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12. Dem Planeten dienen  

 

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   Das prometheische Intervall  

424-440

Wie die Theologie steht auch die Psychologie letztlich vor dem Dilemma, das Problem der Ursünde zu bewältigen. Sowohl Sünde als auch Wahnsinn setzen einen vorher existierenden Zustand der Gnade voraus. Die gesunden, vitalen Tiere, die wir einmal waren — vielleicht nur für einen Sekundenbruchteil in unserer pränatalen oder postnatalen evolutionären Geschichte —, fielen an irgendeinem Punkt ihrer Entwicklung aus dem Zustand der ursprünglichen seelischen Ungetrübtheit heraus und wuchsen zu den schlechten Väter und Müttern heran, die den erdrückenden Ballast der gesellschaftlichen Institutionen begründeten. 

Von der Perspektive einer Ökopsychologie ausgehend, müssen wir fragen: Wie konnte eine Psyche, die einmal symbiotisch mit dem planetaren Ökosystem verbunden war, die ökologische Krise produzieren, vor der wir jetzt stehen?

Den Eltern oder der Gesellschaft insgesamt die Schuld an diesem Trauma zu geben, ist keine Lösung; damit schieben wir das Problem nur ein Stück weiter von uns fort. Die Systemtheorie, insbesondere die Arbeit Ilya Prigogines, die in der Tiefenökologie eine so große Rolle spielt, bietet uns vielleicht eine bessere Antwort an. 

Prigogine konzentriert sich auf jene Systeme, die der Entropie entgehen, indem sie zwischen maximalem Gleichgewicht und Chaos oszillieren. Ihre Ordnung ist nicht die der leblosen Ruhe, sondern die der konstanten Fluktuation — eine Art Dialektik der dissipativen Strukturen. Ihre episodisch auftretenden Oszillationen sind ebenso natürlich wie das kompensatorische Gleichgewicht, zu dem sie zurückzukehren neigen. Alle Organismen — und im Fall der Menschen auch die sozialen Strukturen, die sie erschaffen — sind Beispiele einer solchen »Thermodynamik des Ungleichgewichts«. Ihr normaler Evolutionsmodus ist das Durchbrechen von Symmetrie. 

Erich Jantsch überträgt Ilya Prigogines Theorie auf das Studium von Kultur und Gesellschaft. Er erklärt:

»Menschliche Systeme mit all ihren greifbaren und ungreifbaren Aspekten könnten vielleicht als dissipative Strukturen betrachtet werden, die aus der Interaktion starker und hoch ungleichgewichtiger Ströme von Ideen und Handlungen hervorgehen. (...) Diese Organisationsform wäre dann sowohl physisch als auch psychisch. Tatsächlich verschwimmt die Grenzlinie zwischen beiden Bereichen im Licht der ständig wachsenden Einsicht, daß Wissen und Erfahrung selbst möglicherweise über ein selbstorganisierendes Potential verfügen.«1

Dieser Ansatz zum Verständnis unserer ökologischen Situation beinhaltet eine Vielfalt ambivalenter Deutungsmöglichkeiten. Wir können uns vorstellen, daß das Bewußtsein in dem winzigen Abschnitt kosmischer Zeit, den die Geschichte des menschlichen Lebens auf der Erde darstellt, durch eine Serie kreativer Oszillationen evolviert. Dabei tritt eine Reihe von Verzerrungen und Hypertrophien auf. Im nachhinein können wir diese als die verschiedenen kulturellen Stile der Vergangenheit identifizieren, die extreme Ausschläge über den Gleichgewichtszustand der seelisch-geistigen Ungetrübtheit hinaus darstellen.

 wikipedia  Erich_Jantsch  1929-1980       wikipedia  Ilya_Prigogine  1917-2003 

Der Gleichgewichtspunkt wäre die »vollkommene Umwelt«, als Zustand dauerhafter Harmonie mit dem eigenen Habitat verstanden, einer Art unhinterfragter Stasis, die prämenschliche Organismen, so weit wir es beurteilen können, erreicht haben. Unsere Spezies aber verfügt über die einzigartige Fähigkeit, »unausgeglichen« zu werden; unsere Neigung, mit dem Ungleichgewicht zu flirten, macht uns zu einem so interessanten Experiment. In Anlehnung an Prigogine könnten wir diesem vertrauten Begriff in bezug auf das Phänomen des Wahnsinns eine faszinierende — wenn auch nur metaphorische — neue thermodynamische Bedeutung geben. Die menschliche Intelligenz oszilliert, wie jedes offene System.

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Weit über die Dimension hinaus entwickelt, die der pure selektive Vorteil verlangt, schwingt sie sich zu Höhenflügen der kreativen Phantasie, der Kunst, der religiösen und wissenschaftlichen Spekulation auf. Sie schuf ein Universum innerhalb des Universums, ein Reich wilder, ausufernder, brillanter Ideen, die von Zeit zu Zeit ganze Populationen erfassen und zu einer Kultur werden. Diese Spannung zwischen neurotischer Hypertrophie und gesundem Gleichgewicht nennen wir »Geschichte«. 

Gegenwärtig befinden wir uns am äußeren Rand einer besonders übersteigerten Oszillation. Wir nennen sie die urbane Industriezivilisation, und sie ist der gewollte Rückzug unserer Spezies aus dem natürlichen Habitat, in dem unsere Evolution sich vollzog. Die moderne Stadt stellt unseren wagemutigsten Versuch dar, »jenseits« der Natur zu leben, als ihr distanzierter Beobachter und Meister. Je mehr wir uns dem schwindelerregenden Extrem dieser Verzerrung nähern, desto bedeutungsvoller wird die Rolle der modernen Wissenschaft in unserer Geschichte; sie produzierte die einzige Kultur — seit der globalen Jäger- und Sammlerkultur des Paläolithikums —, die nahe daran ist, sich über die gesamte Menschheit zu verbreiten. 

Die westliche Wissenschaft stellte die Möglichkeiten bereit, die disparaten Kulturen der Welt zu dem urban-industrieller Komplex zu verknüpfen, den wir heute bewohnen. Durch diese erstaunliche Leistung haben wir heute die Möglichkeit, aus dem gesamten kreativen Potential unserer Spezies zu schöpfen, es zu sichten und zu überarbeiten. Aber es ist auch ein äußerst riskantes Unterfangen. Es gibt uns die Macht des trotzigen Titanen Prometheus, den Göttern das Feuer zu stehlen und auf unserem Planeten selbst Gott zu spielen, ihn zu transformieren und den oft ausschweifenden Launen einer urbanen Bevölkerung anzupassen, die keine Beziehung mehr zu den vitaler Grundbedingungen ihrer Existenz und ihres Überlebens hat. Jetzt, im späten zwanzigsten Jahrhundert, sind wir dem Kulminationspunkt dieses prometheischen Intervalls nahe, der Punkt, an dem wir die damit verbundenen Machtvisionen aufgeben müssen. Aber zugunsten welcher Alternative?


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   Wir werden den Ruf der Erde hören  

 

Die ökologische Krise ist inzwischen Tag für Tag Thema der Nachrichten. In jeder Zeitungsausgabe, jeder Nachrichtensendung wird, wie die Journalisten es ausdrücken, ein »Fenster« für den brandaktuellen Umweltskandal, die jüngste Katastrophenmeldung gelassen. 

Dagegen ist nichts zu sagen. Aber es ist eine unzentrierte Geschichte, ein amorpher Schauer von Vorfällen und Ereignissen, der über uns niedergeht. Endlos reihen sich die Berichte über eingetretene und bevorstehende Desaster aneinander, aber die verstreuten Reportagen treffen uns wie Schüsse, die Heckenschützen in der Nacht abfeuern. Unser Leben steht auf dem Spiel, aber die Gefahr erscheint wie ein Spiel des Zufalls, eine Serie unbeeinflußbarer Unglücksfälle. Es gibt Zahlen und Statistiken, die die Größenordnung der Bedrohung angeben, mehr als die meisten von uns bewältigen können. An einem gewissen Punkt setzt vielleicht sogar Abstumpfung ein; wir wenden uns ab, verwirrt oder resigniert.

Wir haben hier so argumentiert, daß die ökologische Zwangslage sich nicht nur im Außen manifestiert, daß sie persönlicher, radikaler, bedrohlicher ist. Es ist durchaus möglich, daß mehr und mehr von den Problemen, mit denen Menschen in die Sprechstunden von Ärzten und Psychotherapeuten kommen — Qualen des Körpers und des Geistes — Symptome eines biosphärischen Notfalls sind, der sich im innersten Bereich des Lebens manifestiert. Die Erde leidet, und wir leiden mit ihr. Wenn wir die Metaphorik von Mutter Erde noch akzeptieren könnten, würden wir vielleicht von der Nabelschnur sprechen, die uns in den Tiefen unseres Unbewußten mit unserem Planeten verbindet.

Unsere Kultur gibt uns wenig Gelegenheit, innezuhalten und diese große Wahrheit zu würdigen. Es gibt keine großen Jahreszeitenfeiern mehr, die nicht zu Medienspektakeln und marktschreierischen Werbefeld­zügen verkommen sind. Wir bringen dem Tauziehen an der Börse mehr Aufmerksamkeit entgegen als dem Tao des Universums.


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Aber manchmal dringt der Rat der Erde zu uns durch, in einem Augenblick plötzlicher Erkenntnis, die äonenweit zurückgeht und uns daran erinnert, wer wir sind, woher wir kommen, woraus wir gemacht sind. Für einen Augenblick sind wir mit der großen kosmischen Kontinuität in Berührung, die uns in den hektischen Aktivitäten des Alltags so leicht verlorengeht. Charlene Spretnak, eine der führenden Sprecherinnen der ökofeministischen Bewegung, erinnert sich an einen solchen Augenblick:

»Als ich kürzlich über den Ökofeminismus nachdachte, erinnerte ich mich an ein Erlebnis, das sechzehn Jahre zurückliegt und das ich fast aus dem Gedächtnis verloren hatte. Als meine Tochter drei Tage alt war, wir waren noch in der Klinik, wickelte ich sie eines Abends in eine Decke und ging mit ihr hinaus in einen kleinen Garten. Es war ein warmer Abend Ende Juni. Ich stellte meiner Tochter die Fichten, die Pflanzen und die Blumen vor, und hielt sie schließlich dem in sanften Dunst gehüllten perlmuttfarbenen Mond und den Sternen entgegen. Damals wußte ich nichts von Naturreligionen, aber ich fühlte den Impuls, mein Kind, dieses kleine Wunder, mit dem Rest der kosmischen Gemeinschaft bekanntzumachen. Das Interessante ist, daß dieses schöne, intensive Erlebnis ohne jeden Zusammenhang mit dem Leben in einer modernen technokratischen Gesellschaft war, so daß ich es bald völlig vergaß.«2

Eine kleine, private Zeremonie des Willkommens für ein neu geborenes Kind, aber wie verstohlen zelebriert, wie schnell vergessen! Und dennoch: Wenn die Erde nicht zu uns sprechen könnte, über unsere tiefe Verwandtschaft mit allem Lebenden, in einer Weise, die uns unmittelbar berührt, was wäre dann all das Expertenwissen wert? Es bliebe in undurchdringliches Chaos, ohne verbindendes Thema. Unser Thema — wenn wir den Mut haben, uns damit zu konfrontieren — ist die Tatsache, daß unsere gesamte Lebensweise, daß die Strukturen und Gewalten der industriellen Kultur uns von unserem natürlichen Kontinuum abschneiden.

Eine feministische Therapeutin schlug vor, die analytische Situation so zu verändern, daß die Dichotomie männlich-weiblich, von der soviele Patientinnen und Patienten belastet sind, sich auflöst.


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Eine »weiblichere« Art der Begegnung könnte der Erforschung des Selbst eine andere Tönung verleihen. An die Stelle der traditionell schweigenden, distanzierten »Leere-Leinwand-Haltung« des (gewöhnlich männlichen) Analytikers könnte das Bemühen um eine »wirkliche Beziehung« und einen »kognitiven Austausch« zwischen den beiden beteiligten Personen treten. Die Zielsetzung wäre, mehr von den traditionell als »weiblich« verstandenen Qualitäten »Empathie und Fürsorge« in die therapeutische Situation einfließen zu lassen.3

Zweifellos würde eine solche Veränderung für einen warmherzigeren Dialog sorgen. In den letzten Jahren äußerten viele Therapeutinnen und Therapeuten das Bedürfnis nach einer andersgearteten, weniger rigide strukturierten Beziehung zwischen Helfenden und Hilfesuchenden. Aber diese menschlicheren Situationen wären immer noch winzige Inseln in dem umfassenden, entfremdeten urban-industriellen Kontext, innerhalb dessen Therapie in unserer Gesellschaft stattfindet. Der Ort wäre ein Sprechzimmer, ein Behandlungsraum. Bevor man eintritt, passiert man die Anmeldung, sitzt im Wartezimmer. Draußen vor der Tür ist der Parkplatz, die Straße, die Stadt, der Vorort. Wenn der Patient fortgeht, sieht er draußen mehr Telegraphen­masten als Bäume, mehr Hochhäuser als Berge, mehr Kanalisationsanlagen als Flüsse. Und über allem sind weder Sonne noch Mond oder Sterne zu sehen, weil eine Dunstglocke den Himmel verhüllt.

James Hillman schlug vor, Menschen, die therapeutische Hilfe suchen, als Teil der Behandlung »Natur zu verschreiben«, aber da Therapeuten durch die Erfordernisse ihres Berufs und durch ihr Bankkonto an die Stadt gebunden sind, kann man kaum erwarten, daß sie ihre Patientinnen und Patienten anderswo als in der Stadt behandeln. Die Psychotherapien, die wir haben, verlangen nicht, daß Therapeut und Klient an einem Ort jenseits menschlicher Aktivitäten und urbaner Rhythmen Zuflucht suchen, und sei es nur für die Dauer einer analytischen Sitzung. Unsere Psychotherapien verlangen keine saubere Luft, keine Bäume, Seen, Berge, kein Vogelgezwitscher.


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Die gequälte Seele wird nie aus dem Kerker des Ich herausgelockt, um in die Weite zu blicken, auf einen größeren, schöneren Horizont: die unzerstörte Natur, die den Geist dazu einlädt, sich dem Ewigen zu öffnen. Trotzdem wissen wir alle aus unserer Alltagserfahrung, daß ein Spaziergang am Fluß oder am Meer, einige ruhige Stunden auf einer Waldwiese unser seelisches Gleichgewicht wiederherstellen und vielleicht mehr Einsicht in unsere Motive und innersten Wünsche hervorbringen können als die aufrichtigsten Bemühungen des professionellen Analytikers. Von der stillen Betrachtung des Nachthimmels, bevor man sich schlafen legt und träumt, geht vielleicht mehr heilende Kraft für die Seele aus als von wochen-, monate- oder jahrelangen obsessiven Ausgrabungsarbeiten in der eigenen Biographie.*

Ich vermute, daß den meisten Patientinnen und Patienten, wenn sie sich endlich auf der Schnellstraße bis nach Haus durchgekämpft haben, von den Erkenntnissen, die sie während ihrer Hundert-Dollar-Analytiker­stunde gewannen, nicht mehr viel übrigbleibt. Sie sind schon wieder in dem kollusiven Wahnsinn gefangen, den sie nie wirklich verlassen konnten.

Die Kritik, die ich hier an der Praxis der Psychotherapie übe, könnte natürlich auf alles angewandt werden, was sich innerhalb der Grenzen des urbanen Imperiums abspielt, meine eigene Arbeit an der Universität und auf dem Buchmarkt eingeschlossen. Was sind meine Bedürfnisse als Professor und Schriftsteller? Ich brauche Bibliotheken, Buchläden, den Campus, Museen, Galerien, die Medien und schließlich auch das Geld und die Möglichkeiten des Verlagsgeschäfts. Selbst die engagiertesten Ökologen sind auf die Kultur der Städte angewiesen, um ihre Botschaft zu verbreiten. Der Ökophilosoph Anthony Weston schildert mit bewundernswerter Offenheit, was das bedeutet:

»Es sollte uns nicht überraschen (...), daß ein großer Teil der von den Philosophen unserer Zeit entworfenen Umweltethik aus völlig abstrakten intellektuellen Konstruktionen besteht. (...) Wie oft bewunderte ich den flammenden Sonnenuntergang über Long Island, wenn ich zu meinen abendlichen Vorlesungen ging, nur um ihn sofort aus den Augen und aus dem Sinn zu verlieren, sobald ich unser fensterloses Seminargebäude betrat — und ich war doch drauf und dran, einen Vortrag über den Wert und die Bedeutung der Natur zu halten! Aber was die Literatur und die Vorträge zu bieten haben, paßt zu den Gebäuden, nicht zu dem Himmel, den sie vor unserem Blick verbergen.«4

 

* (d-2015:) Vielleicht.


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   Die Frage der Größenordnung   

 

Die individuelle Therapie kann keinesfalls der Weg sein, der uns aus unserem kollusiven Wahnsinn hinausführt. Wir haben weder die Zeit noch die Mittel, die für ein solches Vorhaben erforderlich wären. Außerdem besteht in der Fachwelt nicht genügend Übereinstimmung für die konsequente Erfüllung einer solchen Aufgabe. Wir brauchen eine Psychologie, die ökologisch fundiert ist, aber wir können nicht erwarten, daß Psychotherapeuten die institutionellen Veränderungen vornehmen, die für die Erhaltung der Biosphäre notwendig sind.

Die Funktion des Psychotherapeuten ist in erster Linie eine heuristische: nämlich die, den gesellschaftlichen Standard von geistig-seelischer Gesundheit zu hinterfragen und zu problematisieren. Diese Funktion ist überaus wichtig, sowohl im Hinblick darauf, was es zurückzustutzen gilt (Karrierestreben, Geld, Status), als auch in bezug auf die Dinge, die vielleicht stärker betont werden müssen (unsere bleibenden Bedürfnisse nach unberührter Natur, Ruhe, nach der Gesellschaft von Tieren). Aber die Energie, die den veränderten Maßstab in eine politische Kraft umwandeln kann, muß aus anderen, weiteren und spontaneren Quellen kommen. Die Richtung, in die diese Kraft zu arbeiten hat, ist hinreichend klar. Psychotherapie und Ökologie bieten uns eine gemeinsame politische Zielsetzung an, die sowohl dem Planeten insgesamt als auch dem Individuum die besten Chancen bietet.


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Sie läßt sich in wenigen Worten darstellen: verkleinern, verlangsamen, demokratisieren, dezentralisieren — ökologische Ziele, die der Psyche Heilung bringen; psychologische Wertvorstellungen, die den Planeten heilen. Diese Konvergenz der inneren und der äußeren Bedürfnisse kann nicht rein zufällig sein. Sie entspricht der alten hermetischen Weisheit »Wie oben, so unten«, die als gemeinsames Rezept von Psycho­therapie und Wissenschaft zu uns zurückkommt.

Wenn es eine wirklich zutreffende allgemeine Aussage über Stammesgesellschaften gibt, dann die, daß sie stets mit geringeren Mitteln ausgekommen sind, stets in kleinerem Maßstab gewirtschaftet und gelebt haben als zivilisierte Gesellschaften seit den Tagen der ägyptischen Pharaonen. Es wird leicht übersehen, welche Bedeutung diese offensichtliche Tatsache hat. Mit der Logik eines einfachen Umkehrschlusses gehen wir allzu leicht davon aus, daß — da alles Große einmal klein angefangen hat — alles Kleine notwendigerweise groß werden müsse, und halten das für ein Gesetz der historischen Entwicklung. Aber der kleine Maßstab hat seine eigenen bleibenden Meriten. Für das Überleben unserer Spezies ist es vielleicht ausschlaggebend, daß wir dem Geheimnis einer »Ökonomie der Beständigkeit«, wie E. F. Schumacher sie nannte, auf die Spur kommen. Selbst jene traditionellen Gesellschaften, die falsche Wege einschlugen und zugrunde gingen, rissen dank ihres begrenzten Herrschaftsbereichs nicht gleich die gesamte Spezies mit in den Abgrund. 

Die Beziehungen traditioneller Gesellschaften zur Erde sind durch die überschaubaren Größenordnungen des Stammessystems geprägt, und das, in Verbindung mit der Ehrfurcht dieser Gesellschaften vor der Natur, erklärt ihre oft erstaunliche Beständigkeit. Beide Faktoren durchdringen sich; überschaubare Größenordnung und animistische Sensibilität wirken wechselseitig verstärkend aufeinander. Der intime Dialog mit der Natur war nur in Gesellschaften möglich, die in den wildlebenden Kreaturen ihre Gefährten erkennen konnten. Und je besser sie diese Wesen kannten, desto größer war ihre Neigung, sie zu bewundern und zu achten.

Ich denke daran, mit welcher Wärme, welcher Sehnsucht viele Menschen, obwohl sie hoffnungslos in unsere industrielle Kultur verstrickt sind, immer noch auf die wildlebenden Kreaturen unserer Welt reagieren, so als wären sie ihnen in einer unterschwelligen, tiefen Loyalität verbunden. 

* (d-2015:)  E.Schumacher bei detopia  


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Wir finden diese Reaktion fast ausnahmslos bei Kindern, deren fasziniertes Interesse an Tieren nicht zu unterdrücken ist. Selbst wenn der Kontakt zur »ungezähmten« Natur nur in einer traurig vorgefertigten Weise herstellbar ist — in Form von Pauschalreisen in afrikanische Wildparks oder von Naturfilmen im Fernsehen —, ist bei erstaunlich vielen Menschen immer noch unverstellte Neugier und aufrichtige Zuneigung da. Und dennoch haben unsere Beziehungen zur planetaren Umwelt eine so destruktive Form angenommen, daß selbst diese Gesten, diese traurig begrenzten Formen der Kontaktaufnahme zu unseren gefährdeten Mitgeschöpfen oft mehr stören oder zerstören als helfen. Jane Goodall warnte vor den Folgen der Safaris in die Wildreservate Afrikas, die für die scheuen Schimpansen eine zunehmende Bedrohung darstellen; ebenso kann auch das Eindringen von wohlmeinenden Dokumentarfilmern in die letzten Enklaven wildlebender Tierarten den Punkt des bedrohlichen Übermaßes erreichen. 

In unseren Tagen wird sogar die antarktische Wildnis für den Reiseverkehr erschlossen; die Wissenschaftler, die dort hinreisen, um die lange unzugänglichen Wunder dieser Region zu studieren, sind nachweislich die schlimmsten Umweltverschmutzer. Unbekümmert verstreuen sie ihren Müll, von Bierdosen bis hin zu radioaktiven Abfällen. Wenn sich in uns noch einige von der Evolution barmherzig gehegte, genetisch verankerte Spuren der archaischen animistischen Sensibilität erhalten haben, dann bekommen sie sicherlich erst dann eine Chance, sich wieder zu entfalten, wenn sie anderswo Halt finden können als in Tourismus und Darstellungen in den Medien. 

Um eine instinktive Gemeinschaft mit der Natur zu begründen, brauchen wir die lebende Präsenz der Natur; sie muß uns so autonom, so authentisch gegenüberstehen, wie wir es uns bei einer geliebten Person wünschen würden. Das bedeutet, die Dominanz des urban-industriellen Komplexes weit zurückzunehmen, so daß das Wilde die Autonomie hat, die es braucht, um in biozentrischer Gemeinschaft mit uns zu leben.

Wie können wir vom Imperium der Städte, das jetzt den gesamten Planeten in seinem Würgegriff hält, wieder zu einer Größenordnung zurückkehren, die das möglich macht?


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Ich denke, nicht durch den Frontalangriff, mit dem die militanteren Umweltschützer es versuchen. Weder Angst noch Schuld­gefühle werden zu der notwendigen Umkehr führen, ebensowenig wie Forderungen nach puritanischer Genügsamkeit. Die Motivation, Veränderungen auf globaler Ebene zu vollziehen, muß aus einem authentischen persönlichen Bedürfnis nach einer neuen Lebensqualität erwachsen. Gaia, die vermutlich weiß, was sie tut, scheint genau in diese Richtung zu arbeiten. Schauen wir, ob wir ihren Rat einholen können — und sei es auch nur als spekulative Übung. 

 

   Ein Kongreß unautorisierter Identitäten   

 

Wenn wir uns körperlich und geistig innerhalb eines größeren, lebendigen, selbstregulierenden Systems entwickeln, dann müßten wir erwarten, daß unsere Säugetier-Intelligenz, auch wenn sie periodisch wild fluktuiert, sich letztlich zu einer lebenserhaltenden, lebenfördernden Intelligenz entwickeln soll. Es ist eine der wichtigsten Einsichten der Ökologie, daß Stabilität sich auf Vielfalt gründet. Die Dynamik der Evolution zeigt auch die Bedeutung des Variantenreichtums — viele Arten einer Spezies, die viele Habitate erobern.

Wie Darwin mit einer Mischung von Ehrfurcht und Grauen notierte, als er beobachtete, wie verschwenderisch die Natur beim Ausjäten ihres Gartens, bei der Auslese aus ihren Massen vorgeht, ist Überfluß die Basis der evolutionären Entwicklung. Wenn wir diese Tendenz zur exzessiven Vermehrung auf den Bereich des Denkens anwenden, dann haben wir statt der DNS-Helix die menschliche Persönlichkeit als generativen Faktor. Aber dort, wo es um Gedanken und Wertvorstellungen geht, ist für Wettbewerb kein Bedarf. Spiel ist hier angemessener als Kampf. Das Habitat des Bewußtseins ist unendlich in seiner Ausdehnung. Ideen und Wertvorstellungen werden aus dem individuellen Geist geboren, jeder ein in sich abgeschlossener Mikrokosmos; ästhetische Vorstellungen, Geschmack, Einsichten wachsen innerhalb von Persönlichkeiten.


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Wenn wir eine reiche Ernte von Ideen einbringen wollen, dann müssen wir vollständige, freie und inspirierte Persönlichkeiten haben, und zwischen ihnen einen von wechselseitiger Achtung geprägten Dialog.

In der Vielfalt liegt die Gesundheit eines Ökosystems. Jede neue Spezies, jede kleinste Variation innerhalb einer Spezies, repräsentiert unter unvorhersehbaren Bedingungen eine erhöhte Überlebenschance. Vielfalt ist auch innerhalb einer Spezies wichtig; sie ist wichtig für uns, die wir vielleicht unerwarteten Nutzen aus den Dingen ziehen können, die Variation und Selektion hervorbrachten. So weit unsere wissenschaftliche Entwicklung auch vorangeschritten sein mag, wir entdecken in Pflanzen und Tieren ständig neue Substanzen, die heilen und nähren, in einer Kröte hier, einer Motte, einer Orchidee, einem Pilz dort.

In den letzten Wochen, in denen ich dieses Manuskript abschloß, wurde in der Presse über eine aus der Rinde einer seltenen Eibenart isolierte Chemikalie berichtet, die ein Heilmittel für Krebs zu werden verspricht; in einem weiteren Bericht las ich, daß aus einer unbedeutenden Gartenspinne eine Substanz gewonnen wurde, die dem Gehirnschlag und der Epilepsie entgegenwirken kann. Daher verarmen wir durch die ständig beschleunigte Rate des Aussterbens von Arten immer mehr, auch wenn wir vielleicht nie erfahren, was wir schon verloren haben. Wie wichtig muß es uns also sein, die Vielfalt der Talente und Formen von Intelligenz, die wir innerhalb unserer eigenen Spezies finden, zu schützen!

Dort, wo wir die Frage des Bewußtseins im Kosmos ansprechen, geht es nicht nur um unser bloßes Überleben, sondern um unser weiteres Schicksal auf diesem Planeten. Wer könnte voraussagen, welche Mischung intellektueller, ästhetischer und intuitiver Begabungen wir brauchen, um vollständig menschlich zu werden? Wie wir gesehen haben, neigen Philosophen wie Henri Bergson und Theologen wie Teilhard de Chardin dazu, die Weisen und Heiligen für die Wahl der wertvollsten Form des menschlichen Bewußtseins zu nominieren. In einer so materialistischen und pragmatischen Ära ist diese Wahl verständlich, scheinen diese spirituelleren Begabungen in der Evolution des Bewußtseins doch den Weg nach vorn zu weisen.


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Aber es gibt so viele große menschliche Tugenden, bei weitem zu viele, um unsere Wahlmöglichkeiten auf einen einzigen menschlichen Typus zu beschränken. Der Renaissance-Philosoph Pico della Mirandola kam der Sache näher, als er die Spezies Mensch als eine Art Chamäleon beschrieb, das in der Welt ist, um alle Möglichkeiten der Erfahrung auszuschöpfen. Mehr als alles andere sorgt die blühende Vielfalt der menschlichen Persönlichkeiten für eine interessante Existenz. Wir brauchen die Clowns ebenso wie die Weisen, die Athleten ebenso wie die Ästheten, die Logiker ebenso wie die Mystiker. Vielleicht sind sogar die Schurken ebenso wichtig wie die Heiligen.

Freud sah in der bewußten Rückgewinnung des Verdrängten den Weg zur Wiederherstellung der seelisch-geistigen Gesundheit. Er wandte diese Vorstellung nie auf politische Inhalte an, aber das Verdrängte, das die Seele spaltet, gibt es auch in der Kultur insgesamt; dieses Verdrängte wieder ans Licht zu befördern, kann Menschen in ihrem Befreiungskampf einen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verhielten die Ausgestoßenen und Entrechteten unserer Gesellschaften sich zunehmend wie revoltierende Stämme, indem sie ihre offiziell geleugnete Existenz schamlos öffentlich machten. Die kosmopolitische Offenheit und der Überfluß in hochindustrialisierten Gesellschaften machen solche lautstarken Selbstdarstellungen möglich.

Eine Zeitlang nahm diese Öffnung des Systems die Form von »Befreiungs«-Bewegungen an, die ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit erregten, Befreiungsbewegungen, die nicht nur von den früher kolonisierten Völkern der dritten Welt ausgingen, sondern von den kolonisierten Gruppen innerhalb der Industriegesellschaft — am offensichtlichsten von den unterdrückten Minoritäten der jeweiligen Gesellschaft, etwa den amerikanischen Ureinwohnern und den Afroamerikanern, den Asiaten, den Hispanics, aber auch von den Frauen, den Alten, den Homosexuellen, den Behinderten, den Psychiatrie­patienten, den Dicken.

Gegenwärtig sind die öffentlichen Kampagnen an der Befreiungsfront vielleicht weniger turbulent, aber der Kampf um gleiche Rechte und gleiche Chancen hat sich als legitimes Anliegen durchgesetzt und differenziertere Formen angenommen.


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 Jede kleinste Nuance von Besonderheit verlangt Gehör. Frauen sind nicht mehr einfach »Frauen«; sie sind die Frauen der dritten Welt, die lesbischen Frauen, die mißhandelten Frauen, die Töchter alkoholsüchtiger Mütter, die Mütter drogenabhängiger Töchter, die Frauen mit AIDS, die ehemaligen Strafgefangenen, die Prostituierten. 

Ein Flugblatt, das ich in einem Buchladen fand, lädt die »verwundeten Töchter distanzierter Väter« zur Gründung einer Selbsthilfegruppe ein. Die Identitäten sind nicht immer die von Opfern, aber ein Opferstatus ist oft der erste Schritt zur Selbstreflexion. Und der nächste Schritt ist der Zusammenschluß mit anderen, die mit denselben Problemen zu kämpfen haben. Behörden, Personalmanager, Führungsgruppen großer Organisationen oder Unternehmen, alle, die versuchen, ein großes bürokratisches System zum Funktionieren zu bringen, sind heute mit einer immensen Vielfalt sozialer Gruppen konfrontiert, die sie berücksichtigen müssen — und in aller Regel nicht berücksichtigen können. In jeder Institution, jeder Organisation wird der Druck spürbar, der von den beharrlichen Forderungen der unterschiedlichen Vielen nach Respekt, Gerechtigkeit und Freiheit ausgeht.

Denn diejenigen, die sich zu diesem Kongreß der unautorisierten Identitäten zusammenfinden, sprechen für das, was sie sind, lautstark, stolz und unablässig; sie werden (ungerechtfertigt) als maßlos, narzißtisch, verwöhnt etikettiert, sie bekommen ihre Schelte von Kritikern, die das Glück haben, selbst keine solche Plattform zu brauchen. Da sie Aufmerksamkeit und Konzessionen verlangen, stellen sie eine (reale) Störung der technokratischen Ordnung dar; sie werden unter Druck gesetzt, schikaniert, zurückgeschlagen, so oft es geht, aber sie sind bald wieder zur Stelle. Die Mächtigen, die das urban-industrielle Imperium regieren, sind gut beraten, wenn sie diese Zeitströmung als bedrohlich betrachten. Kein gut funktionierendes, effizientes System kann mit diesem Aufruhr individueller Improvisationen koexistieren. Selbstentdeckung ist der Tod der industriellen Megamaschine, ebenso wie die Demokratie der Tod des Feudalsystems war.


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Jeder Neuschöpfung geht ein Akt der Zerstörung voraus, und so handelt es sich bei dem Chaos, das wir auf uns zukommen sehen, um eine kreative Desintegration, die großzügigeren Raum für Unterschiede und Vielfalt schafft. Politische Gleichberechtigung war der Anfang dieser historischen Strömung; persönliche Einzigartigkeit ist ihr Ziel. Und beide — die Forderung nach Gleichheit und die Forderung nach Einzigartigkeit — begannen innen, in den Tiefen der individuellen Psyche, bevor sie zu einer revolutionären Strömung in der Außenwelt wurden. Lange bevor der politische Kampf begann, waren Leute da, die schweigend litten, Bedürfnisse hatten, Sehnsucht nach Freiheit fühlten.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist jedem aus dem Rahmen fallenden, jedem ausgestoßenen Mitglied unserer Spezies die Möglichkeit gegeben, ohne Scham vorzutreten und seine oder ihre Geschichte zu erzählen. Wenn wir eine Kultur von Narzißten sind, dann scheinen wir den Narzißmus von jedermann und jederfrau doch ebenso faszinierend zu finden wie unseren eigenen. Bilder des Exotischen und Bizarren füllen die Medien unserer Tage. Die ungemein populären Talkshows und Ratgebersendungen im Fernsehen, an denen Zuschauer sich häufig durch Anrufe beteiligen können, machen jede erdenkliche Verdrehung und Krümmung der menschlichen Natur zum öffentlichen Thema. Die Produkte der Regenbogenpresse, die in jedem Supermarkt ausliegen, wetteifern darum, ihren Lesern die farbigste, die schrillste Monstrositätenschau zu bieten.

Und selbst diese Auswüchse geschmackloser Sensationslust sagen noch etwas Wichtiges aus. Sie zeigen, wie interessiert aneinander wir geworden sind, wie wir danach lechzen, die Exzentrizitäten und Merkwürdigkeiten von Leuten in aller Welt kennenzulernen. Unsere angeborene Neugier kommt uns schließlich zu Hilfe; vielleicht steht hinter der Faszination, die jede individuelle Geschichte auslöst, eine rettende Weisheit. Wir brauchen alle diese persönlichen Geschichten, um dem Gesetz der Natur, was immer das sein mag, auch nur minimale Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Aus ökologischer Sicht ist die Musik der Sphären kein Solo und auch kein großer Chor, der eine einzige Melodie singt, sondern eine Jazz-Improvisation, bei der jeder Spieler sein Solo spielt.


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Neben der Bedeutung der Vielfalt gibt es noch etwas anderes aus der elementaren Ökologie zu lernen. Die urbane Revolution war der Beginn einer Ära des Ungleichgewichts, an deren dessen letzten Ausläufern wir uns jetzt befinden. Nach menschlichen Maßstäben sind die rund fünftausend Jahre, die dieses Intervall umfaßt, vielleicht eine enorme Zeitspanne. Aber in den Gaia-Chroniken des Planeten sind sie nur eine geringfügige, kürzlich eingetretene Fluktuation, deren volle Auswirkungen sich noch entfalten. Im historischen Rückblick beginnen wir jetzt zu sehen, wie grausam und skrupellos dieses Experiment bei der Reglementierung der mentalen und physischen Energien vorging. In der industriellen Ära ersetzen Maschinen aus Metall und chemische Treibstoffe die menschliche Muskelkraft, aber die Vermassung der Menschen, die mit den Arbeitsheeren der Pharaonen begann, setzte sich in Form des Fließbandes, des Großraumbüros, der Konsumentenmassen, des Militärs fort.

Die Industriegesellschaft braucht Vermassung, um ihre außerordentliche Gewalt über die Natur auszuüben: Massenproduktion, Massenmedien, massenhafte Vermarktung. 

Unsere komplexe Weltwirtschaft ist auf Milliarden kleiner privater Akte der psychischen Unterwerfung aufgebaut, auf der Bereitschaft der Menschen, sich in die ihnen zugewiesene Rolle als Rädchen in der sozialen Megamaschine, die alle anderen Maschinen umfaßt, zu fügen. Sie müssen sich den vorgefertigten Identitäten anpassen, die eine effiziente Koordination möglich machen. Wenn Gaia den zerstörerischen Angriff der weltweiten Industrialisierung abfangen soll, dann muß die Macht dieser Selbstversklavung gebrochen werden. Und der Fels, auf dem der Widerstand sich gründet, ist die Entdeckung des Selbst — unsere Überzeugung, daß wir, jede und jeder einzelne, ein bemerkenswertes, unwiederholbares Ereignis im Universum sind, ein Leben, um eine Idee zentriert, die einmal und nie wieder auftritt. Das ökologische Ich wird aus einem Narzißmus geboren, der stolz seine Liebe zum Selbst, sein Fasziniertsein vom Selbst bekennt, nicht als Rädchen im Wettbewerbs­getriebe, sondern als frei erschaffenes Wesen, das Aufmerksamkeit, Anerkennung, Respekt verlangt.

Ist es nicht genau das, was wir heute überall in den hochindustrialisierten Gesellschaften geschehen sehen? Überraschenderweise beobachten wir es auch in den ehemals sozialistischen Ländern, wo es lange so schien, als habe der kollektivistische Druck die Manifestationen des Individuellen ausgelöscht.

Zwei Generationen antikommunistischer Propaganda in der westlichen Welt vermittelten uns das Bild roboterhafter Millionen, die gehorsam den Diktaten des Big Brother folgen; das half uns, zu ignorieren, daß die Marktwirtschaft, die Werbung und die politische Propaganda unserer eigenen Gesellschaften den Rechten der Person auf subtilere, aber nicht weniger grausame Weise Gewalt antut. 

Aber jetzt erkennen wir, daß die autonome Persönlichkeit selbst unter den repressivsten Bedingungen am Leben bleibt. Wir ordnen die Rebellionen in China und in Osteuropa in die Kategorie des Politischen ein, aber es ist durchaus möglich, daß diese revolutionären Strömungen einem größeren Ziel dienen. In Verbindung mit einem gesteigerten ökologischen Bewußtsein repräsentieren sie vielleicht die ersten Schritte in Richtung einer postindustriellen Kultur, in der sowohl das Individuum als auch der Planet endlich die Loyalität finden, die sie verdienen.

Was die politischen Führer und die Wirtschaftseliten in Ost und West für unsere Zukunft im Auge haben, ist zweifellos ein weiteres Kapitel in der tristen, seelenzermalmenden Geschichte des industriellen Fortschritts: größere Systeme, größere Märkte, mehr Konsum, mehr Gewinn. Die Kräfte, die die Marktwirtschaft beherrschen, sehen in den politischen Transformationen im Osten ihren Triumph, ihre einmalige Gelegenheit. Bewaffnet mit verlockenden Investitionen und berauschenden Plänen für noch schwindelerregendere Höhenflüge der industriellen Entwicklung, bereiten sie sich auf die ökonomische Invasion Rußlands, Osteuropas, Chinas vor.

Aber Gaias Pläne sind vielleicht ganz andere. Ihr Interesse gilt dem weltweiten Kongreß unautorisierter Identitäten, die wir überall um uns her aufstehen und voller Ungeduld nach einer anderen Art von Reichtum Ausschau halten sehen. Auf dem Höhepunkt der industriellen Ära ruft Gaia uns zurück zu der ältesten philosophischen Aufgabe: Erkenne dich selbst!

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E n d e 

 

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Theo Roszak 1992