen Expertentums und zeigt uns, daß wir anderswo nach dem Geheimnis einer Wirtschaftsform der Ausgewogenheit suchen müssen. 


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   Utopische Transformationen   

 

Während Ökonomen sich stets scheuten, Erklärungen zu dem heiklen Thema abzugeben, was als angemess­ener Lebensstandard zu betrachten sei, ist dies der eigentliche Stoff der utopischen Literatur. Utopien sind in bezug auf das Verhältnis von Notwendigem und Luxus in einem Spektrum angesiedelt, das sich vom Asketischen bis zum Hedonistischen erstreckt. 

Platons Staat und Thomas Morus' Utopia bilden den einen Pol; sie favorisieren einen asketischen Konsumstandard, zumindest für jene, die den Kriterien der Gemeinschaft für Aufgeklärtheit genügen. Platons Philosophen-Könige leben in mönchischer Einfachheit, um die Reinheit ihrer Seelen zu bewahren. Zu Morus' Idealgesellschaft gehört eine Kaste freiwillig Dienender, die in Armut leben, die Schmutzarbeit tun, sich um die Alten und die Kranken kümmern, ohne dafür Bezahlung zu verlangen; ihr einziger Lohn ist das Lob der Gemeinschaft. 

In beiden Fällen wird diese strenge Askese nicht von der gesamten Bevölkerung erwartet; die Grundidee liegt vielmehr in dem hohen Prestige, das den selbstlosen Philosophen und Heiligen in diesen fiktiven Gesellschaften zugeschrieben wird. Ihr Beispiel soll die anderen Mitglieder der Gesellschaft dazu veranlassen, ihren Appetit auf materielle Güter zu zügeln. Das steht in scharfem Kontrast zu unserer gegenwärtigen Fixierung auf den Lebensstil der Reichen und Berühmten — ein zentrales Motiv in den Medien, das Neid einsetzt, um hohen Konsum zu fördern.

In bezug auf intellektuelles Streben erwartete Platon wenig von den nichtphilosophischen Massen; er ging davon aus, daß diese weiterhin an ihrem kreatürlichen Behagen festhalten würden. Thomas Morus war dagegen von stärkerem demokratischem Optimismus erfüllt; er meinte, daß lebenslanges Lernen, ein Vergnügen des Geistes, das nur Muße und bescheidene Mittel erfordert, zum Konzentrationspunkt der gesamten Gesellschaft werden könne, vorausgesetzt, allen wäre ein verläßliches Existenzminimum garantiert. Fast zweitausend Jahre trennen Morus von Platon, aber dennoch lebten und schrieben beide unter Bedingungen vorindustrieller Kargheit, die einen niedrigen Konsumstandard verlangte. Beide etablierten in ihren Utopien eine Basisstrategie für die Wirtschaftsform der Ausgewogenheit; sie verlegten ihre Hoffnungen auf Glück und Erfüllung in einen nichtmateriellen Reichtum, der das Bedürfnis zu erwerben und zu konsumieren verringert.


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Erfüllung auf einem höheren Anspruchsniveau wird hier als Alternative zu materieller Maßlosigkeit angeboten. Die Psychologie dieser Versuche liegt klar auf der Hand: Dem eingeschränkten Konsum muß eine positive Qualität verliehen werden. Erziehung und Überzeugung müssen daraufhinwirken, das seelisch Gute zu einem größeren Anreiz zu machen als die Vergnügungen des Fleisches. Die Mönchsorden des Mittelalters waren ganz und gar auf eine Lebensform der Ausgewogenheit hin ausgerichtet. Die Regel war einfach: Ora et labora. Ein Leben der Arbeit und des Gebets disziplinierte die fleischlichen (insbesondere die sexuellen) Gelüste und produzierte außerdem einen beachtlichen kulturellen Reichtum.

In der Hochrenaissance stellte Francois Rabelais das mönchische Ideal auf den Kopf, um das andere Extrem des utopischen Spektrums auszumalen: hedonistische Muße inmitten unerschöpflicher Fülle. In seiner fiktiven Abtei von Theleme schwelgen die Bewohner in einer fürstlichen Pracht, die im Vergleich mit dem allgemeinen Lebensstandard des frühen sechzehnten Jahrhunderts der Stoff war, aus dem die Träume sind. Aber ein Jahrhundert später gab Francis Bacon der utopischen Tradition eine entscheidende Wendung. Er spielte mit dem Gedanken, daß die Hoffnung auf demokratisch verteilten Überfluß — ein genügendes Maß an technologischer Macht über die Natur voraussetzt — nicht unrealistisch sei. 

Bacons »Neues Atlantis« nimmt die Stellung der ersten wissenschaftlichen Utopie ein, es ist eine kühne Voraussage kommender Entwicklungen auf der Basis der Annahme, daß die grenzenlose Vermehrung materieller Güter im Rahmen des Möglichen liege. Diese Vision schwebte als Leitbild über dem gesamten Prozeß der Industrialisierung, als einzige Rechtfertigung für die Entbehrungen, die eiserne Disziplin, die gewaltsame Entwurzelung von Menschen und die Verunstaltung der Umwelt, die dieses große Abenteuer forderte. Wenn wir Rabelais und Bacon zusammennehmen, haben wir das Versprechen auf aristokratische Opulenz für alle auf der Grundlage einer unbegrenzten Warenproduktion. Mit dieser Möglichkeit in Sichtweite ging das Konzept der Ausgewogenheit unter; das Fundament für die ökologische Krise der Gegenwart war gelegt.


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Erst als die Vergeudung, die Schinderei und der Schmutz der Industrialisierung der historischen Landschaft ihren Stempel aufgeprägt hatten, wurde die Ausgewogenheit, die das Ideal der mittelalterlichen Kloster­gemein­schaften war, wieder zu einem zeitgemäßen Thema. 

William Morris, der viktorianische Dichter, Maler und Sozialphilosoph, nahm die Diskussion in seinem utopischen Roman »News from Nowhere« wieder auf; er übte scharfe Kritik sowohl an der Häßlichkeit als auch an der Ungerechtigkeit des industriellen Systems und verlegte seine Hoffnungen auf eine ausgewogene wirtschaftliche Ordnung in eine Sozialreform unter ästhetischen Gesichtspunkten. In Morris' utopischem »Nowhere« ist die Ästhetik der übergeordnete Kontext des Wirtschaftslebens.

Die Sensibilitäten der Menschen sind so geschult, daß sie an Gütern die Qualität schätzen, nicht die Quantität. Für Morris, der ein scharfer Gegner der maschinellen Produktionsweise war, bedeutete das eine Handwerkskunst auf hervorragendem Niveau, die für die Seele ebenso wertvoll war wie für das Behagen des Körpers. Das von Morris begründete Arts and Crafts Movement (Kunst- und Handwerksbewegung) entsprang aus der Überzeugung, daß ein einziger vorzüglich gearbeiteter, ästhetisch befriedigender Gegenstand mehr wert sei als ein Dutzend billiger industriell gefertigter Produkte. In Morris' utopischer Gesellschaft mit ihrem geschulten Blick für »alles, was gut gemacht und seinem Zweck vollkommen angemessen ist«, gäbe es zweifellos keinen Markt für Neontelefone.

 

Man muß sich Morris' entschiedener Ablehnung der industriellen Produktionsweise nicht unbedingt anschließen, um den großen praktischen Wert dieser Haltung zu erkennen. Schon aus Gründen der ökologischen Vernunft wird es in Industriegesellschaften an einem gewissen Punkt vielleicht zu einer Renaissance von Handwerkskunst auf hohem Niveau kommen, zu einer Wieder­belebung der Wertschätzung von gutem Design und Haltbarkeit, als Alternative zu der ressourcenverschwendenden Produktion von Wegwerfprodukten. Wenn die Befriedigung der physischen Notwendigkeiten des Lebens mehr als gewährleistet ist, könnte der Konsum dadurch diszipliniert werden, daß man in dem, was man besitzt, nach ästhetischer Vollendung strebt.


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Morris' »Nowhere« ist in einem postindustriellen London des einundzwanzigsten Jahrhunderts angesiedelt, einer Stadtlandschaft, die sich vor allem durch ihr klares Wasser, ihre reine Luft und ihre gesunde Fauna und Flora auszeichnet — Annehmlichkeiten, die die Londoner seit Jahrhunderten nicht mehr genossen hatten. In Morris' utopischer Bilanz werden diese natürlichen Schönheiten als der wahre Reichtum der Gesellschaft verbucht. Bemerkenswert ist außerdem, daß die Hauptbeschäftigung, der die Menschen nachgehen, um ihren Lebensunterhalt zu erwerben — das Handwerk —, genau die Art von ausgleichender, beruhigender und seelisch befriedigender Tätigkeit darstellt, die heute universell als »Beschäftigungs­therapie« für die gequälte und gestreßte Psyche empfohlen wird. Seinen ästhetischen Instinkten folgend fand Morris den Weg bis zur Peripherie einer Ökopsychologie.

In ihrer ökologischen Utopie »Woman on the Edge of Time« schlägt Marge Piercy einen anderen Weg zur Ausgewogenheit vor. In der von ökologischer Intelligenz geprägten Zukunft, die sie imaginiert — einer globalen Gesellschaft gut geführter ländlicher Kommunen —, gibt es eine weltumspannende »Leihbibliothek« für Luxusgegenstände, die der gesamten Bevölkerung zugänglich ist; Juwelen, Kunstwerke, schöne Gewänder können für einen bestimmten Zeitraum ausgeliehen, benutzt, bewundert werden. Jede und jeder hat die Chance, mit diesen schönen und wertvollen Dingen umzugehen, sie zu würdigen und zu genießen. Auch das ist eine Idee, über die nachzudenken sich lohnt. Kann man die Freude an wertvollen Objekten von privater Eigentümerschaft unabhängig machen? Können wir den Genuß teilen, wie wir den geistigen Reichtum einer öffentlichen Bibliothek miteinander teilen? Könnte es nicht auf der höchsten Stufe der industriellen Entwicklung eine ökologische Notwendigkeit sein, mehr öffentliche Gelder auf leicht zugängliche, dezentral angelegte Museen, Galerien, botanische Gärten, Konzertsäle zu verwenden?

 

Ernest Callenbach entwarf in seinem Roman »Ökotopia« eine der differenziertesten ökologischen Utopien. Er geht mit dem Problem von Notwendigkeit und Luxus um, indem er eine Wirtschaft des »stabilen Gleichgewichts« imaginiert; die Ökotopianer finden nicht im Konsumieren Befriedigung, sondern in einer großen Vielfalt billiger, nichtmaterieller Vergnügungen.2


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Wie die Bewohner von Morris' »Nowhere« haben die Ökotopianer wenig persönlichen Besitz, aber was sie besitzen, ist handgefertigt, schön und von eleganter Form; der vorherrschende Wohn- und Bekleidungsstil ist phantasievoll und individualistisch. Die Arbeitswoche wurde auf zwanzig Stunden zurückgeschraubt; abgesehen davon, daß so mehr Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, wird Muße zu einem eigenständigen Wert. Man verwendet diese Zeit zur Ausübung von Handwerk und Kunst und für regenerierende Sportarten, insbesondere für das Wandern, Klettern und Campen in der leidenschaftlich verteidigten und beschützten Wildnis, die von allen Ökotopianern als das größte öffentliche Gut betrachtet wird. Außerdem gibt es reichlich Gelegenheit zu freizügigen sexuellen Vergnügungen — weitaus mehr, als der gesetzte viktorianische Morris sich in seinen Phantasien je gestattet hätte. Callenbachs Version der utopischen Ausgewogenheit hat das Flair eines »Human-Potential«-Treffpunkts wie das Esalen-Institut in Kalifornien. Seine Ökotopianer finden Genuß und Befriedigung im Miteinander, in der Schönheit der Landschaften, in einfachen sinnlichen Vergnügen, die nicht auf Kosten wertvoller Ressourcen gehen.

Vom Standpunkt der psychoanalytischen Orthodoxie aus müßten beide Pole des traditionellen utopischen Spektrums — hedonistische Üppigkeit und asketische Strenge — als »neurotisch« qualifiziert werden. Das Streben nach Behagen und Luxus würde als eine Form der verdrängten analerotischen Fixierung auf das Zurückhalten eines wertgeschätzten Objektes, das ursprünglich die Fäzes des Kindes waren, interpretiert. Die Lust am Geld ist die Übertragung dieses frustrierten kindlichen Bedürfnisses auf das offizielle gesellschaftliche Symbol des Reichtums. Der Asketismus, der den anderen Pol bildet, ist aber nicht weniger neurotisch. Er stellt eine Form des Triebverzichts dar, die als masochistisch charakterisiert werden kann; dahinter stehen in aller Regel Schuldgefühle als Motivation.


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Das Konzept der Ausgewogenheit sucht die utopischen Extreme jedoch zu mäßigen und innerhalb eines ökologischen Kontexts zur Synthese zu bringen. Statt einer Form selbstauferlegter Bestrafung kann die Ökonomie der Mäßigkeit der Weg zu einer Schlichtheit sein, die es erlaubt, andere Bedürfnisse zu befriedigen. Das Ziel ist nicht kathartisches Leiden, sondern Vergnügen einer höheren Ordnung. Freud hätte das Streben nach dieser übergeordneten Qualität als »Verschiebung nach oben« bezeichnet, als Sublimation eines Triebziels, das in seiner »rohen« Form nicht befriedigt werden kann. Aus einer weiteren ökologischen Perspektive heraus betrachtet ist diese Sublimation jedoch etwas zum Überleben Notwendiges und konstituiert so einen psychologischen Imperativ.

 

   Ökologie, Ethik und Ästhetik   

 

Wenn je ein moralisches Äquivalent zum zügellosen Konsum gefunden werden soll, dann muß es innerhalb mehrerer Dimensionen gedacht werden, der ökologischen ebenso wie der ethischen, der ästhetischen und der spirituellen. Seine allgemeine Formulierung würde etwa so aussehen: Ökologie definiert den Rahmen, innerhalb dessen wir entscheiden, was wir der planetaren Biosphäre entnehmen und zumuten können: Ethik bildet den Maßstab dafür, wie der Wohlstand verteilt werden soll, insbesondere im Hinblick auf das Existenzminimum, das jedem einzelnen Individuum rechtmäßig zusteht: Ästhetik und Spiritualität sind die Grundlage der Wertvorstellungen, die die oberen Grenzen des materiellen Konsums festlegen.

Mumford lag richtig mit seiner Überzeugung, daß die Normen der Ausgewogenheit, die wir für die moderne Welt suchen, einen Wohlstand voraussetzen, den nur die industrielle Technologie ermöglichen kann. Aber der Überfluß muß in demokratischer Weise aufgeteilt werden, bevor überhaupt die Möglichkeit besteht, daß er von Eliten oder Individuen vergeudet wird. Das bedeutet, unter der Wirtschaft ein »Sicherheitsnetz« auszuspannen, das selbst von konservativen Fiskalpolitikern inzwischen widerwillig als öffentliche Aufgabe anerkannt wird.


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Und es muß ein großzügig weites, verläßliches Sicherheitsnetz sein. Keine fortgeschrittene industrielle Wirtschaft ist genötigt, Tausende von Mitgliedern der Gesellschaft dem permanenten Zustand der Obdachlosigkeit und der Arbeitslosigkeit oder einem Leben unterhalb der statistischen Armutsgrenze auszuliefern. Daß es dennoch geschieht, ist nicht nur inhuman, sondern auch kollektiv selbstzerstörerisch. Solange der Zugang zu dem hohen, gesunden Lebensstandard, den industrielle Produktivkraft, moderne Hygiene und fortgeschrittene Medizin möglich machen, nicht allen garantiert ist, werden wir von dem angstvollen Zwang, zu raffen, zu horten, uns vollzustopfen, nie frei werden.

Die Privilegierten werden noch gieriger konsumieren, in der Angst, es könnte irgendwann nicht mehr genug da sein. Die Habenichtse werden noch wütender und verzweifelter um die Gelegenheit kämpfen, sich endlich auch ihr Stück vom großen Kuchen abzuschneiden. Inadäquate und demütigende Sozialsysteme tragen nichts zur Entwicklung ökologischen Verantwortungs­gefühls bei, weder auf Seiten derer, die dafür Steuern zahlen, noch auf Seiten jener, die davon leben müssen.

Dem werden auch die meisten ökologisch Engagierten zustimmen; über diesen Minimalstandard hinaus ist das Bild der Zukunft, das sie zeichnen, jedoch oft bedrückend karg und asketisch. Es beinhaltet keinerlei Großzügigkeit, keinen Spielraum für ein gewisses Maß an frei verfügbarem Einkommen, das gespart oder ausgegeben werden kann, als Ausdruck eines individuellen Geschmacks, der in einem ansonsten verbissen uniformen, staatlich kontrollierten System der sozialen Sicherheit für Vielfalt und Abwechslung sorgt. Aber wenn man dieses Maß an Großzügigkeit erlaubt, dann muß man auch damit rechnen, daß eine gewisse Menge unnützer, überflüssiger Produkte auf dem Markt zirkuliert. Die angemessene Reaktion auf die verschwenderische Vermehrung solcher Überflüssigkeiten wäre, jene tieferen Motivationen ästhetischer und spiritueller Art anzuzapfen, die in den Utopien Platons, Monas' und Morris' zu den grundlegenden Wesensmerkmalen der Ausgewogenheit gehören.


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Der erste Schritt in diese Richtung ist in jedem Fall die Neubewertung der Muße, die dann zu einem wirtschaftlichen Gut höchster Ordnung wird. Muße bedeutet die Chance, sich weiter zu entwickeln, kreativ zu sein, frei über die eigene Zeit zu verfügen, die Welt zu genießen. Von Muße sprach auch John Ruskin, als er erklärte, es gäbe »keinen Reichtum außer dem Leben«; wofür sonst all die Mühe, die Anstrengung, die Produktion, wenn nicht für diesen persönlichen Sabbat, an dem wir uns in Muße dem hingeben, was unsere Seelen heilt und nährt?

William Morris hätte genau gewußt, was mit dieser Muße anzufangen wäre. Er hätte sie in die Kultivierung des öffentlichen Geschmacks investiert, insbesondere im Hinblick auf das Handwerk und die Künste. Menschen werden nur dann aufhören, die Welt mit mehr unnützem Schund zu überziehen, wenn sie Schund auf den ersten Blick erkennen, und wenn sie die Abwesenheit von Schund und Müll in einer offenen Landschaft oder einem gesunden, organisch gewachsenen Stadtviertel zu würdigen wissen. Es wäre eine Bankrotterklärung, wenn wir zu dem Schluß kämen, daß die populäre Kultur in unserer Zeit nicht dahin erzogen werden könne, das Hervorragende so zu würdigen, wie sie es zur Zeit Sophokles' oder Shakespeares tat — beides Dramatiker, die für die breite Masse schrieben. 

Was wir am meisten brauchen, wenn wir uns dieser großen erzieherischen Aufgabe widmen wollen, ist tiefere Einsicht in die Tatsache, daß die Kunst bei der Heilung unserer ökologischen Krankheiten eine lebenswichtige Rolle spielt. Sie ist der sanfte Weg, den zügellosen Appetit zu disziplinieren. 

 

   Narren Gottes   

 

Aber wir brauchen noch mehr als eine erhöhte ästhetische Sensibilität, um das Konzept der Ausgewogen­heit voll zur Entfaltung zu bringen. Eine weitere Utopie rundet das Bild ab. In einem seiner letzten Romane versucht Aldous Huxley, selbst eine Antwort auf die erschreckende Zukunftsvision zu formulieren, die er Jahre zuvor in »Schöne neue Welt« entworfen hatte.


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Sein Roman »Eiland« ist die umfassendste ökologische Utopie, die je geschrieben wurde. Huxley war überzeugt, daß Spiritualität und Wissenschaft sich wechselseitig fördern und letztlich zu einer harmonischen Synthese gebracht werden müssen. Er weigerte sich zu glauben, daß die »ewige Philosophie« — seine Bezeichnung für die universellen Lehren, die man an der Wurzel aller großen religiösen Traditionen findet — eine feindselige oder ignorante Haltung gegenüber den großen Erkenntnissen der modernen Wissenschaft, insbesondere jenen der Biologie, verlangte. In seiner Utopie beginnt das Studium der Tiefensysteme im Kindergarten, als Einführung in Spiritualität und Ethik:

»Kinder dürfen nicht den Eindruck haben, daß etwas für sich allein besteht. Es muß ihnen von Anbeginn klargemacht werden, daß alles, was lebt, in Beziehung zueinander steht. Wir zeigen ihnen das in Wald und Feld, im Teich und im Bach, im Dorf und ringsum auf dem Land. Und lassen Sie mich hinzufügen, (...) daß wir stets die Wissenschaft wechselseitiger Beziehungen zugleich mit ihren ethischen Aspekten lehren. Ausgewogenheit, Geben und Nehmen, nichts Übersteigertes - das sind Naturgesetze, und in Begriffe der Moral übertragen sollten diese Gesetze auch von Mensch zu Mensch gelten. (...) Elementare Ökologie führt so geradewegs zu elementarem Buddhismus.«11

Stärker säkular angelegte Utopien versagen oft darin, für das gute, sinnvolle Leben, das die Menschen führen sollen, eine überzeugende Motivation zu liefern; Huxley dagegen gründet die Ausgewogenheit, die seine fiktiven Inselbewohner genießen, auf seine eigene Version der altindischen Veda-Mystik. In der Spiritualität der Gesellschaft liegt das Geheimnis ihrer wirtschaftlichen Ausgewogenheit und ihrer Vernunft. Freud sah in Religion und Spiritualität nur eine vielleicht notwendige, aber nichtsdestoweniger erbärmliche Illusion, ein schwächliches Sich-Hinwegtrösten über die Tragik der Existenz, die außerdem zur Verleugnung des Körpers und zur Kreuzigung des Geistes führte.


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Huxley dagegen imaginierte eine Form der Spiritualität, die Befriedigungen des Körpers und des Geistes zuließ, von denen Freud nicht zu träumen gewagt hätte. In Huxleys Idealgesellschaft werden Halluzinogene wie LSD im Rahmen eines therapeutischen Yoga intelligent genutzt. Außerdem werden die Inselbewohnerinnen und -bewohner von der Pubertät an grundsätzlich und ausführlich in Maithuna unterrichtet, einer tantrischen Form der Sexualität, die außerdem als die meistverwendete Verhütungsmethode der Gesellschaft dient.

Huxley überholt Freud in seiner Behandlung der Sexualität. Statt sich mit einer dürftigen Sublimation von Libido zufriedenzugeben, macht er sich daran, die Ganzkörper-Erotik unserer ursprünglichen Triebstruktur wieder in ihre Rechte einzusetzen:

»Womit wir geboren werden, was wir im Lauf unserer ganzenfrühen und späteren Kindheit erfahren, ist eine Sexualität, die den ganzen Organismus durchdringt. Das ist das Paradies, das wir erben. Aber das Paradies geht verloren, sobald das Kind heranwächst. Maithuna ist der organisierte Versuch, dieses Paradies wiederzugewinnen.«

Aufgrund seiner liberalen und facettenreichen religiösen Neigungen war es Huxley möglich, seine Idealgesellschaft mit einer eklektischen, nichtasketischen Spiritualität auszustatten, die mit dem Streben nach ökonomischer und ökologischer Ausgewogenheit Hand in Hand geht. Er greift hier auf eine kulturelle Vorstellung zurück, die in den östlichen Religionen häufig auftaucht: auf das Bild des glücklichen Weisen, der in freier und heiterer Schlichtheit in Übereinstimmung mit der Natur lebt, auf allen Ebenen geistig wach und mit völlig lebendigen Sinnen. In den Überlieferungen des Taoismus und des Zen-Buddhismus kommen solche Gestalten vor, Weise von sprühendem Humor, die sich an keine gesellschaftliche Konvention gebunden fühlen und mit dem feierlichen Ernst und der Dulderhaltung des westlichen Mönchstums nicht das mindeste gemein haben. Selbst wenn ihre Lebensweise enthaltsam und mäßig ist, hat sie nichts an sich, das an die Kasteiung des Fleisches erinnert.

Es ist schwierig, sich ein auf dem Christentum basierendes Utopia vorzustellen, das nicht trostlos karg und asketisch wäre. Das notwendige Gefühl der unkomplizierten Einheit mit der Natur ist nicht genügend präsent. Für das Christentum haftete dem »wilden Mann« des Mittelalters — einem ungebundenen Geist, der die Wälder durchstreifte und das Leben Adams vor dem Sündenfall führte — zuviel vom Fluidum des heidnischen Gottes Pan an; diese Figur konnte sich nicht mit dem Bild des christlichen Heiligen oder Weisen verbinden. Dennoch konnte sich auch im Christentum ein Aspekt der fröhlichen Weisheit halten, verkörpert in den »Narren Gottes«, in Gestalten wie Franziskus von Assisi und seinem närrischen Anhänger Bruder Wacholder, die ihr Entzücken in der Gesellschaft von Vögeln, Bäumen, der Sonne und den Sternen fanden. 

Es ist kein Zufall, daß diese Art der spontanen Begeisterung mit der pantheistischen Liebe zur Natur in Verbindung steht. Es ist, als habe der Weise den großen Organismus der Erde in sich aufgenommen, dessen Vielfalt und Fruchtbarkeit er nun in sich selbst erfährt und ekstatisch besingt. Es gibt hie und da einige tapfere und kämpferische christliche Denkerinnen und Denker — wie Father Matthew Fow, Father Thomas Berry, Rosemary Ruether, die sich darum bemühen, ihrer Tradition ökologische Tiefe zu verleihen.

Thomas Berry hält uns vor Augen:

»In unserer Beziehung zur Erde sind wir jahrhundertelang autistisch gewesen. Erst jetzt horchen wir allmählich mit einiger Aufmerksamkeit und einiger Antwortbereitschaft auf die Forderungen der Erde, unseren industriellen Angriff einzustellen (...) und unsere menschliche Teilnahme an der großen Liturgie des Universums zu erneuern.« 4)

Erfahrungen dieser Art sind Teil einer Naturmystik, die all das verkörpert, was die Tiefenökologie uns lehrt; sie sind Teil einer höheren Vernunft, die in der Ausgewogenheit mehr Glück und Zufriedenheit finden wird, als Maschinen sie uns je geben können.

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 Von Theodore Roszak 1992