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11.  Auf dem Weg zu einem ökologischen Ich

Revolution    Es    Umwelt    Kind   Unbewusste

 

   Die Stärke des Ich  

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»Die Scheidung des Ich vom Es scheint gerechtfertigt, sie wird uns durch bestimmte Verhältnisse aufgedrängt. Aber andererseits ist das Ich mit dem Es identisch, nur ein besonders differenzierter Anteil desselben. Stellen wir dieses Stück in Gedanken dem Ganzen gegenüber oder hat sich ein wirklicher Zwiespalt zwischen den beiden ergeben, so wird uns die Schwäche dieses Ichs offenbar. Bleibt das Ich aber mit dem Es verbunden, von ihm nicht unterscheidbar, so zeigt sich seine Stärke.«(1) 

In diesen Worten liegt die größte Würdigung, die Freud dem Es je zukommen ließ; der Status, den er ihm verleiht, gleicht dem eines kraftvollen psychischen Muskels, der seine Energie aus der ursprünglichen Einheit der Seele bezieht und dem Ich auf diese Weise Kampfkraft verleiht. Aber Kampfkraft wogegen oder wofür? Es blieb Freuds Nachfolgern, oder zumindest den Wagemutigeren unter ihnen, vorbehalten, die Möglichkeiten dieser Idee durchzuspielen.

In Freuds Konzept der Neurose ist implizit die Vorstellung enthalten, daß Eltern ihre Kinder mehr oder minder verrückt machen, indem sie auf die Abspaltung des Ich vom Es hinarbeiten; aufgrund eines zwangsläufig ungelösten Ödipuskomplexes bleiben diese früher vereinigten Sektoren der Psyche dann für immer im Kriegszustand. Aber natürlich hatten diese Eltern denselben Prozeß durchlaufen; ihre eigenen Eltern hatten sie mehr oder minder verrückt gemacht. Sie wiederum geben diesen traurigen Zustand an die nächste Generation kindlicher Opfer weiter — eine Kette ohne Ende. Freud stellte sich vor, daß dieser Stand der Dinge bis auf die legendäre »Urhorde« zurückging; der Vater, ein sexuell dominierender Rohling, trug in besonderem Maße Schuld an der anfänglichen Spaltung der Psyche.

Väter dieser Art — von Freud retrospektiv nach dem bürgerlichen Patriarchen des neunzehnten Jahrhunderts modelliert — hatten ihren bemitleidens­werten Söhnen seit unvordenklichen Zeiten demütigende Wunden zugefügt, und die Söhne hatten diese erdrückenden Väter ermordet (tatsächlich oder in der Phantasie), um sich dann ihr Leben lang in qualvollen Schuldgefühlen zu winden. 

Manche späteren psychologischen Schulen machten die Mütter für die Verformung der kindlichen Seelen verantwortlich. Nicht so Freud. Er führte das ursprüngliche psychotische Trauma auf den mythischen Vater unserer gesamten Spezies irgendwo in der Dämmerung der fernen Prähistorie zurück. Diese archetypische Vaterfigur war der eigentliche Erfinder der Triebunter­drückung zuerst, indem er den Söhnen den Zugang zum Sexualverkehr mit den Frauen verwehrte; dann, indem er sie zu »nachträglichem Gehorsam« zwang, sie psychisch kastrierte, durch die Reue, die sie empfanden, nachdem sie ihre mörderische Wut an ihm ausgelassen hatten.

Trotz der schreienden Ungerechtigkeit dieses Szenarios zog Freud merkwürdigerweise nie die naheliegenden Schlüsse. Er äußerte an keiner Stelle, der erste Schritt, das Ich und das Es wieder zu einer kraftvollen Ganzheit zu vereinen, könne die eindeutige, klare Feststellung sein, daß die nagenden Schuldgefühle — zumindest in der Sicht des mitfühlenden Therapeuten — grundlos sind. Wenn es je solche Väter gab, dann hatten sie verdient, was sie an Feindseligkeit, Undank und vielleicht sogar physischer Aggression abbekamen. Aber Freud war eher geneigt, solche vergifteten menschlichen Beziehungen als grundsätzlich gegeben zu betrachten, als unveränderbare biologische Verformung im Kern des familiären Lebens. Da er selbst, nach allem, was über ihn berichtet wird, für seine Familie und seine Studenten genauso ein dominierender Übervater war, fand er es offensichtlich undenkbar, daß diese miserable Situation je verändert werden könne. 


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Freud gab sich damit zufrieden, Normalität innerhalb des familiären Status quo zu definieren; normal war ein leidliches »Funktionieren« innerhalb der gesellschaftlichen Realität, und die Voraussetzung dafür war, daß die zurückgebliebenen Kindheitsängste unter Kontrolle oder zumindest verdeckt blieben. Die ödipalen Überbleibsel konnten ein gewisses Maß an störenden Kastrationsängsten hinterlassen, aber da diese gewöhnlich den normalen »genitalen« Geschlechtsverkehr nicht beeinträchtigten, mußte man sie als das kleinere Übel betrachten und einfach damit leben.

In Freuds gesamtem Werk findet sich nirgendwo die Idee, daß mit all dem grundsätzlich Schluß gemacht werden und der Psychotherapeut dem inneren Kind zu Hilfe kommen muß. Wie könnte das auch geschehen, ohne daß die gesamte Gesellschaft von Grund auf verändert würde? Nicht einmal die Kindheitserinnerungen, die seine Patienten so häufig vor ihm ausbreiteten, der sexuelle Mißbrauch, den ihre Väter an ihnen verübt hatten, lösten bei Freud Empörung aus. Was konnten diese schockierenden Geschichten anderes sein als die Phantasien und verborgenen Wunschvorstellungen des Unbewußten? Wie wir mittlerweile wissen, und wie Freud bei eingehenderer Betrachtung und mit mehr Vertrauen in seine Patientinnen hätte entdecken können, sind diese Berichte häufig wahr. Freud zog es vor, sie als Produkte der überreizten sexuellen Phantasie von Frauen zu betrachten. Sie mußten weggeredet werden, um den guten Ruf der Väter und die Stabilität der Familie zu retten.

Auch die Postfreudianer legen der Gesellschaft und der Familie zur Last, daß sie jede neue Generation bis zu einem gewissen Grad psychisch verbiegen, wobei sie der sexuellen Repression in aller Regel weniger Gewicht geben. Aber auch hier wieder führt die Erkenntnis der elterlichen Schuld nicht zu einer revolutionären Schlußfolgerung. Man gibt sich damit zufrieden, im Einzelfall nach einer therapeutischen Lösung zu suchen. Das ist, als würden Ärzte, die mit einer Cholera-Epidemie konfrontiert sind, sich daranmachen, jedes einzelne Individuum zu behandeln und keinen Versuch unternehmen, bis zur Quelle der Infektion vorzudringen.


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Unter den frühen Postfreudianern ging nur der exzentrische Wilhelm Reich so weit, den kastrierenden Vater als politisches Problem von großer Tragweite aufzufassen. Reich war überzeugt, daß der Schaden, der in den Kinderzimmern angerichtet wurde, weit über das Persönliche und Private hinausging. Die daraus resultierenden Verzerrungen blieben nicht hinter verschlossenen Türen, sondern ergossen sich in die Straßen, um dort die Konfiguration totalitärer Massenbewegungen anzunehmen. 

Reichs Theorien sind mit Vorsicht zu genießen. Der letzte Teil seines Werks und seiner beruflichen Laufbahn ist ein wüstes Gebräu von Quacksalberei und Paranoia, über das man am besten den Mantel des barmherzigen Schweigens breitet. Aber in seinen frühen Jahren, als Kritiker der Freudschen Orthodoxie, brachte Reich eine Reihe von faszinierenden Ideen hervor. Zu den fruchtbarsten dieser Ideen gehörte seine These, das Unbewußte, wie Freud es beschrieb, sei nicht das wahre Unbewußte. Das Freudsche Unbewußte war in Reichs Sicht nur »die Summe aller sogenannten Sekundärtriebe«, eine vermittelnde Schicht zwischen dem Ich und einer noch tieferen seelischen Ebene. Es war nicht das Unterdrückte, sondern das Unterdrückende. Und was wurde unterdrückt? Die »primären biologischen Triebe«, die man das Es unter dem Es nennen könnte:

»Dringt man durch diese zweite Schichte des Perversen tiefer ins biologische Fundament des Menschentieres vor, so entdeckt man regelmäßig die dritte und tiefste Schicht, die wir den >biologischen Kern< nennen. Zutiefst, in diesem Kern, ist der Mensch ein unter günstigen sozialen Umständen ehrliches, arbeitsames, kooperatives, liebendes, oder, wenn begründet, rational hassendes Tier.«2

In der Zwischenschicht, dem Freudschen Unbewußten, sah Reich die psychische Kraft, die von repressiven Ideologien benutzt wurde, um die primären biologischen Triebe des Menschen abzuwürgen. In ihr war der Faschist in uns allen angesiedelt. In ihr saß die »Lustangst«, die sich physiologisch in chronischen Muskelverspannungen ausdrückt. Sie war »die Grundlage der Reproduktion der lebensverneinenden, Diktatur begründenden Weltanschauungen durch die Menschen


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selbst«. Da »orgastische Impotenz« die eigentliche Wurzel des Faschismus bildet, so argumentierte Reich, muß das Bemühen um eine gesunde Sexualökonomie damit beginnen, daß man die volle Heilungskraft der unterdrückten Instinkte freisetzt:

»Freuds Formel der Heilung der Neurose ist korrekt, doch unvollständig. Erste Voraussetzung ist die Bewußtwerdung der verdrängten Sexualität. Doch dies allein heilt nicht; sie muß nicht, sie kann bloß heilen. Und sie heilt dann, wenn sie auch die Energiequelle der Neurose, die Sexualstauung beseitigt. Mit anderen Worten, wenn die Bewußtheit der Triebansprüche auch die Fähigkeit zur vollen orgastischen Befriedigung herstellt. Dadurch wird den krankhaften seelischen Wucherungen die Energie an der Quelle entzogen.«3

Von diesen Voraussetzungen ausgehend war Reich davon überzeugt, daß die faschistische Grundstruktur »selbst nach dem militärischen Sieg über den deutschen Faschismus in Deutschland, Rußland, Amerika und überall sonst weiterexistieren wird«. Das höchste Ziel der Therapie mußte daher die Wiederherstellung der orgastischen Potenz sein, die Fähigkeit, soviel sexuelle Energie freizusetzen, wie der Organismus akkumulierte.

Die Instinkte, auf denen Reich seine politische Analyse begründete, spielen in der modernen Psychotherapie eine merkwürdige Rolle. Für radikale Theoretiker bilden sie das eigentliche Fundament der Tiefenpsychologie — die tiefste Schicht, die durch die Analyse überhaupt erreichbar ist. In aller Regel werden sie aber so dargestellt, als beschränkten sie sich im wesentlichen auf den Geschlechtstrieb des Säugetiers. Freuds Vorstellung vom Es als Quelle und Zufluchtsort dieses Triebs ist mit Klischees von Primitivität und entfesselter menschlicher Geilheit befürchtet. Die Anlehnung an Darwin ist unverkennbar, ebenso wie die viktorianische Prüderie, die den Hintergrund für Darwins Arbeit bildete. Der primitive, ungehemmte Geschlechtstrieb lebt in uns fort, ein unterdrücktes Erbe tierischer Ahnen, immer bestrebt, sich aus seinem Gefängnis zu befreien, wie der haarige Affe, der an den Gitterstäben seines Käfigs rüttelt. 


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Drei Generationen von Schriftstellern (D. H. Lawrence, Henry Miller, Norman Mailer — und darüber hinaus natürlich sämtliche Hersteller von Pornographie) schlachteten die erotischen Möglichkeiten dieses Bildes der eingekerkerten Libido aus. Nur wenige kamen auf die Idee, zu hinterfragen, ob diese Charakterisierung unserer Säugetier-Vorfahren überhaupt korrekt ist. Welche Rolle spielt der Geschlechtstrieb bei Tieren eigentlich, und wie wild, zügellos und raubgierig äußert er sich wirklich? Nur bei wenigen Arten ist Sexualität, wie beim Menschen, ständig verfügbar, und so weit wir es beurteilen können, ist Sexualität bei keinem anderen als dem menschlichen Tier Gegenstand so phantastischer Ausgestaltungen.

Aber wir können noch weiter fragen: Warum sollte diese spekulative Erkundung des »biologischen Kerns« auf der Ebene der Säugetiere stehenbleiben, statt noch tiefer in die evolutionäre Geschichte einzudringen? Wenn wir Darwins Evolutionstheorie als Schlüssel zur menschlichen Natur anerkennen, dann sind wir mit allen Zweigen und Linien des biologischen Stammbaums verwandt, bis hin zu den Fischen, den Reptilien, den Pflanzen. Wir müßten dann auch davon ausgehen, daß diese längere Ahnenreihe ihre Spuren in uns hinterlassen hat. Und wenn dem so ist, dann hat das Ich auf seiner Suche nach einer robusten, unabhängigen Identität vielleicht etwas Größeres, auf das es zurückgreifen kann, als die Sexualität der Säugetiere. Vielleicht ist es seine Geburt aus Gaia selbst, aus der es seine Kraft ziehen kann.

 

   Die Psychologie der Revolution   

 

Die Frage ist wichtig, weil die Hoffnung auf eine revolutionäre Psychologie sich so lange und so ausschließlich auf die Macht der sexuellen Instinkte gründete. Nehmen wir zum Beispiel die Position, die Reichs treuester amerikanischer Anhänger, Paul Goodman, der Mitbegründer der Gestalttherapie, vertreten hat.


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Goodman hielt eisern an Reichs These von der befreienden Macht der »wahren orgastischen Potenz« fest. Er vertrat diese Auffassung in seiner üblichen, provokanten Manier und schien ein diebisches Vergnügen darin zu finden, seine gesetzteren Kollegen zu schockieren. Er ging so weit zu behaupten, jedes psychotherapeutische System, das die Rolle der primären Triebe heruntergespielt, sei, selbst wenn es von so lupenreinen Linken wie Erich Fromm oder C. Wright Mills befürwortet wird, eine Kapitulation vor den vielfältigen Formen der Anpassung, die in den hochindustrialisierten Gesellschaften florieren.

Eine radikale Umwälzung und Erneuerung der Gesellschaft konnte sich in Goodmans Sicht nur aus einer einzigen Quelle speisen: aus dem freien Ausdruck von Sexualität. »Orgastisch potente Menschen«, so argumentierte er, »werden das Autoritäre oder die Strukturen der gegenwärtigen Industriegesellschaft nicht tolerieren, sondern instinktiv neue Formen schaffen.« Das, so meinte er, sei die »Psychologie der Revolution«.

In den fünfziger Jahren schien einiges für diese reichianische Auffassung zu sprechen. Die »Strukturen der Industriegesellschaft« waren in dieser Zeit von einer Prüderie geprägt, die Sexualität zu einer Sprengkraft machen mußte. In den Massenmedien jener Tage waren selbst so harmlose Wörter wie »Schwangerschaft« oder »Jungfräulichkeit« ein Tabu. Homosexualität oder sogar so elementare physiologische Tatsachen des Lebens wie Menstruation, Masturbation, Impotenz oder Geschlechtskrankheiten konnten nicht offen diskutiert werden. 

Goodman, für den es eine Frage des politischen Prinzips war, sich offen zu seiner Bisexualität zu bekennen, zog sich in verschiedenen Phasen seines Lebens öffentliche Ächtung und sogar physische Mißhandlung zu. Er hatte allen Grund zu der Annahme, daß die »sofortige allgemeine sexuelle Befreiung in der Erziehung, der Moral und der Ehe« der Königsweg zur revolutionären Veränderung sei. Warum sonst wurde Sexualität so streng überwacht? Warum wurden offene Äußerungen über Sexualität und unbekümmerte Zurschaustellungen sexueller Lust als Geschmacksverirrungen betrachtet, selbst von Leuten, die sich für aufgeklärte Intellektuelle hielten? 


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Eine für Goodman typische, verrückte und gleichzeitig erhellende Geste ist seine Behauptung, er beantworte Telefonanrufe von Freunden manchmal mit der Bemerkung, er könne jetzt nicht sprechen, da er gerade mit Masturbieren beschäftigt sei. Er war überzeugt, daß die verunsicherte, nervöse Reaktion auf der anderen Seite der Leitung etwas Bedeutsames aussagte. Hinter diesem provozierenden Verhalten stand ein anarchistischer Glaubensartikel, nämlich die Überzeugung, daß Treue zu unserer ursprünglichen Natur die einzige sichere Grundlage jeder gerechten, freien und befriedigenden Gesellschafts­ordnung sei. Wo sonst sollte diese ursprüngliche Natur zu finden sein als in den sexuellen Instinkten des Organismus, und wo tiefer verwurzelt als in unseren Keimdrüsen? 

Inzwischen hat die Geschichte dieser Theorie eingeholt und ihre Grenzen aufgezeigt. Schon vor Goodmans Tod, 1972, hatten die sexuellen Sitten der Industriegesellschaft sich grundlegend gewandelt. Zum Teil ging diese Veränderung auf die enorme Breitenwirkung der Jugendrevolte zurück, zu deren Aufkeimen Goodman selbst in vieler Hinsicht beigetragen hatte. Sexualität ist die Front, an der die Gegenkultur der sechziger Jahre einen klaren Sieg über die etablierte Ordnung davontrug. 

Aber andererseits war dieser Durchbruch Teil einer Transformation, die sich als charakteristische Begleiterscheinung des Wohlstands hochindustrialisierter Gesellschaften herausstellte. Selbst die politisch abstinenten Psychologien der Anpassung, die von den Reichianern verachtet wurden, trugen ihren Teil dazu bei, dieser Transformation den Boden zu bereiten. Sie führten einen permissiven Stil der Kindererziehung ein, der die elterliche Autorität wesentlich milderte; die Reinlichkeitserziehung wurde nicht mehr so rigide gehandhabt, und sexuelle Neugier wurde nicht mehr bestraft. Zu dem Zeitpunkt, als Goodman seine theoretischen Hauptwerke schrieb, begann die erste Generation dieser in toleranterem Stil erzogenen Kinder gerade, Krach zu schlagen, zum großen Teil durch den Hunger nach sexueller Freiheit inspiriert. Und wie sich herausstellte, war die etablierte Ordnung bereit, an diesem Punkt Konzessionen zu machen.


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Ich möchte nicht mißverstanden werden: Was ich hier anspreche, ist nicht die Hochglanz-Softporno­graphie von Playboy und Penthouse oder die kommerzielle Ausbeutung der Sexualität durch die Werbung und die Medien — obwohl selbst diese Entwicklungen eine entspannte Akzeptanz von Nacktheit, eindeutigen bildlichen Darstellungen sexueller Aktivitäten und früher totgeschwiegener Perversionen voraussetzt, die man vor den sechziger Jahren nirgendwo fand, ausgenommen in den Enklaven der Boheme.

Was ich meine, ist vielmehr die einfache, selbstverständliche, alltägliche Offenheit in sexuellen Dingen, die sich in unseren Tagen manifestiert, in den besten Romanen, Filmen und Zeitschriften, in seriösen Fernsehdokumentationen, in ernsthaftem Journalismus, in der Sexualerziehung an den Schulen. Das Sexuelle ist nicht mehr spannungsvoll und gefährlich — und es hat auch seinen romantischen Nimbus eingebüßt. Sexualität ist einfach kein Tabu mehr. Mir fällt nicht ein einziges sexuelles Thema ein, von dem man erwarten könnte, daß es von der freien und offenen Beschreibung und Diskussion in den Lokalnachrichten, den Tageszeitungen, den Zeitschriften mit Massenauflage ausgeschlossen bleibt.

Zweifellos hat all das mit verringerter Repression zu tun. Hat unsere Kultur also die »wahre orgastische Potenz« verwirklicht? Da die Worte den Beiklang eines extrem ehrgeizigen Ziels haben — einer Art erotischen Satoris — lautet die Antwort vermutlich Nein. Aber andererseits haben die sexuellen Gewohn­heiten und Wertvorstellungen sich im Lauf der letzten zwanzig Jahre wesentlich verändert, genug jedenfalls, um deutlich werden zu lassen, daß die Reichsche Idealvorstellung die in sie gesetzten Hoffnungen auf revolutionäre Relevanz nicht erfüllt. Die »Strukturen der gegenwärtigen Industrie­gesellschaft« wachsen und gedeihen, gehen weiterer Integration, weiterer Zentralisierung entgegen, trotz des offenen Ausdrucks von Sexualität, den sie nun tolerieren.

Goodman, der einen so zentralen Teil seiner politischen Überzeugungen an der Rückkehr zu den naturhaften Instinkten und Trieben festmachte, hatte das richtige Ziel vor Augen, verfolgte aber die falsche Route. Wenn wir den Reichschen Weg auch nicht ganz bis zu Ende gegangen sind, hat unsere Reise uns doch weit genug geführt, um zu erkennen, daß er uns nicht über die Stadtgrenzen der industriellen Kultur hinausbringen wird.


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Es ist nur zu begrüßen, daß die absurden sexuellen Beschränkungen, die unsere Gesellschaften früher belasteten, jetzt gelockert sind; solange sie noch in Kraft waren, lieferten sie effiziente Strategien der Einschüchterung und der psychischen Zerstörung von Menschen. Es ist jetzt weitaus schwieriger, sexuelle Scham als Mittel der Unterdrückung einzusetzen. Diese Entwicklung ist ein notwendiger Schritt zu unserer Befreiung, aber sie reicht nicht aus. Ein Übermaß an sexuellen Möglichkeiten - weitaus mehr, als die viktorianische Familie sich je hätte vorstellen können - garantiert noch keine Lebensfreude oder Erfüllung, geschweige denn politisches Engagement. Man kann diese Situation auf zweierlei Weise deuten:

Entweder sind ihre Möglichkeiten in irgendeiner Weise unvollständig, verzerrt oder illusorisch; in diesem Fall müßten wir zum Ausgangspunkt zurückkehren und die verfehlte sexuelle Revolution neu aufrollen.

Oder die sexuelle Revolution, die zwar als solche angemessen und ein eindeutiger Fortschritt in Richtung seelischer Gesundheit ist, reicht allein nicht aus, um das Ich zu seiner voller Kraft zu regenerieren. Wenn das zutrifft, dann muß das Heilmittel für das Unbehagen in der Kultur anderswo zu suchen sein.
      Meine Interpretation geht in die zweite Richtung. 

 

  Die Weisheit des Es   

 

»Denn was unser Leben und Wesen gestaltet, ist nicht bloß der Inhalt unseres Bewußtseins, sondern in viel höherem Grad unseres Unbewußten. Zwischen beiden, der Region des Bewußten und des Unbewußten, ist ein Sieb, und oben im Bewußtsein bleiben nur die groben Dinge zurück, der Sand für den Mörtel des Lebens fällt in die Tiefe des Es, oben bleibt nur die Spreu, während drunten das Mehl für das Brot des Lebens gesammelt wird, drunten im Unbewußten.«    Georg Groddeck; Das Buch vom Es


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Kehren wir also zum Es zurück, wie wir es in der klassischen Psychoanalyse dargestellt finden; hier erscheint es als ein Reservoir ungebärdiger Energien, das im instinkthaften Kern unserer Natur verborgen liegt. 

Freud gestand dem Es zwar einmal die Fähigkeit zu, das Ich zu stärken, aber häufiger sah er die Aufgabe des Ich darin, dieses wilde Selbst zu zähmen und sozial annehmbar zu machen. Er verglich das Ich mit einem Reiter, der sich damit abmüht, ein bockendes Wildpferd zu bändigen. Die angstvolle Spannung, die das Einsetzen der Neurose begleitet, ist die Furcht des Ich, das Es sei kurz davor, Amok zu laufen. Innerhalb des hochrepressiven Mittelschichtrahmens, in dessen Kontext Freud arbeitete, wurde das Es in engen moralischen Kategorien betrachtet. Seine Widerspenstigkeit und Durchsetzungsfähigkeit waren Ausdruck einer rohen, primitiven, unzivilisierten Kraft; die selbstsüchtige Befriedigung, nach der es strebte, galt als Bedrohung für die Stabilität der Familie und der Gesellschaft. 

In der Metaphorik der klassischen viktorianischen Erzählung von Robert Louis Stevenson, die durch ihre vielen Verfilmungen bis heute ungemein populär ist, erscheint das Es als Mr. Hyde, der mit amoralischer Raffinesse den Sturz des in jeder Hinsicht respektablen Dr. Jekyll plant. Freud, der danach strebte, seine Theorien auf eine evolutionäre Basis zu stellen, übernahm den schroffen Sozialdarwinismus, der in seinen Tagen in Mode war, völlig unhinterfragt. Das bestärkte ihn nur noch mehr in seiner Überzeugung, das Es sei ein gefährliches, beutegieriges Raubtier, das in den Dschungeln des Unbewußten ständig auf der Lauer liege.

Aber das ist absurd. Das Es ist der protomenschliche psychische Kern, den die Evolution in Millionen von Jahren so geformt hat, daß er in die planetare Umwelt integrierbar ist. Seine scheinbare Ungebärdigkeit verlangt ein differenziertes Verständnis, das diese lange evolutionäre Geschichte in Rechnung stellt. Im Lauf dieser Geschichte müssen die vorherrschenden Eigenschaften des Es aus gutem Grund selektiert worden sein. 

Das Es ist sehr alt und daher hervorragend an die Umwelt angepaßt; die zivilisierte Gesellschaft, die sich anmaßt, ihm Anordnungen zu erteilen, ist in diesem Zusammenhang das jüngere, das zuletzt dazugekommene Produkt vieler fehlgeschla-


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gener Versuche und mehr oder minder erfolgreicher Kompromisse zwischen der Aufrechterhaltung des ökologischen Gleichgewichts und sozialen Ambitionen, wie dem megalomanen Ehrgeiz der Gott-Könige in den frühen Flußtal-Kulturen. 

Diese Krieger-Autokraten, die wir an den ersten Anfängen der Zivilisation finden, setzten sich selbst als Götter ein; sie versuchten, den Lauf von Flüssen zu verändern und Monumente zu errichten, die es mit der majestätischen Größe von Bergen aufnehmen sollten. Sie hatten ihre Fähigkeiten als Anführer von Jagdtrupps und als Heerführer erworben und unter Beweis gestellt. Auf die Landschaft der frühen Zivilisation übertragen, als übersteigertes Bedürfnis umzugestalten und zu beherrschen, durchdrang ihre Neigung zu Gewalt und Unterwerfung die Gesellschaften, die sie aufbauten, mit einer Aura der Feindseligkeit und der Gegnerschaft der Erde gegenüber. Das aus diesen fehlgeleiteten Anfängen geborene Mißtrauen setzte sich fort bis in unsere Beziehungen zur Umwelt hinein; unser Krieg gegen die Natur hat sich schließlich zu dem Ziel aufgebläht, das wir die »Eroberung des Weltraums« nennen.

Freud erkannte, daß das Es ein tief konservativer Bestandteil der Psyche ist. Aber da es ihm an ökologischer Einsicht mangelte, erkannte er nicht, worauf sich dieser Konservatismus bezieht. In einem bestimmten Stadium der Entwicklung seiner Theorie brachte er ihn mit der Vater-Sohn-Rivalität der Urhorde in Verbindung, in einem anderen Stadium ging er weiter zurück und verknüpfte ihn mit dem Todestrieb, deutete ihn als das instinktive Verlangen alles Organischen, in den uranfänglichen Zustand der leblosen Materie zurückzukehren. Aber zwischen diesen beiden Wegstationen in der Geschichte des Kosmos liegt eine weite historisch-evolutionäre Strecke, auf der sich aus den inhärenten strukturbildenden Tendenzen des Universums das Leben entwickelte. In diesem großen Intervall wurden die gesamten Muster der Umweltanpassung akribisch festgelegt, als Basispotential aller Lebewesen und des Planeten als Ganzem. Aus dieser Perspektive gesehen ist das, was das Es aus seinem langen Reifungsprozeß zu bewahren und zu konservieren trachtet, unser Schatz an ökologischer Intelligenz.


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Die Unlenkbarkeit des Es entstammt seinem tiefverwurzelten Widerstand gegen alle sozialen Formen, die eine Gefährdung der Harmonie zwischen Mensch und Natur darstellen; in seiner »Selbstsucht« und »Ungezähmtheit« manifestiert sich die tiefe Verbindung zwischen Psyche und Kosmos, deren ferne Ursprünge bis zu den Initialbedingungen des Urknalls zurückreichen. Ebenso wie es eine »Weisheit des Körpers« gibt, die oft mehr von Heilung versteht als die medizinische Wissenschaft, gibt es vermutlich auch eine »Weisheit des Es«, die mehr von seelisch-geistiger Gesundheit versteht als alle psychologischen oder psychiatrischen Schulen, deren Normalitäts Standard im wesentlichen die Verteidigung einer mißverstandenen sozialen Notwendigkeit ist.

Welche Folgerungen ergeben sich daraus für die Psychotherapie der Gegenwart? Am Rand der freudianischen Tradition gab es einige Außenseiter, die eine anspruchsvollere Auffassung vom Es vertraten. Georg Groddeck zum Beispiel schrieb dem Es eine Macht und Autonomie zu, die das Ich praktisch auslöschten. »Der Mensch wird vom Es gelebt«, argumentierte Groddeck:

»Ich ist durchaus nicht Ich, sondern eine fortwährend wechselnde Form, in der das Es sich offenbart, und das Ichgefühl ist ein Kniff des Es, den Menschen in seiner Selbsterkenntnis irrezumachen, ihm das Sichselbstbelügen leichter zu machen, ihn zu einem gefügigeren Werkzeug des Lebens zu machen.«4

Wenn Menschen krank wurden, psychisch oder physisch, dann hatte es in Groddecks Sicht das Es so verfügt. Bezeichnender­weise war er einer der wenigen Freudianer, die in der Kunst nicht nur das Ausgangsmaterial für Charakterstudien sahen. Große Kunstwerke waren für ihn Werke der Natur, ebenso authentisch wie Berge, Ebenen und Flüsse. Inspiriert von Goethe, dem einzigen großen Dichter der Frühromantik, dessen Einfluß bei Freud keine Spuren hinterließ, legte Groddeck geradezu Wert darauf, zu betonen, daß sein psychotherapeutischer Ansatz unwissenschaftlich sei. Er schrieb in einer schlichten, verständlichen und humorvollen Sprache und zog das organische und ästhetische Modell der Psyche dem mechanistischen vor.


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Er sah das Ziel seiner Arbeit darin, die Verbindungen zwischen dem Menschen und der natürlichen Welt wiederherzustellen. Wenn Menschen sich von der Natur abwenden, so Groddeck, dann verspielen sie ihre Chance auf Kulturentwicklung; sie sehen nicht mehr, daß sie vom universellen Ganzen abhängig sind und richten ihre Liebe, ihre Verehrung und ihre Ängste nur noch auf die Anstrengungen und Leiden ihrer Mitmenschen. Die Autorität von Groddecks Es beschränkte sich jedoch auf die Heilung der individuellen Körper-Seele-Ganzheit. Dagegen verfolgen wir hier den Gedanken, daß das Es eine größere, transpersonale Bedeutung haben könnte, als dauerhafte Quelle intuitiven ökologischen Wissens. Vielleicht ist das die bedeutsamste Version der Metapher vom edlen Wilden: das Es als Mitstreiter der Erde bei der Erhaltung der Biosphäre. 

 

  Die vollkommene Umwelt   

 

D.W. Winnicott, einer der Mitbegründer der Object-Relations-Schule, fand einmal eine faszinierende Formulierung für das machtvollste Bedürfnis der Psyche: »Das Bewußtsein hat seine Wurzeln, seine vielleicht wichtigsten Wurzeln, in dem im tiefsten Kern des Selbst angesiedelten Bedürfnis des Individuums nach einer vollkommenen Umwelt.«5) 

Wie wir zuvor sahen, gebrauchte die Object-Relations-Schule das Wort »Umwelt« in ebenso eindimen­sionaler Weise wie die meisten etablierten psychologischen Richtungen. »Umwelt« ist hier ein ausschließlich zwischenmenschliches Konzept, das nicht über soziale Beziehungen hinausgeht. Im Säuglingsalter, der entscheidenden Lebensphase für die Object-Relations-Psychologie, ist die Umwelt nur von zwei Personen bevölkert. Neben dem Selbst gibt es ein einziges »Objekt«: die primäre Pflegeperson, gewöhnlich als die Mutter verstanden. Oder vielmehr die »Mutter als Umwelt«, nicht zu verwechseln mit der »Mutter als Objekt«, die das Ziel der libidinösen Strebungen ist. 


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Wenn die Mutter ihre Aufgabe in dem winzigen Habitat des Säuglings gut genug erfüllt, wird sie eine verhältnismäßig vollständige und handlungsfähige Persönlichkeit in die Welt hinein sozialisieren. »Gut genug« war die Einschränkung, die Winnicott barmherzig hinzufügte. Häufig aber erfüllte die Mutter ihre Aufgabe schlecht, da sie selbst bis zu einem gewissen Grad durch den Mangel an mütterlicher Fürsorge geschädigt war. Das Resultat war in diesem Fall ein weiteres neurotisches Exemplar, das sich damit abquälen mußte, die zerhackten Fragmente eines Lebens zusammenzustückeln. In diesem Sinn ging Winnicott so weit, die Psychose als Krankheit zu definieren, die auf einen »Umweltdefekt« zurückzuführen sei.

Es ist das besondere Verdienst der Object-Relations-Schule, aufgezeigt zu haben, welche Bedeutung dieser frühen, präödipalen Phase zukommt und wie entscheidend der Einfluß der primären Mutter-Kind-Beziehung auf die psychosoziale Entwicklung von Menschen ist. Aber obwohl die Object-Relations-Psychologie einen willkommenen Ausweg aus den intrapsychischen Beschränkungen der Freudschen Orthodoxie darstellte, fanden feministische Psychologinnen es völlig ungerechtfertigt, daß Frauen allein die Verantwortung für die Kinderpflege und -erziehung tragen und damit auch all die Sündenbockfunktionen übernehmen sollten, die mit »mangelnder mütterlicher Fürsorge« einhergehen. Für die meisten Frauen ist diese Verantwortung zu groß, insbesondere wenn sie mit mehreren Kindern, einem anstrengenden Job, einer krisenhaften Ehe oder dem Status einer Alleinerziehenden, mit Krankheit, Geldproblemen, kurzum, mit dem realen Leben fertigwerden müssen.

Wie wir bereits erwähnten, argumentierten einige feministische Psychotherapeutinnen, Dorothy Dinnerstein an erster Stelle, daß ein neuer, flexiblerer Stil der Elternschaft notwendig sei, der auch die oft distanzierten Väter einbeziehen müsse. Wenn die Kinderbetreuung also gleichmäßig zwischen beiden Elternteilen aufgeteilt wird, haben sowohl männliche als auch weibliche Kinder die Möglichkeit, eine flexiblere, ausgewogenere Geschlechtsidentität zu entwickeln.


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Aber die Vorteile gehen über das Soziale noch hinaus. Nach Dinnersteins Auffassung hätte ein kooperierendes Erziehungs­verhalten der Eltern auch weitreichende ökologische Konsequenzen. Die mythologische Gleichsetzung der menschlichen Mutter mit Mutter Natur, die dem männlichen Umgang mit der Natur im Verlauf unserer gesamten Geschichte ausbeuterische sexuelle Untertöne gab, würde sich auflösen. »An diesem Punkt wird es möglich, daß die menschlichen Zielsetzungen der Geschwisterlichkeit, des Friedens mit der Natur und der sexuellen Freiheit sich durchdringen.«6

Dinnerstein erwartet von einer Veränderung in den Gewohnheiten der Kindererziehung vielleicht etwas zuviel, so wichtig eine solche Reform auch wäre. Aber wenn wir ihre Idee noch etwas weiterdenken, kann sie uns zu einem größeren, fruchtbareren Projekt hinführen.

Freuds vertraute Formel für das Ziel der Psychoanalyse lautete: »Wo Es war, soll Ich werden.« Die feministische Psychotherapeutin Nancy Chodorow schlägt eine — mit dem sperrigen Vokabular der Object-Relations-Psychologie formulierte — Revision dieser Formel vor: »Wo fragmentierte innere Objekte waren, sollen harmonisch aufeinander bezogene Objekte werden.« 

Aber nehmen wir nun an, diese psychotherapeutische Zielsetzung würde erweitert und umfaßte mehr als geteilte Verantwortung für die Kindererziehung. Nehmen wir an, wir fügten nicht nur feministische, sondern ökofeministische Wertvorstellungen in die Konzeption ein. Wenn wir von einem zentralen Bedürfnis nach einer »vollkommenen Umwelt« ausgehen, dann meinen wir in diesem Fall die reale Umwelt, die planetare Biosphäre, die für alle Lebewesen die »primäre Pflegeperson« ist. Vielleicht bringen wir dann »beziehungsfähige Individuen« hervor, deren Beziehungen sich über die Familie und die Gesellschaft hinaus auf die natürliche Welt erstrecken, die alle lebendigen Gemeinschaften versorgt und erhält. Stellen wir uns eine Form der Elternschaft vor, die diese Umwelt so vollkommen wie möglich macht. Was sind Eltern ihren Nachkommen schließlich schuldig, das wichtiger wäre als eine warme, vertrauensvolle Beziehung zur Erde, in der unsere evolutionäre Geschichte begründet liegt?


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Wir haben uns mit dem, was Winnicott und seine Schule unter »Umwelt« verstanden, hier zugegebener­maßen große Freiheiten herausgenommen. Aber denken wir nur daran, welche zunächst schockierenden Freiheiten Freud sich mit der gängigen Bedeutung von Sexualität herausnahm, als er den Begriff über die »normale« - in seinen Tagen offiziell auf den heterosexuellen Geschlechtsverkehr begrenzte - Mann-Frau-Beziehung hinaus erweiterte und auf alle polymorph-perversen Formen der Befriedigung ausdehnte. 

Das Resultat war eine plötzliche und erhellende Expansion des Konzepts. Winnicott wiederum erweiterte den psychotherapeutischen Horizont, indem er die »Umwelt« des Kindes einfach soweit ausdehnte, daß sie das »Säuglingshabitat«, die Flasche, das Bad, das Spielzeug, die Decke, den Beißring umfaßte. Seine an Words-worth erinnernde Vision der Kindheit verlieh ihm eine bemerkenswerte Empathie für die Kinder, die erbehandelte; er selbst hätte vielleicht gar nichts dagegen gehabt, die analytische Umwelt noch wesentlich weiter auszudehnen, bis hin zum plane-taren Habitat. Winnicott hatte die Gewohnheit, seine Ideen in Form kleiner Strichzeichnungen zu notieren, in denen er oft mit zentralen Konzeptionen seiner Theorie wie »Raum« und »Grenze« spielte. In seinem Werk, wie in dem der meisten etablierten Psychotherapeuten, gehen die Linien nie über einen äußeren Kreis, der »Gesellschaft« oder »Regierung« genannt wird, hinaus. Aber nehmen wir an, wir dehnen diesen äußeren Kreis bis zu seinem Maximum aus und nennen ihn »Erde« oder »Kosmos«. Wir könnten zu bedeutsamen Einsichten gelangen, wenn wir diese größere Bedeutung von »Umwelt« in Winnicotts Schlußfolgerung hineinlesen:

»Unabhängigkeit ist nie absolut. Das gesunde Individuum entwickelt sich nicht zur Isolierung hin, sondern zur Beziehung mit der Umwelt, und zwar in der Form, daß Individuum und Umwelt, so könnte man sagen, zueinander in wechselseitiger Abhängigkeit stehen.«7


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Auf dem Hintergrund seiner strengen, entfremdeten Vision der Natur und unserer anomalen Stellung darin hätte Freud die therapeutische Beziehung, die wir hier entwerfen, nicht nachvollziehen können. Es gibt allerdings ein Element in seiner Theorie, das in diese Richtung weist: seine Überzeugung, daß die Psyche biologisch fundiert ist. Die Kritiker der Freudschen Orthodoxie griffen diesen extremen »Biologismus«, der zugegebenermaßen reduktionistische Untertöne hatte, heftig an. Aber ihre Korrekturen gingen in die falsche Richtung; sie ersetzten Biologie durch Soziologie, indem sie das Schwergewicht auf die Erziehung, die Familie, die Gesellschaft insgesamt verlagerten. 

Es gibt jedoch noch eine andere Möglichkeit, nämlich die, nicht weniger, sondern mehr Biologie in die Psyche hineinzulesen. Das Biologische ist schließlich der rote Faden, der alles durchzieht, von der verwundeten Psyche über den Körper und seine organischen Triebe bis hin zur wirklichen Umwelt draußen. Der Körper mit seinen Begierden und vitalen Instinkten, seinen elektrochemischen Rhythmen, seinem genetischen Gedächtnis und seinen emsig planenden grauen Zellen ist der Vermittler zwischen der Natur und der menschlichen Natur. Statt uns von der Biologie zurückzuziehen, könnten wir auch durch sie hindurchgehen in Richtung Ökologie, motiviert durch die Suche nach einer Umwelt, die vollkommen ist, weil wir uns darum bemühten, als loyale Spezies in ihr heimisch zu werden.

Harold Searles, einer der originellsten Denker innerhalb der Freudschen Schule, versuchte, die »nichtmenschliche Umwelt« als Konzept in die etablierte Psychologie einzuführen. In einem Buch, das auch diesen Titel trägt, entwickelt Searles eine anspruchsvolle Theorie über die Rolle der Biosphäre in der Entwicklung des Kindes und bei der Entstehung der Neurose. Durch die gesamte Arbeit zieht sich ein defensiver Ton, der verrät, wie abweichend seine Theorien auch in seiner eigenen Sicht waren. Die Perspektiven für die Zukunft der Psychotherapie, die Searles skizziert (und die seinerzeit, 1960, in der Fachwelt kein Echo fanden), stimmen mit den Positionen, die ich in diesem Buch vertrete, weitgehend überein:


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»Während der letzten sechzig Jahre erweiterte sich der Blickwinkel der Psychotherapie; anfangs eng auf intrapsychische Prozesse fixiert (insbesondere auf die Kämpfe des Individuums mit seinen eigenen konfligierenden Ich-, Es-und Über-Ich-Strebungen), ging sie allmählich dazu über, interpersonelle und allgemein soziologisch-anthropologische Faktoren einzubeziehen. Es erscheint also als der naheliegende Schritt, in der nächsten Phase unseren Horizont so weit auszudehnen, daß er die Erforschung der Beziehung des Menschen zu seiner nichtmenschlichen Umwelt ermöglicht.«8

Searles erwog die Möglichkeit eines »Prä-Objekt-Stadiums« in der kindlichen Entwicklung, das noch vor der Verbindung mit der präödipalen Mutter liegt. Diese frühe Phase der »tiefempfundenen Verwandtschaft« mit der nicht-menschlichen Umwelt hatte in seiner Sicht tiefe Wurzeln, die vielleicht bis in die subatomare Ebene hineinreichten. 

Während der frühen postnatalen Phase (insbesondere in den ersten fünf Lebensmonaten) vollzieht sich beim Säugling eine Entwicklung aus diesem Zustand der Nichtunter­schiedenheit heraus, eine trennende Differenzierung, die vielleicht schwieriger und von größerer Bedeutung ist als die Trennung von der Mutter, die in Winnicotts Werk eine so große Rolle spielt. Searles weist die Vorstellung, daß die »Objekte«, die in der Object-Relations-Psychologie diskutiert werden, symbolische Repräsentationen menschlicher Bezugspersonen wie der Mutter sind, mit fast komischer Entschiedenheit zurück. Für ihn sind sie vielmehr reale Objekte, Phänomene der nichtmenschlichen Welt, die in der von einem uranfänglichen Animismus geprägten Erfahrung jedes Säuglings noch präsent sind. Das Bewußtsein des Kindes rekapituliert die psychische Phylogenese des Lebens auf der Erde und verfügt in diesem Prozeß noch über die Sensibilität unserer frühesten Ahnen. In der modernen Welt, so meint Searles, haben wir keinen angemessenen Weg gefunden, die Ablösung aus diesem animistischen Stadium zu verarbeiten; in diesem Versagen liegt die tiefste Ursache der Schizophrenie und anderer psychotischer Störungen.


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Obwohl Searles auf viele literarische Beispiele zurückgriff (u.a. Wordsworth und Thoreau), um seine Theorie zu illustrieren, waren seine Interessen alles andere als theoretischer Natur. Er bemühte sich darum, seine Einsichten auf besonders schwere Fälle anzuwenden, vor allen bei chronischen Psychotikern. Er versuchte sogar, den harmonisierenden Einfluß schöner natürlicher Umgebungen, die er in lyrischen Worten schilderte, in seine klinischen Techniken einzubeziehen. Aber es gibt eine seltsame Verdrehung in seinen richtung­weisenden Bemühungen. So bedeutsam die Verbindungen der Psyche mit der nichtmenschlichen Umwelt auch waren, in Searles Sicht waren sie gleichzeitig von Ängsten durchsetzt, die sich aus unserer Urangst herleiten, vom »Chaos« dieser Welt wieder eingesogen, verschlungen zu werden. 

Also mußte es letztlich zu einer dauerhaften Trennung von der nichtmenschlichen Umwelt kommen; die Persönlichkeit mußte über die Gefahren der Regression auf das »primitive infantile Ich« hinauswachsen, um ein angemessenes Maß an »Integrität und Unabhängigkeit« zu entwickeln. Eine »Auflösung der Ich-Grenzen« durfte es nicht mehr geben. Searles Modell der geistig-seelischen Gesundheit geht am Ende über die Psychologie hinaus und beruft sich auf die Philosophie: Die Ich-Du-Beziehung, die Martin Buber definiert, ist die ideale Form des Zusammenhangs mit der nichtmenschlichen Welt. »Bezogenheit«, nicht mystische Einheit ist das Charakteristikum der Reife. In dieser Hinsicht gesteht Searles dem »ozeanischen Gefühl« keine höhere Bedeutung zu als Freud.

Es ist völlig angemessen, daß die Object-Relations-Psychologie sich auf die frühe Kindheit als die ausschlaggebende Phase der Persönlichkeitsentwicklung konzentriert. Aber ihre Wahrnehmung dieser Phase ist durch dieselben Entfremdungstendenzen verzerrt, die wir in allen psychologisch-psychiatrischen Schulen finden, die innerhalb der urban-industriellen Kultur entstanden sind. An ihrem intellektuellen Horizont ist die reale Natur nirgendwo zu sehen. Wenn der Gebrauch des Begriffs »Umwelt« auf eine metaphorische Bedeutung beschränkt ist, wenn damit ausschließlich interpersonelle Beziehungen gemeint sind (ob in der Familie oder in der Gesellschaft insgesamt), dann ist es kein Wunder, daß so viele Mütter und Väter bei der Erfüllung ihrer Aufgabe versagen, denn sie agieren innerhalb eines ökologisch ignoranten Rahmens.


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Die Aufgabe ist falsch definiert. Die »Umwelt«, um die es wirklich geht, ist keine soziale Konstruktion; sie ist durch die Natur in ihrer Gesamtheit vorgegeben. Solange sie nicht von der zivilisierten Gesellschaft manipuliert und mißhandelt wird, kann diese Umwelt gar nicht anders als »vollkommen« sein, denn sie ist alles, was existiert: Sie ist evolutionäre Geschichte, von Zeit und Raum geschrieben, unbeschreiblich majestätisch, das Schöpfungswerk, dem sich nur große Kunst und Anbetung angemessen nähern können. Alles, wonach wir streben können, ist Vollkommenheit in der Art, wie wir auf diese Umwelt reagieren, ist eine Beziehung zu dieser Umwelt, die uns erlaubt, uns in Harmonie mit ihr zu entwickeln, sinnvoll in ihr zu handeln, uns mit Würde und Anmut in ihr zu bewegen.  

 

   Das verzauberte Kind   

 

Freud gab bereitwillig zu, daß er viele seiner Einsichten den großen Dichtern verdankte, insbesondere den Dichtern der Romantik, die geradezu frenetisch danach strebten, die Stimme des Unbewußten erklingen zu lassen. Gewöhnlich bemühten die Romantiker sich nicht, das Verdrängte auf analytischem Weg ins Bewußtsein zu heben; das Verdrängte eroberte sie, überwältigte sie, verschlang sie mit Haut und Haar.

Eines der herausragenden Themen der Romantik, das bei Freud auf keinerlei Interesse stieß, ist das Motiv der verzauberten Kindheit. Zwar zeigte sich in der Einstellung der Romantik zur Kindheit immer ein Hang zu sentimentaler Verklärung, aber es war dennoch ein wichtiges Anliegen mit diesem Motiv verbunden. Der Kindheit wohnte in der Sicht der Romantiker eine erkenntnistheoretische Bedeutung inne. Aus ihrer eigenen ausgeprägten Begabung für die Innenschau leiteten sie die Überzeugung ab, daß Kinder über eine einzigartige Gabe der ganzheitlichen Wahrnehmung verfügten.


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Die kindliche Unschuld war die Grundlage der Reinheit dieser Wahrnehmung. Kinder begegnen dem Leben und besonders der natürlichen Welt, die sie umgibt, in einer instinktiv animistischen Weise. Für sie ist die Natur lebendig und persönlich; sie hat eine Stimme. In der luziden Klarheit dieser kindlichen Erfahrung wird etwas von der alten sakramentalen Vision der Natur wiedergeboren. Der Dichter, der diese besondere Qualität der kindlichen Wahrnehmung am lebendigsten zum Ausdruck bringt, lebte zwei Generationen vor den Romantikern. 

Thomas Traherne, der einige Jahre später als Newton geboren wurde, brachte Versdichtungen hervor, die zu den erstaunlichsten poetischen Manifestationen der englischen Sprache gehören. Ein großer Teil dieser Dichtung gibt seine eidetisch lebhaften Erinnerungen an die Natur wieder, wie er sie in seiner Kindheit erlebte, als »hinter allem das Unendliche hervortrat«. Traherne erinnerte sich nicht nur daran, was er gesehen, gehört und gefühlt hatte; er konnte sich die sinnliche Textur des Augenblicks ins Gedächtnis zurückrufen, das Wie der Erfahrung ebensosehr wie das Was. Seine Poesie ist eine vollkommene Wiedergabe des »kindlichen Animismus«, der in Jean Piagets Sicht die ersten fünf Lebensjahre prägt.

 

All mine! And seen so Easily! How Great, how Biest!
How soon am I of all possest!
My Infancy no sooner Opes its Eys,
But Straight the Spacious Earth
Abounds with Joy Peace Glory Mirth
And being Wise,
The very Skies,
And Stars do mine becom, being all possest
Even in that Way that is the Best. 

Mein! Und dem Blick so offen! Welcher Glanz, welcher Segen!
Wie schnell bin ich eins mit allem! 
Kaum hat meine Kindheit die Augen aufgetan 
Da erblüht die weite Erde 
In Freude, Friede, Herrlichkeit und Harmonie 
Und die Weisheit
Des großen Himmelsgewölbes, die Sterne 
Werden alle mein, denn ich bin eins mit allem, 
Und sogar in vollkommener Weise.


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Wie später Wordsworth in seinen ekstatischen Erinnerungen an die unberührte Natur im England seiner Kindheit bahnt sich auch Traherne mit seiner Poesie den Weg zurück zu den animistischen Tiefen des Unbewußten, bis zu dem Punkt, der uns mit den fernen, präverbalen Ursprüngen unseres Spezies verbindet, mit der Welt, wie wir sie einst kannten, bevor man uns lehrte, daß sie eine Zusammenballung toter, geistloser Materie sei. Traherne neigte zu dem Glauben, daß wir mit der Fähigkeit, Sprache zu gebrauchen, unsere angeborene animistische Sensibilität verlieren; von diesem Stadium an entfernt sich das Kind von der intuitiven Verbundenheit mit der Natur.

In seiner Hymne an die »Unwissenheit« erinnert Traherne sich einer Zeit, als er in »jedem Stein, jedem Stern eine Stimme« hörte, »in jedem Windstoß einen seltsamen Gesang« und als »die Himmel ein Orakel waren, aus denen Göttliches sprach«. So erfuhr er die Welt, bevor seine Begegnung mit ihr in den Formen der Sprache gefangen war. Am Anfang war es nur die Stimme der Erde, die zu seiner kindlichen Intuition sprach.

... the first Words, mine Infancy did hear, 
The Things, which in my Dumness did appear,
Preventing all the rest, got such a root
Within my Heart, and stick so close unto't
It may be Trampld on, but will still grow;
And Nutriment to Soyl it seif will owe,
The first Impressions are Immortal all.

... die ersten Worte, die ich als Kind vernahm,
Die Dinge, die in meiner Unwissenheit aufleuchteten
Und alles andere überstrahlten, wurzelten so tief
In meinem Herzen, und blieben so fest darin
Daß es noch wachsen wird, selbst wenn man es zertritt
Und immer aus der Erde selbst sich nähren wird.
All diese ersten Impressionen sind unsterblich.


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So als sei er über seine eigene Erfahrung verwundert, fragte Traherne: »Ist es nicht seltsam, daß ein kleines Kind Erbe der Welt sein und die Mysterien sehen soll, die in den Büchern der Gelehrten nie enthüllt werden?« Aber seltsamer noch ist ein Realitätsprinzip, das es als angemessen betrachtet, dieses Erbe bei jedem Kind an der Wurzel auszureißen. »Erwachsenwerden« bedeutete immer — zumindest in den jüdisch-christlichen und den islamischen Kulturen —, unsere Freude an den Mysterien der Natur, wie Traherne sie beschreibt, abzuwürgen und sie durch Mißtrauen, ja Feindseligkeit der Natur gegenüber zu ersetzen. Und es bedeutete schließlich auch die erzwungene Unterwerfung unter die emotional denaturierte Objektivität, die das Ideal der modernen Wissenschaft ist. Im Lauf der Zeit ist unsere natürliche ökologische Intelligenz dieser merkwürdigen Tortur der Bewußtseinsunterdrückung zum Opfer gefallen. Was nach diesem Akt des generationenlangen elterlichen Vandalismus noch bleibt, ist der erbärmliche Rest der libidinösen und aggressiven Triebe, die zum ausschließlichen Konzentrationspunkt der modernen Psychotherapie geworden sind.

Nehmen wir ein einfaches, aber aufschlußreiches Beispiel: Generationenlang war es unter Naturalisten eine heftig diskutierte Streitfrage, ob Tieren irgendeine Form von Intelligenz oder auch nur minimaler Empfindungs­fähigkeit zugeschrieben werden könne. In den frühen Tagen der Wissenschaft wurde diese Frage von der überwältigenden Mehrheit mit Nein beantwortet. Die Anatomen dieser Ära nahmen Vivisektionen an unbetäubten Tieren vor und taten ihre Schmerzensschreie als bloße mechanische Reaktionen ab, als die Art von Geräusch, die eine metallene Sprungfeder macht, wenn sie angeschlagen oder verdreht wird. 

Descartes und der orthodoxen christlichen Lehre folgend, daß Tiere keine Seele haben, behandelten die frühen Forscher ihre Versuchstiere wie Uhrwerke, die keinen Schmerz fühlen, wenn man sie auseinandernimmt. Noch zu Anfang unseres Jahrhunderts fanden manche behavioristi-schen Psychologen es übrigens methodisch unverzeihlich, bei der Erforschung des menschlichen — und erst recht des tierischen — Verhaltens so subjektive Faktoren wie Bewußtsein, Gefühle oder Empfindungen zu berücksichtigen. Als Jane


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Goodall ihre schwierige Langzeitstudie an wildlebenden Schimpansen durchführte und mehr und mehr zu der Überzeugung kam, daß sie es mit intelligenten Persönlichkeiten, ja Gefährten zu tun hatte, stieß sie auf enormen Widerstand, wenn sie versuchte, ihre Kollegen vom Wert ihrer Methoden zu überzeugen. Seither fanden einige wagemutige Zoologen und Psychologen es zumindest »faszinierend« (wie Richard Byrne, der über »tierischen Intellekt« schrieb, es vorsichtig ausdrückte), »gewisse Aspekte tierischen Verhaltens als Ausdruck von Bewußtsein zu betrachten - Bewußtsein in einem eingeschränkten Sinn, selbstverständlich«. Aber selbst unter der Voraussetzung dieser minimalen Konzession an die tierische Intelligenz findet Byrne »die Frage des Bewußtseins bei Tieren immer noch überaus problematisch«9.

Stellen wir dieser professionellen Vorsicht die Tatsache gegenüber, daß Kinder in aller Welt mit einem Schatz von Märchen und Fabeln aufwachsen, die eine intuitive Bewunderung für die Tiere zum Ausdruck bringen und sie als beseelte, intelligente, sinnvoll handelnde Wesen schildern. Kinder finden es durchaus nicht befremdlich, Tiere mit Intelligenz und sogar Persönlichkeit auszustatten, denn das ist es, was das unvoreingenommene Auge in ihrem Verhalten sieht. Erst wenn wir sie »aufklären« und sie lehren, die Dinge anders zu betrachten, geben sie diese naive, spontane Wahrnehmung auf. Mit einem Wort: Die Erziehung zensiert ihre Erfahrung im Namen der »realistischen« Weltbetrachtung. Aber inzwischen treten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einer neuen Generation hervor, die gelernt haben, daß ein »kindliches« Herangehen an die Welt (zu dem Jane Goodall als erste den Mut aufbrachte) einen enormen Komplex eindrucksvollen Wissens zutage fördert, dort, wo Experten früher glaubten, daß es nichts zu lernen gäbe.

Manche werden natürlich fragen, wie weit eine solche kindliche Personifikation der natürlichen Welt denn gehen dürfe. Es kommt Skepsis auf, wenn man an die sprechenden Enten und Mäuse in menschlicher Kleidung denkt, die Walt Disneys Comics und Filme bevölkern. Aber diese Figuren sind keine Schöpfungen von Kindern; Kinder sind sich völlig


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darüber im klaren, daß Tiere nicht unsere Sprache sprechen und nicht unsere Kleider tragen. Zeichentrick­filme und Comics sind die gönnerhaften Bemühungen von Erwachsenen, die, von der kindlichen Weltauffassung selbst völlig entfremdet, wiederzugeben versuchen, was sich ihrer Vorstellung nach in der kindlichen Phantasie abspielt. Vielleicht machen Kinder bei diesem Spiel mit, aber ihre eigene Erfahrung ist einfach die, daß Tiere in ihrem Handeln Zielgerichtetheit und Intelligenz auszudrücken scheinen. Und genauso verhält es sich auch.

Der Psychologe Nicholas Humphrey ging der scheinbar unverbesserlichen menschlichen Neigung nach, die Welt in anthropomorphen Begriffen wahrzunehmen und zu deuten — eine geistige Gewohnheit, die keineswegs auf Menschen in Stammeskulturen und Kinder beschränkt ist. Wie wir in früheren Kapiteln sahen, wimmelt es sogar in der naturwissenschaftlichen Literatur von anthropomorphen Metaphern und unbekümmerten Personifikationen; ihre Sprache ist die Rhetorik des Absichtsvollen. Humphrey meint, daß diese Tendenz evolutionär zu erklären sei. Die Probleme, mit denen unsere frühmenschlichen Vorfahren konfrontiert waren, bedurften zu ihrer Lösung eher einer sozialen als einer technischen Intelligenz. Daher wurden auch Dinge mehr oder minder wie Personen betrachtet. »Soziale Intelligenz« bringt die Gewohnheit hervor, alle Dinge als beseelt und geisterfüllt zu erfahren. Humphrey glaubt, daß »sozio-magisches« Denken einst einen so eindrucksvollen selektiven Vorteil darstellte, daß es vielleicht ununterdrückbar ist:

»Wahrend einer langen Geschichte befaßten die Menschen sich damit, die transaktionalen Möglichkeiten mit zahllosen Dingen in ihrer Umwelt zu erforschen, und manchmal erwachten die Dinge in pygmalionartiger Weise zum Leben. Viele der hochgeschätzten technologischen Erfindungen der Menschheit, vom Ackerbau bis hin zur Chemie, hatten ihren Ursprung also vermutlich nicht in der bewußten Anwendung praktischer Intelligenz, sondern in günstigen Folgen der falschen Anwendung sozialer Intelligenz.«10


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Was also mit jedem Kind wiedergeboren wird, ist eine Gewohnheit des Geistes, die unserer Spezies lange Zeit gute Dienste geleistet hat und Informationen über das Verhalten von Systemen, insbesondere biologischen Systemen, klarer vermittelt als jede andere Form der Beschreibung. Diese Gewohnheit des Geistes spricht den gesunden Verstand an und hat einen reichen Schatz an Literatur und Kunst und, in der Verhaltensforschung der Gegenwart, bedeutsame wissenschaftliche Ergebnisse hervorgebracht. Das sollte als Beweis für den »Wahrheitsgehalt« dieser Form der Wahrnehmung genügen. Man könnte das alles für nebensächlich halten, wenn da nicht die Tatsache wäre, daß die allgemein verbreitete Praxis der Kindererziehung — nämlich Kinder zum Zweifel zu ermutigen, statt sie dazu anzuregen, auf ihrer angeborenen Reaktion auf die natürliche Welt aufzubauen — der erste Schritt zu einer Weltauffassung ist, die am Ende der Natur auf jeder Ebene Beseeltheit, Intelligenz und Zielgerichtetheit abspricht. Auf diese Weise berauben wir das Es eines zentralen Teils seiner angeborenen ökologischen Weisheit. Wie schwierig es dann für hochqualifizierte Wissenschaftler wird, der geordneten Komplexität, die sie überall in natürlichen Systemen vorfinden, Sinn zu entnehmen! Sie haben den Beweis für das Bewußtsein im Kosmos, das ursprüngliche Bewußtsein, von dem ihr eigener Intellekt ein fernes Echo ist, ständig vor Augen, aber ihre professionelle Skepsis hindert sie daran, das zu erkennen - oder einzugestehen, daß sie es wahrnehmen.

Uns den Zugang zu unserem angeborenen Animismus offenzuhalten, darum geht es offenbar auch Paul Shepard, wenn er mit Bewunderung darüber spricht, wie Kinder in traditionellen Gesellschaften zur Welt gebracht werden. Sie nehmen die natürliche Umwelt mit ihrem ersten Atemzug in sich auf. »Die Erfahrung einer solchen Welt ist zuallererst, daß die Mutter immer da ist.«

In Entsprechung dazu kommt die Anthropologin und Therapeutin Jean Liedloff zu dem Schluß, daß die pathologische Unterdrückung unserer angeborenen Verbundenheit mit der Natur in den modernen Gesellschaften im Augenblick der Geburt beginnt. 


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Das geschieht durch die weitverbreitete Praxis, das neugeborene Kind sofort von der Mutter zu trennen. Dieser in den meisten Krankenhäusern routine­mäßig vollzogene Akt tut den »evolutionär begründeten Erwartungen« des Neugeborenen, nämlich warme Berührung und Sicherheit am Körper der Mutter zu finden, Gewalt an. Die traumatische Trennung unterbricht das physische »Kontinuum« zwischen Mutter und Kind, das dem Neugeborenen den Übergang »von der warmen, durch und durch lebendigen intrauterinen Umgebung zu der teilweise lebendigen Umwelt außerhalb des Uterus ermöglichen soll«.11

Darum tritt der zivilisierte Säugling schreiend ins Leben ein; Neugeborene in traditionellen Gesellschaften, die unmittelbar nach der Geburt in schützenden Armen gehalten werden, schreien gewöhnlich nicht. Das Schreien, eigentlich ein wütender Protest, wird in der modernen Welt als »normal« betrachtet, und man läßt das Kind weiterschreien, bis es gelernt hat, daß der Protest sinnlos ist, und die Hoffnung aufgibt. In diesem Augenblick beginnt der Zivilisationsprozeß. Die »angemessene Umwelt« für das neugeborene Kind ist in Liedloffs Definition körperliche Intimität, die von jeder Person zur Verfügung gestellt werden kann — Vater, Geschwistern, Großeltern, Freunden, Nachbarn —, die gerade zur Hand ist und das Kind im Arm hält und versorgt. »Mütterliche Fürsorge« kann von allen Mitgliedern der Familie ausgehen.

»Wo Es war, soll Ich werden« — diese therapeutische Zielsetzung verliert ihr gesamtes ökologisches Potential, wenn das Es, von dem wir sprechen, auf seinen sozialen Minimalgehalt reduziert wird. Sogar wenn wir, wie die Feministinnen innerhalb der Object-Relations-Schule es vorschlagen, die »Beziehungsfähigkeit« männlicher und weiblicher Kinder zu stärken und eine flexiblere, ausgewogenere Geschlechtsidentität anzubahnen versuchen, wird der Rahmen der Beziehungsfähigkeit immer noch zu eingeschränkt sein, um die große, allumfassende »primäre Pflegeperson« in das reife Ich zu integrieren. Diese Integration muß aber unser wichtigstes Anliegen sein. 


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   Das ökologische Unbewußte   

 

Aus dem gesamten theoretischen Apparat, den die etablierte Psychologie uns hinterlassen hat, wird sich Jungs oft unbestimmte und bis heute umstrittene Vorstellung von einem kollektiven Unbewußten vermutlich als die brauchbarste Ausgangsposition für den Entwurf einer Ökopsychologie erweisen

Wie das Freudsche Es wird das Jungsche kollektive Unbewußte im wesentlichen als eine konservative Instanz der Psyche verstanden, als Kellergeschoß der Seele, wenn man so sagen darf, das mit psychischem Ballast aller Art, mit den Restbeständen prägender Erfahrungen angefüllt ist. In Jungs ursprünglicher Formulierung war das kollektive Unbewußte jedoch das Reservoir der komprimierten evolutionären Geschichte unserer Spezies. Der Körper hat eine evolutionäre Geschichte und zeigt eindeutige Spuren der verschiedenen evolutionären Stadien; dasselbe galt in Jungs Sicht auch für die Psyche.12 In der Deutung einiger Jungianer gehen diese Spuren in eine Vergangenheit jenseits des Menschlichen zurück. Für den jungianischen Analytiker Calvin Hall ist das kollektive Unbewußte

»ein Reservoir latenter Bilder, die Jung gewöhnlich als Archetypen bezeichnete. (...) Der Mensch erbt diese Bilder von seiner evolutionären Vergangenheit, einer Vergangenheit, die nicht nur seine gesamten menschlichen Ahnen umfaßt, sondern auch seine protomenschlichen und tierischen Ahnen. (...) Es gibt im Menschen also Prädispositionen oder Potentiale, die ihn befähigen, die Welt in derselben Weise zu erfahren und ihr in derselben Weise zu begegnen, wie es diese Ahnen taten.«13

Die tiefste und einflußreichste Schicht des kollektiven Unbewußten ist die archaische prämenschliche Existenz, die grundlegende Tiernatur des Menschen, in Jungs Sicht der gefährlichste aller Archetypen.


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Dieses psychische Material verschmilzt bei Jung mit dem Archetypus des Schattens, einer Konstellation wilder, ungezügelter tierisch-vitaler Triebe, die auch Freud mit dem Es assoziierte. Eine Zeitlang ging Freud selbst mit der Idee eines »kollektiven Bewußtseins« um. Er sah darin den physischen Standort einer »psychischen Kontinuität in der Aufeinanderfolge der Generationen«, durch die das Drama der Urhorde und die vatermörderische Schuld der Söhne über die Zeitalter hinweg weitergegeben wurde.14

Aber während Freud lediglich die Existenz einiger noch erhaltener prähistorischer Erinnerungsspuren irgendwo im Gehirn zugestand, schrieb Jung dem kollektiven Unbewußten weitaus größere Dimensionen und eine weitaus größere Bedeutung zu; in seinem theoretischen Entwurf wurde es immer ausschließlicher menschlich und immer vergeistigter. Es wurde zu einem massiv gebauten kulturellen Lagerhaus, mit der besonderen Eignung, die großen religiösen Symbole der Menschheit zu bewahren. In seiner komplexesten Ausgestaltung ähnelte es schließlich Platons Welt der Ideen, einer psychologisierten Version des reinen Seins. Nicht evolutionäre Vorgänge oder prähistorische Ereignisse bildeten nunmehr seine Inhalte, sondern die großen spirituellen Themen, die in der menschlichen Erfahrung als verkleinerte, flüchtigere Varianten auftauchten. Im Verhältnis zu diesen transzendenten Symbolen kam dem sterblichen Fleisch eine verschwindend geringe Bedeutung zu. Der Mutterleib — so groß seine psychologische Bedeutung für das Individuum auch immer sein mochte — wurde zu einem großen Sonderfall des archetypischen Schoßes der Großen Mutter, und war so, im Vergleich, scheinbar weniger »real«.

Jungs Gedankenwelt war immer von einer gewissen platonisch-gnostischen Aversion gegen das Physische durchdrungen - eine legitime Zurückhaltung, wenn man sie als Gegenposition zu Freud versteht, dessen Begrenzung in der oft ausschließlich sexuellen Ausrichtung seiner Theorien lag. Jung strebte mit großer Intensität danach, innerhalb des grausam reduktionistischen Paradigmas, das in den Wissenschaften vorherrschte, einen schützenden Raum für die spirituellen Bedürfnisse zu finden. 


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Die Bereitschaft, auf wissenschaftliche Strenge zu verzichten, wenn es um die Rettung spiritueller Werte geht, gehört zu den Prinzipien der »sanften« Psychologien. Jung fand die Lösung darin, das kollektive Unbewußte zu einer zunehmend immateriellen, strikt kulturellen Instanz zu machen, einem Bereich der Kunst, der Mythen und der Kontemplation, in sicherem Abstand über die grobe Materie des Kosmos erhoben, und auch über die primitiven Instinkte unserer physischen Evolution. Die Psyche schien einen so luftigen und erhabenen Status zu brauchen, um sich innerhalb einer gottlosen Kultur zumindest ein Fünkchen des Heiligen zu bewahren.

In letzter Zeit bemühten sich einige Jungianer darum, dem Körper innerhalb der analytischen Theorie und Praxis einen höheren Stellenwert einzuräumen. Der Archetypus wird hier zum Beispiel als »psychosomatische Ganzheit mit zwei Aspekten« interpretiert, von denen einer »in engem Zusammenhang mit den physischen Organen steht«15.

Jung wäre vielleicht nicht so entschlossen darauf ausgewesen, das kollektive Unbewußte in einem Bereich jenseits des Physischen anzusiedeln, wenn er von seiner Verbindung mit Wolfgang Pauli mehr profitiert und wahrgenommen hätte, daß die neue Physik seiner Zeit bereits dabei war, die Materie in ein immaterielles Rätsel zu verwandeln. Fügen wir zu dieser Entwicklung die zunehmenden Erkenntnisse über die hierarchischen Systeme, in denen die Materie sich selbst organisiert, hinzu, und wir stehen vor der Möglichkeit einer radikalen Neuinterpretation des kollektiven Unbewußten. Wir können es auf diesem Hintergrund als Reservoir einer evolutionären Geschichte auffassen, die die Psyche mit dem gesamten Strom der kosmischen Entwicklung verbindet. Das Bewußtsein ist alles andere als eine verspätete, abnorme Entwicklung in einem aus toter Materie bestehenden Universum; es ist vielmehr Teil dieses Universums, das letzte Stadium an seiner sich ständig weiter hinausschiebenden Grenze.

Der Psychologe William James, der sich als einer der ersten mit der Erforschung der religiösen Erfahrung befaßte, mit dem Ziel, ihre zentralen Werte zu retten, faßte seine Erkenntnisse einmal in dem mittlerweile berühmten Satz zusammen:

»Wenn es höhere Mächte gibt, die fähig sind, uns zu beeindrucken,
dann finden sie wohl nur dann Zugang zu uns,
wenn sie durch die Tür des Unbewußten eintreten.«
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Wenn wir uns die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft vergegenwärtigen, könnten wir nun also sagen, daß Gaia — oder wie wir die lebenschaffende, lebenfördernde Potentialität unseres Planeten sonst nennen wollen — durch die Tür des Es Zugang zu uns erhält. So nahe ist sie uns, die Stimme der Erde. Wenn wir, wie die Dichter der Romantik glaubten, mit der Gabe geboren werden, diese Stimme zu hören, dann muß es eine qualvolle Anstrengung sein, uns für ihren Ruf taub zu stellen, eine Anstrengung, die letztlich ebensowenig durchzuhalten ist wie der Versuch, uns vor der Wahrheit unserer eigenen Identität zu verschließen. Verdrängung ist schmerzhaft. Wir nennen diesen Schmerz »Neurose«.

Strikte Freudianer pflegten zu argumentieren, daß jede Form der Psychotherapie, der es nicht gelingt, bis zu den primären Trieben vorzudringen, auf bloße Anpassung hinauslaufe. Jede dieser Therapien werde als Ich-Psychologie enden, die das Leiden zwar etwas erleichtern könne, den Kern der Neurose aber unangetastet lasse — eine Wunde, die es noch zu untersuchen und auszubrennen gelte.

Könnte man dasselbe nicht über jede Form der Psychotherapie sagen, die sich auf Sexualität, Erziehung, Familie, soziale Beziehungen beschränkt und nicht bis in die tiefe ökologische Schicht des Unbewußten vordringt? Auch diese Therapien laufen letztlich auf bloße Anpassung hinaus. Der Kern der Neurose — unsere Entfremdung von Gaia — bleibt unangetastet. Schlimmer noch: Wenn unser Leiden etwas gemildert wird (was heute mehr und mehr durch Medikamente geschieht) und man uns versichert, daß wir nunmehr geheilt seien, dann kehren wir vielleicht zu den schlechten Gewohnheiten des urban-industriellen Lebens zurück, mit gesteigerten Destruktionsenergien und mit der Bereitschaft, mehr Schaden anzurichten. Alle Psychotherapien wenden sich dem Unbewußten zu, um an die Wurzeln der Neurose heranzukommen, ebenso wie an die Kräfte, die der gestörten Psyche Heilung bringen können.

Wie Kriminalisten, die in einem Mordfall ermitteln, suchen Therapeuten in den verknäulten Inhalten des verschütteten Bewußtseins nach Spuren und nach Hinweisen auf unsere wahre Identität. Freudianer finden Inzest- und Mordphantasien, Jungianer die Reste archaischer Mythen, Rituale und Symbole, Reichianer den Überhang gestauter orgasmischer Energie, Object-Relations-Therapeuten die mißlungene Ablösung aus der primären Mutter-Kind-Einheit, Existentialanalytiker die Ängste einer Eigenwelt, die in der Leere eines sinnlosen Universums dahintreibt. 

Nur die Gestaltschule führte einen weiteren, ganzheitlich-biologischen Kontext in die Therapie ein, der Figur und Hintergrund, Organismus und Umwelt zu vereinen sucht; sie ist die einzige psychotherapeutische Schule, die den Ökologiebegriff in ihren Theorien verwendet. Was ich hier vorschlage, baut auf diesem Anfang auf:

Das kollektive Unbewußte umfaßt auf seiner tiefsten Ebene die komprimierte ökologische Intelligenz unserer Spezies; aus dieser Quelle gespeist, entfaltet sich schließlich die Kultur, als bewußte Reflexion der ständig evolvierenden Bewußtseinshaftigkeit der Natur. Der Fortbestand des Lebens und unserer Spezies wäre ohne eine solche selbstregulierende, systembildende Weisheit nicht möglich gewesen. Diese Weisheit war da, um die evolutionäre Entwicklung durch Versuch und Irrtum, Selektion und Aussterben zu beobachten und zu steuern, ebenso wie sie im Augenblick des Urknalls da war, als die erste Strahlengarbe auf die Rudimente der dauerhaften Materie traf. Mit diesem Es muß das Ich sich wieder vereinen, wenn wir zu einer vernünftigen, seelisch gesunden Spezies werden sollen, die zu größeren evolutionären Abenteuern fähig ist.

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