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3. Sozialisationstheoretische Schauerromantik 

 

 

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Man kann die Welt aus einem Punkt erklären — und wenn dieser Punkt die Rettung der Kinder, ihrer richtigen Versorgung und Erziehung ist, dann findet man mehr gutwillige Zuhörer als bei anderen Patentrezepten zur Lebens- und Gesellschaftsreform. 

Jahrelang schon hatte Alice Miller mit ihren Büchern von dieser spezifischen Lahmlegung des kritischen Vermögens profitiert, ehe amerikanische Feministinnen ihre Spezialität, das unglückliche Kind, noch mit der sexuellen Traumatisierung würzten. 

Die Leitfigur dieser sozialisationstheoretischen Schauerromantik ist das in der Kleinfamilie ausgesetzte kleine Kind, zugespitzt, das Mädchen, das dem Oger nicht entfliehen kann, weil die gruselromantische Konstellation Flucht nur als Flucht in die Falle erlaubt. Das heißt etwa, daß der Therapeut der hilfesuchenden Patientin keinen Glauben schenkt, oder, noch schlimmer, den Mißbrauch selbst fortsetzt. 

Ein Beispiel aus einem der neueren Bücher von Miller, das zeigt, auf welche Pointen solche Erzählungen angelegt sind und auf welche Einsichten nicht:

»Eine vierzigjährige Frau sieht mit eigenen Augen, daß ihr Mann ihre zwölfjährige Tochter sexuell mißbraucht. Besorgt über die psychischen Folgen schickt sie ihr Kind zu ihrer Analytikerin, bei der sie selbst seit acht Jahren in Behandlung ist. Nach der ersten Besprechung kommt die Tochter in Tränen aufgelöst zu Hause an und sagt: >Ich will nie wieder zu dieser Frau. Sie sagte, es sei nicht schlimm, daß ich solche Dinge phantasiere... aber ich müsse mit ihr herausfinden, warum ich Papa Schwierigkeiten machen wolle. Ich habe Angst vor ihr.« 

Wie werden sich Mutter und Tochter aus den Verstrickungen der Verschwörer befreien? Wird die Unschuld endlich triumphieren? Mit jeder anderen Nachfrage sprengte man hier das Genre. Was hat die Mutter gesehen? Was könnte die Analytikerin zweifeln lassen? Und schließlich: Sollte man zwölfjährige Mädchen prophylaktisch zum Analytiker schicken wie zum Zahnarzt, ohne zuerst Papa direkt in die Mangel zu nehmen und abzuwarten, ob das Kind selbst fremde Hilfe beanspruchen möchte?

Seltsamerweise gehört aber der Respekt vor der Intimsphäre der Opfer bei denen, die lauthals ihre Zerstörung durch den Mißbraucher anklagen, nicht zu den Selbstverständlichkeiten. Wer sich nicht erinnern kann, sexuell mißbraucht worden zu sein, könnte eben nur besonders schlimme Erfahrungen besonders tief verdrängt haben. Wer sich an vieles erinnert, erklärte mir ein Psychologe, alle Vorfälle aber mit gehörigem intellektuellem Aufwand verharmlost, der hat eben seine Gefühle abgespalten und weggepackt — eine Verdächtigung meiner Intelligenz als kalt und herzlos, die ich seit meinen überraschenden ersten Erfolgen in der Grundschule von verschiedenen Seiten immer wieder gehört habe.

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Es ist eben so, daß man über Kinder und Kinderunglück, seinen Umfang, seine Ursachen, seine Bekämpfung nicht eigentlich streiten darf. Hier ist, wie bei keinem anderen Thema in unserer Gesellschaft überparteilich und überkonfessionell Betroffenheit gefordert, möglichst aktive — Einblendung in der Fernsehtalkshow »Inzestopfer« — zumindest aber passive, die sich in Langmut und dem Verzicht auf Nachfragen kundtut. Nach einer öffentlichen Diskussion erhielt ich einen Brief, der die Fernzündung meines Innenlebens bestens mit dem Plädoyer für die Kinder und überhaupt das Gute auf dieser Welt zu verbinden wußte:

»Sie überschätzen sich ziemlich, wenn Sie meinen, Sie hätten zu dem komplexen Problem irgendetwas Gutes beigetragen. Ihre eigene verdrängte Kindheit stand da voll im Wege! So stellten Sie eine kühle starke (möchtegern-starke) Frau dar, die im Grunde sehr verwirrt ist... Wer von Kinderkitsch redet, hat gefährlicherweise seine eigene Geschichte noch nicht angeschaut, und es war offensichtlich, daß Sie ein ungeliebtes Kind waren, daß Sie seelisch mißhandelt wurden (wie wir fast alle) ... Sie und der Sozialpädagoge Reinhart Woiff haben nicht begriffen, was die Wurzeln der (aller?!) Probleme sind. Ich bin keine Psychologin, wenn Sie das beruhigt. Aber die Sensibilität habe ich mir bewahrt und sperre mich nicht gegen alles Emotionale...«

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Sind das die Folgen von Alice Miller, deren Bücher mir die Schreiberin noch empfiehlt? Ich denke nicht, daß irgendwo der Sieg der kalten Vernunft über Sensibilität und Emotionen ansteht. Wovor ich mich fürchte, sind die Phantasien, mit denen uns Experten überschwemmen, die ihren Einfluß, ihr Handwerkszeug und ihr Wissen in den Dienst eines Wahns stellen. Keine Sorge, ich bewahre Augenmaß und gebe zu, daß der Glaube an den sexuellen Mißbrauch nicht entfernt so verhängnisvoll werden kann, wie andere bekannte Wahnsysteme in der Geschichte, vom Hexenwahn bis zum Antisemitismus.

Virginia Woolf ist tot und sie braucht sich gegen das krachende Streckbett, das die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Louise DeSalvo für sie aufgestellt hat, nicht mehr zu wehren. Über deren geradezu abgründige Naivität und heillose Schlamperei im Umgang mit den Texten denkt man schell anders, wenn man den Bericht einer Psychologin, noch dazu Expertin für das Thema, über einen Mißbrauchsfall in der eigenen Familie liest. Da gibt es lebende kleine Mädchen, die .geängstigt, befragt, untersucht und ihrem Vater entzogen werden, einen echten Vater schließlich, der vor Gericht mit einer schwerwiegenden Anklage konfrontiert wird. Am toten wie am lebenden Objekt wird derselbe Wahn agiert, wo Vermutung auf Vermutung folgt und sich wechselseitig so lange bestätigt, bis es kein Entkommen mehr gibt.

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Die Untersuchung über die Auswirkungen sexuellen Mißbrauchs auf Virginia Woolfs Leben und Werk ist nicht unkritisch aufgenommen worden. So weit ich sehe, hat aber der Behauptung, daß etwas, das diesen Namen verdient, in ihrer Kindheit und Mädchenzeit stattgefunden hat, niemand widersprochen. Nicht folgen wollte man Louise DeSalvo bei der gewissermaßen übertriebenen Spurensuche auch im literarischen Werk. Ein Stückchen Autonomie möchte man Woolf doch konzedieren, trotz der überwältigenden Evidenz ihrer Labilität, ihrer Zusammenbrüche und schließlich ihres Selbstmordes 1940 in den Wassern der Ouse, die für eine erklärungsbedürftige Störung sprechen.

Ich muß allen den Spaß oder besser, die Genugtuung verderben, die eine ohnehin als feministische Heilige schon kanonisierte Virginia nun auch noch als exemplarisch mißbrauchtes Mädchen vorführen wollen. Das Zicklein oder Äffchen, wie ihre Spottnamen lauteten, war kein Opfer viktorianischer Wüstlinge. Wäre es so gewesen, sie hätte es uns bestimmt gesagt; denn die intellektuelle Boheme von Bloomsbury liebte Gespräche über Sex, seit Lytton Strachey das erlösende Wort gefunden hatte, über alles.

»Er zeigte mit dem Finger auf einen Fleck auf Vanessas weißem Kleid. >Sperma?< rief er. Darf man das wirklich sagen? dachte ich, und wir brachen in Gelächter aus. Durch dieses eine Wort fielen alle Barrieren der Zurückhaltung und Reserve. Eine Flut der geheiligten Ergüsse schien uns zu überwältigen. Sex beherrschte die Unterhaltung. Das Wort homosexuell lag uns ständig auf der Zunge. Wir diskutierten über den Beischlaf mit derselben Begeisterung und Offenheit, mit der wir über das Wesen des Guten diskutiert hatten.«

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Zu Bloomsbury gehörten die Übersetzer von Freud, Alix und James Strachey, und die Werkausgabe erschien in Leonard Woolfs Hogarth-Press, wo Virginia sie druckfrisch lesen konnte. Bei so viel geschärfter Aufmerksamkeit und sophistication auf Seiten des Opfers, müßte ein Interpret schon etwas in der Hand haben, wenn er die Erzählungen und Selbstanalysen mit einem Hintersinn versieht, so, als wäre Virginia Woolf zu dumm, zu schüchtern und zu krank gewesen, um die ganze Wahrheit zu erkennen und aufzuschreiben; als hätte sie deshalb ihre ganzen Werke, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen mit Andeutungen wie Hilferufen und Schmerzlauten gespickt, die wir heute endlich hören und entziffern können, — so, meine ich, darf man eine Person und einen Autor nicht grundlos entmündigen.

Laura, Leslie Stephens Tochter aus erster Ehe, war, wie Virginia unumwunden erklärt, eine Idiotin. Nein, behauptet DeSalvo, sie war ein »unangepaßtes« Kind, das zum Sündenbock der Familie gemacht wurde und Stella, der Halbschwester aus der ersten Ehe der Mutter, und Vanessa zur Warnung dafür diente, was auch ihnen blühen könnte, wenn sie nicht artig waren. Aus der Tatsache, daß der unglückliche Vater so lange wie möglich an der Illusion festhielt, sein Kind sei eigenartig, »pervers« und könne durch besondere Erziehungsmaßnahmen gebessert werden, ganz im Einklang übrigens mit den Anschauungen der Zeit — ehe er die Halbwüchsige dann aus der Familie entfernte und schließlich einem Pflegeheim überantwortete — aus dieser Tatsache gestaltet DeSalvo eine sadistische Orgie, ein Verbrechen des Vaters.

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Mitschuldig am Untergang dieses Kindes sind für sie aber auch Gerald und George Duckworth, die älteren Halbbrüder, von denen wir schon wissen, daß sie Virginia und Vanessa sexuell mißbraucht haben; die Verschlechterung von Lauras Zustand nach der Zusammenlegung der Haushalte Stephen/Duckworth spricht dafür, daß sie auch hier ihren ungezügelten tierischen Trieben Befriedigung verschafft haben... Die Indizien DeSalvos sehen in der Regel so aus, daß jeder andere, der nicht überall und jedesmal sexuellen Unrat wittert wie das Schwein die Trüffel, andere Erklärungen näher liegend und plausibler findet; oft genug werden Indizien im Eifer der Beweisführung aber auch mit den besten Absichten erfunden.

Nach dem Tod von George Duckworth schreibt Virginia ihrer Schwester, Leonard sei der Meinung, »wir« hätten Laura verschonen können. Die naheliegende Deutung, daß man der Kranken den Tod nicht hätte melden sollen, mag unsicher sein; DeSalvos Konstruktion, Leonard habe sagen wollen, daß es doch Möglichkeiten gegeben hätte, wenigstens Laura vor George zu schützen, ist aberwitzig. Warum Laura, wenn eS nicht gelungen war, Vanessa und Virginia zu schützen? Und an wen ist der Vorwurf in Leonards Bemerkung denn adressiert, etwa an die beiden Frauen, die selbst angeblich hilflose Opfer waren und schon deshalb nicht imstande sein konnten, ihrer viel älteren Halbschwester beizustehen?

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Die Fragen erübrigen sich, wenn man den zentralen Stein aus DeSalvos Gedankengebäude zieht, daß das Geheimnis der labilen Psyche von Virginia Woolf im sexuellen Mißbrauch durch ihre Halbbrüder zu suchen ist.

Aus einsichtigen Gründen war die Einstellung zu den beiden zwölf beziehungsweise vierzehn Jahre Älteren außerordentlich ambivalent. Sie waren von Vaterseite her wohlhabend. George verfügte über tausend Pfund jährlich — Virginia hatte fünfzig, und wie deutlich ihr der Zusammenhang von Geld, Unabhängigkeit und geistiger Größe immer vor Augen stand, beweisen ja ihre Überlegungen in dem berühmten Essay »Ein Zimmer für sich allein«. Außerdem waren diese Brüder ganz und gar konventionelle Viktorianer. Man konnte sie um ihre Sicherheit in der Gesellschaft beneiden -man konnte sie aber ebensogut verachten; dann nämlich, wenn man, wie die Stephen-Kinder nach dem Vorbild des intellektuellen Vaters, andere Lebensziele hatte, als bei einer Herzogin zum Tee geladen zu werden.

George, der von beiden Brüdern als der Hauptmissetäter belastet ist, sah, zu allem Überfluß, noch blendend aus, und er war, was Geschenke, Ausflüge und die Finanzierung von Reisen betrifft, sogar äußerst großzügig. Gerald, auch das sollte man nicht so übergehen wie DeSalvo, hat das erste Buch von Virginia in seinem Verlag veröffentlicht. Außerdem war George aber auch — von Gerald ist sehr viel seltener die Rede — strohdumm, meint Virginia.

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Die Minderausstattung des Gehirns stand in einem schreienden Gegensatz zur Dimension seiner Gefühlswelt. »Es war etwas ganz Vertrautes«, schreibt Virginia in einer ihrer autobiographischen Skizzen, »in den Salon zu kommen und George dort auf den Knien vorzufinden, der mit ausgestreckten Armen und den Ausdrücken glühender Liebe auf meine Mutter einredete, die vielleicht gerade dabei war, die wöchentlichen Ausgaben zusammenzurechnen. Möglicherweise hatte er das Wochenende bei den Chamberlains verbracht. Aber er ging so verschwenderisch mit Zärtlichkeiten, Liebkosungen, Beteuerungen und Umarmungen um, als sei er endlich, nach vierzig Jahren im australischen Busch, in das Haus seiner Jugend zurückgekehrt und habe dort noch eine alte Mutter lebend vorgefunden, ihn zu begrüßen.«

Auch die folgenden Seiten verwendet Virginia Woolf in diesem Vortrag vor dem Memory-Club von Bloomsbury auf George, der nach dem Tod der Mutter Familienoberhaupt geworden war; denn Sir Leslie, dem die Rolle ja eigentlich zugekommen wäre, war taub, exzentrisch und mit sich selbst beschäftigt. Die beiden heranwachsenden Schwestern, von atemberaubender Schönheit, gedachte der »abnorm dumme« George bei seinem Aufstieg in die aristokratische Gesellschaft einzusetzen. Schön, jung und mutterlos wären beide die Zierde jedes Banketts gewesen, wenn Vanessa bloß nicht immer an ihre Malerei gedacht und Virginia in den unpassendsten Augenblicken unziemlich intellektuell brilliert hätte.

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Am Ende des Vertrags läßt Virginia nach einem auch für sie aufregenden Abend im Theater und in Gesellschaft George in ihr Schlafzimmer schleichen. »Wer ist da?« schrie ich. »Hab keine Angst«, wisperte George. »Und mach kein Licht — oh, Geliebtes! Geliebtes -« und er warf sich auf mein Bett und nahm mich in die Arme. Tja, die alten Damen von Kensington und Bel-gravia kamen nie auf die Idee, daß George Duckworth eben nicht nur Vater und Mutter, Bruder und Schwester für die armen Stephenmädchen, sondern auch ihr Liebhaber war.« Eine eindeutige Szene und ein eindeutiges Wort aus dem Mund des Opfers? In erster Linie doch wohl eine gelungen Pointe, serviert auf Kosten von George und der viktorianischen Oberklasse, die Virginia Zeit ihres Lebens abstieß und zugleich faszinierte.

Wie weit Georges Benehmen den Titel eines lovers der beiden Schwestern im heutigen Sinn rechtfertigte, können wir beim besten Willen nicht wissen; mit keiner Silbe deutet jedenfalls Virginia an, daß das, was vorfiel, Vanessa oder ihr als hilfosen Opfern eines außer Rand und Band geratenen Ogers widerfahren ist. Bei mir hat sich ganz im Gegensatz dazu der Eindruck verfestigt, daß der schöne, großzügige und hysterisch exaltierte George die junge Virginia sehr beeindruckt hat. Die Dummheit eines längst Erwachsenen dürfte einem Kind und jungen Mädchen keineswegs so evident gewesen sein, wie Virginia es später dargestellt hat; seine Konventionalität ebensowenig. Wer Geheimnissen nachspüren wollte, könnte hier ins Grübeln kommen - aber nicht da, wo Woolf uns selbst gesagt hat, was zu sagen war.

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Das zweite Opfer, das dem männlichen Sexualtrieb dargebracht wurde, war Stella, die Schwester von Gerald und George, welche nach einigem Zögern Jack Hills heiratete und wenige Monate später in den ersten Monaten einer Schwangerschaft an einer Blinddarmentzündung starb. Wer den sexuellen Mißbrauch in den Mittelpunkt der Beziehungen der Geschlechter stellt, hat ja auch eine gewisse Theorie über die Funktionsweise des Phallus. DeSalvo offenbart uns, wie sie aussieht. Stella ist von Jack, sagen wir es einmal so, wie es wirklich gemeint ist, krank gevögelt worden. Jack sei ein unermüdlicher Liebhaber, hat nämlich Violet Dickinson, die altjüngferliche Freundin Virginias, von einem ungenannten Kindermädchen gehört, und deshalb mußte Stella sterben.

Man ist versucht, auch DeSalvo, die diese Geschichte übernimmt, den alten Medizinerwitz zu erzählen: »Fräulein, versprechen Sie sich nicht zu viel von der Ehe . . .« Es ist ja verständlich, wenn unmittelbar Betroffenen bei einem so schrecklichen und unerwarteten Todesfall die merkwürdigsten Erklärungen und vor allem Schuldzuweisungen einfallen; aber hundert Jahre später sollte man solche Phantasien nicht mehr für bare Münze ausgeben. Die Verzerrung der männlichen Sexualität ins Monströse und Gewalttätige ist aber so sehr Bestandteil des Begriffs »sexueller Mißbrauch«, daß DeSalvo die Horrorvision vom Phallus als Mordwerkzeug nicht entbehren kann. Wieder setzt sie sich völlig über die Darstellung der Ereignisse und Personen hinweg, die Woolf selbst gegeben hat.

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Weit entfernt davon, Jack Hills irgendwelche Vorwürfe zu machen, erinnert sie sich dankbar an die frische und humorvolle Art, mit der er ihr einige Jahre später beibrachte, welche Rolle die Sexualität auch im Leben ehrbarer Gentlemen spielte. Den Zustand des geschockten jungen Mannes, der wenige Wochen nach der Heirat mit dem Tod der Geliebten, seiner Einsamkeit und - seinen abrupt ins Leere laufenden Begierden fertig werden mußte, hat Woolf präzise diagnostiziert. Warum muß DeSalvo aus diesen sympathetischen Mitteilungen über Hills das Bild eines prototypischen Sexualbarbaren entwerfen? Ihre Argumentation bewegt sich gegenläufig in den Viktorianismus zurück, aus dem Virginia und Vanessa nach Bloomsbury aufgebrochen waren.

Wenn die Apostrophierung von George als >lover< der Stephen-Schwestern auch vieldeutig sein mag, so bleibt doch die berüchtigte Szene scheinbar eindeutig, in der Gerald das kleine Mädchen auf ein Sims hebt und trotz ihrer Gegenwehr die Hand unter ihr Kleid schiebt. »Seine Hand tastete auch meine Geschlechtsteile ab. Ich erinnere mich, daß es mich empörte und abstieß — was ist das richtige Wort für ein so dumpfes und wirres Gefühl? Es muß stark gewesen sein, da es mir noch immer im Gedächtnis ist. Das scheint zu beweisen, wie instinktiv ein Gefühl für gewisse Teile des Körpers sein muß, daß sie nicht berührt werden dürfen, und wie falsch es ist, sie berühren zu lassen.«

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Wieder scheiden sich die Geister. Ich halte den Vorfall schlimmstenfalls für das, was Alfred Kinsey wertneutral als »sexuelles Erlebnis mit Männern vor der Pubertät« verbucht. Ob der vielleicht achtzehnjährige Gerald als »Mann« zu bezeichnen ist, ist trotz des Altersunterschieds zu Virginia, die sechs gewesen sein müßte, zweifelhaft; denn er dürfte weniger seinen Trieben als der Neugier gefolgt sein: Wie sieht das weibliche Genitale aus?

Wer sich noch erinnert, welches Interesse in den fünfziger Jahren briefmarkengroße Reproduktionen von Rubensgemälden bei Kindern erweckten, wird meine Vermutung für 1888 nicht ganz so abwegig finden, wie sie es heute wäre. Was Woolf zu dem Vorfall sagen wollte, hat sie gesagt und ich verweise jeden, der sich über ihre »Spiegelscham«, die Scham über ihren Körper, genauer informieren möchte, auf die 1939 begonnenen »Reminiszenzen«.

Was sie von »Duckworth, Gerald« hielt, kann jeder mit Hilfe der Register zu ihren Briefen und Tagebüchern leicht herausfinden. Es ist eben DeSalvos Pech, daß jede Krume ihres Materials gedruckt vorliegt und jede von ihr als verräterische Assoziation, als deutungsbedürftiger Einfall mißbrauchte Woolfsche Metapher in den Kontext zurückversetzt und — verstanden werden kann. Das ist lehrreich für das Verständnis der ganzen Kampagne, weil man wenigstens an einem Beispiel einmal das Wuchern des Wahns und die damit gegebene Gefahr des völligen Realitätsverlustes nachvollziehen kann.

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Die Entdeckung des sexuellen Mißbrauchs von Kindem als eines weit verbreiteten Verbrechens ist ja einher gegangen mit einer heftigen Anklage gegen Freud, der in einem zweiten Anlauf die sogenannte Verführungstheorie bei der Entstehung der Neurosen zugunsten der Triebtheorie fallengelassen hatte. Die Verführungstheorie geht von einem realen Ereignis, einem Trauma für das Kind aus; die Triebtheorie von einem Konflikt zwischen Ich und Trieb, ohne dadurch die grundsätzliche Möglichkeit einer Traumatisierung auszuschließen. Freud war zu der Überzeugung gekommen, daß unmöglich so regelmäßig Kinder von ihren Eltern verführt worden sein konnten, wie Neurosen aufgetreten waren. Zweitens, und das wird aus einsichtigen Gründen gern übersehen, war Freud mit den Heilerfolgen unzufrieden, die das therapeutische Verfahren auf der Grundlage der Verführungstheorie zeitigte.

Die Kur bestand in der Wiederbelebung des traumatischen Ereignisses und der Befreiung des damals eingeklemmten Affekts, der Aufhebung des Gefühlsstaus. Die Idee ist naheliegend, die Erfolge bestenfalls kurzfristig. Es liegt auf der Hand, daß die Rückkehr zur Verführungstheorie mit der Wiederholung von Freuds therapeutischen Irrtümern und Mißerfolgen einhergehen muß. Die Wunder, die man sich heute von öffentlichen und nichtöffentlichen Bekenntnissen, Geständnissen und Anklagen, dem Brechen des Schweigens und dem Erlebnis von »Wut und Trauer« in Selbsterfahrungsgruppen verspricht, stehen dabei in einem erstaunlichen Gegensatz zur Größe und Schwere des Schadens, der Kindern durch sexuellen Mißbrauch zugeführt worden ist. Oder sein soll. Oder wie oder was?

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Der Realismus der Verführungstheorie — bei Alice Miller gibt es keine Triebe mehr, schon gar nicht bei Kindern, nur schlechte Eltern, die andererseits selber schlechte Eltern undsoweiter ad infinitum hatten — diese unpsychologische Voreingenommenheit für die »Wahrheit der Fakten« (Miller) führt bei DeSalvo zum philologisch begründeten Beziehungswahn wie sie anderswo zur Entgrenzung der Begriffe und der haltlosen Vermehrung der Opfer gerührt hat, bis dahin, wo alle Frauen und Mädchen sich irgendwie als potentiell mißbraucht definieren könnten. Dabei ist der Unterschied zwischen einem tatsächlichen Opfer und einem potentiellen nicht der ums Ganze, sondern kontingent. Wer dann anfängt, in seinen Erinnerungen zu kramen, wird schließlich auch etwas finden, das der Theorie nicht völlig widerspricht und zumindest von hilfreichen Deutern als sexuelle Gewalttat gezählt werden kann. So wuchert der Wahn und führt endlich zur Konfrontation derer, die ihn teilen mit den anderen, die den »Tatsachen« trotzen und ihre wahren Gefühle nicht kennen.

Was bleibt von Virginia als dem Hauptopfer in der Kette inzestuöser Verbrechen, wenn schon die notorischen Missetäter George und Gerald Duckworth aus Mangel an Beweisen frei gesprochen werden müssen? Sollte ich als Laie auf ihrem Krankenblatt etwas vermerken, dann käme als Bedingung für ihre Labilität Mutterentbehrung in Betracht. Julia Stephen hat ihre chronische Depression mit einer so rastlosen Arbeit und Reisetätigkeit bekämpft, daß sie nach Überzeugung aller, vorzeitig gealtert und ausgepowert, mit neun-undvierzig Jahren starb.

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Virginias »Spiegelscham« weist auf ein Hemmnis des normalen Körperexhibitionismus hin. Ihr Leben lang hatte sie Schwierigkeiten mit dem Fotografiertwerden, was man sich heute, wo ihre Porträts von Gisele Freund fast zu Ikonen geworden sind, nur noch schwer vorstellen kann. Irgendetwas verunsicherte ihr Verhältnis zu ihrem Körper, irgendetwas schien mit ihm nicht zu stimmen, so daß sie sich seiner schämen mußte. Ihr Desinteresse an (Hetero-)Sexualität ist bekannt; was sie bedauerte, war ihre Kinderlosigkeit.

DeSalvo versteigt sich einmal so weit, ihr kindliches Anlehnungsbedürfnis an meist ältere und große Frauen als positive lesbische Verarbeitung ihrer bösen Männer- und Mißbrauchserfahrungen zu deuten. So naiv wie diese Sexualpsychologie des feministischen Goodwill zum eigenen Geschlecht, so fahrlässig hat DeSalvo, eine als Woolf-Editorin ausgewiesene Wissenschaftlerin, ihre Indizienketten gehäkelt, wo eine waghalsige Vermutung das nächste Mißverständnis stützt. »Ein Finger schien sich auf unsere Lippen gelegt zu haben«, so kennzeichnet Woolf Jahre später die wortlose Trauer nach dem plötzlichen Tod der Mutter 1895. Frisch und frei deutet DeSalvo diesen Satz als klaren Hinweis auf das »erzwungene Schweigen« der Schwestern zu Georges sexuellen Übergriffen. Von hier assoziiert DeSalvo weiter, über ein Gesetz, das 1908 Inzest unter Zuchthausstrafe stellt, hin zu einer Tagebucheintragung von Virginia Woolf vom 21. Januar 1918.

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Diese faßt DeSalvo für ihre Beweisführung stimmig, aber sonst sachlich falsch zusammen: »Und sie fing an, sich mit der Inzestproblematik auseinanderzusetzen, und wollte 1918 der British Sex Society beitreten, die sich vor allen Dingen mit >Inzest zwischen Eltern und Kind< befaßte.« Ich übersetze diese Stelle aus Woolfs Tagebuch, um erstens eine Probe vom geselligen Gesprächsklima Bloomsburys zu geben, in dem über alles, besonders gern aber über >moderne< Themen wie Sexualität geredet wurde; zweitens um Woolf vom Ruch der betroffenen Selbstfindungsfrau zu befreien; drittens um zu zeigen, daß die British Sex Society nicht vor allem mit Inzest und schon gar nicht mit dem befaßt war, der DeSalvo umtreibt, sondern viertens allenfalls mit Freuds Theorie darüber:

»Lytton kam zum Tee; blieb zum Essen, und ungefähr um zehn Uhr abends hatten wir beide trockene Lippen und das Gefühl verbrauchten Lebens. Das kommt vom stundenlangen Reden. Aber Lytton war äußerst angenehm und unterhaltsam. Unter anderem gab er uns einen erstaunlichen Bericht über die British Sex Society, die sich in Hampstead trifft. Das hört sich nach einer dritten Spezies Mensch an, und es scheint, daß die Versammlung auch so aussah. Trotzdem waren sie überraschend offen; fünfzig Leute beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Alters diskutierten ohne Scham solche Fragen wie den deformierten Penis von Dekan Swift, ob Katzen aufs W. C. gehen; Selbst-

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befriedigung; Inzest — zwischen Eltern und Kindern, der beiden unbewußt ist, war das Hauptthema, in Anlehnung an Freud. Ich glaube, ich werde Mitglied. Schade, daß die Zivilisation die Zwerge, Krüppel und geschlechtslosen Menschen immer zuerst erleuchtet. Und die finden sich in Hampstead. Lytton hat an verschiedenen Punkten das Wort PENIS ausgestoßen. Das war sein Beitrag zur Offenherzigkeit der Debatte.« Man urteile nun selbst, ob der Zusammenhang von tastender Selbstfindung, Inzest und British Sex Society gegeben ist, den DeSalvo hier und anderswo mit anderen Ecksteinen insinuiert.

Die Versuchung ist groß, ihr Buch Seite um Seite zu widerlegen und zu korrigieren, aber wann ist der Wahn je vernünftiger Rede gewichen? 1936 besucht Virginia zusammen mit Leonard noch einmal Gerald Duck-worth in seinem Haus. »Es war, als ob man einen Alligator besucht, einen fetten und zurückgebliebenen Alligator, der wie unsere Schildkröten, halb im, halb außerhalb des Wassers liegt.« Das Bild vom »fetten, zurückgebliebenen Alligator« benutzt Woolf am selben Tag noch einmal in einem Brief. DeSalvo hat natürlich, den Mißbrauchsnachweis fest und un verrückt im Sinn, keine Ahnung vom Verhältnis, das Woolf zu Tieren hat. Um es kurz zu machen: kein hysterisches, das den Alligator per se zum furchterregenden Ekel macht. Hören wir DeSalvos Deutung:

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»Noch, denke ich, war die frühe Erinnerung an Gerald Duckworth, wie er sie belästigte, nicht ganz bewußt geworden. Aber etwas beunruhigte sie bei diesem Wiedersehen. Ihr Bild von ihm als Alligator in einem Becken, in dem sie selbst gefangen war (davon steht hier zwar nichts, es gibt aber das Bild vom gefühlvollen George und der überrollten Virginia als Wal und Elritze in einem Behälter an anderer Stelle, K. R.) zeigt, daß sie ihn für gefährlich hielt.«

Das genaue Gegenteil ist der Fall: Virginia fühlt sich von Geralds Reden gelangweilt, sie sieht auf ihn herab, und "sie vermutet, daß auch er fühlt, wie sich die Rollen vertauscht haben: Nun ist sie es, die arme kleine Schwester, die mit Leonard im freien Wasser schwimmt. So nimmt Virginia im Tagebuch das Bild vom Alligator im Becken noch einmal auf: Die Außenseiter bewegen sich im Leben; der einstmals so überlegene Gerald ist auf der ganzen Linie gescheitert und interessiert sich für gar nichts mehr. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man feststellt, daß DeSalvos Deutung des Alligators Gerald ins Gegenteil verkehrt, was Woolf klar und deutlich gesagt hat.

Oberflächlich gesehen, behandelt DeSalvos Buch Virginia als Opfer, dem spät Gerechtigkeit widerfahren und dessen eigene Bemühung um Verbrechensaufklärung anerkannt werden soll. In Wahrheit berechtigt aber die Unterstellung, Woolf sei von 1888 bis 1904 von mehreren Personen der Familie sexuell mißbraucht worden, sie wisse es aber nicht mehr und leide nur unter den Folgen, dazu, das Opfer völlig zu entmündigen und nach Belieben zu manipulieren. Zum Glück nur mit den Mitteln der Philologie. Aber diese Ret1-tungsaktion hat gerade die Schriftstellerin Woolf nicht

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verdient, obwohl ich gern einräume, daß ihre Kindheit und Jugend vor der Jahrhundertwende nicht den Vor* schritten entsprechen, nach denen heute sozialpädagogische Modelleinrichtungen betrieben werden — sollen...

Das Gegenstück zu Woolfs Rettung wider Willen durch eine Pfadfinderin, die sie trotzdem über die Straße geleitet, wird von der verfolgenden Unschuld gegeben. Bleibt unklar, was eine Literaturwissen-schaftlerin in den Wahn getrieben hat, so versteht man wenigstens den Nutzen, den Katharina Lappessen davon hat, wenn sie ihrem geschiedenen Ehemann den Mißbrauch ihrer Tochter Anna anlastet. Einesteils kann sie sich auf diese Weise die Trauer wegen des Scheiterns einer siebenjährigen Beziehung ersparen; andernteils setzt sich die Beziehung zu dem Mann über die aktive Befriedigung von Haß- und Rachewünschen noch eine ganze Zeit fort, und zwar — das ist wichtig — auf moralisch einwandfreie Weise.

Die Ideologie des sexuellen Mißbrauchs erlaubt der Mutter, sich als selbstlose Beschützerin ihrer Kinder aufzuspielen und über die ganzen Ereignisse — eine Voruntersuchung gegen den Vater eingeschlossen — mit bestem Gewissen ein Buch zu schreiben. Zuerst nur aus selbsttherapeutischen Gründen: »Ich habe mich hingesetzt und meine Gefühle auf das Papier geschrieben, um nicht zu ersticken an den furchtbaren Dingen, die ich in mir fühlte.« 

Später kam die Absicht dazu, anderen gleichermaßen Betroffenen beizustehen. Das Buch wurde gedruckt, »um anderen Müttern von

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unseren Erfahrungen zu berichten, um ihnen Mut zu machen, ihre Kinder auch zu schützen vor Mißbrauchern, obwohl dies so schwer ist und die Umwelt nicht unterstützend reagiert, sondern mit Zweifeln und viel Angst, über die Existenz des sexuellen Mißbrauchs überhaupt nachzudenken.«

Um das Ergebnis meiner Lektüre vorwegzunehmen:

Das Buch ist kein Lehrstück über sexuellen Mißbrauch und die Schwierigkeiten, Kinder unter Umständen mit Hilfe des Jugendamtes, des Familiengerichts oder gar der Polizei- und Strafbehörden zu schützen, sondern ein bedrückender Beweis dafür, wie schwach die Fähigkeit zur Realitätsprüfung entwickelt ist und wie schnell das vorhandene bißchen auch noch verloren gehen kann, wenn die Umstände entsprechend ungünstig sind. Was die Mutter mit ihrem Mißbrauchsvorwurf an die Adresse des geschiedenen Mannes erreicht, ist die Zerstörung des guten Verhältnisses, das zwei kleine Mädchen zu ihrem Vater und dieser zu ihnen hatte.

Ein modernes Scheidungsrecht, das ohne Schuldzuweisungen auskommt und deshalb Kinder nicht mehr um ihren Vater oder ihre Mutter bringt, weil einer die Ehe gebrochen hat — alle neuen Versuche also, Kindern eigene Rechte einzuräumen und die (gescheiterte) Ehebeziehung von der Beziehung zu den Kindern in deren Interesse zu trennen, all das ist für die Katz, wenn über den Mißbrauchsvorwurf die Schuldfrage erneut und mit sehr dramatischen Konsequenzen wieder eingeführt werden kann. 

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Daß die Mutter im vorliegenden Fall eine studierte Psychologin und darüber hinaus als Profi auf dem Gebiet der Mißbrauchstherapie und Aufklärung tätig ist, macht diese Geschichte vollends zu einem allzu realistischen Schauerroman ohne jede Aussicht auf ein Happy-end: Denn daß der Vater am Ende von der Anklage entlastet wird, hat mich zwar über die Möglichkeiten der Justiz beruhigt, dem ärgsten Wahn Einhalt zu gebieten, zu beklagen sind aber zwei kleine Mädchen und ein Vater, die sich nun nicht mehr sehen dürfen. Ganz unabhängig von der Unschuld des Vaters setzte die weitere Wahrnehmung des Besuchsrechts unter den von der Mutter herbeigerührten Umständen die Kinder solchen Zerreißproben aus, daß der absehbare Schaden dem Familiengericht zu bedeutend erschien. Wie viel Porzellan die zielstrebige Mutter im Verlauf der vielmonatigen Erhebungen zu Hause und bei anderen Experten, die testeten, befragten, begutachteten außerdem noch bei ihren Töchtern zerschlagen hat, wird die Biographie der Kinder einmal erweisen. Man kann sich ja leider seine Eltern nicht aussuchen wie sonst im Leben Freunde und Feinde ...

Was hat mich nun bei diesem so lehrreich und breit ausgeführten Fall väterlichen Mißbrauchs einer Fünfjährigen darauf gebracht, ihn unter Wahn, nicht unter Wirklichkeit zu verbuchen? Denn natürlich weiß ich, daß es sexuellen Mißbrauch von Kindern gibt, ein Verbrechen, das wirklich und wahrhaftig diesen Namen verdient — obwohl ich bezweifle, daß die gegenwärtige Kampagne dieses Realissimum im Auge hat, das sich für eine moralische Erweckung breiter

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Laienkreise an sich ja auch sehr schlecht eignet.

Bei DeSalvo mußte man nur den Weg von den wild akkumulierten und kombinierten Belegstellen zurück zu den Texten und Kontexten gehen, um ihre Interpretation zurückzuweisen. Schließlich konnte Woolf selbst als Zeugin gehört werden, die ihr Leben so kunstvoll gedeutet hat, daß es sich eigentlich verbietet, ihre Äußerungen zu behandeln, als seien es Einfälle einer Analysandin, die auf der Couch liegt.

Zur Geschichte von Annas Mißbrauch durch den Vater, seine Entdeckung und Verfolgung durch die Mutter, gibt es keinen Urtext, auf den man zurückgreifen könnte, nur einige Gegenreden des Vaters in Form von Schreiben seines Rechtsanwalts und schließlich den Beschluß des Gerichts, die Hauptverhandlung wegen Mangels an hinreichendem Tatverdacht nicht zu eröffnen. Damit steigert die Justiz die so gern monierte Zahl der »Täter«, die ungestraft davonkommen, als ob die Zahl von Ermittlungseinstellungen oder Freisprüchen per se die Blindheit der Justiz und nicht vor allem beweise, daß wir in einem Rechtsstaat leben, dessen oberster Grundsatz in dubio pro reo lautet.

Oder soll es Verbrechen geben, bei denen dieser Grundsatz keine Geltung mehr haben soll? Was haben sich Kavemann & Lohstöter anderes gedacht bei ihrer Justizschelte? »Der Vergleich der Kriminalstatistik und der Verurteiltenziffer macht deutlich, daß nur jeder fünfte angezeigte sexuelle Mißbrauch vor einem Strafgericht verhandelt wird, obwohl von drei Tätern zwei ermittelt werden.« 

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Über die Demagogie solcher Dreisatzaufgaben und anderer Zahlenzaubereien habe ich mich schon genug verbreitet, hier wird außerdem aber noch der Unterschied zwischen Anzeige, Ermittlungs- und Strafverfahren vernebelt, eine kostbare rechtsstaatliche Prozedur, die im Fall von Annas Vater nicht alles, aber doch das Schlimmste verhütet hat. Auch in Zukunft, wollen wir hoffen, ist der noch nicht verurteilt, den jemand angezeigt hat.

Daß Annas Mißbrauch sich dem Wahn der Mutter und nicht der Wirklichkeit eines gewissenlosen Vaters verdankt, diese Überzeugung muß eigentlich jeder gewinnen, der die Geduld aufbringt, ihrer Erzählung von Anfang bis Ende zuzuhören. Diese Mühe lohnt sich überdies, weil es bisher so wenige Beispiele aus dem Leben gibt, die zeigen, welche gefährlichen Fallen sich mit der neuartigen Kinderschutzideologie noch unbeachtet auftun. Manchem mag das Wort Wahn, das ich schon bei DeSalvo benutzt habe und nun auch auf Annas Mutter anwende, zu scharf in den Ohren klingen. Die Möglichkeit zur Wahnbildung ist aber schon im propagierten Konzept vom sexuellen Mißbrauch von Kindern angelegt; denn einerseits wissen die wenigsten aus eigener Erfahrung von diesem Verbrechen, andererseits soll uns weisgemacht werden, daß es massenhaft vorkommt. Die Dunkelziffer ist aus einem kriminalstatistischen Werkzeug deshalb längst zur Metapher für das unsagbare Grauen geworden, das hinter der Fassade des normalen Alltags versteckt ist.

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Kindesmißbrauch ist außerdem ein Verbrechen, das keine Spuren hinterläßt und keine Zeugen hat; denn Körperverletzungen sind nicht die Regel und Kinder, selbst wenn sie schon alt genug sind und sprechen können, schweigen und müssen nach allen Regeln der Testkunst abgehorcht werden, wenn ein Verdacht besteht. So muß sich Annas Mutter gar nicht fragen, ob sie dabei ist durchzudrehen, wenn ihr plötzlich nach dem ersten der zweite unabweisbare Gedanke kommt, daß der Vater nicht erst jetzt, nach der Trennung, sondern schon seit Jahren seine Tochter mißbraucht hat. Ein wiederkehrender Alptraum des Kindes erklärt sich zwanglos aus dieser Tatsache, die die Mutter ebenso viele Jahre übersehen hat, obwohl sie doch als Expertin hellhöriger hätte sein müssen als normale Mütter.

Andere naheliegende Erklärungen werden systematisch vermieden. Bauchschmerzen beider Mädchen und schwere Verstimmungen der älteren Anna, jedesmal, wenn sie von Besuchen beim Vater zur Mutter zurückkommen, lassen mich vermuten, daß die Kinder unter einem Konflikt leiden, der zu Lasten des widersprüchlichen Verhaltens der Mutter geht. Im Rahmen einer großzügigen Besuchsregelung dürfen die Kinder zwar viel Zeit bei ihrem Vater verbringen — bei der Mutter werden sie dann mit dem zwar verleugneten, aber krass agierten Haß auf den Vater konfrontiert. Annas Schicksal als Mißbrauchsopfer ist besiegelt, als einer dänischen Freundin der Mutter, Trauzeugin bei ihrer baldigen Wiederverheiratung, das unglückliche Gebaren der nunmehr sechsjährigen Tochter auffällt. Wie es der Teufel will, ist diese Freundin auch Expertin, sogar eine

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mehrjährig erfahrene und versierte auf dem Gebiet des sexuellen Mißbrauchs. Ihr Gutachten über die Symptome bei Anna, die Persönlichkeitsstruktur des Vaters und die inzestuöse Grundstruktur der (Ex-)Familie kann man nachlesen.

Niemand ist offenbar auf die Idee gekommen, Annas Verhalten verständlich und normal zu finden: Die Hochzeit macht ihr endgültig klar, daß alle ihre Hoffnungen, Vater und Mutter wieder beisammen zu sehen, vergeblich sind. Da nutzt es wenig, wenn der neue »Vater« und die beiden neuen Geschwister nett und sympathisch sind. Nicht nur beim Lesen von Annas Geschichte frage ich mich, ob die ganze Aufregung um sexuellen Kindesmißbrauch überhaupt der Kinder wegen angezettelt wird, oder ob nicht auch sonst, wie hier Annas Mutter, erwachsene Frauen ganz andere Süppchen auf dem Thema kochen wollen. Wie kann man sonst so fühllos für ein Kind sein? Männer will ich nicht grundsätzlich vom Fehlverhalten ausschließen, nur sind sie bisher öffentlich so gut wie gar nicht in Erscheinung getreten. Ist das Verfolgen der Unmoral nicht von altersher ein probates Mittel gewesen, seinen Feind schachmatt zu setzen?

Über der Liberalisierung von Gesetzen und veränderten Umgangsformen zwischen den Geschlechtern übersieht man auch leicht, daß dem allgemeinen Fortschritt auf dem Gebiet der Sexualtriebe engste Grenzen gesetzt sind und als zivilisatorische Tugend von uns öfter die Resignation, nicht der hysterische Aufschrei verlangt wird. 

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Um ein Beispiel zu geben: Es lohnt sich, die öffentliche Sicherheit weiter zu verbessern, es lohnt sich nicht, dasselbe für private Verhältnisse zu versuchen. Wenn anderswo Polizei, Gesetz und Diplomatie die Regel sind, werden wir hier, in Liebes- und anderen engen Beziehungen immer mit Affektdurchbrüchen und anderen Abweichungen vom sogenannten normalen Verhalten zu rechnen und — uns abzufinden haben. Wer nach Staat und neuen Gesetzen ruft, um das zivilisatorfsche Niveau in zwischenmenschlichen Beziehungen weiter zu heben, treibt bloß den Teufel mit dem Beelzebub aus. So ändert sich nichts — außer dem Anzeigenaufkommen.

Auch Annas Mutter dürfte also, blieben ihre Wutausbrüche und die aufgestaute Erbitterung über ihren Ex-Ehemann im privaten Rahmen, auf unsere Nachsicht und Geduld rechnen. Sie reagiert aber öffentlich und noch dazu in missionarischer Absicht. Warum? Es geht wohl um mehr als das gute Gewissen, das die in aller Unschuld verfolgende Unschuld braucht. Ja, die Monotonie, mit der Annas Mutter die Welt in lyrischer Therapeutenprosa schwarz-weiß malt (nur ein scheinbarer Widerspruch) und sich selbst als leidenden, aufopfernden und endlich völlig abgeklärten Engel darstellt, zeigt, daß ihr das gar nicht so leicht fällt.

Der Wahn, auf den sie sich stützt, wird schließlich auch von anderen favorisiert, die nicht in Scheidung leben. Welche anderen, weniger zufälligen Wünsche befriedigt er bei Frauen, so gut wie nie bei Männern? Er ähnelt einem Traum, in dem die Träumerin unangefochten im Mittelpunkt steht, von keinem kritischen

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Einwand, keiner Realität gestört. Weil der Kindesmißbrauch als ein unsichtbares, erst zu enthüllendes Verbrechen in einer Hinterwelt gilt, auf der unser Alltag wie eine Fassade klebt, ist jede auserwählt, die als Betroffene Auskunft geben kann.

Die betroffene Expertin ist vollends sakrosankt. Annas Mutter ist einmal vergewaltigt worden. Näheres wird uns nicht mitgeteilt, außer, daß das Ereignis Jahre zurückliegt. Sie wird als Psychologin und Betroffene zu einer Podiumsdiskussion zum Thema »Sexuelle Gewalt« eingeladen. »Ich sage gern zu, freue mich, zum Öffentlichmachen dieses Themas erneut beitragen zu können.« Monate später, das Jugendamt ist längst über den Fall in der eigenen Familie informiert, wird sie zu einer Podiumsdiskussion über sexuellen Mißbrauch von Kindern eingeladen. Der Jugendamtsleiter hat Bedenken und rät von ihrer Teilnahme ab. Ob sie die Fachfrau von der betroffenen Mutter trennen könne? Und was wolle man tun, wenn der verdächtige Vater in der Veranstaltung auftauche? Annas Mutter hat keine Bedenken. So beschreibt sie das Ereignis und die rätselhafte publizistische Reaktion darauf:

»Die anderen Teilnehmer des Podiums tragen ihre Themen vor. Alle Darstellungen sind wichtig, dennoch macht sich langsam Ungeduld im Publikum breit. So wird diskutiert, ob die noch ausstehenden Beiträge — darunter würde auch meiner fallen — weggelassen werden sollen, um Platz für Fragen des Publikums zu schaffen. Ich schlage vor, die Beiträge den-

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noch zu bringen... . Dieser Vorschlag wird angenommen. Noch eine Teilnehmerin redet. . . Dann spreche ich, biete an, mich zu unterbrechen, wenn alles bekannt sein sollte, und schildere die psychischen Folgen von sexuellem Mißbrauch... Es wird ruhig im Saal, gespannte Stille breitet sich aus, selbst die Wände scheinen aufzusaugen, was ich sage, ich bin so sicher, beantworte ruhig jede Frage, bin souverän und unabhängig . . .

Ich bin sachlich und doch emotional beteiligt, ruhig und doch stark, keiner erreicht mich mit Angriffen. Meine eigene Erfahrung mit dem Thema gibt mir Stärke und Sicherheit, läßt keine Frage offen . . . Die meisten Fragen werden an mich gestellt. . . Auch die anderen Podiumsteilnehmer bringen sich ein, doch ich spüre, daß eigentlich ich die Gefühle der Menschen im Raum erreicht habe, daß es keine Theorie mehr ist, sondern Wahrheit, daß Kinder sexuell mißbraucht werden . . . Der ruhige Sozialarbeiter bedankt sich bei mir, als ich nach dem Ende der Veranstaltung gehen will. . . Viele andere melden mir den Eindruck zurück, daß erst etwas mit den Menschen passiert ist, als ich begann zu sprechen. Sie waren beeindruckt, es hat ihnen gut getan. Doch weder bei den Hinweisen auf die Podiumsdiskussion noch beim anschließenden Bericht darüber in der Zeitung wird mein Name genannt. Der Leiter hatte zuviel Angst....«

Die wichtigste narzißtische Gratifikation, auf die Annas Mutter nach ihrem gloriosen öffentlichen Auftritt Anspruch hatte, ist also ausgeblieben. Hat ihre Selbstwahrnehmung sie über ihre Rolle getäuscht oder muß man wieder die Furcht offizieller Organe vor der Wahrheit verantwortlich dafür machen? Annas Mutter entscheidet sich für die zweite Antwort. Natürlich sage ich, das ist der Wahn, der gänzlich unbeirrbare. Es scheint eine ganze Menge Frauen zu geben, deren Seele nach öffentlichen Auftritten schrankenloser Rechthaberei und rauschendem Beifall dürstet. Wenn sexueller Mißbrauch ein Männerprivileg ist, dann die Beschwerde darüber Frauensache: eine saubere Arbeitsteilung. Nur soll man nicht glauben, hier fände Aufklärung statt. Man tut einen Blick in archaische Gefühls- und Vorstellungswelten, die nur sehr oberflächlich zivilisiert sind.

 

Der Blick auf die vorsintflutlichen Bestände im Verhältnis der Geschlechter macht auch das vielsagende Schweigen der einzeln oder kollektiv so grob beleidigten Männer begreiflich. Es signalisiert weder Ein- noch Unverständnis oder gar Schuldbewußtsein. Was sie an den Tag legen ist das stinknormale Rüdenverhalten, wie jeder Kenner der Hundewelt weiß. Nichts als ein sexuelles Fernziel im Sinn, muß der Rüde sich alles, wirklich alles von den Damen gefallen lassen, die öfter schnappen und beißen, als ihn in Gnaden annehmen.

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