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10   Eine Revision des Narzißmusbegriffs 

 

Ich sehne mich nach einem Selbst, das kontinuierlich und beständig ist, das — unberührt von allem, was wir uns aneignen und was wir abwerfen — eine grüne Spitze durch die welken Blätter und den Moder treibt, das durch Jahre der Dunkelheit eine schuppige Knospe hervorbringt, bis eines Tages das Licht sie entdeckt und zur Blüte aufbrechen läßt — und wir sind lebendig — wir blühen für die Zeit, die uns auf der Erde gegeben ist. Dies ist schließlich der Augenblick, für den wir leben.  -Katherine Mansfield: Scrapbook-

Weigerung     Narziß    Unschuld    Vision   Sokrates   Selbsterkenntnis

   Das Monument  

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Historiker werden über die amerikanische Intervention in Vietnam wohl nie etwas Gutes zu sagen haben. Sie war die verdorbene Frucht einer fehlgeleiteten, zutiefst betrügerischen und schlecht ausgeführten Politik, das moralisch kompro­mittierendste militärische Abenteuer, auf das Amerika sich je eingelassen hat. Alles, was die Gesellschaft fertigbrachte, um »den Krieg hinter uns zu lassen« (wie die Politik der von oben angeordneten gesellschaftlichen Amnesie in Regierungskreisen genannt wird) war, die Erinnerung daran im Blut eines weiteren, eines »erfolgreichen« Krieges zu ertränken, der fünfzehn Jahre später gegen einen schwächeren Gegner geführt wurde. Dennoch hinterließ der Vietnamkrieg neben seinen vielen tiefen Verwundungen und Narben ein ethisch bedeutsames Wahrzeichen: ein Monument.

Das Vietnam Memorial in Washington ist, vom ästhetischen Standpunkt aus betrachtet, vielleicht das zurückhaltendste öffentliche Denkmal in der Geschichte. Aus diesem Grund lohnt es sich, über sein einziges hervor­stechendes Merkmal nachzudenken: Es führt die Namen aller Gefallenen auf. Keine idealisierte Gestalt oder symbolische Gruppe steht über dem Grabmal der größten nationalen Gewissensqual; da ist nur die schmucklose Mauer, auf der die Namen der Toten verzeichnet sind.

Und eben deshalb waren die Besucher des Vietnam Memorials von Anfang an darum bemüht, diesen Namen persönliche Achtung zuteil werden zu lassen; sie brachten Fotos, Erinnerungsstücke und Blumen mit; sie standen in schweigender Trauer vor dem einen Namen, der für sie von Bedeutung war, berührten ihn, drückten ihre Lippen darauf. Die Ausdruckslosigkeit der Mauer forderte dazu heraus, persönliche Zeichen zu setzen; die Gesten der Trauer wurden zu einem Bestandteil des Monuments.

Die Namen auf der Mauer haben nicht dieselbe Funktion wie Namen auf Grabsteinen. Ein Denkmal soll das kollektive Gefühl einer Gesellschaft für ein Ereignis von großer Tragweite ausdrücken. Die Mauer tut das, indem sie auf alles verzichtet, was in der Vergangenheit für solche Zwecke eingesetzt wurde: Plattitüden, heroische Bilder, patriotische Embleme. Es bleibt nichts als die schreckliche Realität: die Namen der Toten. Was sonst hätte eine Nation, die über den Krieg so entzweit war, tolerieren können? In einem Interview in der New York Times sagte die Bildhauerin Maya Lin über das von ihr geschaffene Monument:

»Ich reduzierte das Problem auf die Frage: Wie sollen alle diese Menschen den Schmerz überwinden, jemanden verloren zu haben? Wie wird man eigentlich mit Tod und Trauer fertig? Und das brachte mich auf die Namen. Es würde ihnen absolut nicht helfen, etwas verlogen Heroisches vor sich zu sehen. Der einzige Weg, mit Geschichte zu arbeiten, und der einzige Weg, etwas zu überwinden, ist, sich dem Geschehenen zu stellen und es zu akzeptieren.«

Ich möchte das Vietnam Memorial in einer besonderen Weise charakterisieren. Ich nenne es das Denkmal einer narzißtischen Ära. Das Wort »Narzißmus« gebrauche ich dabei in einem Sinn, wie wir ihn in den Worten der oben zitierten Katherine Mansfield finden, einer Frau, die, dem Tode nahe, ein intensives Gewahrsein ihres Augenblicks auf der Erde entwickelt, eines Augenblicks, der seine Besonderheit durch ihre einzigartige Präsenz darin erhält. Es ist ihre Gelegenheit, ihr Abenteuer, einmalig und unwiederholbar.


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Gewöhnlich wird »Narzißmus« nicht in diesem Sinn gebraucht. Fragen Sie verschiedene Leute, was das Wort bedeutet, und Sie werden wahrscheinlich feststellen, daß die meisten darunter etwas Krankes verstehen oder ein moralisches Versagen, ein Synonym für Selbstgefälligkeit und unsoziales Verhalten, bis ins pathologische Extrem gesteigert. In psychologischen Lehrbüchern wird Narzißmus häufig in abfälligem Ton mit »infantilen Größenphantasien« oder »obsessiver Selbstverliebtheit« assoziiert. Der Narkissos der griechischen Mythologie verschmachtete schließlich neben dem Teich, in dem er sein zauberhaftes jugendliches Spiegelbild erblickte, oder er tötete sich aus unerfüllter Liebe. Der Zustand, der nach ihm benannt ist, hatte nie den Beiklang des Gesunden. 

Manche Psychotherapeuten sehen das Hauptsymptom der narzißtischen Störung in einem Gefühl innerer Leere, das die gestörte Person durch ein theatralisches »falsches Selbst« zu kompensieren versucht. Zu den tiefen Verzweiflungszuständen, die für die narzißtische Störung charakteristisch sind, kommt es dann, wenn dieses höchst instabile falsche Selbst schrumpft und schließlich in sich zusammenfallt.

Was in den abwertenden populären Interpretationen des Narzißmus gewöhnlich übergangen wird, ist die Tatsache, daß Freud, der den größten Anteil daran hatte, daß der Begriff in unserem psychologischen Vokabular verankert wurde, von einem normalen narzißtischen Intervall in der frühkindlichen Entwicklung ausging. Dieser gesunde Narzißmus nimmt nur dann krankhafte Züge an, wenn er im Lauf der weiteren Persönlichkeitsentwicklung nicht modifiziert wird. Freud führte den Begriff nicht selbst ein, sondern übernahm ihn speziell für eine Kontroverse mit dem Psychiater, der diesen Zustand als Perversion klassifiziert hatte. In Freuds Sicht war Narzißmus nicht dasselbe wie neurotischer Geltungsdrang, eine ernstere Störung bei Erwachsenen, und er war auch nicht mit Gier, Eitelkeit oder zügelloser Selbstsucht gleichzusetzen.


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Was Freud den »primären Narzißmus« nannte, war vielmehr die normale Fixierung des Kleinkindes auf das Vergnügen am eigenen Körper. Freud nahm an, daß dieser primäre Narzißmus die universelle Ausgangs­situation sei, aus der sich später die Objektliebe entwickelte, ohne daß der Narzißmus dabei notwendigerweise aufgegeben werden mußte.1)

In Anlehnung an Freud werden wir hier versuchen, die positive Bedeutung des Begriffs zu retten — und darüber die immense emotionale Bedeutung zu begreifen, die für soviele Menschen in den Namen liegt, die auf der schmucklosen Mauer des Vietnam Memorial verzeichnet sind. Bei allem, was an ihm suspekt sein mag, ist Narzißmus ein unentbehrliches Stadium in der Herausbildung einer persönlichen Identität. Selbst in seinen oberflächlichsten Formen kann er im Leben von Menschen diese Funktion erfüllen. Vielleicht bezeichnet er den Bestimmungsort, an den unser langer, erzwungener Marsch durch den industriellen Prozeß uns schließlich geführt hat: eine Sozialordnung, in der das große sokratische Projekt der Selbsterkenntnis für alle in der Gesellschaft möglich wird. Außerdem kann es sein, daß der Narzißmus in einer gewissen ökologisch hochbrisanten Phase innerhalb des industriellen Prozesses das kompensatorische Gegengewicht darstellt, das unser Planet braucht, wenn den Exzessen des industriellen Wachstums Einhalt geboten werden soll — oder wenn wir sogar daran denken, diese Entwicklung umzukehren.

Narzißmus in der Form der Autoerotik ist die erste Erfahrung des Individuums mit physischer Lust; in den Bereich des Narzißmus gehören die elementaren Befriedigungen, die uns unser Leben lang begleiten: Sex, Schlaf und die vielfältigen Formen der Lust, die Freud »polymorph-pervers« nannte. In seiner ursprünglichen Manifestation, bevor das Kind die Körpergrenzen seiner individuellen Identität klar von der umgebenden Welt unterscheiden kann, tritt er in Form eines allumfassenden, undifferenzierten »ozeanischen Gefühls« auf. Im Unterschied zum »Egoismus«, der auf pragmatische Interessen und soziale Ziele ausgerichtet ist, gewöhnlich in rivalisierender Weise, zielt Narzißmus auf die private Befriedigung libidinöser Wünsche ab. Er ist die Basis jener Lust, die eingefleischte Egoisten sich oft ein Leben lang mürrisch versagen.


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Daher ist dem »gesunden« Narzißmus im diagnostischen Katalog mancher Psychotherapeuten ein Sonderplatz vorbehalten, denn ohne ihn wären wir nicht fähig, »unser individuelles Ich-Ideal mit den positiven Gefühlen auszustatten, die für Selbstachtung und Selbstbehauptung unerläßlich sind«2.

 

  Die große Weigerung  

 

In diesem Licht besehen hat Narzißmus in der erwachsenen Persönlichkeit eine vitale Funktion — als legitimes Interesse an sinnlicher Lust oder sogar als erotische Reaktion auf die gesamte Natur — wie bei den romantischen Dichtern, deren ekstatische Hingabe an die Schönheit der natürlichen Welt immer mit der Sehnsucht nach dem »ozeanischen Gefühl« der frühen Kindheit assoziiert wurde.

In den fünfziger Jahren veröffentlichte der Philosoph Herbert Marcuse ein richtungweisendes Werk, in dem er auf die politische Bedeutung dieses Teils unserer Persönlichkeitsstruktur aufmerksam machte. Narzißmus, so hatte Freud erklärt, steht mit der Weigerung des Triebgrundes in Verbindung, sich dem Realitätsprinzip anzupassen. Unter dem »Realitätsprinzip« verstand er den geltenden gesellschaftlichen Standard von Normalität. Was aber sind die Folgen, fragte Marcuse, wenn das Realitätsprinzip lebensfeindlich und offenkundig verrückt ist, wenn es manisch darauf versessen ist, Mensch und Natur auszubeuten, wenn es in Gewinnsucht erstickt und einer Fixierung an Krieg und Gewalt erliegt? Wie wir anfangs sahen, ging auch Freud mit solchen Gedanken um. Aber Marcuse scheute sich nicht, daraus die politischen Schlüsse zu ziehen, die Freud unerwähnt gelassen hatte. Wenn die Realität, wie die Welt sie versteht, pathologisch verzerrt ist, spricht dann nicht alles für »die Auflehnung gegen eine Kultur, die auf Mühsal, Herrschaft und Triebverzicht gegründet ist«, zugunsten der »Ordnung der Erfüllung, die der freie Eros schafft«3) 


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Für Marcuse, einen der frühen marxistisch-humanistischen Denker, wurden Freuds Erkenntnisse über den primären Narzißmus zur Grundlage einer politisch-philosophischen Position, die er die »große Weigerung« nannte; gemeint war die entschiedene Zurückweisung der inhumanen Werte einer aus dem Lot geratenen Welt. Marcuse argumentiert, daß die demokratische Aufteilung von Wohlstand und Muße in hochindus­trialisierten Gesellschaften zu einer realen Option wird. Die »zusätzliche Unterdrückung«, die uns, wenn wir erwachsen werden, zwingt, auf die Möglichkeiten einer freien Triebentwicklung zu verzichten, und die Disziplinierung durch das Leistungsprinzip, die einer »nicht-repressiven libidinösen Kultur« entgegensteht, könnten folglich aufgehoben werden. Wenn das dennoch nicht geschieht, sind die Gründe dafür weder biologisch noch psychologisch, sondern politisch.

Da diese Ideen die tradierten Formen der industriellen Disziplin und der Arbeitsethik so radikal in Frage stellten, trafen sie natürlich auf scharfe Kritik. Die Wirtschaftswelt und die Regierung, deren Programme für gesteigerte Produktion, Voll­beschäftigung und obligatorischen Konsum für die Lockerung der sozialen Zwänge verantwortlich waren, fanden sich plötzlich mit mehr Ungezwungenheit, Respektlosigkeit und unverhüllter Rebellion konfrontiert, als ihnen lieb sein konnte.

Während der zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als Amerika seinen Platz auf dem Gipfel des industriellen Berges behauptete, ging das Land durch eine bemerkenswerte politische Phase, in der diejenigen, die die Macht ausübten, ihren Status zum ersten Mal in der Geschichte eher durch das Versprechen von Vergünstigungen, durch Belohnung und Bestechung als durch das Androhen von Mangel und Entbehrung zu verteidigen suchten. Das war kein Ausdruck von Großzügigkeit; der Wirtschaftsboom der Nachkriegsjahre verlangte vielmehr einen steilen Anstieg des Konsums. Der generell erreichbare Lebens­standard in Amerika war so hoch, daß es keine Möglichkeit mehr gab, Güterverknappung als Mittel der sozialen Kontrolle einzusetzen, außer in Bereichen, wo dieses Konzept sich mit der Benachteiligung ethnischer Minoritäten verbinden ließ.


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Aber es sollte nicht lange dauern, bis auch diese Minderheiten Zugang zum gesellschaftlichen Wohlstand verlangten, mit einem politischen Nachdruck, der es unmöglich machte, ihre Ziele mit den tradierten Mitteln der Einschüchterung zu durchkreuzen. Sich von der Unzufriedenheit freizukaufen, die von allen Seiten anbrandete, war der einfachste Weg. Daher die Politik der sozialen Solidarität und des »Krieges gegen die Armut«. Zumindest blieb das die Strategie bis zum Ende der siebziger Jahre; danach traten in der Welt­wirtschaft Transformationen ein, die eine weniger großzügige Politik diktierten.

Was die politische Führung und die Unternehmenseliten sich durch ihre Freigebigkeit zu erkaufen suchten, war, um es in den Worten des Soziologen C. Wright Mills auszudrücken, »ein Volk von fröhlichen Robotern«. Marcuse prägte den Begriff »der eindimensionale Mensch«, um dieselbe Haltung der ergebenen Dankbarkeit und Fügsamkeit zu kennzeichnen. Als Gegenleistung für hohe Löhne und ein angenehmes Leben sollte das gemeine Volk seinen Kotau vor der Autorität machen; von der Masse der gehorsamen Arbeitnehmer (und ihrer hausfraulichen Gattinnen) wurde erwartet, daß sie ihre Initiative als freie Bürger für ein zufriedenes Vorortleben, jede Menge Kreditkarten und Familienrabatt bei Besuchen in Disneyland eintauschten. 

Zum Entgegenkommen im Konsumbereich gehörte sogar ein gewisses Maß an Toleranz für sexuelle Freizügigkeit, die sich in Gestalt einer aufwendig aufgemachten, kommerzialisierten Erotik manifestierte. Marcuse nannte dieses Phänomen »repressive Entsublimierung«. In der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sah George Orwell die Welt auf einen sadistischen Totalitarismus zutreiben, den er in »1984« beschrieb. Aber in der Eisenhower-Ära der fünfziger Jahre sah es so aus, als hätte Aldous Huxley die treffendere Voraussage gemacht: Die industrielle Gesellschaft war auf dem besten Weg, sich zu einer »schönen neuen Welt« mit ihrem fachmännisch organisierten, schwachsinnigen Hedonismus zu entwickeln.

In diesen ökonomischen Transformationen war ein dialektischer Prozeß am Werk, den Marx nie hätte voraussehen können. Seine Prognose war, daß der industrielle Prozeß zu einer untolerierbaren »Verelendung der Massen« führen würde, der leidvollen Vorbedingung für die Revolution.


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Statt dessen begann sich in der ersten im Wohlstand aufgewachsenen Generation in Amerika die Möglich­keit abzuzeichnen, daß auch Vergnügen, Freizügigkeit und Überfluß die Basis für politisches Dissidententum bilden können. Die Unternehmereliten erwarteten von der Wohlstands­gesellschaft loyale, gefügige Arbeitnehmer; die Regierung wollte produktive Kernphysiker und gehorsames Kanonenfutter. Davon bekamen sie auch ihren guten Teil, aber außerdem hatten sie plötzlich die Beatniks, die Hippies, die Revoluzzer, Woodstock, die Weathermen, LSD, Teach-ins, Love-ins und weitaus mehr Krawall, als sie bewältigen konnten.

Kein Wunder also, daß sie ihrer Strategie der manipulativen Freizügigkeit bald überdrüssig wurden. Paul Goodman sagte 1969 über die »theoretisch unmögliche Jugendrevolte«, daß für »die Kinder der Wohlstands­gesellschaft, die ohne zwanghafte Reinlichkeitserziehung aufwuchsen, frei masturbierten und sich kleideten, wie sie wollten, nichts näher lag, als wagemutig, ungehorsam und unbefangen zu sein«.4)

 

   Narziß kriegt eins drauf   

 

Daß dieses abweichende Verhalten die Mächtigen in Wirtschaft und Politik schockieren würde, war durchaus vorhersehbar. Aber es gab auch andere, außerhalb der Zentren der Macht, die nicht weniger beunruhigt auf die seltsamen neuen Sitten und Moralvorstellungen der Wohlstandsgesellschaft reagierten. Die Vorbehalte dieser Kritiker waren ehrlicher und ernsthafter. Daniel Bell nannte das, was er um sich geschehen sah, »die Megalomanie der Selbstverewigung, (...) die Sehnsucht nach den verlorenen Glückshoffnungen einer idealisierten Kindheit«. Peter Marin sprach von purem »Solipsismus, (...) einem Rückzug aus der Welt der Moral und der Geschichte«.


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Christopher Lasch, der einflußreichste Kritiker des neuen amerikanischen Mittelschicht-Hedonismus, sprach von einer »Kultur des Narzißmus«, im abfälligsten Sinn des Wortes. Für ihn waren Strömungen wie die Bewegung der Bewußtseins­erweiterung, die Human-Potential-Therapien und »die Rhetorik der Authentizität« nur der dünne Lack, der eine tiefe Verzweiflung überdeckte, infantile, sinnlose Versuche, der »inneren Leere« zu entfliehen.

Lasch hatte ein klares, differenziertes Verständnis der klinischen Bedeutung des Narzißmusbegriffs, aber er gebrauchte ihn dennoch wie einen schulmeisterlichen Stock, um den naiven Hedonisten der amerikanischen Gesellschaft eins draufzugeben; in seiner Sicht waren sie unfähig, »sich von den Ängsten der Kindheit zu befreien oder die Vorzüge des Erwachsenseins zu würdigen«5).

Wenn Sozialkritiker klar definierte gesellschaftliche Gruppen, insbesondere jene, die mit Reichtum und Macht ausgestattet sind und für offensichtliches Unrecht verantwortlich gemacht werden können, mit harschen Worten herunterputzen, ist das durchaus zu rechtfertigen. Aber es ist etwas ganz anderes, zum Schlag gegen die anonymen Millionen eigener Mitbürgerinnen und -bürger auszuholen, denen man schlimmstenfalls vorwerfen kann, daß sie die Aufgabe des Erwachsen- und Weisewerdens nicht mit Brillanz bewältigten. Die Kritiker, die hier ihre Stimmen erheben, begeben sich auf dünnes Eis, wenn sie für sich selbst ein so überaus hohes Maß an emotionaler Ausgewogenheit und ethischer Makellosigkeit in Anspruch nehmen. 

Was werfen die Anti-Narzißten der Generation der sechziger und siebziger Jahre eigentlich vor? Daß so viele, die dieser Generation angehören, ihre Ehen, Liebesaffären und Karrieren verpfuschen, ihre elterliche Verantwortung und ihre staatsbürgerlichen Pflichten vernachlässigen? Daß sie keine weisen, glücklichen, reifen Menschen geworden sind, die der nächsten Generation als Vorbild dienen können? Diese Vorwürfe wiegen zwar schwer, aber sie könnten durch alle Zeitalter hindurch gegen jedermann und jedefrau erhoben werden. Was ist der historische Hintergrund einer so ätzenden Kritik? Wo finden wir in der Vergangenheit eine Gesellschaft oder eine gesellschaftliche Epoche, in der die Erwachsenen durch und durch reif und völlig kompetent waren und ihr Leben meisterhaft bewältigten? Die vierziger Jahre ... die fünfziger, die siebziger, die achtziger ...?


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Natürlich finden wir nichts in der Art. Während des größten Teils der Geschichte der Menschheit waren die Erwachsenen der Welt — abgesehen von einigen wenigen Heiligen, Weisen und politischen Helden — zu groß gewordene Kinder, die sich damit abmühten, in die Fußstapfen ihrer ebenso inkompetenten Eltern zu treten, wobei sie in ihrer Welt gewöhnlich die Art von Schlamassel hinterließen, die Romanciers und Dramatikern das Rohmaterial für ihre Kunst, Propheten den Anlaß für ihren Zorn lieferte. Was sollen wir von den Generationen halten, die sich die Angriffe Voltaires, Tolstois, Marx', Ibsens oder Shaws gefallen lassen mußten?

Andererseits ist der Drang zu psychologisieren, sich so offen mit den eigenen Nöten auseinanderzusetzen — »die therapeutische Lebensauffassung«, wie Lasch sie nannte —, tatsächlich ein neues Phänomen. Das Jammern und Wehklagen, die endlosen Offenbarungen von Wut, Schmerz und Zorn, die gesteigerte Sensibilität für erlittenes Unrecht und Unterdrückung — das ist wirklich neu. Neu ist auch, daß in den heutigen Industriegesellschaften die Ansprüche so hoch angesetzt werden, wenn es um Freiheit, Lebensqualität und den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit geht. Neu ist das enorme Potential für Verletztheit und Enttäuschung, wenn diese Ansprüche frustriert werden.

Und daß wir das alles über unsere Mitmenschen wissen, daß wir uns darüber mokieren oder darüber diskutieren können, daß so viele Leute bereit sind, ihre Schwächen offen zu zeigen, »alles rauszulassen«, Aufmerksamkeit für ihre Probleme zu fordern — auch das ist neu. Es ist neu und bedeutsam, auch wenn es nicht in eleganter Differenziertheit zum Ausdruck kommt. Darin liegt das hervorstechende Merkmal der »Kultur des Narzißmus«: in dieser Bereitschaft so vieler, ihre Verunsicherung und ihre Selbstzweifel vor der Welt offenzulegen, sich als die Antihelden zu zeigen, die wir Menschen, von verschwindend wenigen Ausnahmen abgesehen, immer waren. Selbst wenn diese Generation in Ermangelung besserer Ausdrucksmittel in den »Psychojargon« verfällt, verdienen die Unzulänglichkeiten, zu denen sie sich so frei bekennt, mehr Mitgefühl, als ihre Kritiker dafür aufbringen, die uns weismachen wollen, sie hätten solche Schwächen nicht.


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Die Front der Anti-Narzißten hat keinen Blick für diesen Aspekt. Im Lauf der letzten zwei Jahrzehnte entwickelte sich in der populären Kultur der hochindustrialisierten Gesellschaften ein zwar oft unbeholfen geäußerter, aber beharrlicher Sinn für persönliche Identität. Wenn die Form auch oft Anmut und Würde vermissen ließ, strebten doch Tausende, insbesondere in den USA, auf therapeutischem Weg nach Selbsterkenntnis, mit einem Einsatz von Intensität und Phantasie, für den es in der Vergangenheit keine Präzedenzfälle gibt, es sei denn bei den wenigen künstlerisch oder kontemplativ Begabten. 

Diese neue, von psychologischer Sensibilität geprägte Lebensauffassung blieb auch nicht auf die wohlhabende Mittelschicht beschränkt. Das wird deutlich, wenn man an Malcolm X' Erinnerungen oder Eldridge Cleves »Soul on Ice« zurückdenkt. Da setzen Afroamerikaner sich in einer Offenheit mit ihren speziellen Kindheitsängsten, Unsicherheiten und sexuellen Problemen auseinander, für die es in der Literatur des politischen Protests keine Vorläufer gab. Verblüffend ist vor allem, daß diese Art der Offenlegung intimster persönlicher Dinge, über die noch die Generation unserer Eltern zutiefst schockiert gewesen wäre, in so kurzer Zeit zu einer Selbstverständlichkeit wurde, zu einer kulturellen Konstante sogar, die Kabarettisten und Künstlern wie Woody Allen das Rohmaterial für ihre Arbeit lieferte.

Das ist eine bemerkenswerte kulturelle Entwicklung. Und dennoch beeilten sich liberale und radikale Denker, von denen man zumindest ein gewisses Maß an Neugier erwartet hätte, in dieselbe harsche Kritik an der Protestbewegung der sechziger Jahre einzustimmen, die in der wirtschaftlichen und politischen Führungsspitze der USA seit der Präsidentschaft Johnsons bereits im Schwange war. Ob die Angriffe in Form gelehrter Analysen in orthodox-freudianischem Stil oder als journalistische Tiraden gegen die »Ego-Generation« daherkamen, der Haupttenor war immer derselbe: Der Protest dieser Generation sei oberflächlich, unreif und größtenteils unsinnig, er sei nur die pubertäre Rebellion verwöhnter Jugendlicher, deren wirkliche Wertvorstellungen sich letztendlich nicht von denen ihrer Eltern unterschieden.


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Ihre Versuche, Alternativen zum Lebensstil der Mittelschicht zu entwickeln, schlügen fehl, weil sie unaufrichtig seien oder auf irrigen Vorstellungen beruhten. Früher oder später mußte die große Ernüchterung einsetzen: Die Hippies machten den Yuppies Platz; der große American Way of Life strömte unbeeinträchtigt dahin wie ein großer, ruhiger Fluß.

Aber selbst die unübersehbaren Fakten, daß die verwöhnten Bälger, die »make love — not war« auf ihre Fahnen geschrieben hatten, die militärische Maschinerie des Vietnamkrieges erfolgreich zum Stillstand brachten, einen korrupten Präsidenten aus dem Sattel hoben, die tradierten Machtstrukturen in jeder großen Institution des Landes ins Wanken brachten und generell die schärfste und umfassendste Anklage gegen die moralischen Verfehlungen der Nation erhoben, die es in der Geschichte des politischen Journalismus je gab, reichten als Gegengewicht gegen die fortdauernde Empörung über Respektlosigkeiten und gelegentliche Verirrungen nicht aus.

Verirrungen und Grobheiten gab es in der Tat. Aber man nenne mir eine breite politische Bewegung, die während ihres gesamten Verlaufs durch außergewöhnlich gute Manieren und exemplarische Intelligenz glänzte. Es ist eine uralte Strategie, auf den vereinzelten Mängeln und Fehlern einer Bewegung herumzuhacken, um sie so zu diskreditieren und von den eigentlichen Problemen, die sie anprangert, abzulenken.

 

   Die Macht der Unschuld   

 

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es bei dieser Geißelung des Narzißmus um mehr ging als um Fragen des guten Geschmacks oder um moralische Vorbehalte, denn in den geäußerten Bedenken, selbst den relativ angemessenen, schwang immer die unausgesprochene Vorahnung einer Gefahr mit, deren Charakter nie völlig klar wurde. Ich glaube, es war die erstaunliche Unschuld jener, die als narzißtisch etikettiert wurden, die so herausfordernd wirkte und dazu einlud, sie herab­zusetzen.


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Während einer kurzen Phase, die nur den Bruchteil einer Generationenspanne ausmachte, wurde das Bild eines fröhlichen, von Widerspruchsgeist und Freiheit erfüllten Lebens unbekümmert auf die soziale Szenerie projiziert. Da waren Leute, die es wagten, an sich selbst interessiert zu sein, und die daher das Recht für sich in Anspruch nahmen, sich selbst zu mögen, sie selbst zu sein, ohne sichtbare Scham und ohne Entschuldigung dafür, daß sie einen Affront gegen gute Manieren, respektables Auftreten, bürgerliche Sexualmoral und soziales Pflichtgefühl darstellten. Ein so ungebührliches Benehmen, selbst wenn es sich auf die aus Wunschdenken geborenen, unbeholfenen Gesten einer kleinen anarchistischen Minderheit beschränkt, selbst wenn es zu großen Teilen eine von den sensationslüsternen Medien fabrizierte Illusion ist, greift tiefverwurzelte Wertvorstellungen an. 

Es scheint den bleiernen Ernst, der sich, wie Lionel Trilling es einmal ausdrückte, »wie eine geologische Ablagerung durch die jüdisch-christliche Tradition zieht«, zum Gespött zu machen. Daniel Bell ärgerte sich darüber, daß »Entfesselung, Ausschweifung und totale Freiheit zum demokratischen Allgemeingut der Massen« zu werden droht; seine Worte sind das Echo einer moralischen Empörung, die sich bis zu den Propheten des Alten Testaments zurückverfolgen läßt. Unter modernen Intellektuellen war es lange Zeit Mode, über den Puritanismus zu spotten, der das kulturelle Establishment in England und Amerika beherrschte, aber dieser Sport fand seinen Ausdruck in geschliffenen Bonmots und geistreichen Essays. 

Diese Art von Kulturpolitik stand nur gebildeten, blitzgescheiten Leuten zu, deren Talent gesellschaftlich anerkannt war. Daß gewöhnliche Menschen ohne literarisches Talent, die in der Kunst der scharfsinnigen, eleganten Polemik ungeübt waren, diese Kritik in ihrem Handeln ausdrückten, daß sie mit Sexualität wie mit einem natürlichen Recht oder dem natürlichen Ausdruck der Persönlichkeit umgingen, daß sie eine vulgäre Sprache gebrauchten, ihre Körper entblößten, ihre Sinnlichkeit gar öffentlich zur Schau stellten, und das alles ohne die geringste Scham — das ging entschieden zu weit.


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Und schlimmer noch: daß diese Leute sich über jede Art von Autorität, über die Disziplin am Arbeitsplatz, über die Strenge intellektueller Prinzipien hinwegsetzten, das roch nach Barbarei. Die Überzeugung, daß man sich Freiheit, Vergnügen und Wohlleben verdienen muß, und zwar durch harte Arbeit verdienen muß, ist erstaunlich fest in unserer Kultur verankert.

Der tiefste Grund dieser Überzeugung ist ein radikaler Glaube an die menschliche Wertlosigkeit, an die angeborene Schlechtigkeit unserer Natur, die wir durch Mühen und Plagen abbüßen müssen. Sokrates hielt Selbsterkenntnis für das Ziel aller Philosophie. Aber die Methoden der Selbsterkenntnis, die in den westlichen Kulturen erfunden wurden, stammen ausnahmslos von der Grundannahme her, daß es bei der Innenschau vor allem um die Aufdeckung schmutziger Geheimnisse gehe. Schauen wir uns diese Methoden an: die katholische Beichte, das puritanische Tagebuch, das öffentliche Bekenntnis vor der Gemeinde.

In jedem Fall läuft dasselbe ab: Man zählt seine Sünden auf, man bittet um Vergebung. Der Prozeß endet mit der Anerkennung der angeborenen Unwürdigkeit, die abgearbeitet werden muß. Ein bekanntes Bonmot besagt, Freud habe die psychoanalytische Couch als Beichtstuhl für Protestanten erfunden. Auch Freud stellte sich das menschliche Herz als Mördergrube vor; Ziel und Zweck der Psychoanalyse war, den Augiasstall des Unbewußten auszumisten. In den westlichen Kulturen nahm Selbsterkenntnis die Bedeutung von Selbstgeißelung an; praktiziert wurde sie unter dem zornerfüllten Blick eines Gesetzgebergottes, dem keine Verfehlung verborgen bleibt.

Was geschieht also, wenn plötzlich eine Generation hervortritt, in deren Sozialisation diese Elemente der Selbstverachtung und Selbsterniedrigung eine weniger prominente Rolle spielten, so daß sie, wie Freud es gesehen hätte, mit einem schmählich verkümmerten Über-Ich in die Welt entlassen wurde? Die Leute entspannen sich, albern herum, geben sich sexuellen Vergnügungen hin, vielleicht sogar an öffentlichen Plätzen und, was am schlimmsten ist, sie haben bei all dem auch noch eine gute Meinung von sich selbst. Oder zumindest versuchen sie, all diesen Dingen den Anstrich von Selbstverständlichkeit zu geben. Viele erstaunte Beobachter finden das natürlich unverschämt und in unverantwortlicher Weise ego-zentrisch.


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Es ist »Narzißmus« im negativsten, zornigsten Sinn des Wortes. Aber von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet liegt in diesem aufreizenden Anspruch auf Lust und Freiheit die Qualität, die Marcuses »große Weigerung« kennzeichnet. In diesem Sinn ist es ihre Unschuld, die diese Menschen auf den Weg der Emanzipation führt, die ihnen Selbstbewußtsein verleiht und sie dazu drängt, mehr vom Leben zu verlangen als die Generationen, die ihnen vorausgingen. In Anlehnung an Emerson erklären sie, daß es im Leben darum geht, »deine Sache zu machen« oder, in der populären Version, »dein eigenes Ding durchzuziehen«. 

 

   Die eupsychische Vision   

 

Kritiker, die sich eher auf den Stilmangel und den rauhen Ton dieser provokanten Gesten konzentrieren als auf ihren inneren Gehalt, übersehen leicht etwas Wesentliches, das auch die westliche Psychologie seit ihren ersten Anfängen weitgehend ignorierte: daß in uns allen eine strahlende Kraft verborgen liegt, die darauf wartet, entdeckt zu werden, ein wahres Selbst, das zu seiner Entfaltung die optimistische Zuversicht und die Freiheit braucht, die es weder in gesellschaftlicher Ehrbarkeit noch in gewissensbestimmten Überzeugungen finden kann. Abraham Maslows humanistische Psychologie gehört zu den Strömungen, die in dieser Hinsicht korrektiven Druck auf das psychologische Establishment ausübten. Als Ganzes gesehen kann dieses zuweilen sperrige, aber kühn innovative Theoriegebäude für jede ernsthafte Revision des Narzißmusbegriffs als richtungsweisend gelten.

Maslow schrieb sich in den fünfziger Jahren seinen Weg aus dem behavioristischen Labor heraus. Sein 1954 erschienenes Pionierwerk »Motivation und Persönlichkeit« ist ein mühsamer, aber mutiger Versuch, den »gesunden Teil« der Persönlichkeit zu beschreiben, den Freud vernachlässigt hatte.


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In den frühen sechziger Jahren begründete Maslow gemeinsam mit Anthony Sutich die Zeitschrift »Journal of Humanistic Psychology«, die sich mit so merkwürdigen neuen Themen wie »Selbstverwirklichung« und »Gipfelerfahrungen« befaßte. 

Maslows Denken haftete sowohl stilistisch als auch inhaltlich immer etwas Schwerfälliges an. Das »eupsychische« Bild der menschlichen Natur, das er im Sinn hatte, floß ihm nicht gerade leicht aus der Feder. Seine Texte waren langatmig, übertrieben systematisiert und mit Jargon überfrachtet. Er hatte eine Neigung zu Wortschöpfungen wie »B-Motivation« oder »D-Wert«, um Funktionsweisen der Persönlichkeit auf hohem beziehungsweise niedrigem Niveau zu charakterisieren, und stellte dann lange Kriterienlisten für jedes dieser Niveaus auf.

 

Schlimmer noch, zumindest aus der Sicht des intellektuellen Establishments: Er ging völlig respektlos mit kulturellen Idolen um. Die europäischen Existentialisten zum Beispiel wischte er kurzerhand vom Tisch, weil sie »ausschließlich auf Grauen, Angst, Verzweiflung und dergleichen herumreiten«. Er bezeichnete ihre Arbeit als »intellektuelle Weinerlichkeit von kosmischen Ausmaßen«; »Freude, Ekstase und sogar ganz normales Glück« zog er bei weitem vor. Sartre und der Rest galten ihm als »Ekstase-Muffel, Leute, die einfach keine Freude erfahren können«. Auf diese Art konnte Maslow in den anerkannten literarischen Journalen der fünfziger und der sechziger Jahre, als freudsche Angst und marxistischer Eifer in Mode waren, natürlich keine Lorbeeren ernten.

Obwohl Maslows Einfluß sich für viele der Jüngeren im psychologischen Berufsfeld als befreiend erwies, hätte die humanistische Psychologie vielleicht lange gebraucht, um von der Theorie zur Praxis überzugehen, wenn nicht eine andere, aktivere Kraft die Szene betreten hätte — eine Kraft, die dem noch unartikulierten allgemeinen Bedürfnis nach neuen Therapieformen ein Ventil bot. Die »Human-Potential«-Bewegung schuf den neuen Rahmen, der zum »Massenmedium« für Maslows Denken werden sollte, in Gestalt von sogenannten »Zentren für Persönlichkeitswachstum«. Eine zufällige Begegnung war der Anlaß, daß Maslow sich in den frühen sechziger Jahren mit Michael Murphy zusammenschloß, dem Begründer des prominentesten dieser Zentren, des Esalen Institute in Kalifornien.6


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Zu diesem Zeitpunkt befaßten Murphy und seine Mitarbeiter sich mit den nicht-verbalen Fähigkeiten des menschlichen Geistes; Erziehung und Entwicklung sollten in ihrer Sicht über das ewig plappernde Vorderhirn hinausgehen und Bewußtsein und Körper als Ganzheit erfassen. In Esalen traf Maslow auf einen anderen psychologischen Einzelgänger, den Gestalttherapeuten Fritz Perls, der sich trotz seines freudianischen Hintergrunds der lockeren, ungezwungenen Atmosphäre Esalens begeistert geöffnet hatte.

Obwohl die Beziehung zwischen Maslow, dem zurückhaltenden Akademiker, und Perls, dem priapischen Wilden, von Anfang an reibungsvoll war, gelang es beiden gemeinsam, für die »dritte Front der Psychologie« in Amerika öffentliches Interesse zu wecken. Maslow sah darin »eine Revolution im wahrsten, ursprünglichsten Sinn des Wortes«, aber er strebte eine »noch höher entwickelte vierte Psychologie an, eine transpersonale, transhumane Psychologie, die eher auf den Kosmos zentriert ist als auf menschliche Bedürfnisse und Interessen, eine Psychologie, die über das Menschsein, über Identität, Selbstverwirklichung und dergleichen hinausgeht«7

Damit sind wir wieder bei Freuds großer Frage nach den natürlichen Grundlagen des Seelenlebens, nach der Verbindungen von Psyche und Kosmos angelangt, aber hier wurde die Frage von einer späteren, weitaus optimistischeren Generation amerikanischer Psychologen gestellt. Aus dieser Quelle speiste sich eine Flut neuer, unorthodoxer Therapien. In ihren Theorien und Techniken unterscheiden sich Gestalttherapie, Encounter, Transaktionsanalyse, Psychodrama, transpersonale Psychologie zum Teil sehr weitgehend, aber diese Schulen haben dennoch einen gemeinsamen Nenner: Sie alle sehen von der Voraussetzung aus, daß Gesundheit und Unschuld die wesentlichen Grundmerkmale der menschlichen Natur sind. Dies sind die Therapien einer narzißtischen Kultur, und sie stehen dazu, ohne den mindesten Drang, sich zu rechtfertigen.

Die humanistischen Therapien weisen starke Unterschiede auf, was ihre intellektuellen Qualitäten angeht. Manche könnte man leicht als intime Gesellschaftsspiele mit Psycho-Touch abtun: gegenseitige Bestätigung (»Ich bin o.k. — du bist o.k.«), »Streicheleinheiten« und Entspannung in der heißen Badewanne.


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 Andere sind ziemlich bizarr, aber faszinierend. Ich stieß einmal auf eine Veranstaltung, die sich »Theologie des Körpers« nannte, eine Art Nackt-Encounter für Nonnen und Priester. Das klingt wie die Erfindung eines Satirikers, aber wenn ich an meine von Schuldgefühlen beladene katholische Kindheit denke, wünschte ich doch, die Ordensbrüder, denen man meine frühe Erziehung anvertraut hatte, wären mutig genug gewesen, sich mit dem grob verzerrten Bild von Sexualität auseinanderzusetzen, das sie und ihre Vorgänger in der Kirche an Generationen von Kindern weitergaben. Wie können Menschen aus dem Schatten ihrer neurotischen Ängste heraustreten? Bücher und Vorträge reichen dazu vielleicht doch nicht aus.

Andere humanistische Therapien vermitteln ungewöhnliche Einsichten in die Struktur der Persönlichkeit. Die Gestalttherapie, eine eindrucksvolle Mischung aus den Sexualtheorien des frühen Reich und verwestlichtem Taoismus, gehört zu den interessantesten Formen der modernen Introspektion. Das »Rolfing«, eine nach Ida Rolf benannte Form der Körperarbeit, führt uns vor Augen, daß unsere wirkliche Autobiographie vielleicht tiefer in unseren Muskelfasern gespeichert ist als in unserem Gedächtnis. Der Körper erinnert sich an Vorgänge, die das Gehirn lieber vergißt. Ich glaube, Freud hätte für solche Versuche, die Verbindungen von Körper und Bewußtsein aufzuspüren, großes Interesse entwickelt, obwohl er vermutlich nicht zu überzeugen gewesen wäre, daß man mit den Verspannungen und Knoten, die als Folgen der alten Ängste auftreten, auch gleich diese Ängste selbst aus dem Fleisch herauskneten kann.

Wie man die neuen Therapien in bezug auf ihre intellektuellen Meriten auch immer bewerten mag, sie alle verdienen ernsthaftes Interesse, denn sie sind die Symptome eines zentralen Bedürfnisses in unserer Zeit: des leidenschaftlichen Strebens nach Selbsterforschung und nach schuldgefühlfreier Entfaltung des eigenen Selbst, das wir durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch verbreitet finden. Selbst die simpelsten dieser Therapieformen wurzeln in dem Glauben an das kreative Potential in jedem Menschen.


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In unserer Zeit äußert sich dieses Bedürfnis so machtvoll und ist so virulent wie früher das Bedürfnis nach politischer Gleichberechtigung; wo es sich äußert, greifen Menschen nach allen verfügbaren Möglichkeiten, oft ohne präzise Vorstellung davon, was sie eigentlich suchen, abgesehen von Aufmerksamkeit, Anerkennung und Bestätigung. Es ist nicht leicht in unserer Gesellschaft, den Weg zu einem großen sokratischen Meister zu finden. Für die meisten ist eine leicht handhabbare, oft sogar kommerziell opportunistische Therapie das beste, was die Gesellschaft ihnen zu bieten hat. Aber wenn wir, die Kinder unserer Zeit, mit weniger Brillanz nach Selbsterkenntnis streben als ein Augustinus oder ein Rousseau, wenn unsere Bekenntnisse weniger geschliffen und eloquent sind — was ist dagegen einzuwenden? In einem bestimmten Stadium der inneren Not ist das Streben nach Selbsterkenntnis weder ein öffentlicher Ritus noch eine literarische Übung; es ist der Hunger der Seele, die als einzigartiges Ereignis im Universum anerkannt werden will. Selbst ein ungeschicktes, holpriges Bemühen ist also besser, als den Anspruch auf die vollständige Entfaltung der eigenen Persönlichkeit aufzugeben.

 

Jedesmal, wenn ich in einem dieser Zentren für Persönlichkeitswachstum an einer Gruppensitzung teilnahm, war ich von tiefem Staunen darüber erfüllt, mit welcher Aufrichtigkeit und Intensität die Menschen um mich herum ihre Bedürfnisse, ihre Ängste, die Motive ihres Handelns erforschten. Die immense Bedeutung dieses Prozesses war unverkennbar. Kritiker, die meinen, solche Formen der Introspektion seien zu oberflächlich, täten gut daran, sich zu fragen, wieviel besser die Aufgabe der Selbst­erforschung vor fünfzig Jahren, vor hundert Jahren bewältigt wurde. War in früheren Zeiten je mehr als eine Handvoll besonders sensibler Menschen überhaupt daran interessiert? Auch hier stellt sich wieder die Frage: Was liegt diesem negativen Urteil eigentlich zugrunde? Es wäre ein niederschmetterndes Eingeständnis bourgeoiser Arroganz, darauf zu beharren, daß das Abenteuer der Selbsterforschung nur den wenigen zusteht, die es mit intellektueller Brillanz und im vollen Licht der Öffentlichkeit auszuführen imstande sind.


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Bei konservativen Kritikern, die bestrebt sind, bestehende Positionen gesellschaftlicher und politischer Dominanz zu verteidigen, könnte man eine so strikt elitäre Haltung noch verstehen. Aber warum sollten Leute, die für sich selbst in Anspruch nehmen, liberal oder gar radikal-demokratisch zu sein, mit Konservativen darin wetteifern, die Repression zu unterstützen? 

 

   Sokrates und Freud   

 

Die immer stärker hervortretende psychologische Färbung des späten zwanzigsten Jahrhunderts, wie dilettantisch ihre Ausdrucksformen auch immer sein mögen, ist aus einem authentischen Gefühl des ungelebten Lebens und der Entfremdung von den eigenen Kraftquellen geboren. Ebenso wie die Neurose, wenn sie einmal erkannt und diagnostiziert ist, der erste Schritt zu innerer Klarheit und Lebendigkeit sein kann, so kann auch die narzißtische Fixierung auf das Selbst der Beginn einer kulturellen Erneuerung sein.

Stellen wir uns die Seele als selbstregulierendes System vor, das sich mit Emotionen, Leidenschaften und Ambitionen befaßt, in ähnlicher Weise wie die lebende Zelle mit Proteinen und Energieumsetzungen. 

Die Umwelt, mit der die Seele sich bei ihren Assimilationsbemühungen konfrontieren muß, ist die Kultur, die frühere Seelen (die der Eltern und Vorfahren) als »zweite Natur« geschaffen haben. Daher strebt die Seele auch danach, die Belastungen und Anstrengungen, die diese kulturelle Umwelt ihr auferlegt, zu bewältigen. Selbst wenn die Forderungen dieser Umwelt in krassem Widerspruch zu den Bedürfnissen der inneren, biologischen Ökonomie der Seele stehen, kämpft sie darum, sich anzupassen, im Extrem sogar durch Verzerrungen und Verformungen. Aber wenn sie soweit gegangen ist wie sie nur kann, um sich auf die Belastungen einzustellen, setzt sich schließlich ihr verzweifeltes Bedürfnis nach einem gesunden Gleichgewicht durch.


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Was die moderne kulturelle Umwelt von uns gefordert hat, ist ein enormes Nach-außen-Verlagern von Aufmerksamkeit und Energie zu dem Zweck, die Erde in eine globale industrielle Wirtschaft umzuwandeln. Zwei Jahrhunderte lang haben wir den Planeten und unsere tiefsten persönlichen Bedürfnisse diesem Ziel untergeordnet. Dieser große Akt der kollektiven Entfremdung stellt in meiner Sicht die tiefste Ursache sowohl der globalen ökologischen Krise als auch der individuellen Neurose dar. Innerhalb einer Kultur, die von einem so manischen Bedürfnis nach Erfolg und Eroberung getrieben ist wie die unsere, mußte irgendwann und in irgendeiner Weise ein Richtungswechsel einsetzen, eine therapeutische Wendung nach innen.

Bei dieser großen Aufgabe, die weit davon entfernt ist, gelöst zu sein, treten Sokrates und Freud, Philosophie und Theorie als verbündetes Helferpaar auf. Freud stand am Anfang dieses Prozesses; aber er konnte nicht das letzte Wort haben. Den humanistischen Therapien gebührt das Verdienst, eine differenziertere Analyse der Schuldgefühle entwickelt zu haben, als Freud sie anzubieten hatte.

Wir verstehen jetzt, daß es zwei Arten von Schuldgefühlen gibt: gerechtfertigte Schuldgefühle, die auf wirkliche Schuld zurückgehen, auf Akte der Gewalt und des Verrats an unseren Mitmenschen, und Schuld­gefühle, denen keine reale Schuld zugrunde liegt (manche nennen sie »Scham«, um den Unterschied zu verdeutlichen), und diese letzteren sind das machtvollste Mittel der Gesellschaft, die Millionen ihrer Mitglieder zu reglementieren.

Die Scham entstammt unserer Angst, in den Rollen, die uns die Gesellschaft im Leben zugewiesen hat, versagt oder ihnen nicht genügend Reverenz erwiesen zu haben. Wenn wir nicht das sind, was ein Mann, Gatte und Vater, eine Frau, Gattin und Mutter der gesellschaftlichen Norm gemäß zu sein hat, wird uns Scham eingeflößt. Die menschliche Geschichte war zu weiten Teilen von solchen Stereotypen und Klischees beherrscht. William Blake nannte diese falschen, stereotypen Identitäten »Fesseln, vom menschlichen Geist geschmiedet«. Keine Gesellschaft kann ihre Leistungsforderungen durchsetzen, ihre Steuern einziehen, ihre Kriege führen, wenn sich nicht Millionen der Knechtschaft dieser Fesseln unterwerfen.


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Aber jetzt kommen wir in der Lebensgeschichte des Planeten an einen Punkt, an dem diese Disziplin durch­brochen werden muß; die großen industriellen Armeen, die technologischen Systeme müssen in ihrem rasenden Lauf aufgehalten werden. Und ich glaube, so wird es geschehen: Teilweise zumindest ist die narzißtische Faszination der Weg, die Fesseln zu sprengen. Was oder wer Gaia auch sein mag — ein unpersönliches großes System oder eine immanente Gottheit —, sie spricht zu diesem Teil in jeder und jedem von uns, der gekannt und erkannt sein will, als einzigartige Individualität, als Selbst, das in keine Schablone paßt, als unverwechselbares und unersetzliches »Ich«.

Dieser »Gesang des Selbst« ist vielleicht nicht mehr als eine kurze Folge von Dissonanzen. Aber wenn er von einer genügend großen Zahl von Menschen angestimmt wird, dann reicht er aus, um den Rhythmus der großen Maschine zu unterbrechen. Wir werden zum Sand im Getriebe wie Charlie Chaplins komischer kleiner Antiheld in »Modern Times«, der den Arbeitstakt des Fließbands stört und schließlich die riesigen, menschenfressenden Zahnräder zum Stillstand bringt.

Wenn wir auch nur einen Teil dessen verwirklichen, was unser wahres Selbst ausmacht, dann werden wir zu dem, was dieser belastete Planet braucht: zu Wesen, die eine wichtigere Berufung und soviel Freude am Leben haben, daß sie keinen Sinn darin sehen, Krieg gegen die Natur zu fuhren. War Montaigne narzißtisch, oder Rilke, Whitman, Kierkegaard, Dostojewski? Oder sind sie von dieser Etikettierung ausgenommen, weil sie das Talent besaßen, ihre obsessive Selbsterforschung auf das Niveau großer Kunst zu erheben? Ist das Recht auf Selbsterkenntnis also auf das Genie beschränkt? Bisher haben Intellektuelle nie die Frage gestellt: Wie würde das Ethos einer demokratischen Selbsterkenntnis aussehen?

Die Antwort könnte lauten: Schaut euch um. Das ist es. Oder zumindest fängt es so an. 


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   Das Recht auf Selbsterkenntnis   

 

Vielleicht können wir diesen Wandlungsprozeß im Licht einer historischen Parallele, die uns um etwa drei Jahrhunderte zurückversetzt, besser verstehen. Für die meisten Historiker beginnt die Ära der Moderne mit der Welle der Revolutionen im achtzehnten und im neunzehnten Jahrhundert, die die alte feudale Ordnung umstürzten und den Weg für die Entstehung demokratischer Gesellschaften ebneten. Diese wiederum setzten das Kapital, die unternehmerischen Fähigkeiten und die arbeitenden Massen frei, die für das große Projekt der industriellen Entwicklung notwendig waren.

Das folgende Zitat stammt aus der Anfangsphase dieses turbulenten Übergangsprozesses, in dessen aufgewühltem Kielwasser wir uns nun befinden. Wir sind im Jahr 1647; der Ort ist Putney Common in England, dem Land, dem es bestimmt sein sollte, die industrielle Entwicklung in Gang zu setzen und die liberale Tradition zu begründen. Der Sprecher ist ein Mann, über den wir wenig wissen, ein gewisser Colonel Rainborough, trotz seines militärischen Rangs ein einfacher, ungebildeter Soldat, der während des englischen Bürgerkriegs aus den Reihen der revolutionären Legionen Cromwells zu seiner Position aufgestiegen war.

»Ich denke, daß auch der Ärmste, den es in England gibt, ein Leben zu leben hat, ebenso wie der Reichste, und daher wahrlich, Sir, scheint es mir klar, daß jeder Mensch, der unter einer Regierung leben soll, zuerst seine eigene Einwilligung geben muß, sich unter diese Regierung zu stellen. Und ich denke, daß auch der ärmste Mensch in England, wenn man es genau nimmt, überhaupt nicht an eine Regierung gebunden ist, wenn er keine Stimme hatte, sich ihr zu unterstellen (...) Kein Mensch, der in England geboren ist, kann oder sollte - weder durch das Gesetz Gottes noch durch das Gesetz der Natur - von der Wahl jener ausgeschlossen werden, die die Gesetze machen, unter denen er leben, und, nach allem was ich weiß, sein Leben verlieren soll.«


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Diese Worte stammen aus einem der interessantesten Dokumente der europäischen Geschichte. Die Putney Debates sind die wortgetreue Wiedergabe einer Serie von Diskussionen, die an den Lagerfeuern einer Armee von Aufständischen geführt wurden. Colonel Rainborough trat in diesen Debatten als Sprecher der einfachen Soldaten hervor und vertrat ihre Forderungen nach einer neuen Verfassung, nun, da die Monarchie von der Macht vertrieben worden war.

Das meiste von dem, was der Mann zu sagen hat, dürfte modernen Leserinnen und Lesern so selbstver­ständlich sein wie die Luft, die sie atmen. Etwas mehr als ein Jahrhundert später, 1776, sollte das Ideal, das hier entworfen wurde, von einer geübteren Hand neu formuliert, zum Inhalt der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung werden. Aber lesen Sie die Worte Colonel Rainboroughs noch einmal, und versuchen Sie, während Sie das tun, das Zittern in der Stimme zu hören, das Stocken und Stammeln, die Unsicherheit. Hier fordert ein gemeiner Mann seine Rechte ein, von jenen, die in der sozialen Hierarchie über ihm stehen, die von solchen Rechten nie gehört haben und sie als eine absurde, wenn nicht obszöne Anmaßung betrachten.

Denken Sie, während Sie diese Worte lesen, daran, daß in der Geschichte der Menschheit nie etwas Vergleichbares gesagt worden war!

Dies ist der allererste Ansatz zu einer demokratischen Politik: die unbeholfen geäußerte moralische Über­zeugung eines einfachen, ungebildeten Soldaten. Er versuchte, Festigkeit und Zuversicht auszudrücken, aber er war nicht zuversichtlich. Wie hätte er es sein können, wenn die Offiziere und hohen Herren, die ihm seine Marschbefehle gaben und die ihm in diesen Debatten als Opponenten gegenüberstanden, soviel redegewandter waren als er und ihre Diskussionsbeiträge mit literarischen Anspielungen und Zitaten spickten? Wenn sie alles, was er sagte, als unverschämten und anmaßenden Unfug abtaten? Dieser Mann sprach nicht ihre Sprache. Seine unsicheren Verweise auf die Bibel, auf Theologie und Rechtsprechung demonstrierten Mangel an Belesenheit; sein Vokabular war begrenzt, seine Logik fehlerhaft. Und schlimmer als das:


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Es war keine Demut in diesem Mann, keine Spur von Scham oder Unterwürfigkeit, die seiner gemeinen Herkunft angemessen gewesen wäre. Zeitgenössische Kritiker hätten seine Bemühungen vielleicht zornig als »aufwieglerische Reden« zurückgewiesen. Colonel Rainborough unterlag in der Debatte. Seine Kontrahenten aus den »besseren Kreisen« behielten die Oberhand.

Zwei Generationen später bildeten seine Worte, sprachlich geschliffen und aufpoliert, das stolz und öffentlich vorgetragene Bekenntnis der scharfsinnigen, brillantesten Köpfe der Aufklärung. Die Ära der demokratischen Revolution hatte ihre intellektuellen Kader gefunden.

Dies ist die Parallele, die ich ziehen möchte: In Colonel Rainboroughs Tagen war die politische Integrität des britischen Commonwealth akut gefährdet. Der Kampf um die Menschenrechte war das zentrale Anliegen, das mit allen Kräften vorangetrieben werden mußte. Die Sprache dieser Rechte war juristisch und politisch. Das Resultat der von dieser Sprache inspirierten revolutionären Leidenschaft ist die moderne industrielle Welt, die wir um uns vorfinden.

Noch sind die demokratischen Rechte nicht universell durchgesetzt, aber wir stehen jetzt, in unserer Zeit, vor einer neuen akuten Gefahr: Die physische Integrität der Biosphäre steht auf dem Spiel. Das zentrale Anliegen, das mit allen Kräften vorangetrieben werden muß, ist das Streben nach einer biozentrischen Gemeinschaft. 

Aber die bedrohten Arten, die gefährdete Biosphäre, können nicht für sich selbst sprechen. Wir müssen ihre Stimme sein. Wir sprechen für sie, wenn wir für das Recht auf volle, ungehinderte Persönlichkeitsentwicklung eintreten, denn diese wird durch dieselben Kräfte behindert, die auch die Umwelt zerstören. Vor diesem historischen Hintergrund kommt das Recht auf Selbsterkenntnis dem Recht auf politische Mitsprache gleich. Die Besonderheit jeder und jedes einzelnen nimmt ihren Platz neben der Gleichheit aller vor dem Gesetz ein. Die Sprache dieses neuen Anliegens, in jeder Hinsicht so ungeschliffen und stockend wie die Colonel Rainboroughs, ist psychologisch, die einzige Sprache der Selbsterkenntnis, die uns zur Verfügung steht.

Eine weitere Parallele: 

An den Lagerfeuern von Putney Common standen den »gemeinen Leuten« Mitglieder gesellschaftlicher Eliten gegenüber, die mit verständnisloser Verachtung auf das Ideal der Demokratie reagierten. Auch in unseren Tagen gibt es Eliten, die das Streben der vielen nach Selbsterkenntnis mit Verachtung und Geringschätzung quittieren. Auch sie sehen auf die Naivität herb, die sich in den unbeholfenen Bemühungen um Selbsterforschung manifestiert; auch sie finden es anmaßend, daß »kleine Leute« ohne intellektuelle Differenziertheit sich ohne Scham zu solchen Ansprüchen versteigen. Sie hören, wie gewöhnliche Leute nach der Würdigung ihrer Person verlangen, und nennen es »Narzißmus«. Daß diese Leute als besonders und einzigartig behandelt werden wollen, ist ein unerhörter Affront, ist »Maßlosigkeit«. Sie mokieren sich über den oberflächlichen Jargon und sind nicht fähig, darunter die verzweifelte Not wahrzunehmen. Sollen wir sagen, sie betrauern das Gefieder und vergessen den sterbenden Vogel?

»Ich-Generation«, »Psycho-Kram«, »Selbstbeweihräucherung«, »Therapiewelle« etc.: Nachdem die vor­schnell­en Urteile ausgesprochen sind, bleibt die Frage offen: Wie gehen wir mit dem steigenden allgemeinen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Bestätigung um? Geben wir das Ideal der Selbsterkenntnis auf — oder arbeiten wir mit den vorhandenen Bemühungen, versuchen wir, sie zu differenzieren und zu dem Werkzeug zu formen, das der Planet zu seinem Überleben braucht? 

Ich für meinen Teil sehe in diesem kulturellen Richtungswechsel — auch wenn er sich gelegentlich in vulgären Formen äußert — einen großen politischen, persönlichen und ökologischen Wert, eine Entwicklung, die zu bedeutungsvoll ist, um sie kurzerhand abzutun oder zu ignorieren. Mit ihr beginnt ein Prozeß, der sowohl für das Individuum als auch für den Planeten notwendig ist. Wenn es sich denn um Narzißmus handelt, sollten wir das Beste daraus machen. 

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