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1. Tabubruch satt  

 

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Man muß sich keine besondere Mühe geben, um jeden Tag beim Blick in die Zeitung, auf den Fernseh­schirm, ja, auch beim Blättern im Kino- und Theater­programm auf ein Tabu zu stoßen, an das sich aber niemand zu halten scheint. Die einen — und es sollen gar nicht so wenige sein, wie wir immer gedacht haben, wenn wir überhaupt je daran gedacht haben — brechen es mit schlechten Gründen, die anderen mit guten und lobens­werten, nämlich in der Absicht, es wieder herzustellen. Die einen begehen ein Sakrileg und beschmutzen, was uns allen heilig ist, die andern üben Redezauber, um es wieder rein zu waschen.

Das geht schon seit einigen Jahren so, und dennoch wird niemand von den Guten müde zu betonen, daß nun endlich ein Tabu gebrochen, ein Schweigegebot nicht länger respektiert und die Wahrheit über ein Verbrechen gegen jeden Widerstand ans Licht gebracht werden müsse. "<Pychologie heute>-Autorin Elfriede Czurda (Jahrgang 1946, Oberösterreicherin) hat sich an ein heikles Thema herangewagt: Inzest, Kindes­mißbrauch in der Familie, ein Delikt, das ebenso häufig vorkommt wie es verdrängt und verschwiegen wird."

Das ist der Topos, der nach jahrelanger Wanderung von der Wissenschaft in die Literatur, in die Kunst und auf die Bühne schließlich in die Massenmedien jeglicher Couleur vorgedrungen ist. Wer einen Topos aber als solchen nicht erkennt, muß den Eindruck gewinnen, Jahre später sei man immer noch nicht weiter bei der Veröffentlichung des Themas, das alle angeht.

Da fragt ein Journalist der »Süddeutschen Zeitung« die junge Regisseurin Niermeyer, die im Münchner Cuvilliestheater gerade ein Stück über Inzest inszeniert hat: »Wieso interessieren Sie sich für das hochtabuisierte Thema sexuelle Kindesmißhandlung?« Die Antwort verweist den Frager nun nicht auf die Veröffentlichungen in keineswegs esoterischen Organen, wie »Brigitte«, »Spiegel«, »Stern« oder auf das Angebot jeder Buchhandlung, die allesamt seit den achtziger Jahren tabubrechend tätig gewesen sind, so daß in diesem Punkt ein Handlungsbedarf nicht mehr besteht — nein, die Antwort bekräftigt die Pflicht zur Fortsetzung der schweren Aufgabe, allerdings mit der Modifikation, daß man selbst es richtiger mache und ernster meine als andere, die aus spekulativen Gründen Tabubruch betreiben.

»Die Frage finde ich ein wenig absurd«, antwortet Amelie Niermeyer dem Journalisten, »weil die Anzahl der Mädchen und auch Jungen, die von Vätern sexuell mißbraucht werden, so horrende hoch ist, daß es uns zu interessieren hat. Hinzu kommt, daß dieses Thema in der Presse vor allem voyeuristisch ausgeschlachtet wird. Dadurch kriegt das so einen Ausnahmecharakter, dabei ist sexueller Kindesmißbrauch in vielen Familien an der Tagesordnung.«

Mit der Ansicht von der Alltäglichkeit des Verbrechens befindet sich Niermeyer, ohne es zu ahnen, in völliger Übereinstimmung mit der »Bild«-Zeitung, die pünktlich zum 8. Internationalen Kongreß über Kindesmißhandlung und Vernachlässigung, der Anfang September 1990 in Hamburg stattfand, eine Serie mit dem Titel startete »Wehe du erzählst es Mama — Kindesmißbrauch in Deutschland«.

Zweifel sind auch angebracht, ob das Stück der Holländerin Inez van Dullemen, »Schreib mich in den Sand«, das da in München aufgeführt wurde, von etwas anderem lebt als von der voyeuristischen Ausbeutung und Anbiederung an menschliches Unglück, welche die Boulevardpresse mit ihren Falldarstellungen betreibt.

Die Details, mit denen die Horrorszenarien in »Bild« ausgestattet werden, um den Leser ordentlich zu packen und ihm wohlige Schauer des Entsetzens über den Rücken zu jagen, können der »erschütternden Fallstudie« nicht fehlen, die man im Maßstab eins zu eins vom Leben auf die Bühne bringt.

Auch dem Theaterkritiker Wolfgang Hobel sind angesichts der »Aufklärungsarbeit« Bedenken gekommen — allerdings rein ästhetische. An der Wahrheit des umstandslos auf die Bretter beförderten Lebens hat er keine Zweifel:

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»Eine, wie man inzwischen aus hunderten von Medienberichten über den sexuellen Mißbrauch von Kindern weiß, grausam alltägliche Geschichte: ein liebender Vater, der dumpf und gedankenlos sein >Eigentum< zur Triebbefriedigung benutzt; eine Mutter, die lieber wegsieht ... und eine Schwester, die erst begreift, als es zu spät ist... Ein grauenvolles Stück ... Aber deshalb auch schon ein Fall fürs Theater? Die Autorin findet für ihre realistischen Figuren keine Sprache ... Das reale Grauen wird hier eins zu eins auf die Bühne übersetzt, und das Ergebnis ist weniger ein Drama als eine naturgemäß bedrückende Demonstration: So geht es in der Welt außerhalb der Schauspielhäuser zu ...

Die Vorlage hält sich sehr genau an das, was Wissenschaftler über sexuellen Mißbrauch, seine psychischen und sozialen Ursachen berichten. Was sagt die Mutter? Sie sucht die Schuld bei sich, nimmt den Vater mit der aberwitzigen Behauptung in Schutz: >Es gibt Triebe, die stärker sind.< Wie reagiert der Vater? Mit Ausflüchten — und mit gräßlicher Selbstgefälligkeit. >Sowas ist ganz natürlich<, sagt dieses Monster beiläufig, >ein menschlicher Impuls< ... Die Botschaft ist klar, und sie war in jüngerer Zeit in fast allen Medien zu hören oder nachzulesen: Die Täter sind mitten unter uns.«

In der Raffung der Theaterkritik erscheint der phantastische Charakter des Stücks noch klarer als auf der Bühne. Kennt man das nicht aus Mythos und Märchen, daß dem Monster Mädchen geopfert werden und andere zu- beziehungsweise wegsehen, im eigenen Interesse? 

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Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß zwar das Theater gewisse Anforderungen an ein Stück stellen muß, das theatralisch überzeugen soll, daß die Wahrheiten des Lebens aber sonst lose herumliegen und, wenn schon nicht dem bloßen Auge, dann doch dem extra geschärften der Wissenschaft ohne weiteres sichtbar sind. Am Ende bescheinigt der Kritiker der Regisseurin, zwar kein gutes Stück auf die Bühne, aber doch einen »politischen Theaterabend« zuwege gebracht zu haben; denn zu sehen war das »ganz gewöhnliche Elend der wirklichen Welt«.

Was soll daran politisch oder aufklärend sein, wenn wie hier und in vielen anderen Fällen mit Apiomb Dinge vorgetragen werden, über die wir uns doch längst einig sind? Inzest, also Beischlaf zwischen Blutsverwandten, ist ein uraltes Verbrechen, also verboten und im Paragraph 173 Strafgesetzbuch (StGB) entsprechend mit Strafe bedroht. Strittig ist unter Soziobiologen, Ethnologen und anderen Forschern bloß der Sinn und die Entstehung dieses Tabus. Beim Mißbrauchsfall auf der Münchner Theaterbühne scheint es sich auch noch um einen Anwendungsfall für Paragraph 176 StGB (Sexueller Mißbrauch von Kindern unter vierzehn Jahren), vermutlich auch noch für Paragraph 177 StGB (Vergewaltigung) und Paragraph 174 StGB (Mißbrauch von Schutzbefohlenen - bis zum Alter von achtzehn Jahren) zu handeln.

 

Vor Jahresfrist wurde in München ein neununddreißigjähriger Musiker verurteilt, der seine drei, inzwischen fünfzehn, achtzehn und zwanzig Jahre alten Töchter sexuell mißbraucht hat — zwei seiner Kinder seit ihrem sechsten Lebensjahr. 

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»Die Jüngste war 13, als sich der Vater ihr unsittlich näherte. Um sie vor weiterem sexuellen Mißbrauch zu schützen, hatte sich die zu diesem Zeitpunkt von der Familie bereits getrennt lebende mittlere Tochter an die Polizei gewandt. Zuvor hatten die beiden älteren Mädchen ebenso wie die von ihnen eingeweihte Mutter nach ihren Angaben aus Angst vor Mißhandlungen geschwiegen ... Der Ungar wurde des Mißbrauchs von Kindern und des Beischlafs zwischen Verwandten und der Körperverletzung für schuldig befunden.« Das Strafmaß für ihn lautete auf dreizehn Jahre Haft.

Das ganz gewöhnliche Elend der wirklichen Welt, sofern es sich um sexuellen Mißbrauch von Kindern in der Form des Inzests handelt, muß also keineswegs in einem moralisch-politisch-ästhetischen Gewaltakt auf der Bühne oder sonstwo eigens denunziert und als Verbrechen gebrandmarkt werden; denn wenn es darauf ankommt, reicht der Gang zur Polizei völlig hin. Daß er nicht immer oder sehr spät gemacht wird, verwundert Außenstehende und Erfahrungslose, die wir in der Regel sind, immer wieder. Daß die Angst vor Mißhandlungen durch den Vater, wie im vorliegenden Fall, eine hinreichende Erklärung ist, kann man eigentlich nicht glauben. Welche Mißhandlung übertrifft an Schrecken, was der Vater seinen Töchtern jahrelang zufügte? Oder wie oder was?

Wie dem auch sei, die topologische Redeweise vom Tabubruch, der begangen werden muß, damit das Tabu wieder Geltung erlangt, ignoriert systematisch, daß wir in Mitteleuropa am Ausgang des zwanzigsten Jahr-

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hunderts auf Tabus gar nicht mehr angewiesen sind, sondern vielmehr Gesetze und Strafbestimmungen haben, die auch angewandt werden. Darüber hinaus hat sich immer wieder gezeigt, daß über kaum etwas so viel Einigkeit herrscht, wie über die besondere Abscheulichkeit von Kindesmißhandlung und Kindes­mißbrauch. Gewiß wird gegen diese Gesetze verstoßen und der allgemeine Abscheu scheint sich keineswegs überall durchzusetzen — aber trifft das nicht auch bei Betrug, Diebstahl oder Mord zu? Auch der wird nachweislich täglich begangen, trotz der Drohung des Strafrechts, daß man sein weiteres Leben hinter Gittern zu verbringen habe, wenn man sich nicht an das Verbot hält.

Volkesstimme gab früher, wenn es um Verbrechen an Kindern, um die Bestrafung von Kinderschändern ging, gern die Parole aus »Rübe ab«, und man war froh, daß das Volk nicht umstandslos zum Zuge kam. Die Todesstrafe ist nicht nur einer zivilisierten Gesellschaft unwürdig, dachten wir, jeder aufgeklärte Mensch wußte auch, daß Polizei und Justiz dem Verbrechen nur eine Form geben, es nicht abschaffen können, der endlich halbwegs akzeptierten Zielsetzung der Resozialisierung des Täters zum Trotz. Wir mühen uns um Verständnis für alle Rechtsbrecher, nicht nur der Gerechtigkeit wegen, sondern auch, weil das System uns immer wieder Kopfschmerzen macht und auf Kontrolle angewiesen ist, eine Funktion, die etwa Gerhard Mauz in seinen Gerichtsreportagen vorbildlich wahrnimmt.

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Haben wir nicht alle in den siebziger Jahren für einen Kinderschänder und mehrfachen Mörder Partei ergriffen und uns schließlich die Psychiatrisierung von Jürgen Bartsch im Revisionsverfahren als einen Sieg zugeschrieben? Mit dem Blick auf die Entwicklung einer liberalen und progressiven Grundhaltung zu vielen sozialen Gegebenheiten in den letzten Jahren und Jahrzehnten, wundert man sich um so mehr darüber, wie es in letzter Zeit im Zusammenhang mit sexuell motivierten Vergehen und Gewalttaten zu Debatten und Protesten wegen allzu milder Urteile, allzu sorgfältiger und langwieriger Prozeßführung kommen konnte.

Zweifel an der laschen Justiz werden sonst nur im Umkreis von Prozessen laut, die Verbrechen aus der Nazi-Zeit verhandeln. Jetzt wird plötzlich aufs Strafrecht gepocht, Unwille und Ungeduld gegenüber rechtsstaatlichen Verfahrensweisen dort artikuliert, wo man sich eigentlich für eine weitere Zivilisierung der Gesellschaft, keineswegs für die schematische Konservierung von Recht und Ordnung einzusetzen scheint.

 

1988 diskutierten die Leser der alternativen »Tageszeitung«, kurz »taz« genannt, ob es zulässig sei, daß ein linker Anwalt die Verteidigung eines sogenannten Vergewaltigers übernehmen dürfe, ohne sich dadurch mit dessen Verbrechen gemein zu machen. Übersieht man schon gutwillig die abstoßenden Parolen, mit denen manche auf Häuserwänden Sexualpolitik zu treiben meinen, so gelingt das kaum noch bei den Anzeigen, mit denen eine Berliner Notrufeinrichtung versucht, miese Stimmung zu machen; denn einen anderen Sinn vermag ich in den täglich und wöchentlich wiederhol-

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ten Warnrufen und Meldungen nicht zu erkennen. Daß einige einen vollkommen phantastischen Eindruck machen und offenbar nicht auf ihren Realitätsgehalt überprüft wurden, spielt deshalb schon gar keine Rolle mehr.

Einige typische Beispiele aus der »taz« zur Illustration. Ein vergleichsweise leichtes Problem stellt ein öfter gemeldeter Exhibitionist oder, wie heute, ein sexueller Belästiger dar: »Warnung an alle Frauen: Am S-Bhf. Feuerbachstr. in Steglitz treibt sich ein untersetzter älterer Mann (40-50 J.) rum, der Frauen sexuell belästigt. Seid wachsam und achtet aufeinander! Die Notruffrauen.«

Das schlimmste, was diese Warnung auslösen kann, ist, Benutzerinnen der S-Bahn in einen leicht paranoiden Zustand zu versetzen. Ich sehe sie vor mir, wie sie Männer, auf die die Beschreibung zutreffen könnte, auffällig — unauffällig von schräg nach hinten im Auge behalten, und — Vorsicht kann ja nie falsch sein — lieber in der Nähe einer anderen Frau auf den Zug warten.

Probleme wirft die Verarbeitung der folgenden Meldung auf, vor allem für alleinstehende und alleinwohnende Frauen des angegebenen Berliner Stadtteils: »Achtung, Frauen! In der Gegend am Prenzlauer Berg (Dimitroffstr./Greifswalder Str.) bricht ein maskierter Mann in Wohnungen von Frauen ein, um sie zu vergewaltigen und zu berauben. Auffällig an ihm ist eine schwarze, bis auf die Schultern reichende Kapuze mit Augenschlitzen, ähnlich wie beim Ku-Klux-Klan. Er trägt ein Messer bei sich.«

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Vielleicht werden an diesem Tag einige prüfen, ob Fenster und Türen gesichert sind; aber das versteht sich ja eigentlich von selbst, denn Berlin ist Gott sei Dank kein Dorf, in dem die Nachbarn aufeinander aufpassen.

Andere, abgebrüht wie ich zum Beispiel, lesen die Zeilen der Anzeige wie einen Kurzkrimi oder einen Comic: Könnte der maskierte Mann nicht Batman sein, der durch die Straßen fliegt, um jene Bösewichter dingfest zu machen, die ihm so üble Dinge wie Raub und Vergewaltigung nachgesagt haben?

Die nächste Geschichte klingt vollends roman-, im Grunde märchenhaft: »Im Böcklerpark in Kreuzberg überfällt eine Bande von 4-6 Jugoslawen mitten am Tag brutal Frauen. Einer fragt nach Feuer, dann greifen die andern von hinten zu und zerren die Frau ins Gebüsch.« Dortselbst, so ergänze ich, öffnet sich eine Falltür, und das schöne Mädchen findet sich in einem Verließ, wo schon elf andere Jungfrauen auf den Ritter warten, der den Wegelagerern, Kentauren auf Frauenraub, das Handwerk legt und sie aus ihrer Gefangenschaft erlöst. So muß es wohl kommen; denn an einen trivialen Polizeieinsatz ist unter diesen Umständen nicht zu denken. Neben zwei weiteren »Typen«, die »massiv« belästigen, wird an diesem Tag noch ein Hypnose-Therapeut aus Wilmersdorf annonciert, der Frauen in seiner Praxis vergewaltigt, nachdem sie Vertrauen zu ihm gefaßt haben.

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Was bezwecken die Notruffrauen mit der Veröffentlichung solcher cautionary tales? Wäre ich so arglos, wie Frau unter keinen Umständen sein darf, könnte ich annehmen, daß sie sich und ihre hilfreiche Einrichtung einfach nur präsent machen und erhalten wollen. Schön und gut, warum aber mit Geschichten, die der Städterin ihre Umwelt als einen Tummelplatz von abartigen Sexmaniacs darstellen, gegen die niemand und nichts hilft als Frauensolidarität? Und noch eine andere Frage drängt sich auf: Wo ist eigentlich der gute alte Handtaschenräuber geblieben, der tatsächlich in meiner Straße eine alte Dame zu Boden gerissen, sie dabei verletzt und beklaut hat?

Anders gesagt, es fällt auf, welchen Umfang und welches Gewicht gerade die aktivsten Frauen, vielleicht auch bloß die lautesten und, medienpolitisch gesehen jedenfalls, die erfolgreichsten, der Bearbeitung des Sexualtriebs beimessen. Sehe ich etwa von Monika Treuts Filmen und Claudia Gehrkes Verlags­programmen ab, dann handelt es sich nicht um den eigenen, sondern immer den der anderen. Dabei wurden bisher gern die Ausdrucks- und Befriedigungsformen skandalisiert, die besonders unverständlich, unappetitlich, gräßlich und grausam sind, abstoßend nach meiner Einschätzung aber nicht bloß für Frauen, wie suggeriert wird, sondern auch für die meisten Männer.

Damit bin ich nun wieder, nach einem notwendigen Umweg, bei meinem eigentlichen Thema, dem sexuellen Mißbrauch von Kindern, angelangt. Abgesehen von der strafrechtlichen Festlegung dieses Verbrechens in unserer Gesellschaft, die man keinen Moment unterschätzen, gar vergessen sollte, läßt sich dieser Tatbestand auf die Formel bringen: Sexueller Mißbrauch von

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Kindern ist Mißhandlung plus Feminismus. Der Feminismus — man sehe mir diese Pauschalisierung einmal nach — bietet die einzige noch offene Option auf eine weitere Sexualisierung, die unserer liberalen und aufgeklärten Gesellschaft bleibt.

Es ist, aller Pornos in den Kabelprogrammen zum Trotz — auch in Fernsehspielen der öffentlich-rechtlichen Anstalten sind Bettszenen schon obligat —, ungeachtet aller Offenherzigkeit mit der auf dem Sexmarkt, gespiegelt in den Kontaktanzeigen der Stadtmagazine, jede Spezialität angeboten und vermutlich auch abgerufen wird, eine Gesellschaft, die im puritanischen Tiefschlaf liegt. Für ihren Zustand gibt es keine bessere Metapher als jenes Pressefoto, das den langjährigen Chef der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, Rudolf Stefen, in fröhlicher Gemeinschaft mit der Pornodarstellerin und Filmproduzentin Teresa Orlowski zeigt: zwei Angestellte auf dem Betriebsfest der Sexualbürokratie.

Ich mag mir das Arbeitsleben eines Zensors und Jugendschützers so wenig vorstellen wie das einer Produzentin passabler Schweinereien. Ob die zwanghafte Isolierung der Sexualität nach den Gesetzen der Bürokratie mit Hilfe der Frauen fortgesetzt und womöglich noch verschärft wird, das ist die Frage, mit der wir uns im Augenblick befassen müssen. Mit der Debatte um sexuelle Männergewalt im öffentlichen Raum hat es vor Jahren angefangen. Jede Frau, so lautete die Botschaft, gleich welchen Alters, wo sie ist, egal, wie sie sich benimmt, ist potentiell eine vergewaltigte Frau. 

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Als Ausdruck dieser Männergewalt gegen Frauen wurden schon die Pfiffe von Bauarbeitern und die Sitzhaltung mancher Männer in der U-Bahn inkriminiert. Die Werbung, aber auch die Titelbilder eines liberalen, sonst im Aufklärungstrend liegenden Magazins, wurden als sexistisch entlarvt, weil sie angeblich Frauen als allzeit willige Sexualobjekte abbildeten und damit jede Frau in ihrer Würde kränkten.

Das Scheitern der Klage gegen den »Stern« hat Alice Schwarzer dann aber nicht davon abgehalten, Ende der achtziger Jahre eine Antiporno-Kampagne zu initiieren, deren allzu hoch gestecktes Ziel es war, jeder Frau als Betroffener ein Klagerecht und Entschädigungsansprüche in Aussicht zu stellen, wenn sie an Pornographie Anstoß genommen hatte. Da Frauen sich noch weniger als Männer für solche Stimulantien, vulgo »Wichsvorlagen«, interessieren und sie infolgedessen auch über keine Kenntnisse verfügten, mußte die Zeitschrift »Emma« dieser Unbildung auf ihren Seiten erst einmal abhelfen. Das ist mehr als ein Paradox, geboren aus der journalistischen Informations- und Aufklärungspflicht und dem Abscheu, den man gleichzeitig dagegen mobilisieren und in Handlungen umsetzen wollte. Es ist nicht das einzige geblieben.

Mußten diese Kampagnen ins Leere laufen und scheitern, weil sie zu hoch ansetzten und eine Restauration der sexualpolitischen Zustände und Zensurpraktiken der Adenauer-Zeit, nun nicht mehr unter der spießigen Ägide abendländischer Wertschöpfer, sondern im Interesse der Emanzipation der Frauen, niemandem

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mehr plausibel geniacht werden konnten, so haben kleinere Vorhaben mehr Aussicht auf Erfolg. Ja, die breite Koalition, die sich in den Medien und bei allen Parteien inzwischen für Maßnahmen gegen die sexuelle Belästigung im Arbeitsleben und die Strafverschärfung bei erzwungenem Beischlaf in der Ehe gebildet hat, wo bisher nur Nötigung, nicht Vergewaltigung zu ahnden war, könnte einen auf den Gedanken bringen, daß weitere Versuche, die Frauenfrage mit der Methode der Sexualisierung in der öffentlichen Auseinandersetzung präsent zu halten, nicht mehr gemacht werden können.

Davon aber einmal abgesehen, ist die immer subtilere Verrechtlichung aller Lebensbereiche als Mittel der Wahl zur Reform vermutlich nirgends so ungeeignet wie auf dem Gebiet der Sexualität, erst recht, wenn man an der Idee festhalten möchte, daß hier grundlegende menschliche Ausdrucks- und Glücks­möglich­keiten stecken, die nur Individuen realisieren oder versäumen können. Wenn schon Steuergerechtigkeit kaum durchzusetzen ist, so ist das offenbar anvisierte Ziel, Gerechtigkeit in Lebens- und Liebesbeziehungen herzustellen, von vornherein falsch.

Erfahrungen aus den skandinavischen Ländern, die schon länger Gesetze der angestrebten Art haben, zeigen, daß bei gleichbleibendem Anzeigenaufkommen nur die Zahl der Verurteilungen zunimmt beziehungs­weise bisher zugenommen hat. Ein Sieg für die Frauensache oder ein Stimmungswandel bei der rächenden Justiz? 

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Die folgende dpa-Meldung über ein deutsches Gerichtsverfahren ist hoffentlich kein Vorbote künftiger Rechtsfindung in Fällen, welche die Gerichte eigentlich nicht beschäftigen sollten:

»Ein 50 Jahre alter Lebensmittelgroßhändler ist in Frankfurt zu acht Jahren Haft verurteilt worden, weil er die Tochter seiner Lebensgefährtin zwischen 1979 und 1987 mehrere hundert Male vergewaltigt hat. Das Landgericht Frankfurt kam nach mehrwöchiger Beweisaufnahme zu dem Schluß, daß die Aussage des Opfers glaubwürdig sei. Nur aus Rücksicht auf die Mutter habe sie über Jahre hinweg geschwiegen. Der Angeklagte hatte den Vorwurf vor Gericht vehement bestritten. Die inzwischen 29Jährige sei mit den sexuellen Kontakten einverstanden gewesen, man habe ein <ganz normales Liebesverhältnis> gehabt.«

Ein »normales« Verhältnis knüpfen Männer selten so dicht neben ihrer Hauptbeziehung an, wie hier, wo Mutter und Tochter betroffen sind. Trotzdem kann man nicht glauben, daß die Meldung den ganzen Tatbestand, der dem Urteilsspruch zugrundelag, richtig wiedergegeben hat. Kann man eine zuerst siebzehn, endlich fünfundzwanzig Jahre alte Frau acht Jahre lang vergewaltigen, ohne daß man an eine wie auch immer zu qualifizierende Beziehung zwischen Täter und Opfer denken muß? Daß die Tochter unter den gegebenen Umständen mit den allerschwersten Schuldgefühlen zu kämpfen und von dem Freund der Mutter nur mit Mühe und vermutlich einigem Druck in der Beziehung festgehalten werden konnte - so weit, so unschön. Acht Jahre Haft wegen Vergewaltigung werden mir aber jedenfalls damit nicht plausibel gemacht.

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Als das Gericht der Zeugin Glauben schenkte, sie habe der Mutter zuliebe solange geschwiegen, hat es Partei ergriffen, nicht für das Opfer, sondern für die Aufrechterhaltung des Status quo in den Geschlechter­beziehungen. Wenn es richtig ist, daß der robuste männliche Sexualtrieb sich allzu gern und allzu leicht über Widerstände der weiblichen Gegenseite hinwegsetzt — so müssen wir fair auf Seiten der Frauen eine ebenso verhängnisvolle Neigung zum Verzicht auf Selbstbestimmung, zur Unterordnung, Anpassung und Verantwortungslosigkeit monieren. Die Überzeugung, daß die physische und noch einmal besonders die sexuelle Integrität ein hohes Gut darstellt, hätte im vorliegenden Fall — wäre ich Richterin gewesen — zur strengen Mahnung an die junge Frau geführt, daß sie ihre Rücksicht auf die Mutter entschieden zu weit getrieben habe ... Immer vorausgesetzt, dpa habe den Zeitungsleser korrekt informiert.

Ohne daß die Themen vergangener feministischer Kampagnen ganz aus den Medien und der Diskussion verschwunden wären, hätte sich ein Abkühlungs- und Abnützungseffekt wohl nicht vermeiden lassen, wenn nicht zu Beginn der achtziger Jahre neben den Frauen eine neue Opfergruppe aufgetaucht wäre, die sich fast noch besser als diese selbst zur Fortsetzung und Zuspitzung der sexuell zentrierten Emanzipations- und Reformdiskussionen eignete: Das waren die Kinder. Mit einer Verzögerung von zehn Jahren, die der entspricht, mit welcher in den Siebzigern das Problem der mißhandelten Kinder aus den USA importiert wurde, ent-

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deckte man nun auch bei uns das sexuell mißbrauchte Kind. Auch für die Vereinigten Staaten gilt die Formel, mit der sich das Thema bei uns dann durchsetzte: Kindesmißhandlung plus Feminismus gleich sexueller Kindesmißbrauch.

Anders gesagt war in den USA, seit Henry Kempe 1962 das »Battered Child Syndrome« formuliert und damit sozialen Zuständen einen Namen gegeben hatte, eine kleine Wissenschaftsindustrie entstanden, die das Phänomen gewalttätiger Eltern nach allen Richtungen hin untersuchte und entsprechende Einrichtungen zur Abhilfe schuf, Therapiemodelle erprobte, kurzum, das öffentliche Interesse und das öffentliche Geld für eine soziale Krankheit sehr eindrucksvoll zu mobilisieren verstand.

Daß auch falsche Sexualität ein Bestandteil, wenn nicht der wichtigste, dann der schlimmste dieser sozialen Krankheit ist, haben erst feministische Frauen entdeckt. Bei einer Konferenz in New York hielt eine ältere Sozialarbeiterin, es war Florence Rush, den Vortrag, aus dem dann ihr Buch »Das bestgehütete Geheimnis« hervorgehen sollte. Das war am 17. April 1971, und seither hat sich das Thema verbreitet, nach vorn gearbeitet, immer weiter und weiter, bis nicht nur »Bild«, sondern täglich auch das Radio, der Fernseher, die seriöse und weniger seriöse Journaille, der Film und der Buchmarkt sowieso, betroffen waren von Art und Ausmaß sexuell bedingten Kinderleidens in unserer Gesellschaft.

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Seit 1982 Berliner Frauen unter dem Namen »Wildwasser« eine Beratungsstelle für vergewaltigte Frauen und Mädchen gegründet haben, ist die Publizität des Themas auch anderswo für die Installation von Hilfsangeboten genutzt worden. In Fortbildungsseminaren der einschlägigen sozialen Berufe holt man früher Versäumtes nach und übt sich in der Identifizierung sexuell mißbrauchter Kinder — je jünger sie sind, desto mehr ist der Psychologe oder die Kindergärtnerin ja auf die eigene Beobachtung angewiesen. Da man herausgefunden hat, daß viele drogensüchtige Frauen und ein hoher Prozentsatz von Prostituierten in der Kindheit sexuell mißbraucht worden ist, liegt auf der Hand, welche Bedeutung der Früherkennung des Mißbrauchs zukommt.

In den fünf neuen Bundesländern ist der Nachholbedarf an Aufklärung und praktischen Hilfsangeboten selbstverständlich noch besonders groß. Überhaupt darf man ja keinen Augenblick aus den Augen verlieren, daß neue und bisher sträflich vernachlässigte Probleme von gehöriger gesellschaftlicher Tragweite mehr qualifiziertes Personal, mehr Planstellen in vorhandenen Einrichtungen, kurzum: viel mehr Geld erfordern, das irgendwo herkommen muß ......

Zu den Mädchen und Frauen als Opfer sind neuerdings, wenn auch noch recht zögerlich, die Jungen getreten. Ihr Anteil scheint doch höher zu liegen, als das feministische Dogma von der Männergewalt gegen Frauen anfangs zu sehen erlaubte. Ja, es gibt auch Frauen, Mütter, die einen Sohn oder eine Tochter als Sexualpartner dressieren. Mit anderen Entdeckungen wird das Thema in Zukunft noch abgerundet werden — Sensationen sind jetzt aber keine mehr zu erwarten. Der Tabubruch als Methode hat ausgedient, wenn er denn je Methode und nicht der Inhalt selbst war.

Mir ist längst nicht mehr zweifelhaft, daß eine moderne und liberale Gesellschaft noch durch Tabubrüche aufgeklärt und zu mehr Sorgfalt und Humanität im Umgang mit bisher vernachlässigten Mitgliedern gebracht werden könnte. Tabubruch ist eine Geste, eine pathetische Attitüde im besten Fall, sonst das tägliche Brot der Mediengesellschaft, wo mit harten Bandagen um Redezeit und um Aufmerksamkeit gekämpft wird.

Der durchschlagende Erfolg eines so alptraumhaften Themas wie Kindesmißbrauch ist also weiter gar nicht verwunderlich; denn die Strategie der Sexualisierung, die Frauen eingeschlagen haben, um ihre Emanzipations­defizite präsent zu halten, Unzufriedenheit zu artikulieren, ist dort, aus anderen Beweggründen, schon immer ein Mittel der Wahl gewesen.

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