2. Vom Zaubern mit Zahlen und noch mehr Tricks
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Die allzu erfolgreiche Liaison zwischen der Aufklärung über den Kindesmißbrauch und den Medien, die auf sex and crime als liebsten Tabubruch abonniert sind, hat auch bei denen Bedenken erregt, die davon überzeugt sind, daß die Kampagne an sich notwendig und hilfreich ist. Die Absetzbewegung der Guten von denen, die bloß Mißbrauch mit dem Mißbrauch treiben, ist aber schwer zu bewerkstelligen, eigentlich ganz unmöglich. Man kann eben anderen die verharmlosende Skandalisierung von Einzelfällen oder die Spekulation auf den Voyeurismus nur dann ankreiden, wenn man selbst es besser macht — und das ist nie geschehen.
Von Anfang an lebte die Kampagne vom Coming-out von Frauen, die als Kinder Opfer geworden waren, bei Zusammenkünften, die religiösen Erweckungsversammlungen nicht unähnlich waren — mit dem Unterschied allerdings, daß keine erweckten Sünderinnen aufstanden, um zu bekennen und sich der Gnade Gottes anheimzugeben, sondern umgekehrt, um als Märtyrerinnen der Männergewalt bei uns bisher Ahnungslosen Nachfolgewünsche zu inspirieren.
Wer seine Wunden zeigt, gewinnt dadurch eine Überlegenheit, die Sinn und Verstand außer Funktion setzt. Ob das der Aufklärung über ein angeblich so alltägliches Übel wie den sexuellen Mißbrauch von Kindern in Familien oder nicht bloß der Sektenbildung Vorschub leistet, bezweifle ich nicht. Lassen wir den Erlebnisbericht der »Brigitte«-Chefredakteurin aus dem Jahr 1983 auf uns wirken:
»In dem vollbesetzten Versammlungsraum ist minutenlang kein Laut zu hören. Die Stille wurde so qualvoll, daß ich erst nach einer ganzen Weile wage, mich zu der Frau umzudrehen, die zuletzt gesprochen hat. Mitten im Satz hat ihr die Stimme nicht mehr gehorcht, ist untergegangen in verzweifeltem Schluchzen. Ihr Vater hat sie, als sie noch ein Kind war, jahrelang sexuell mißbraucht. Niemandem konnte sie sich anvertrauen; mit niemandem reden über das, was sie empfand ... In der Menge der annähernd hundertfünzig Frauen im Berliner Mehringhof mache ich schließlich das kreidebleiche Gesicht der jungen Frau aus, die hier zum ersten Mal öffentlich über das Elend ihres vom Vater zugrundegerichteten Lebens gesprochen hat. Niemand nimmt sie in den Arm, tröstet sie. Noch beim Herumblicken wird mir klar, warum: Da sind zu viele andere Frauen, die wie gelähmt vor Schreck über das Wiedererkennen der eigenen traurigen Kindheit auf ihren Stühlen sitzen ... Viele Gesichter sind tränenüberströmt. Als die Stille allmählich weicht und eine Frau nach der anderen das Wort ergreift, wird deutlich: Das Weinen hatte nicht nur mit Bitterkeit und uralter Wut zu tun. Es war auch Erleichterung darin, endlich nicht mehr schweigen zu müssen, endlich sich nicht mehr ausgestoßen und abartig fühlen zu müssen ...«
Man muß nicht daran zweifeln, daß hier ein echtes Opfer aufgetreten ist und Anklage erhoben hat, eines, das zu Recht auf unser Mitgefühl und unseren Zuspruch hofft, um nicht den theatralischen Zuschnitt der Veranstaltung inklusive der kathartischen Begleiterscheinungen zu bemerken und eher sonderbar zu finden. Ich glaube, daß die reglose Stille der Zuhörerinnen nach dem Auftritt der einen aus ihrer Mitte nichts mit dem Wiedererkennen der »eigenen traurigen Kindheit« zu tun hatte, wie die Beobachterin meint, sondern ganz im Gegenteil, mit dem Eintauchen in den Glauben, daß das Unwahrscheinliche und Unausdenkbare wirklich und wahr ist. Gerade weil sexuelle Gewalt gegen Kinder und gar der Inzest in Familien keine alltäglichen Ereignisse sind, muß Zeugnis abgelegt werden, geredet und schließlich — geglaubt werden.
Die Mission mit Märtyrerinnen, die heute natürlich Betroffene heißen, braucht erwachsene Frauen. Ihre Geschichten ähneln in ihrer Eintönigkeit Litaneien, in denen immer dasselbe gesagt wird. Ob das in der Natur der Sache oder im Zwang liegt, die feministischen Vorgaben zu erfüllen, dem Schema von Täter/Opfer, Macht/Ohnmacht, Schuld/Unschuld, Reden/Schweigen undsoweiterundsofort gerecht zu werden, sei dahingestellt.
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Männer, die als Jungen sexuell mißbraucht worden sind, sprechen merklich persönlicher über ihre Erinnerungen, nuancierter, und was die sexuellen Erlebnisse betrifft, oft auch merklich ambivalent. Der melodramatische Titel »Verlorene Kindheit«, den Nele Glöer und Irmgard Schmiedeskamp 1990 ihren Interviews mit männlichen Betroffenen gegeben haben, trägt dieser lebensnahen Uneinheitlichkeit keine Rechnung.
In Fällen, wo Selbstzeugnisse nicht zu haben sind, bedient man sich, um gebührend Schrecken und Angst zu verbreiten, der Methode des empathischen Voyeurismus. Von der Boulevardpresse kann man sich dabei fast nur durch das Vorzeichen, den irgendwie kontextu-ell erbrachten oder erdachten Nachweis der richtigen Gesinnung unterscheiden — kaum durch die Sache selbst. »Während Sie jetzt anfangen zu lesen« — so machte »Bild« seine Leser zu Zeugen — »macht sich gerade ein Mann über ein Kind her. Irgendwo hinter einer Tür zieht er es aus und entblößt dann sich selber. Gleich wird er es mißbrauchen. Das Kind wird den Kopf wegdrehen und wimmern: <Papa, nicht, du tust mir weh.> Und der Mann wird sagen: <Was ist denn? Ich tu dir doch nichts. Ich bin doch dein Vater>. Das Kind wird apathisch den Körper hinhalten, und der Mann wird sagen: <Nun sei schon lieb, sonst setzt es was.>«
Die kitzlige Kongruenz von Lese- mit Ereigniszeit in diesem widerlichen Falle, geht wohl auf Kosten des spekulativen Voyeurismus, aber ist die anderswo implizierte Anregung, alle drei Minuten auf die Uhr zu sehen, weil dann wieder ein Mädchen mißbraucht wird, aufklärender und sachdienlicher?
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Die zwei Kommentatorinnen der »taz« haben das Dilemma erkannt, mit dem gewissenhafte Journalistinnen leben müssen:
»Die Berichterstattung über sexuellen Mißbrauch ist eine Gratwanderung. Ein Bericht, in dem die Taten nur mit dem Begriff Mißbrauch umschrieben werden, verharmlost die Realität. Eine ungeschminkte Schilderung der Tatsachen zwingt zum Hinsehen. Denn das, was in den Familien täglich geschieht, können sich die wenigsten vorstellen. Allerdings kann die Darstellung eben solcher Tatsachen auch als Wichsvorlage mißbraucht werden.«
Das könnte man wohl als politisch völlig unerheblich riskieren; denn für die Auswahl solcher Vorlagen ist sowieso niemand verantwortlich, sie sind rein privat — erheblich ist dagegen der Effekt, auf den in solchen Fällen eine »ungeschminkte Schilderung der Tatsachen« aus ist: das ist die Parteilichkeit, die Identifikation mit dem Opfer, einem Kind.
Das scheint moralisch einerseits korrekt, wie es andererseits einfach und selbstverständlich ist, so daß es sich später noch einmal lohnen wird, nachzufragen. Hier kommt es nur darauf an, die Funktion zu erkennen, die der empathische Voyeurismus der Berichterstattung in diesen Fällen hat. Mit der detaillierten Schilderung, nicht der Fälle überhaupt, sondern ausschnitthaft und isoliert der sexuellen Gewalttat, soll das Glaubwürdigkeitsdefizit gedeckt werden, gegen das der neue Notstand ankämpfen muß. Dieses Ziel ist erreicht, wenn die beim Leser oder Hörer losgetretene Affektlawine mit dem Entschluß zum Stillstand kommt: Das darf doch nicht wahr sein! Gewöhnlich ist das die Stunde der simplen Antworten, einfachen Lösungen und des Aktionismus.
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Wo von szenischen Schilderungen abgesehen wird, sorgen Auszüge aus Obduktionsberichten für Schocks und jene unerträgliche Hilflosigkeit bei uns, die manchen dann für fremde Führung so anfällig und geradezu dankbar macht. Daß es sich bei solchen Ausflügen in die Gerichtsmedizin und andere Expertenwelten um ein rhetorisches Mittel, nicht um die Mitteilung wichtiger Informationen handelt, belegt die folgende, seit 1970 wandernde Vignette vom sexuellen Mißbrauch von Mädchen. Vor einer amerikanischen Regierungskommission, welche die Auswirkungen der Pornographie untersuchen sollte, schilderte ein ungenannter Arzt ihre Folgen aus seiner Sicht so:
»Ich habe in letzter Zeit in der Gynäkologie und Geburtshilfe gearbeitet. Was sich dort abspielt, ist äußerst erschreckend. Die Stationen und Krankenzimmer sind voll junger Mädchen... Sie sind innen zerfetzt. Die Reparaturarbeit, die wir leisten, spottet jeder Beschreibung. Diese Mädchen sind allen erdenklichen Arten von sexuellem Mißbrauch ausgesetzt worden. Früher pflegten Ärzte derart zugerichtete Prostituierte zu behandeln, aber heute müssen wir junge Mädchen aus den besten Familien behandeln .....«
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Genau so teilt Florence Rush in ihrem Buch zehn Jahre später uns die Zustände noch einmal mit, als handele es sich nicht um einen subjektiven Eindruck, sondern um Tatsachen, die für sich selbst sprechen. 1988 wärmt Barbara Kavemann die Meinungsäußerung des Arztes erneut so eindrücklich auf, daß die Besucherin ihres Fortbildungsseminars das Zitat fast wörtlich protokolliert, offenbar überzeugt, daß es sich um eine aktuelle Meldung von der amerikanischen Szene handelt, die uns ja immer einen gewissen Vorgeschmack später auch bei uns eintreffender Ereignisse verspricht.
Eine Vignette informiert nicht, sie muß nicht wahr sein — sie muß an ihren Ort passen. Deshalb ersetzt die Protokollantin der »Süddeutschen Zeitung« die »jungen Mädchen« im Original durch die »kleinen«: »Früher behandelten wir Prostituierte, heute vor allem kleine Mädchen aus den besten Familien.« Aus diesem Versprecher spricht nun nicht die deutsche Kinderliebe, sondern bloß der Zeitgeist, der uns seit 1970 den Paradigmenwechsel von der Gewalt zur gewalttätigen Sexualität in Familienbeziehungen gebracht hat. Darüber hinaus lehrt das Beispiel, daß die Welt aus der Sicht des Spezialisten dann, wenn es sich um Lebensfragen handelt, nicht besser und richtiger ist als jede andere Froschperspektive auch.
Eine weitere Methode, mit der der Kindesmißbrauch zu einem gewissermaßen anerkannten gesellschaftlichen Problem gemacht werden konnte, ist das Zählen und Rechnen. Was je gezählt wurde, ist schleierhaft; daß jede Zahl mit einer ebenso rätselhaften Dunkelziffer unterlegt und damit wieder ungenau, andererseits aber auch höher und bedrohlicher wurde, weist diese Methode als magisch aus.
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Mit Zahlen wird gezaubert. Wer annimmt, daß das plötzlich auftauchende Interesse zuerst für die Mißhandlung, dann den sexuellen Mißbrauch von Kindern auf die statistisch nachweisbare und besorgniserregende Zunahme dieser Verbrechen zurückzuführen ist, täuscht sich gründlich.
Auf den ersten Blick könnte es sogar so aussehen, als ob das Gegenteil der Fall gewesen wäre: Von 1973 bis 1984 hat die Zahl der polizeistatistisch erfaßten Verstöße gegen Paragraph 176 StGB (sexueller Mißbrauch von Kindern unter vierzehn Jahren) von 15.566 auf 10.589 ganz kontinuierlich abgenommen. Über die Gründe kann ich kaum mutmaßen, wundere mich aber sehr, daß niemandem diese Entwicklung aufgefallen ist und keiner darüber nachgedacht hat. Ist der Mißbrauch ins Ausland verlegt worden — Stichwort: Kinderprostitution in der 3. Welt oder Sextourismus dorthin? Sind Sexualtriebe medial transformiert worden und in Pornoshops und Videotheken zum Zuge gekommen? Oder was?
Michael S. Honig hat richtig auf den seltsamen Umstand hingewiesen, daß auch die feministischen Kampagnen gegen Männergewalt in dem Moment auftraten, wo ein neues Familienrecht die Reste patriarchaler Verfügungsgewalt beseitigt hatte. Natürlich kann man von der Tatsache, daß Normen rechtlich fixiert sind, noch nicht auf ihre Geltung im Leben schließen, schon gar nicht auf ihre hundertprozentige Erfüllung — einige Auswirkungen auf die Formulierung der Emanzipationsziele unter den veränderten Bedingungen hätte ich aber schon erwartet.
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Stattdessen wird eine moralische Panik geschürt, indem man suggeriert, daß Frauen und Kinder immer schon und immer noch recht- und hilflos, letztlich Freiwild für gewissenlose, macht- und sexsüchtige Männer sind. Die Aufhebung aller vormundschaftlichen Regelungen zugunsten der Gleichstellung der Geschlechter erlaubt es aber irgendwann einfach niemandem mehr, Forderungen für die Frauenseite mit Schuldsprüchen für die Männerseite quasi zu legitimieren. Unweigerlich kommt der historische Zeitpunkt, wo nur noch Selbsterforschung oder gar Selbstkritik weiterhelfen können.
Ein von Kavemann & Lohstöter in ihrem Buch »Väter als Täter« konstruiertes, von mir destruiertes Beispiel, mag zeigen, um welche Optionen es hier für die Frauen geht. Mit einem Blick auf die Bestimmungen des Strafgesetzbuches warnen sie:
»Da die Vorschriften kompliziert und vielfältig aussehen, entsteht leicht der Eindruck, der den Mädchen gewährte Schutz vor sexueller Gewalt sei lückenlos. Bei näherem Hinsehen erweist sich dieser Schutz allerdings als unvollständig: Beispielsweise ist ein Mädchen bei der heute bestehenden extremen Jugendarbeitslosigkeit und dem Mangel an Ausbildungsplätzen, gleichgültig, ob sie 15, 17 oder 19 Jahre alt ist, verstärkt der Autorität des Lehrherrn ausgesetzt und von dessen Wohlwollen abhängig. Bei der bestehenden Gesetzeslage bleibt der Lehrherr, der den Geschlechtsverkehr mit der Androhung des Verlustes des Arbeitsplatzes erzwingt, auf alle Fälle dann straffrei, wenn die Auszubildende 19 Jahre alt ist. Ist sie erst 17, bleibt der Lehrherr straffrei, wenn die Drohung nicht wortwörtlich erfolgte, sondern lediglich in bestimmten Verhaltensweisen mitschwang. Ein lückenloser Schutz von Mädchen und Frauen ist nur dann gewährleistet, wenn alle sexuellen Handlungen ohne Differenzierungen und Ausnahmen unter Strafe gestellt werden, sobald sie gegen den Willen und bei Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses erfolgen.«
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Welches Frauenbild legen die Autorinnen in ihrem Beispiel zugrunde? Ein, vorsichtig ausgedrückt, recht archaisches. Es beginnt mit der Verwischung des Unterschieds von Strafrechtsbestimmungen mit Schutzgarantien, wie sie zu feudalen und patriarchalen Herrschaftssystemen gehören. Der neunzehnjährige Lehrling, der die Übernahme in ein reguläres Arbeitsverhältnis erstrebt und sich deshalb zum Beischlaf erpressen läßt, dem fehlt es an vielem, aber nicht an der Möglichkeit zur Selbstbestimmung in sexueller Hinsicht. Daß er sie nicht oder anders wahrnimmt als wir es uns von einer moralisch integren Person vorstellen, das steht auf einem anderen Blatt. Keine moderne Gesellschaft erspart ihren erwachsenen Mitgliedern solche und ähnliche Entscheidungen, warum sollen Frauen, die historisch spät politisch handlungsfähig wurden, davon ausgenommen werden?
Deshalb ist es auch abwegig, grundsätzlich alle erwachsenen Frauen in »Abhängigkeits-«, sprich fast allen Arbeitsverhältnissen heute, noch einmal besonders unter Kuratel zu stellen. Das ist, mit dem Blick auf Tarifbestimmungen und Arbeitsrecht, nicht nur lebensfremd, sondern verkennt auch, daß im »lückenlosen Schutz« Mündel und keine Individuen gedeihen, die bei so schönen rechtlichen Konstruktionen wie der »sexuellen Selbstbestimmung« doch immer vorausgesetzt werden.
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Das Recht ist aber nicht nur defizitär, vor allem ist es wirkungs- und bedeutungslos, wie ein Blick auf die Zahlen und Zustände zu beweisen scheint. Woher kommen die Zahlen und warum sind sie bei der Meinungsbildung so effektiv? Grundlage der meisten Schätzungen in der alten Bundesrepublik sind die Forschungen von Michael C. Baurmann, 1983 durchgeführt im Auftrag des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden. Ohne jetzt meinerseits Lesarten anzubieten, stelle ich hier fest, daß alle, die sich auf ihn berufen, zu etwas anderen Ergebnissen kommen oder ihre Ergebnisse nach einiger Zeit abgeändert haben, getreu der alten Weisheit: Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.
Die jüngste veröffentlichte Zahl stammt vom Deutschen Kinderschutzbund und fällt völlig aus dem Rahmen. Er gibt die Zahl von Kindern, die im Bundesgebiet im Jahr 1991 voraussichtlich von Eltern, Bekannten, Freunden oder Fremden sexuell bedrängt oder genötigt werden, mit geschätzten 80 ooo an. Die Angabe einer so niedrigen Zahl grenzt fast an Selbstschädigung, wenn man bedenkt, daß die Größe einer Organisation sich an der Größe ihrer Aufgabe mißt. Dazukommt, daß andere seit Jahren höhere Zahlen bieten und selbst die Bundesregierung unter dem Druck der Kampagne oder von neuen Einsichten, die uns noch vorenthalten werden, von ihren konservativeren Schätzungen im Jahr 1985 abgerückt ist, und zum Zeichen des guten Willens und des Engagements nachgebessert hat.
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Damals, im Jahr 1985, reagierte sie auf eine Große Anfrage der Fraktion der Grünen aus dem Jahr zuvor. Aus der Antwort geht einiges hervor, das gegen den erregten Zeitgeist in Sachen sexueller Mißbrauch von Kindern zu bemerken lohnt. Die Polizeistatistik macht keine Angaben über Verstöße gegen Paragraph 173 StGB (Inzest), Paragraph 174 StGB (Mißbrauch von Schutzbefohlenen) und Paragraph 179 StGB (Mißbrauch Widerstandsunfähiger). Offenbar ist das Anzeigenaufkommen hier zu gering. Auf das rätselhafte Absinken der Verstöße gegen den Paragraph 176 StGB von 1973 bis 1984 habe ich schon hingewiesen.
Wie bei allen Vergehen und Verbrechen ist natürlich auch bei solchen gegen die sexuelle Selbstbestimmung mit einer Dunkelziffer zu rechnen. 1985 ging die Bundesregierung unter Verweis auf die zahlreich vorliegenden Forschungen von einer Hell-/Dunkelfeld-Relation von eins zu acht bis eins zu fünfzehn aus. Solche Schwankungsbreite anzunehmen ist wohl die vornehme Form, in klaren Zahlen Unwissenheit und Unsicherheit auszudrücken, ohne uns dadurch zu ängstigen und die Inkompetenz der Ämter vor irgendeinem Problem einzuräumen. 1987 hatte sich, jedenfalls für das Bundesministerium für Gesundheit, nicht die Zahl der statistisch erfaßten Opfer, wohl aber die Hell-/Dunkelfeldrelation nicht bloß vereindeutigt, sondern auch erhöht, auf eins zu zwanzig.
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Damit war man bei der Zahl 210.000 angelangt. Es fehlten aber immer noch 90.000, mit deren Hilfe die Bundesbehörden und Ministerien den Anschluß an eine Zahl fanden, die endlich seit 1988 allgemein die Szene beherrscht. Diese Zahl gilt ganz unabhängig von der Polizeistatistik und der Dunkelziffer. Die Zahl 300.000 ist eine Metapher für den sexuellen Mißbrauch geworden, wie die elftausend Jungfrauen, welche die Heilige Ursula auf ihrem Weg in die Ehe mit einem Heiden begleitet und vor Köln niedergemetzelt worden sein sollen, mit dieser Pseudopräzisionszahl auch für etwas stehen und nicht wörtlich genommen werden wollen.
»Sexueller Mißbrauch nimmt zu. Bonn (dpa) — Die Zahl der polizeilich registrierten Fälle von sexuellem Mißbrauch an Kindern ist 1988 um 13,1 % auf mehr als 13.000 gestiegen. Doch wird die tatsächliche Zahl auf bis zu 300.000 im Jahr geschätzt, teilte das Bundesfamilienministerium in Bonn mit ...«
Daß die Zahl der mißbrauchten Kinder um 13,1 Prozent zugenommen hat, könnte manchen beunruhigen. Ihm wird aber durch die Dezimalstelle signalisiert, daß höheren Orts alles unter Kontrolle ist. Niemand weiß mehr, daß 1973 die Polizeistatistik sogar 15.566 kindliche Opfer nach Paragraph 176 StGB verzeichnet hat.
Zum ersten Mal taucht die Zahl von 300.000 mißbrauchten Kindern bei Kavemann & Lohstöter auf. Wie sind sie daraufgekommen? Auch sie berufen sich auf Baurmann, außerdem aber auch auf ungenannte repräsentative Untersuchungen, in denen erwachsene Frauen nach sexuellen Übergriffen in ihrer Kindheit und Jugend befragt wurden. Sie verwirren das Bild von
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vornherein, da sie nicht von Kindern (bis vierzehn Jahren) sondern Mädchen (bis achtzehn Jahren) reden. »Dabei wurde eine Dunkelziffer von 1:18 bis 1:20 errechnet, das heißt, daß von 18 bis 20 sexuellen Gewalttaten an Mädchen nur eine einzige der Polizei angezeigt wird . . . Wenn wir jetzt die offizielle Zahl der 1980 beziehungsweise 1981 angezeigten Fälle von Kindesmißbrauch und Vergewaltigung und sexueller Nötigung von Mädchen unter 18 Jahren mit der errechneten Dunkelziffer multiplizieren, ergibt sich, daß schätzungsweise jährlich 300.000 Kinder sexuell mißbraucht werden. Davon sind mindestens 250.000 Mädchen — etwa alle drei Minuten eine. Untersuchungen in den USA kamen zu dem Ergebnis, daß jede vierte Frau als Kind von sexueller Gewalt betroffen war.«
Kinder oder Mädchen, sexuelle Übergriffe oder sexuelle Gewalttat — wer durchschaut diese Gedanken- und Rechenkünste überhaupt noch? Unterstellt, die Zahl 300 ooo sei realistisch, was besagt sie? Wer kennt denn die Gesamtzahl der Kinder/Mädchen bis achtzehn Jahre? Und wer weiß, was sich hinter einem Fall alles verbergen kann? Verstöße gegen den Paragraphen 176 StGB umfassen exhibitionistische Akte ebenso wie Vergewaltigung; einmalige Übergriffe auf ein Kind wie chronischen Mißbrauch in einer inzestuösen Familie. Man kann bezweifeln, daß das Zusammenrühren der unterschiedlichsten Delikte und Altersgruppen überhaupt einen Sinn macht, es sei denn den einen, die sexuelle Gefahr überwältigend groß und allgegenwärtig zu machen.
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Mit scheinbar sicheren Zahlen wird der Laie also nicht informiert und über Tatbestände aufgeklärt, sondern manipuliert. Ob aus Naivität oder aus taktischen Gründen, weil der höhere Zweck der Kampagne die Mittel heiligt, ist dabei völlig gleichgültig. Alle Zahlen sind Fiktionen und machen uns mit ihrer Pseudorationalität anfällig für eine ganz und gar phantastische Welt, in der die Sexualität der Feind Nummer eins im Leben der Kinder (und Frauen) ist.
Ohne daß die Tricks mit Zeit, Zahlen und Experten oder die Appelle an die Imagination des Lesers grundsätzlich andere wären, beherrscht die Boulevardpresse sie aus langer Übung natürlich besser, so daß in ihrer Überbietung der märchenhaft-mythologische Drall dieser sogenannten Aufklärung über einen alltäglichen Übelstand unübersehbar wird. So rechnete »Bild« am 28. 8. 1990: »Das verschwiegene, schreckliche Drama von nebenan. 300 ooo von den 10 Millionen Kindern bei uns werden ständig sexuell mißbraucht. (Zahlen über die DDR liegen nicht vor.) Manche Experten schätzen, die Dunkelziffer ist mindestens viermal so hoch. 1,2 Millionen - jedes achte Kind. Das sind 1 Million betroffene Mädchen und 200.000 Jungs. Würden sie alle durch Ihre Alpträume laufen - es blickte Sie alle 30 Sekunden eins der geschändeten kleinen Mädchen an. Alle dreißig Sekunden eins. Tag und Nacht. Und alle zwei Minuten zusätzlich ein Junge. Über die Hälfte dieser Kinder wird jahrelang mißbraucht, viele mehrmals die Woche ...«
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Nur auf den ersten Blick sind diese hohen Zahlen aus spekulativen, reißerischen Gründen aus der Luft gegriffen, bei näherem Zusehen entpuppen sie sich als logische Extrapolation aus allen Angaben, die sich schon bei Kavemann & Lohstöter finden lassen. Bei diesen ist zwar in der Zahl von 300.000 Opfern jährlich auch die Dunkelziffer schon berücksichtigt, so daß man glauben könnte, »Bild« habe eine ohnehin dubiose Zahl willkürlich weiter erhöht — dem ist aber nicht so. Wie erinnerlich, beenden die Berliner Expertinnen ihre Zahlendarstellungen mit dem Hinweis auf amerikanische Untersuchungen, denen zufolge jede vierte Frau als Kind von sexueller Gewalt betroffen gewesen sein soll. Damit entwerten sie nicht nur ihre halbwegs durchsichtigen Überlegungen zur Polizeistatistik und der Hell-/Dunkelfeldrelation durch einen Wechsel der Bezugsgröße, sondern legen »Bild« auch nahe, unter Einbeziehung dieser neuen Angabe, eine viel höhere Opferzahl zu erwirtschaften. Es kommt aber nicht nur auf die hohe Zahl der Opfer an, sondern auch darauf, alle im Spiel befindlichen Zahlen miteinander zu verknüpfen und die Pseudorationalität der Rechnung vollständig durchzugestalten. »Bild« unterscheidet sich von sogenannten Experten nicht durch die Bereitschaft zur Manipulation, gar Lüge, sondern durch den Entschluß zum rechnerischen Exzeß dort, wo andere vornehm insinuieren.
Trotzdem erreicht auch »Bild« die Zahl von 1,2 Millionen kindlicher Opfer nur, weil man hie und da fünf gerade sein läßt. Aber Dezimalbrüche und andere Pedanterien sind schließlich Sache der Verantwortlichen in Ämtern und Behörden, nicht derer, die einen
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gesellschaftlichen Notstand überhaupt erst ins Gespräch bringen wollen. Dazu braucht man nicht nur hohe, sondern auch runde Zahlen, solche, die man sich merken kann. Deshalb haben wohl Kavemann & Lohstöter auch der Zahl drei vor anderen den Vorzug gegeben: 300.000 Opfer, alle drei Minuten ein Mädchen . . . Der Zahl drei kommt wie etwa auch der Sieben in »Sieben Zwerge«, »Sieben Todsünden«, »Sieben Weltwunder« eine märchenhaft-mythische Wahrheit zu, auf die man ungern verzichtet. Drei Wünsche hat man im Märchen frei, drei Aufgaben hat der Held zu lösen, Dreieinig- und Dreifaltigkeit sind nicht zu verstehen und werden im Modus des Glaubens akzeptiert. Ich habe also nachgerechnet, ob es stimmt, daß wirklich alle drei Minuten ein Mädchen Opfer wird, — und herausgefunden, daß — vorausgesetzt, man billigt den rastlosen Tätern nicht nächtliche Ruhepausen zu — der Zweiminutentakt der Wahrheit näher kommt. Wiederum vorausgesetzt, daß 250000 Mädchen unter achtzehn die korrekt geschätzten Opfer sind. . . Vor der rechnerischen Genauigkeit gebührt aber der märchenhaft-mythischen Wahrheit der Dreizahl der Vorzug.
Zurück zur Fortsetzung der Expertenarbeit durch »Bild«. Durch gründliches Nachdenken hat sich mir das Rätsel der 1,2 Millionen Opfer dort enthüllt: »Bild« geht von zehn Millionen deutscher Kinder aus. Davon sind erfahrungsgemäß etwa die Hälfte Mädchen; die Relation der weiblichen zu den männlichen Opfern wird mit fünf zu eins angesetzt; andererseits soll
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ja jede vierte Frau als Kind mißbraucht worden sein, und die Zahl 300.000 ist ein Topos des Themas, auf das der Leser Anspruch hat. Der vernünftige Kompromiß, den »Bild« hier findet, ist die Vervierfachung der Zahl 300.000, wodurch die Mädchen gebührend bedacht, die Lesererwartung erfüllt und die noch katastrophalere Zahl von rechnerisch zu vermutenden 1,5 Millionen deutscher Kinder als Opfer ihrer »Väter, Großväter, Stiefväter, Onkel, Nachbarn und Brüder« unterboten wird.
Es reicht nicht, sich gegenüber solchen Zahlenkunststücken mit grundsätzlicher Skepsis zu wappnen; denn auch seriösere, wenn es sie denn gäbe, ersparten uns nicht die Aufgabe, den Maßstab zu prüfen, welcher der ganzen Zählerei zugrundegelegt wird. Es macht keinen Sinn, gerade wenn man an die Interessen der Kinder denkt, alle Szenen in einen Topf zu werfen, in denen Kinder mit erwachsener Sexualität konfrontiert werden. Die Art der Handlung und die Beziehung zum Täter resultieren in einer solchen Vielfalt von sexuellen Vorfällen, daß nur der schiere Dogmatismus sie unter der scheinobjektiven Überschrift »sexueller Mißbrauch« subsumieren kann. Der Blick auf das Strafrecht hilft hier nicht wirklich weiter; denn es enthält zwar Maßstäbe — diese können aber nur dann wirklich messen, wenn das Opfer oder sein Vormund sie übernehmen und außerdem der Strafverfolgung den Vorzug vor der anderweitigen Regelung geben will.
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Das gilt zwar generell, aber verstärkt dann, wenn die eigene Intimsphäre berührt wird und es um Sexualität geht, einem Terrain, auf dem niemand sicher und souverän sich je bewegen kann, wie aufgeklärt er auch sein mag. Kinderschützer vergangener Tage haben diese Unsicherheit durch eine rigorose Moral, feministische Aufklärer durch den Entschluß zum Manichäis-mus übertönt. Von unstrittigen Fällen abgesehen, über die sich alle schnell einigen können, wissen wir nicht, was sexueller Mißbrauch wirklich ist. Im oft beschwo-renen Dunkelfeld, das uns so große Sorgen macht, verstecken sich, anders gesagt, nicht nur Fälle, die vor den Kadi, Kinder die gerettet werden müssen, dort bewegen sich auch jene, die einiges zu erzählen haben, sich aber dann darüber wundern, daß es die Prosa der sexuellen Gewalt war, die ihnen so natürlich von den Lippen geflossen sein soll.
Jede vierte Amerikanerin sei als Kind Opfer sexueller Gewalt gewesen — von dieser Rechnung war schon öfter die Rede. Sie geht aufFlorence Rush zurück, die sich ihrerseits auf Kinsey und David Finkelhor beruft, einen jüngeren, auf Kindesmißhandlung und -mißbrauch spezialisierten Forscher. Die Untersuchung von Kinsey ist die wichtigere, weil ihr eine gewisse Repräsentativität zugesprochen wird, die Finkelhor und andere nach ihm mit ihren Befragungen nicht besitzen.
Kinseys Ergebnisse wurden 1953 im Kinsey-Report über »Das sexuelle Verhalten der Frau« veröffentlicht, und jeder kann das einschlägige Kapitel über »Sexualerlebnisse vor der Pubertät mit erwachsenen Männern« in der deutschen Ausgabe von 1970 bequem nachlesen.
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Tatsächlich hat Kinsey herausgefunden, daß ein Viertel der Frauen vor ihrem dreizehnten Lebensjahr ein sexuelles Erlebnis mit einem Mann von mindestens achtzehn Jahren gehabt hat. Als Pionier der Sexualforschung spricht er wohlweislich von »Erlebnis«, nicht gleich von Mißbrauch wie jene, die sich auf ihn berufen. Von diesem Viertel wiederum hatten achtzig Prozent nur ein einziges Mal ein solches »Erlebnis«, weitere zwölf Prozent zweimal, drei Prozent drei- bis sechsmal und fünf Prozent neunmal und öfter. Kinsey gibt dann nicht nur ein differenziertes Bild der Vorfälle im einzelnen nach Art der Handlung und Status des Täters, sondern versucht auch, ein genaues Bild von der Reaktion der Kinder zu zeichnen. Die Bandbreite ist groß und reicht von Neugier und Interesse bis zum schieren Entsetzen. Achtzig Prozent der Kinder waren durch den Kontakt emotionell verstört und geängstigt, die allermeisten aber nur vorübergehend. Wie es sich für einen kritischen Sexualforscher gehört, sind ihm aber alle seine Daten keine Offenbarungen, sondern bieten Anlässe, weiterzufragen.
Die abschließenden Überlegungen zeigen, durch welche Abgründe Kinsey von denen getrennt ist, die ihre phantastischen Konstruktionen auf seine soliden Forschungen stützen wollen. »Wenn das Kind nicht kulturell geprägt wäre«, heißt es da, »ist es zweifelhaft, ob es durch die sexuellen Annäherungen überhaupt gestört würde. Es ist schwer zu verstehen, warum ein Kind darüber verstört sein sollte, daß man seine Genitalien berührt, oder daß es die Genitalien anderer Personen zu sehen bekommt und sogar, daß es
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durch spezifisch sexuelle Akte verstört sein sollte — es sei denn auf Grund kultureller Prägung. . . Einige erfahrene Jugendkundler sind zu der Überzeugung gekommen, daß die emotionalen Reaktionen der Eltern, der Polizeibeamten und anderer Erwachsener, die den Fall entdecken, das Kind seelisch mehr schädigen, als es die Sexualakte selbst tun. Die ständige Hysterie über Sexualvergehen kann sehr wohl ernste Auswirkungen auf die spätere sexuelle Anpassungsfähigkeit vieler dieser Kinder haben.«
Vom hoffnungsvollen Vertrauen in die letztlich gute Natur der menschlichen Sexualität bei Kinsey selbst da, wo es um strafrechtlich sanktionierte und kulturell tabuierte Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen geht, ist heute nichts mehr übrig geblieben. In welchen Katastrophen, ist man versucht zu fragen, ist es eigentlich untergegangen? Oder ist das frische Selbstbewußtsein der Frauen daran schuld, das sich gegenwärtig in wilden Anklagen Luft machen muß, als ob es gälte, quasi zeitversetzt, sich für die unfreiwillige Bravheit von gestern zu entschädigen?
Öfter fühlt man sich durch Tonfall und Gedankenführung in eine archaisch anmutende Welt, eine menschliche Steinzeit entführt, die so gar nicht zu den Verhältnissen paßt, in denen man sich täglich bewegt. Ich zumindest und der eingangs zitierte Theaterkritiker Hobel, der vom Inzest auch bloß aus hunderten von Medienberichten weiß und nun nicht mehr umhin kann, das Ganze für einen gesellschaftlichen Notstand zu halten. . . »Kinder werden noch so lange sexuell mißhandelt«, schreiben die Kommentatorinnen der »taz«, »wie Männer Macht über und Gewalt gegen Frauen und Familien ausüben können«.
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Die undifferenzierte Rede vom »sexuellen Mißbrauch« als einem objektivierten Übel, einer anerkannten sozialen Krankheit, treibt einerseits die Opferzahlen in die Höhe, verhindert aber andererseits nicht, daß je länger je mehr, im öffentlichen Bewußtsein sexueller Mißbrauch mit Inzest oder der Vergewaltigung von Kleinkindern gleichgesetzt wird. Es findet also gleichzeitig eine Entgrenzung der Probleme wie eine ungeheure Dramatisierung statt, und das sind denkbar schlechte Voraussetzungen für Hilfeleistung dort, wo sie wirklich gebraucht wird.
Die Entgrenzung des sexuellen Mißbrauchs auf die eine oder andere Weise ist aber keineswegs auf feministische Zirkel beschränkt, sondern ist längst auch anderswo gang und gäbe. Haben Finkelhor und andere, die erwachsene Frauen nach ihren sexuellen Erlebnissen als Kinder gefragt haben, darauf geachtet, kindliche Reaktionen, erwachsene Bewertungen und heute gewissermaßen konventionelle Kodierungen voneinander zu trennen? Oder haben sie von vornherein ihren Probanden das Recht, über ihre Erlebnisse zu urteilen und sie im Zusammenhang ihrer Biographie zu bewerten, abgesprochen?
Die Tendenz geht zur Objektivierung des Tatbestands und die Meßlatte wird immer niedriger gehängt. Eine britische Untersuchung aus dem Jahr 1985 stufte als »mißbraucht« alle Frauen ein, die als Kinder
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etwas erlebt hatten, was folgender Definition genügte: »Mißbrauch liegt vor, wenn ein Kind unter 16 Jahren von einer sexuell reifen Person mit einer Aktion konfrontiert wird, von der diese Person erwartet, daß sie das Kind sexuell erregt.« Trotz dieser wirklich großzügigen Definition konnten nur zwölf Prozent der befragten 1049 Frauen als »sexuell mißbraucht« verbucht werden.
Damit nicht nur jede fünfte, vierte, dritte, ja, jede zweite Frau als Opfer, aber damit auch als Rohstoff für Statistik, Forschungsvorhaben und therapeutische Einrichtungen in Frage kommt, muß man wohl noch weiter gehen, bis dahin, wo der Wahn beginnt und auch der letzte Rest von common sense und Lebensklugheit Ade gesagt haben. Eine Journalistin, die ein Fachseminar mit Barbara Kavemann erlebt hat, resümiert das Gelernte so: Mißbrauch »beginnt im Grunde bei allen Verhaltensweisen, die dem Mädchen vermitteln, daß Männer frei über es verfügen können, beispielsweise lüsterne Blicke, das Klatschen auf den Po oder das Betasten und Begutachten körperlicher Rundungen. Aber auch die Anwesenheit eines sexuell erregten Erwachsenen kann unter bestimmten Umständen vergewaltigend sein, auch wenn er das Kind dabei nicht berührt ...«
Da wundert man sich gar nicht, wenn der Psychohistoriker Lloyd de Mause zu der Überzeugung kommt, daß »mehr als die Hälfte aller amerikanischen Frauen in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht wurden«. Warum nicht alle? Und warum sagt man nicht gleich, daß jedwede Sexualität, jede Anspielung, jeder Witz in Gegenwart von Kindern zu unterbleiben hat, die vor dem Gottseibeiuns um jeden Preis zu schützen sind?
In einer seltsamen Umkehrung sollen in dieser Weltsicht Männer so unter Kuratel gestellt werden, wie im Islam die Frauen. Verhüllt und mit niedergeschlagenen Augen müssen sie ihren Ruf als anständige Menschen, als Nicht-Mißbraucher täglich neu erweisen. Nur sie sind verantwortlich für das Unheil, das die Sexualität stiftet, wenn sie nicht allerschärfstens überwacht wird. Von uns, den Frauen.
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