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Das unerwartete Imperium

Vorwort 2003 von Theodore Roszak

 

"Sie erreichen mit ein paar netten Worten und einer Kanone mehr als mit ein paar netten Worten allein." 

Al Capone, 1929 (US-Gangster) wikipedia  Capone  1899-1947

"Sie erreichen mit ein paar netten Worten und einer Kanone mehr als mit ein paar netten Worten allein." 

Donald Rumsfeld, 2003 (US-Minister)  wikipedia  Rumsfeld  1932-2021

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Ein wenig fühle ich mich versucht, dieses Buch mit einem berühmten Zitat einzuleiten: »Ein Gespenst geht um in Europa« — dem düsteren Orakel, das Karl Marx 1848 seinem Kommunistischen Manifest voranstellte. 

Damals schien Europa, das immer noch unter den Geburtswehen der Industrialisierung litt, am Vorabend einer sozialen Revolution zu stehen. Heute, da soziale Revolutionen auf ewig vertagt scheinen, hat dieses Gespenst eine ganz andere Gestalt angenommen.

Heute droht die Aussicht, dass Europa — und mit ihm der größte Teil der Welt — bald Vasall eines Landes werden könnte, das nicht nur innenpolitisch immer konservativer wird, sondern diese neokonservative Haltung auch zum Grundpfeiler seiner globalen Wirtschaftspolitik macht. 

Ja, eben dieses Land — mein Land — das ich zu meinem größten Missfallen für beträchtliche moralische, wirtschaftliche und physische Schäden verant­wortlich machen muss, die es im Namen der Verteidigung hoher und höchster Ideale angerichtet hat. Meine These lässt sich in einem einfachen Satz zusammenfassen:

Wenn die Welt unbedingt Führerschaft braucht, dann sollte sie nicht gerade von einem Land ausgeübt werden, dessen politische Ambitionen sich in einem halbherzigen Liberalismus erschöpfen, der sich nicht einmal dazu durchringen kann, für seine schwer arbeitenden Bürger ein System der Altersversorgung beziehungsweise Krankenversicherung einzurichten, einem Land, in dem die konservative Partei, die seit zwanzig Jahren die politische Landschaft dominiert, nicht schnell genug Schulen, Nationalparks, Strom- und Wasserversorgung, ja sogar Teile der Armee an den meistbietenden privaten Anbieter versteigern kann, einem Land, in dem es mittlerweile Millionäre und Milliardäre zu Hunderten gibt, während gleichzeitig die Obdachlosen auf den Straßen vor Hunger und Kälte sterben. Kurz gesagt: einem Land, das sich im Eiltempo zurück in die finstersten Tage der Anarchie des freien Marktes zurückkatapultiert.

Jahr für Jahr zeigt die politische Rechte in Amerika sich fester entschlossen, der gesamten Welt ihre Vision einer konzern-gesteuerten Markt­wirtschaft aufzuoktroyieren. Wenn sie damit Erfolg haben sollte, dann wird Amerika die einzig verbleibende Supermacht der Erde sein und als solche durchaus in der Lage, mit Hilfe seiner erdrückenden Militärstärke das Entstehen konkurrierender Supermächte wirksam zu unter­binden. 

Ich wäre nicht sonderlich überrascht zu hören, dass bereits Pläne existieren, wie man China daran hindern könnte, sich zur Supermacht aufzuschwingen, das einzige Industrieland, das eines Tages über das Potenzial verfügen könnte, Amerikas militärische und ökonomische Vormachtstellung wirklich anzugreifen.

Über welchen Zeitraum könnte sich die dominierende Stellung der Vereinigten Staaten erstrecken? 

Vermutlich über viele Generationen. Möglicherweise werden wir Zeugen, wie sich ein neues Imperium formiert, dauerhafter und ausgedehnter als jedes andere vor ihm. 

Die Chancen stehen gut. Der Imperialismus, nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit geächtet, feiert dank der aktuellen amerikanischen Politik fröhliche Urständ im Gebaren einer Nation, die seit jeher davon überzeugt ist, ihre historische Mission sei es, der Welt die Demokratie zu bringen.

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Ich bin sicher, dass dieser Drang nach der Weltherrschaft nicht dem Willen des amerikanischen Volkes entspringt. Die Amerikaner haben den Imperialismus unter Einsatz von Leib und Leben bekämpft. 

Ich selbst wuchs während des Zweiten Weltkriegs auf und lernte damals, dass nur böse Diktatoren versuchen, andere Völker zu unterjochen. Aus diesem Grund war ich so schockiert, als der erste Präsident Bush Anfang der 1990er Jahre verkündete, Ziel amerikanischer Politik sei »eine neue Weltordnung«. Erschreckend war nicht nur der Inhalt dieser Aussage, sondern auch der arrogante und unerbittliche Ton, in dem sie geäußert wurde. Waren wir früher nicht gegen den Feind zu Felde gezogen, weil er genau dies wollte: Menschen in aller Welt sein Denken und Handeln aufzuzwingen?

Fragen Sie einen beliebigen US-Amerikaner, ob er anderen Nationen seinen Willen aufzwingen möchte. Er wird mit Sicherheit Nein sagen. Doch der ganz gewöhnliche US-Amerikaner hat leider immer weniger Ahnung, was in seinem Namen an weit entfernten Orten dieser Welt geschieht, und sein Einfluss auf Entscheidungen, die sein Land betreffen, wird immer geringer. 

Erschöpft von der Hektik und Komplexität ihres Alltags, vom Kampf um ihren Job und um den Lebensunterhalt für ihre Kinder scheinen die meisten Amerikaner heute einfach in ihrem Fernsehsessel wegzudämmern. Sie verdrängen die stille Verzweiflung in ihrem Leben mit Belanglosigkeiten und Unterhaltung. Der neueste Skandal um irgendeine Berühmtheit ist ihnen wichtiger als so große Themen wie Krieg oder Frieden.

Und so finden sich mittlerweile Menschen an der Spitze des Landes und seiner Konzerne, deren zwanghafte Besessenheit von Amerikas Bestimmung zum Weltreich Tag für Tag zunimmt. Sie erklären ganz offen, es sei Amerikas Recht, Macht über jene auszuüben, die weder den Willen noch die Mittel oder die Vision besitzen, selbst Weltmacht zu werden.

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Aus diesem Grund bezeichne ich diese politische Klasse hier als »die Triumphalisten«. 

Sie sehen sich selbst zwar als überzeugte Konservative, sind in Wirklichkeit jedoch radikale Extremisten. Sie haben sich schnellere und tiefgreifendere Veränderungen auf die Fahnen geschrieben als so mancher Revolutionär. Diese Männer nehmen Wagemut, Durchsetzungskraft und hochfliegende Ziele für sich in Anspruch. Brennend vor Eifer, eine neue Welt zu schaffen, sehen sie sich als Retter einer verwirrten, willensschwachen Menschheit.

Wie alle Fanatiker haben sie eine kristallklare, durch nichts zu erschütternde Vorstellung von ihren Zielen. 

Sie wollen die globale Marktwirtschaft, kontrolliert von einigen wenigen multinationalen Konzernen mit amerikanischem Stammhaus. 

Sie sind vielleicht nicht die Ersten, die solche Ziele verfolgen. Tatsächlich gab es schon während des Kalten Krieges Bestrebungen, amerikanischen Konzernen eine klare Vormachtstellung zu verschaffen. Doch diese Klasse ist die erste, die auf eine sichere militärische Überlegenheit der USA bauen kann. Man müsste historisch schon zurückgehen bis zu den frühen Gesellschaften im Nildelta, um vergleichbare Beispiele für eine solch uneingeschränkte Hegemonie zu finden, wie sie die Vereinigten Staaten im Augenblick ausüben.

 

Ich spreche hier als Sozialkritiker, der um die Seele seines Landes ebenso fürchtet wie um das Schicksal anderer Staaten. Mir gefriert das Blut in den Adern, wenn ich höre, wie ein amerikanischer Verteidigungsminister (Donald Rumsfeld) die amerikanische Nahostpolitik mit einem Zitat Al Capones rechtfertigt, einem der abscheulichsten Gangster der amerikanischen Geschichte: »Sie erreichen mit ein paar netten Worten und einer Kanone mehr als mit ein paar netten Worten allein!«  

Diese Harte-Jungs-Sprüche sind es, die meinem moralischen Anliegen seine Dringlichkeit verleihen. Das nationalistische Bramarbasieren, das dieser Tage in den Zirkeln der politischen Rechten zu vernehmen ist, hat das Niveau des Maulheldentums nämlich längst hinter sich gelassen. Dieser neue Sprachgestus enthüllt die Entschlossenheit, den eigenen Willen bei Gegnern wie Verbündeten notfalls mit roher Gewalt durchzusetzen.

Ich bin überzeugt davon, dass die Triumphalisten näher an der Verwirklichung ihrer Ziele sind, als viele politische Beobachter glauben. Zufall oder Absicht? Die Geschichte hat der neuen politischen Klasse den Ball in die Hände gespielt, und sie hat nicht gezögert, sich diese Umstände geschickt zu Nutze zu machen.

Einen Punkt möchte ich gleich zu Beginn klarstellen.  

Es gibt Menschen — ein Großteil davon unzufriedene US-Bürger —, deren neues Motto zu sein scheint: »Amerika ist an allem schuld.« In ihren Augen sind die USA für alles Mögliche verantwortlich, sogar für die Anschläge des 11. September 2001. Zu dieser Gruppe gehöre ich nicht. Das Opfer zu beschuldigen, auch wenn es eine reiche und mächtige Nation ist, verrät eine verquere Moral, vor allem wenn die eigentlich Leidtragenden unschuldige Zivilpersonen sind. Und dies ist fast immer der Fall, wenn der Terror zuschlägt. Selbstmordattentäter, deren erklärtes Ziel es ist, »Amerikaner zu ermorden« oder »Juden zu töten«, machen mir Angst. Die Menschen, die sie unbedingt ermorden wollen, könnten schließlich Angehörige von mir sein. Oder ich selbst.

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Worunter auch immer diese Menschen leiden, sie haben nicht das Recht zu töten. Die Gewalt, die sie ausüben, ist kein bisschen »gerechter« als die der amerikanischen Bomber, die ihre verhängnisvolle Fracht über der Zivilbevölkerung Bagdads abgeworfen haben.

Der Terrorismus ist in meinen Augen eine tödliche Krankheit, welche die internationale Gemeinschaft befallen hat. Eine Krankheit, welche die Gesetze der Zivilisation auszulöschen vermag. Natürlich müssen wir die Beweggründe der Terroristen zu begreifen versuchen, doch nichts kann rechtfertigen, was sie anrichten.

Damit habe ich meine Position wohl ausreichend klar gemacht, und vor diesem Hintergrund möchte ich nun meine Aussagen treffen.

 

Ich lehne die imperialistischen Bestrebungen, die die Vereinigten Staaten jüngst an den Tag legen, vollkommen ab. Diese Haltung ist in meinem Land derzeit nicht gerade populär, nicht einmal unter amerikanischen Liberalen, die sonst so ziemlich alles ablehnen, wofür die Regierung Bush steht. Viele Amerikaner haben George W. Bush nicht gewählt, unterstützen aber nichtsdestotrotz den Triumphalismus, den er ins Weiße Haus mitgebracht hat. 

Amerika hat Angst. Sogar jetzt, da sich eine wirtschaftliche Rezession abzeichnet, ist das Land bereit, viele Milliarden Dollar für seine nationale Sicherheit (das so genannte »National Security State«-Programm) auszugeben, für ein Bündel von Maßnahmen, die uns vor der Gefahr des Terrorismus schützen sollen, die aber — wie man im selben Atemzug einräumt — ohnehin nicht in den Griff zu bekommen ist. 

Meiner Ansicht nach wurde dieser Kurswechsel der amerikanischen Politik bewusst von ganz bestimmten Interessengruppen initiiert, deren Utopien sich so deprimierend lesen wie die allerpessimistischsten Zukunftsromane.

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Ich gehöre zu jenen Amerikanern, die die expansionistische Nahostpolitik ihres Landes ablehnen. Tausende US-Amerikaner haben sich gegen den Irakkrieg ausgesprochen. Doch Millionen jubelten unseren Truppen zu, als sie in die Schlacht zogen. Obwohl ich selbst gegen den Krieg war, plagt mich mein Gewissen, wenn ich sehe, wie sich mein Land auf internationaler Ebene als Rowdy aufführt, dessen einziges Ziel es ist, dem Rest der Welt den Willen einer kleinen, habgierigen Minderheit von Kriegsgewinnlern und Militaristen aufzuzwingen. 

Ich glaube, dass die Arroganz und die Macht dieser Clique noch zunehmen werden, bis sie alle länderübergreifenden Strukturen, alle Formen geteilter Verantwortung, internationalen Rechts und wirtschaftlicher Zusammenarbeit endgültig zerstört hat. An diesem Punkt wird Geschichte bestimmt von den Interessen und Maßstäben eines einzigen Landes — oder vielmehr derer, welche die Interessen und Maßstäbe dieses Landes definieren.

Mein Ziel ist es, eine kritische Innenansicht der USA zu liefern, die hilft, die bedenkliche Politik dieses Landes besser zu begreifen. Vor allem möchte ich die enge Verknüpfung der inneren und äußeren Angelegenheiten meines Landes offen legen. 

Die Idee vom amerikanischen Empire rührt von einem ideologischen Wandel, der die politische Kultur meines Landes erfasst hat. Diese Kultur deckt sich immer weniger mit dem, was sich in anderen Industrieländern politisch abspielt. Verglichen mit modernen Staaten degeneriert Amerika zusehends. In gewisser Weise liegt dies an der unglaublichen Gier unserer Geschäftsleute. Aber das ist nicht der einzige Grund. Die Habgier der Wohlhabenden hat eine neue ideologische Rechtfertigung gefunden. Eine neue Generation triumphalistischer Intellektueller und fundamentalistischer Fanatiker hat ihr einen geradezu religiösen Anstrich gegeben.

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Jene, welche für die zunehmenden Verirrungen im Selbstverständnis der USA verantwortlich sind, zeigen sich immun gegen jede Art von besserer Einsicht. Sie sehen in den Vereinigten Staaten das »auserwählte Land«. In ihren Augen ist dieser Sonderstatus das Privileg einer unleugbaren moralischen Überlegenheit. Amerikas Geschichte ist voll von Beispielen für dieses Gefühl der Erwähltheit. Seit weiße Siedler dieses Land zum ersten Mal betraten, um der Verderbtheit der »alten Welt« zu entfliehen, speist sich Amerikas hypertrophiertes Selbstwertgefühl aus den Quellen der Religiosität.

In den 1980er Jahren gewann Ronald Reagan die Herzen des amerikanischen Volkes, indem er mit diesem Thema jonglierte, wie nur ein professioneller Schauspieler das konnte. Immer und immer wieder sprach er mit bebender Stimme und einer Träne im Auge von den Vereinigten Staaten als »der goldenen Stadt auf dem Hügel« — in Anlehnung an den frühen puritanischen Denker John Winthrop. Er zitierte Abraham Lincoln und nannte das Land die »letzte und leuchtendste Hoffnung« der Welt.

Die Triumphalisten sind die ideologischen Erben der Reagan-Präsidentschaft. Sie glauben immer noch an Reagans bombastische Rhetorik und würden sie lieber heute als morgen in Weltpolitik umsetzen. 

In den letzten zwei Jahrzehnten geriet die amerikanische Politik immer stärker unter den Einfluss von Menschen, welche die Vereinigten Staaten als Arm Gottes betrachten und sich selbst als messianische Vorhut, der es obliegt, den Weg in die Zukunft zu bahnen. Dieser Aufgabe ist vermutlich mit militärischer Intervention und wirtschaftlicher Ausbeutung noch keineswegs Genüge getan. Dazu könnte auch kulturelle Aggression gehören, denkbar zum Beispiel in Form einer Christianisierung der »heidnischen« Völkerschaften im Nahen Osten und anderen Teilen der Welt.

Als George W. Bush 2001 dem Terrorismus zum ersten Mal den Krieg erklärte, bezeichnete er diesen als »Kreuzzug«. Mit Rücksicht auf die Gefühle der Muslime wurde diese Formulierung schnell zurückgenommen. Doch möglicherweise handelte es sich gar nicht um einen sprachlichen Ausrutscher. In den USA gibt es eine Menge Menschen, die den Kampf gegen den Terrorismus liebend gern im Zeichen des Kreuzes führen würden.

In der Politik geht es nicht zuletzt um Macht und Einfluss. Doch Amerikas neuer Triumphalismus beansprucht eben nicht nur die Führungsrolle, sondern das Recht, ein Ziel vorzugeben, das sich von dem, auf das sich die Menschen in anderen Industrienationen nach langer Suche geeinigt haben, erheblich unterscheidet. Aus diesem Grund kann man nichts, was derzeit aus Washington über die Ziele der eigenen Außenpolitik verlautet, wirklich für bare Münze nehmen, solange man die sich dahinter verbergende ideologische Stoßrichtung nicht kennt.

Wie jedes Imperium in der Geschichte der Menschheit zielt auch der amerikanische Triumphalismus darauf ab, die Welt nach seinem Bilde zu formen. 

Die neue politische Klasse wünscht, die moderne Welt von allen sozialen und wohlfahrtsstaatlichen Tendenzen zu befreien, als gingen diese auf Einflüsterungen des Teufels zurück. Tatsächlich betrachtet sie jede Wirtschaftspolitik, die von der Orthodoxie des freien Marktes abweicht, als Ketzerei, die mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden muss.

Sie führen einen Kreuzzug gegen alles und jedes, was die Völker in der Moderne geschaffen haben, um aus den herrschenden Instanzen Instrumente des Gemein­wohls zu machen. Das ist es, was das Wort »Freiheit« aus ihrer Sicht bedeutet.

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Wenn die Triumphalisten ihre Ziele verwirklichen könnten, läge die Verantwortung für unsere Gesellschaft bald vollständig bei den Lenkern der Konzern-Ökonomie. Schließlich sehen sie die Reichen als einzige Spezies auf der ganzen Welt, die »Wohlstand schafft«. Also müssen sich alle Gesetze, alle Institutionen, alle politischen Regeln ihren Interessen beugen. 

Dem Rest der Bevölkerung ist ebenfalls ein klar umrissenes Schicksal zugedacht: Sie dürfen als gehorsame Angestellte und ergebene Dienstboten der ach so individualistischen Happy Few still alle Bürden auf sich nehmen, die der globale Markt ihnen auch immer auferlegen mag. Sie gehorchen dem Diktat der weltweiten Konzern-Ökonomie, die bestimmt, ob sie Arbeit und ein Heim haben und folglich ihren sozialen Status behalten dürfen.

Ideen wie diese laufen auf eine einschneidende Revision der jüngeren Geschichte hinaus. Über ein Jahrhundert lang hat unsere moderne Gesellschaft mit allen Kräften darum gerungen, einen tragfähigen Gesellschaftsvertrag auszuhandeln, der jedem, der mit seiner Hände Arbeit, mit seinem Können, seinem Kapital und seinen Dienstleistungen zum Reichtum der Nationen beiträgt, eine angemessene Teilhabe garantiert. Erklärtes Ziel dieses Gesellschaftsvertrages ist es, stabile Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu schaffen, ein Sicherheitsnetz zu spannen, das jene auffängt, die in Not geraten, die öffentliche Gesundheitsvorsorge sicherzustellen sowie allen Bürgern eine grundlegende Ausbildung zu ermöglichen und die Schönheiten und Ressourcen unseres Planeten zu erhalten, um die Lebensqualität allgemein auf das höchstmögliche Niveau zu heben.

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Die Worte, die über diesen Bestrebungen aufleuchten und einst revolutionäre Kraft besaßen, sollten den Konservativen genauso lieb und teuer sein wie den Liberalen: »Liberte. Egalite. Fraternite.« Oder: »Das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück« — wie es die amerikanische Verfassung garantiert. Doch die neue triumphalistische Führungsschicht Amerikas ist ausgezogen, diesen Gesellschaftsvertrag durch ein Regelwerk zu ersetzen, das uns in Rekordzeit in die Epoche des Jeder-gegen-Jeden-Sozialdarwinismus der 1890er Jahre zurückwirft. Mit einem Mal soll jede Form von Chancengleichheit, jeder Ansatz von Teilhabe oder einer Demokratie der sozialen Ausgewogenheit ein Hemmschuh des Fortschritts sein. 

Die Triumphalisten würden uns gern eine neue Art von hoch industrialisiertem Feudalismus verordnen, in dem wir uns den Interessen der ausgedehnten Konzern-Baronien beugen müssten.

Und mit »uns« meine ich dabei keineswegs nur die Vereinigten Staaten. Was die neue politische Klasse Amerikas im Schilde führt, greift weit über die Grenzen der USA hinaus. Gefügige Diener der größten amerikanischen Konzerne, der »Erfinder« des neuen globalisierten Wirtschaftens, versuchen, weltweit alle Formen sozialen Ausgleichs auszulöschen. Diese »Verirrungen« durch marktkonforme Strategien zu ersetzen, ist in ihren Augen Ausdruck der natürlichen Ordnung, die Erfüllung einer historischen Mission, welche die Interessen des Nationalstaats transzendiert. 

Erhält Amerika Zugang zu sämtlichen globalen Märkten, dann bedeutet dies, dass früher oder später alle Einrichtungen, alle Mechanismen, die dem Gemeinwohl dienen, außer Kraft gesetzt werden.

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Das meint Amerikas Big Business und mit ihm seine politischen Gefolgsleute vom rechten Flügel, wenn sie vom »Sieg des Marktes« sprechen: Abschaffung von Mindestlöhnen und Arbeitsschutzmaßnahmen (auch was Kinderarbeit betrifft), Abbau sämtlicher Maßnahmen zum Umweltschutz, Streichung sämtlicher gesetzlichen Regelungen, die den Konzerngewinn schmälern könnten, sowie ungehinderte monopolistische Kontrolle über jeden Bereich des Handels, der Finanzen, der Kommunikation und Produktion. Privatisierung und Kommerzialisierung so weit das Auge reicht — bis wir in einer Welt leben, die den Privilegien der Konzernmacht nichts mehr entgegenzusetzen hat. 

Von quasi-religiösem Eifer getrieben, haben Amerikas Triumphalisten sich aufgemacht, eine Weltordnung zu schaffen, die nicht auf Dialog und gesellschaft­lichem Konsens beruht, sondern auf einseitiger Machtausübung und hierarchischer Unterordnung.

Stünde den Vereinigten Staaten allein ihre Wirtschaftsmacht zur Verfügung, um ihr Imperium aufzubauen, wäre dies schon ausreichend Grund zur Besorgnis. Doch mit dem Irakkrieg ist eine ethische Grenze gefallen. Jetzt sind die Triumphalisten bereit, auch rohe militärische Gewalt einzusetzen, um ihre Expansions­bestrebungen durchzusetzen. Ihre offen gezeigte Verachtung für ihre alten Bündnispartner macht deutlich, wie weit sie zu gehen bereit sind, um ihren Vorteil zu wahren. 

Jeder, der heute noch glaubt, Amerika würde seine Militärmacht nur gegen unbedeutende Drittweltländer wie den Irak oder Nordkorea einsetzen, aber niemals, um Europa, Japan oder China unter Druck zu setzen, unterstellt den Triumphalisten eine diplomatische Zurückhaltung, die sie nicht besitzen. Wir sehen uns hier einigen impulsiven Menschen gegenüber, die - getrieben von ideologischem Eifer - die Gelegenheit, welche die Geschichte ihnen bietet, ohne zu zögern ergreifen werden.

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Wenn andere Nationen die Vereinigten Staaten nicht in ihre Grenzen weisen, dann ist dieses Land auf dem besten Weg, selbst ein »Schurkenstaat« zu werden, wobei manche Beobachter der Auffassung sind, dass dieser Schritt längst vollzogen ist. Allerdings wird diese Entwicklung nicht ausschließlich von der aktuellen Regierung dieses Landes getragen. 

Die Republikanische Partei, im Moment das Sammelbecken der Triumphalisten, mag in den nächsten zehn Jahren vielleicht die eine oder andere Wahl verlieren. Auch mag das Tempo, mit dem Amerika nach der Weltherrschaft greift, sich ab und an verlangsamen. Ganz sicher werden die Triumphalisten sich auf Widerstand und nicht einkalkulierte Umwege einstellen müssen. Doch die Kräfte, die zum Irakkrieg geführt haben, werden weiterhin Druck auf die amerikanische Politik ausüben. Die Finanzmittel und das Wählerpotenzial, worüber sie gebieten, werden sich in absehbarer Zeit sicherlich nicht verringern. Diese Faktoren werden eine gesellschaftliche Konstante bleiben, auch wenn das Weiße Haus einen anderen Präsidenten beherbergt und die Demokratische Partei die Mehrheit im Kongress gewinnt.

Die Präsidentschaft von George W. Bush sollte als frühes Warnsignal betrachtet werden.

Machtvolle Kräfte gären in den Tiefen der amerikanischen Konzern-Gesellschaft und unter den strategisch gut platzierten Meinungs­machern, die mehr und mehr die Medien beherrschen. 

Der Irakkrieg gab uns davon einen erschreckenden Vorgeschmack. Wie Sturmwolken am Horizont zeichnet sich vor uns die bedrohliche Aussicht auf ungehinderte amerikanische Machtentfaltung ab.

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Möglicherweise leben wir bald in einer Welt, wo in Washington hinter verschlossenen Türen über Regimewechsel mit Hilfe von Präventivkriegen und eine langfristige amerikanische Besatzung in allen Teilen der Erde entschieden wird. Entscheidungen, die in großmäuligem Macho-Ton vorgetragen werden, die die weise Zurückhaltung anderer Nationen als Feigheit abstempelt.

Ein Regimewechsel vermittels geheimdienstlicher Aktivitäten oder militärischer Gewalt bedarf trotz allem immer noch einer ideologischen Rechtfertigung. Eine Aufgabe, vor der die Amerikaner keineswegs zum ersten Mal stehen. Während des Kalten Krieges haben die USA mit so genannten »verdeckten Operationen« immer wieder versucht, weniger willfährige Regierungen in allen Teilen der Welt ablösen zu lassen. 

So trug 1953 die CIA dazu bei, dass die demokratisch gewählte Regierung im Iran durch einen Militärputsch gestürzt wurde. Sie bereitete dadurch den Boden für den nach Vergeltung dürstenden islamischen Fundamentalismus, was sich für die Zukunft Amerikas im Hinblick auf diese Region als von entscheidender Bedeutung erweisen sollte.

Häufig wurde das rücksichtslose Vorgehen dieser Politik damit entschuldigt, dass Amerikas Gegner im Kalten Krieg mindestens genauso brutal und im Geheimen agierten. Die USA hätten eben Gleiches mit Gleichem vergolten. 

Doch selbst wenn man sich auf diesen Standpunkt stellen sollte, hat eine solche rationale Rechtfertigung versteckter Aggression spätestens mit dem Fall der Sowjetunion ihre moralische Überzeugungskraft eingebüßt. Doch sogar jetzt, da Amerikas politische Führer mit biblischem Eifer das Evangelium der Freiheit verkünden, versucht der rechte politische Flügel Amerikas eine Politik durchzusetzen, die am Ende die Freiheit aller Völker bedroht.

Die Vereinigten Staaten sind auf dem besten Weg, selbst ihr schlimmster Feind zu werden, indem sie alles zerstören, was in der Welt an Vertrauen und Bewunderung noch vorhanden gewesen sein mag.

Aber ist Amerikas Streben nach imperialer Vorherrschaft überhaupt noch aufzuhalten?  

Aus Gründen, die ich in der Folge noch ausführlicher darstellen werde, glaube ich nicht, dass das Volk der Vereinigten Staaten und seine blassen liberalen Führungs­figuren in der Lage sein werden, sich dem Griff der Triumphalisten nach der Macht wirkungsvoll zu widersetzen. Es fehlt den liberalen Kräften in den USA und dem Volk im Allgemeinen an Mut und Intellekt. Wenn der Vormarsch der Triumphalisten gestoppt werden soll, werden andere Länder den USA mit Ideen, Vorbildern, Kritik und unter Umständen mit offenem Widerstand auf diplomatischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet zu Hilfe eilen müssen.

Sie müssen sich selbst als Amerikas globale Wählerschaft betrachten, die über die Entscheidungen Washingtons genauso sorgfältig wacht wie über die der eigenen Regierung. Es liegt im höchsteigenen Interesse der anderen Nationen, diese internationale Wählerschaft zu schaffen, wenn sie ihre Freiheit und ihre nationale Würde bewahren wollen. Wie jeder anderen Natur­katastrophe, seien es nun Überschwemmungen, Hungersnöte oder Erdbeben, so ist dem Triumphalismus Amerikas nur durch ein überlegtes Eingreifen der internationalen Gemeinschaft beizukommen.

Wir brauchen einen wirklichen Dialog über die Zukunft der globalen Industrialisierung, einen Dialog, der uns erlaubt, eine Alternative zum fanatischen Götzen­dienst am freien Markt zu finden, dem Amerikas wirtschaftliche Eliten mit ihren triumphalistischen Vordenkern huldigen. Darüber hinaus müssen wir uns auf Mittel und Wege einigen, den Einsatz von Gewalt auf internationaler Ebene wirksam zu kontrollieren, sodass die ungeheure Macht der Vereinigten Staaten nicht in die Hände eines ideologisierten Interessenverbandes fallen kann, der irgendwie den Einzug ins Weiße Haus geschafft hat.

Ich hoffe, dass dieses Buch den Menschen außerhalb der USA jenes Wissen um die Triebkräfte amerikanischer Politik vermittelt, das sie brauchen werden, um diesen Dialog in Gang zu setzen.

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