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3. Die Lügen im Kopf 

 

Sich offen einzugestehen, daß eine Mutter dich für ihre eigenen Bedürfnisse benutzt, oder ein Vater ungerecht und tyrannisch ist, oder du ein uner­wünschtes Kind bist, ist unendlich schmerzhaft. Außerdem ist es sehr beängstigend. Daher suchen die meisten Kinder sich ein Hinter­türchen, um das Verhalten ihrer Eltern in einem günstigeren Licht zu sehen. Diese natürliche Befangenheit der Kinder ist leicht auszubeuten. (John Bowlby, <Trennung>)

 

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»Würde ich vor zwei Türen stehen, von der eine mit dem Schild <Himmel> und die zweite mit <Vortrag über den Himmel> versehen wäre, würde ich die zweite öffnen«, sagt Paul mit seiner üblichen Selbstironie. Dabei kann niemand bessere Vorträge über die Hölle halten als Paul. Er verbrachte die ersten sieben Jahre seines Lebens in einer Hölle.

Seine Mutter wurde mit neunzehn Jahren von einem Fremden vergewaltigt; Paul war das Ergebnis dieses Verbrechens. Patsy brachte den Vergewaltiger vor Gericht — ein mutiges Unterfangen für eine Fabrik­arbeiterin in den 40er Jahren. Seine Verurteilung und die durch das Gericht festgesetzten Unterhalts­zahlungen für das Kind vermochten Patsys Schmerz kaum zu lindern. Sie liebte Paul und bemühte sich, für das Baby zu sorgen, litt aber unter Depressionen und ihrer labilen Persönlich­keits­struktur. Die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte Paul abwechselnd in einem katholischen Waisenhaus oder bei der Mutter.

Als Paul vier Jahre alt war, lernte Patsy Hank kennen, einen Vorarbeiter in der Fabrik, in der sie arbeitete. Drei Monate später heirateten die beiden. Hanks Mutter Millie und deren sechsjähriger Sohn Jeb zog zu ihnen. Paul erinnert sich:

»Hank war der gemeinste Kerl, der mir je begegnet ist. Patsy hatte keine besonders hohe Meinung von sich. Und er erzählte ihr andauernd, wie froh sie sein könne, daß er sie geheiratet habe, was die Sache für sie nicht leichter machte. Seine Mutter stimmte in das Klagelied mit ein und warf ihr ständig vor, welche Last Patsy und ich seien. Hank paßten meine Tischmanieren nicht. Er breitete eine Zeitung in einer Ecke der Küche aus, stellte meinen Teller drauf und zwang mich, vom Boden zu essen wie ein Hund.«

Paul erinnert sich, daß er auf dem Boden sitzend zu Hank hochschaute und dachte, dieser Kerl ist verrückt. Wenn Patsy nicht zu Hause war, befahl Hank dem kleinen Paul, sich an die Wand zu stellen, dann setzte er sich auf einen Stuhl mitten im Zimmer, zielte mit dem Gewehr auf Paul und drückte immer wieder den Abzug. Paul wußte nie, ob das Gewehr geladen war oder nicht. Um zu überleben, konzentrierte der Junge sich auf Hanks Verrücktheit und verdrängte seine Angst. Das klappte: er ließ sich von dem Terror nicht kleinkriegen und nahm den Mißbrauch weniger persönlich. Immer wenn Hank und Millie dem kleinen Paul sagten, wie böse er sei, konzentrierte der Junge sich auf das, was er sah: Hank war unzurechnungsfähig.

»Einmal, als ich fünf war, schickte Hank mich in den Lebensmittelladen um eine Flasche Limonade. Auf dem Heimweg fiel mir die Flasche aus der Hand und zerbrach. Von dem Wechselgeld, das ich zurück­bekommen hatte, kaufte ich eine neue Flasche. Zu Hause angekommen, wollte Hank das Wechselgeld. Es fehlten zehn Cents und er begann ein Polizeiverhör. Ich behauptete steif und fest, nicht zu wissen, wo die zehn Cents geblieben waren. Als er drohte, den Ladenbesitzer zu verprügeln, weil er ihn betrogen habe, legte ich ein Geständnis ab. Hank ging auf den Speicher, wo ich schlief. Er zerlegte mein Eisenbett und stellte es beiseite, legte meine Bettdecke zusammen, nahm meine Kleider und meinen Teddybär und packte sie in einen Korb. Dann warf er mich mitsamt dem Korb zur Haustür hinaus und verriegelte sie. Ich marschierte in der Dunkelheit los und überlegte, wie ich den Weg ins Waisenhaus finden sollte.«

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Patsy flehte Hank und Millie fünf Monate lang an, bis Paul wieder nach Hause durfte. Doch nichts hatte sich geändert. »Es war die gleiche alte Geschichte. Als Jeb seinen neunten Geburtstag feierte, paßte Hank irgendwas nicht, was ich machte. Er stellte mich auf den Küchentisch, zog mir die Hosen herunter und hielt mir ein Fleischermesser an den Penis, vor versammelter Familie.« Wie immer verdrängte Paul seine Gefühle und konzentrierte sich auf einen einzigen Gedanken: Warum bringt kein Mensch diesen Kerl zur Vernunft?

Diese Kastrationsgeste an Jebs Geburtstag erregte allerdings die Aufmerksamkeit der Familie. Millies Cousine Anna wünschte sich verzweifelt ein Kind, hatte jedoch eine Fehlgeburt nach der anderen. Anna und ihr Mann Walter, die sich mit dem Gedanken trugen, ein Kind zu adoptieren, erfuhren von Pauls unglücklichem Dasein. Anna sprach mit Patsy, die sich dagegen wehrte, Paul weggeben zu müssen, der ihre einzige Freude im Leben war, andererseits aber hoffte, Anna und Walter könnten ihm eine bessere Kindheit bieten. Man einigte sich auf einen Kompromiß: Paul sollte einige Wochen zu Besuch bei den beiden bleiben, und dann würde man weitersehen.

Paul erinnert sich: »In den ersten drei Wochen behielt ich meine Sachen in dem kleinen Korb. Ich glaubte nicht daran, bleiben zu können — es war zu schön, um wahr zu sein. Und eines Tages fragte Walter mich, ob er mir beim Auspacken helfen könne.«

Im Herbst fragten Anna und Walter ihn, ob er bleiben möchte. Er sagte »Klar«, und sie boten ihm an, sie Mama und Papa zu nennen. Er kam in die Schule, wo er sich zum ersten Mal >wie ein normaler Junge fühlte<. Aber Paul glaubte nicht daran, daß es so bleiben würde: »Ich überlegte ständig, ob ich von hier aus, mitten auf dem Lande, meinen Weg ins Waisenhaus finden würde. Ich machte mir ständig Sorgen, wann ich wieder zu Hank zurückgeschickt werden würde. Ich war ein kleiner Junge mit großen Sorgen.«

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Kurz nach Pauls achtem Geburtstag gingen Walter und Anna mit ihm zum Landgericht. »Der Richter fragte mich: >Möchtest du Walter und Anna Sorrel als deine Eltern haben ?< Ich sagte: >Ja.< Man sagt mir oft, schade, daß ich nicht schon bei meiner Geburt adoptiert wurde, dann wäre mir dieser Hank erspart geblieben. Ich aber sage, wenn ich bei meiner Geburt adoptiert worden wäre, wüßte ich nicht, wie es ist, sich seine Eltern auszusuchen.« Paul wurde von Patsy nach wie vor besucht, aber Anna nannte er Mama.

Pauls Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sein neues Heim war zwar relativ sicher, aber geborgen war er dort nicht: »Walter war Alkoholiker und darüber stritten die beiden sich ständig. Sie schlugen sich aber nicht, was schon eine große Erleichterung war.« Doch Paul war erneut Konflikten ausgesetzt, »die ich nur schwer verkraftete«. Als er zehn Jahre alt war, fragten Walter und Anna ihn, ob er traurig sei, wenn Papa eine Weile von zu Hause fortginge. Anna zog ihren Ehering vom Finger und legte ihn auf den Eßtisch, stand auf und verließ das Haus. »Ich dachte mir, das sollten sie vor einem Kind in meinem Alter nicht tun.«

Nach diesem Vorfall verreiste Walter öfter, um Auseinandersetzungen mit Anna zu entfliehen und in Ruhe trinken zu können. Je mehr er sich zurückzog, desto mehr Forderungen stellte Anna. Sie zog einige Male aus. »Verglichen zu Hank und Millie war das gar nichts«, meinte Paul. »Ich war an Probleme gewöhnt. Doch ich fing an, mich zu fragen, wann hört dieses Hin und Her endlich auf? Ich habe keine Lust mehr. Und ich fragte mich, was mit mir nicht in Ordnung war, daß die Leute in meinem Leben ständig kamen und gingen.«

In der Highschool war Paul ein ausgezeichneter Schüler, aber er hatte keine tiefgehenden Emotionen. »Meine Hochstimmungen waren nicht sonderlich hoch und meine Tiefen nicht sonderlich tief. Wenn ich Gefühle hatte, behielt ich sie für mich. Mama und Papa brachten mir bei, so lange nach außen alles gut war — wenn man sich Probleme nicht anmerken ließ — würde alles gut gehen.«

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Im ersten Collegejahr lernte Paul die Studentin Claire kennen. »Wir waren das perfekte Paar — gutaus­sehend, witzig, smart, beliebt. Ich weiß noch, daß ich ihr eine Anstecknadel und später einen Verlobungsring schenkte und bei mir dachte, ich bin noch nicht so weit, um zu heiraten. Aber ich setzte meinen Zweifeln Vernunftgründe entgegen, da man es von mir erwartete und nach außen alles stimmte. Ich wollte nie Erwartungen, die andere an mich hatten, enttäuschen.«

Die beiden heirateten in Pauls erstem Anthropologie-Fachsemester, in dem er sich mit den Ursprüngen der Aggression beschäftigte. Claire war von Anfang an unglücklich. Sie hatte Affären. »Wir trennten uns, versöhnten uns wieder, trennten uns erneut.« Pauls wechselvolle frühe Kindheit, als er zwischen Waisen­haus und der Wohnung seiner Mutter hin und her pendelte, und die zerstrittene Ehe seiner Adoptiveltern wurden in seiner Ehe reaktiviert. »Ich war nicht sonderlich traurig oder wütend darüber. Ich dachte nur, es klappt nicht, und bemühte mich, die Gründe zu erforschen.« Die Ehe wurde schließlich trotz Pauls ungeheuren Anstrengungen der Ablösung und Rationalisierung unerträglich. »Schließlich wachte ich auf: Wir passen nicht zusammen. Diese Ehe ist nicht zu retten.« Diesmal ging Paul, und Claire versuchte ihn zurückzugewinnen. Die letzte Versöhnung hatte die Geburt ihres Sohnes Kevin zur Folge.

»Nach Kevins Geburt war Claire noch häufiger unterwegs. Ein Eheberater bescheinigte uns, unsere Beziehung sei destruktiv, und er könne bei uns kaum eine Motivation erkennen, eine Änderung herbei­zuführen. Und er sagte, Kevin sei der Leidtragende.« Claire entschied sich zu gehen, bat Paul jedoch, noch ein weiteres halbes Jahr bei ihm und Kevin wohnen zu können, bis sie ihre Abschluß­prüfungen im College hinter sich habe. Paul wurde zum alleinerziehenden Vater, Claire zur Mitbewohnerin.

»An einem Samstag kam Claire um halb acht morgens heim, nachdem sie die Nacht mit einem anderen Mann verbracht hatte. Ich war dabei, Kevin zu füttern und sagte ihr: <Das würde ich meinem schlimmsten Feind nicht antun.> Und dann dachte ich, wer bin ich eigentlich - mein schlimmster Feind? - daß ich mir das gefallen lasse!« An diesem Tag trennten sie sich zum letzten Mal, diesmal endgültig.

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»Meine Gefühle waren so stark, daß ich sie nicht mehr beiseite schieben konnte. Und mir wurde klar, wenn ich mir meine Gefühle früher bewußt gemacht und nach ihnen gehandelt hätte, hätte ich diese Frau nie geheiratet. Eines Tages stürmte eine haushohe Welle aus Wut auf mich ein. Ich stand bebend vor dem Vorlesungssaal. Ein Studienkollege, den ich aus meiner Selbsthilfegruppe Geschiedener Männer kannte, kam zu mir und fragte mich, was mit mir los sei. Ich sagte ihm, ich hätte das Bedürfnis, jemand umzubringen. Er antwortete, nach seiner Scheidung habe auch er gelegentlich dieses Gefühl gehabt. Es sei nur ein Gefühl, kein wirklicher Plan, und die Wut würde abflauen. Das half mir sehr

 

Anfangs fühlte Paul sich überfordert, Kevin alleine zu erziehen. Er beschwichtigte seine Ängste, indem er »ununterbrochen Schulungskurse für Eltern besuchte und jedes Buch über Kindererziehung las, das mir in die Finger kam. Wenn Kevin eine Tasse umstieß oder eigensinnig war, dachte ich daran, wie Hank und Millie mich behandelt hatten. Und ich dachte, für solche Belanglosigkeiten haben sie mich bestraft — das ist ein Verbrechen.« Mit Hilfe seiner Freunde und der Therapie wurde Paul gesund und konnte seine Gefühle annehmen. »Es war meine zweite Geburt.«

Als Kevin fünf Jahre alt war, lernte Paul Dianna kennen. »Sie können sich denken, daß ich mir jeden Schritt ganz genau überlegte.« Paul war sich seiner Gefühle mittlerweile bewußt. »Wir verlobten uns schließlich und dann löste Dianna die Verlobung. Und wieder ging das Hin und Her los. Ich war verzweifelt. Ich besuchte mit Kevin Anna und Walter. Ich wußte nicht mehr weiter. Walter war seit einem Jahr trocken und ging zu den Anonymen Alkoholikern. Ich erzählte ihm, wie unglücklich ich war. Er versuchte, mich mit den AA-Schlagworten aufzumuntern — ein Tag nach dem andern, loslassen und alles Gott überlassen, etc. Ich wollte das alles nicht hören. Ich legte meine Arme um ihn und brach schluchzend zusammen. Es war einer meiner unglücklichsten Tage und ein neuer Anfang.«

Schließlich heirateten Paul und Dianna doch, Dianna adoptierte Kevin, der jetzt einen kleinen Bruder und eine kleine Schwester hat. Paul ist heute einer der anregendsten Menschen, die ich kenne. Er konnte die Denkweisen überwinden, mit deren Hilfe er die schlimmsten Zeiten seines Lebens überstand, so daß sie heute seinen Gefühlen und damit seinem Glück nicht im Wege stehen. »Zwischen zwanzig und dreißig hatte ich soviel geleistet, daß es aussah, als habe ich die Welt im Griff. Ab dreißig, als mich alles eingeholt hatte, sah es aus, als habe die Welt mich im Griff und wolle mich nicht mehr loslassen. Jetzt bin ich über vierzig und die Welt und ich — wir haben einen Waffenstillstand.«

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   Denken lernen   

 

Es ist nicht nur damit getan, daß ein Kind körperlich mißbraucht oder vernachlässigt wird. Problemfamilien schaden dem Denken des Kindes. Wie Paul glaubten alle einstigen Mißbrauchsopfer, daß ihre Fähigkeit zu denken, die Herausforderung ihres Lebens intellektuell zu meistern, eine ihrer größten Stärken in der Kindheit war. Wie andere Bewältigungs­mechanismen war ihre Überbetonung des Rationalen dem heilsamen Prozeß des Alterns unterworfen und wurde bald zu einer ihrer größten Schwächen. Joan sagte mir: »Ich kann alles durchstehen, solange ich begreife, was geschieht und warum es geschieht. Doch manchmal wünschte ich, ich könnte all dieser Denken und Analysieren abschalten. Es behindert meine Gefühle.«

Kinder bemühen sich, im Mißbrauchsverhalten und der Vernachlässigung von geliebten Menschen einen Sinn zu sehen. »Wieso kann ein Mensch, der mich liebt, mir das antun?«»Heißt das, meine Mutter will nichts mehr von mir wissen?« — »Wie kann ich für mich selbst sorgen?« — »Warum ich?« Lauter gute Fragen. Würde das Kind verstehen, was der Mißbrauch tatsächlich darstellt — nämlich einem relativ hilflosen Menschen seinen Willen gewaltsam aufzudrängen — würde es an dem Betrug verzweifeln. Daher unter­nimmt das Kind jeden erdenklichen Versuch, um den mißbrauchenden Elternteil in einen beschützenden und liebevollen Betreuer zu verwandeln, den es so dringend braucht. Solche Lügen im Kopf erfordern geistige Verrenkungen.

Kinder denken nicht in einem Vakuum. In manchen Situationen wird ihnen gesagt, was sie zu denken haben. In den meisten Fällen sind sie von falschen Denkweisen des mißbrauchenden Erwachsenen und durch scheinbares Vernunftdenken der Erwachsenen, die dem Mißbrauch passiv Vorschub leisten, beeinflußt. Kinder hören, was diese übermächtigen Erwachsenen zum Mißbrauch sagen und verschweigen.

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     Das ist nie geschehen    

 

Verdrängung in der Familie gleicht der Vorstellung, einen Elefanten als Hausgenossen zu haben. Niemand spricht davon, daß der Elefant da ist, aber jeden Morgen stößt einer mit dem Elefanten zusammen oder das Tier tritt auf einen Angehörigen der Familie. Jeder schüttelt sich, geht seinen Geschäften nach und tut so, als existiere der Elefant nicht. Selbst wenn das Kind mit voller Lautstärke brüllt: »Aufpassen! Der Elefant!« würden alle das Kind anstarren und sagen: »Was für ein Elefant? Bist du verrückt?«

Stellen Sie sich vor, man zwingt Sie, die schönsten Dinge, die Ihnen als Kind begegnet sind, zu verdrängen. Vielleicht ist Ihre schönste Erinnerung ein Fußballspiel im Olympiastadion. Was wäre, wenn Sie das total vergessen und vorgeben müßten, es sei nie geschehen, sie müßten glauben: »Es gibt kein Olympiastadion.« Das würde bestenfalls zur Selbstentfremdung führen, zu einer Spannung zwischen Ihrer zum Ausdruck gebrachten Überzeugung und dem nagenden Gefühl, daß es nicht wahr ist.

Sie würden eine Menge Zeit und Energie darauf verwenden, dieses schöne Erlebnis in Ihrer Vergangenheit zu verdrängen. Das gleiche geschieht, wenn ein Mensch das Schlimmste verdrängt, was in seinem Leben geschehen ist. Zum erlittenen Mißbrauch und zur Vernachlässigung bürdet die Verdrängung dem Kind eine weitere Verletzung auf, da sie von ihm verlangt, sich von der Realität und seiner eigenen Erfahrung zu entfremden. Mißbrauchende Erwachsene schützen sich durch Verdrängung, den Schaden wahrzunehmen, den sie dem Kind zufügen, und ersparen sich dadurch, Veränderungen vorzunehmen, die sie glauben, nicht machen zu können.

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In gestörten Familien sind Mißbrauch und Vernachlässigung zugelassen. Es ist lediglich verboten, darüber zu sprechen. Die Verdrängung der Gewalt oder des Schadens, der durch die Gewalt entstanden ist, ist der beste Weg, um sicherzustellen, daß die Gewalt von einer Generation zur nächsten übertragen wird.

Und häufig liegt es auch an der Verdrängung, wie Geschwister in den Mißbrauch einbezogen werden. Amy zum Beispiel akzeptiert die Realität des Mißbrauchs, spürt seine ganze Macht und wird ihn, da sie das Mißbrauchs­verhalten als solches erkennt, nicht auf eine andere Person übertragen. Ihr Bruder Chuck, der auf ähnliche Weise mißbraucht worden war, leugnet die Realität der Gewalt in der Familie. Diese Verdrängung gelingt ihm mit einer Kiste Bier, die er täglich trinkt. Um sich und anderen zu beweisen, daß körperliche Gewalt unbedeutend ist, hat er ständig Raufereien in Bars. Er wurde wegen sexueller Belästigung von Kindern angezeigt und verurteilt. Jedesmal protestiert er: »Das ist nie geschehen« - etwas, das nie geschehen ist, kann niemand verletzen.

Die Mißbrauchsopfer, mit denen ich gesprochen habe, hatten gelernt, die Verdrängung aufzugeben. Im Lauf der Jahre hatten sie den Mut gefunden, von der Norm >Das ist nie gesche-hen< abzuweichen. Sie wissen, wenn sie den Elefant in der Wohnung ignorieren, werden sie ihr ganzes Leben im eigenen Haus und im Haus anderer über Elefanten stolpern.

Verdrängung nicht zuzulassen ist für diese Überlebenden ein Akt der Courage. Sie hatten die Wahl, sich entweder dem eigenen Selbst und der Wirklichkeit zu entfremden oder sich den Familienmitgliedern zu entfremden, die den Mißbrauch beharrlich verleugneten.

Jeder von ihnen wählte schließlich die Realität und die eigene Person, oft zum Preis des Spottes oder der Ächtung seitens der Familie. Einige Überlebende berichteten mir, daß ihnen, nachdem sie versucht hatten, ihre Familie zu konfrontieren, gesagt wurde, sie seien verrückt, sie fügten ihrer Familie Unrecht zu und sie würden erst wieder in den Kreis der Familie aufgenommen werden, wenn sie sich wegen ihrer haßerfüllten Anschuldigungen entschuldigten.

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   So schlimm kann es nicht gewesen sein    

 

Elaine ist eines der am grausamsten körperlich mißhandelten Opfer, die ich interviewt habe. Von ihren Schwestern erfuhr sie, daß die Mutter in ihrer Geistes­gestörtheit auf Elaine auch dann noch einschlug, wenn sie bereits das Bewußtsein verloren hatte. Doch Elaine sagte mir: »Ich halte mich nicht für <körperlich schwer mißhandelt>. Ich habe zwar genügend abbekommen, um das Leid anderer nachempfinden zu können, die mißhandelt wurden, aber doch nicht so viel, daß ich daran zugrunde gegangen wäre.« Kurz darauf fügte sie hinzu: »Ich bin froh, daß ich von den vielen Schlägen auf den Kopf keinen Gehirnschaden oder eine Lähmung davongetragen habe.«

Bagatellisieren ist ein Denkfehler zum Schutz des verletzten Selbst, um sich etwas weniger verletzt zu fühlen. Das Bedürfmis, eine Grausamkeit herunter­zuspielen, läßt dann nach, wem der Überlebende die gesamte Realität seiner Vergangenheit er fassen kann. Es kostet seinen Preis, sich einzureden: »Ich habe mir das Handgelenk verstaucht«, wenn man sich in Wahrheit den Arm gebrochen hat.

Nancy scherzt darüber, daß »Bagatellisieren eine ansteckende Krankheit ist«. Ihr Stiefvater Mark mißbrauchte sie sexuell und schlug Nancys Mutter, sowie alle fünf Kinder in Nancys Jugend. Nachdem sie selbst eine Tochter adoptiert hatte, konfrontierte Nancy ihre Mutter und ihren Stiefvater mit den Qualen, die sie in ihrer Jugend auszustehen hatte. Sie drohte den Eltern, wenn sie sich keiner therapeutischen Hilfe unterzögen, würde sie jeden Kontakt zu ihnen abbrechen.

Nach sechs Monaten Therapie trafen Nancy, Mark und ihre jeweiligen Therapeuten sich zu einer gemeinsamen Sitzung. Nancy hatte in den vergangenen Monaten neue Erinnerungen ausgegraben und mußte Mark damit konfrontieren. Seine Therapeutin glaubte, er sei bereit, sich bei Nancy zu entschuldigen und eine weniger ausbeuterische, gesündere Beziehung mit ihr einzugehen. 

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»Ich habe 45 Minuten ohne Pause geredet, bis ich mir alles von der Seele geredet hatte, angefangen damit, was es für mich bedeutete, als er meine Springmäuse umbrachte, was in mir vorging, als er Zellophan als Kondom benutzte, bis zur heimlichen Abtreibung - seines Kindes -, die er in die Wege leitete, als ich fünfzehn war. Am Ende war seine Therapeutin in Tränen aufgelöst. Als die Reihe an ihm war zu reden, meinte Mark achselzuckend: <Ist das alles?> Einen Monat später war meine Mutter wieder soweit, daß sie ihm den Rücken stärkte und mir sagte, so schlimm wie in meiner Erinnerung kann es nicht gewesen sein, und beide brachen die Therapie ab.« 

Nancy hielt die Verbindung zur Mutter aufrecht, aber weder sie noch ihre Tochter haben Kontakt zu Mark.

Viele Überlebende bagatellisieren ihren Mißbrauch, indem sie ihre Erfahrungen mit anderen vergleichen. »Wenigstens war es nicht mein Vater oder meine Mutter, die mich sexuell mißbrauchten, sondern nur mein Bruder oder meine Schwester.« Oder: »Wenigstens war ich schon ein Teenager und kein kleines Kind mehr.« Nancy sagte mir: »Wenigstens wuchs ich in einer Gegend auf, in der meist die Sonne schien und ich oft draußen sein konnte. Es wäre alles viel schlimmer gewesen, wenn wir in einem Klima mit langen Wintern gelebt hatten.«

In dem Film <My Life as a Dog> lebt der zwölfjährige Ingmar in einem Minenfeld von Verlassenheit und schlimmer Verwahrlosung. Sein Vater verläßt die Mutter bei der Geburt, die Mutter stirbt, der Junge wird in der Verwandtschaft herumgeschoben und sehnt sich nach seinem geliebten Hund, den er nicht mitnehmen darf. Er ist einsam, verängstigt und verwirrt. Er tröstet sich mit Sätzen wie: »Wenigstens bin ich nicht der Hund, den die Russen in den Weltraum geschickt haben, dem sie nur Futter für ein halbes Jahr mitgaben, ohne ihm eine Rückkehr zur Erde zu ermöglichen. Zum Glück bin ich nicht der Mann, der als Zuschauer bei einem Stierkampf von dem Stier auf die Hörner genommen wurde. Zum Glück war ich nicht bei dem Fußballspiel, als ein Blitz in die Zuschauermenge einschlug und viele Menschen tötete. Solche Dinge muß man in Betracht ziehen.«

Muß man tatsächlich? Mitgefühl für andere ist nur gesund, wenn es durch das Mitgefühl mit der eigenen Person ausgeglichen ist. Wie gut kann Ingmar die Realität anderer Menschen verstehen, wenn er seine eigene nicht akzeptiert hat? Realität ist, daß Ingmar kein Hund im Weltraum ist und auch kein Zuschauer bei einem Stierkampf oder einem Fußballspiel. Er ist ein total vereinsamter, vernachlässigter kleiner Junge. Er verlor jede wichtige Beziehung, bevor er darauf vorbereitet war, solche Verluste zu ertragen. Was hilft es ihm, wenn er versucht, die Gefühle anderer nachzuempfinden, wenn er seine eigenen Gefühle nicht empfinden kann?

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    Schuldig und verantwortlich - aber in Kontrolle   

 

In gestörten Familien sind die Denkweisen, wer für wessen Verhalten verantwortlich ist, bestenfalls verstrickt. Mißbrauchende Eltern externalisieren, geben anderen Menschen, Orten und Umständen die Schuld an ihrem Verhalten. Die Frau, die den Sonntagsbraten verschmoren läßt, ist »schuld, daß ihr Mann sie schlägt, auch wenn Millionen anderer Menschen Essen anbrennen lassen, ohne daß jemand die Hand gegen sie erhebt«. Zwanghafte Fürsorge für ein Kind ist >schuld< daran, daß eine Mutter ihre anderen Kinder vernachlässigt, obwohl sie Hilfe von außen ablehnt und es vorzieht, das Dasein einer Märtyrerin zu führen. Der Alkohol ist >schuld< daran, daß ein Vater sein Kind sexuell mißbraucht, obgleich er das Kind auch belästigt, wenn er nüchtern ist.

Für Problemeltern >sind die Dinge eben so< im Leben. Sie kompensieren, indem sie alle in ihrer Umgebung kontrollieren. Doch tief in ihrem Herzen fühlen sie sich außer Kontrolle. Sie müssen anderen Schuld zuweisen, da es zu schmerzhaft wäre, die Verantwortung für ihr unglückliches Dasein zu übernehmen. Kinder sind leichte Zielscheiben, da sie die Eltern nicht auf ihre falsche Denkart hinweisen können. Nur wenige Kinder können sich zur Wehr setzen, wenn ihre wütende Mutter mit verzerrtem Gesicht und geballten Fäusten schreit: »Wenn du nicht wärst, würde ich nicht trinken.« Kinder, die solche Anschuldigungen häufig hören, glauben, für das Problemverhalten ihrer Eltern verantwortlich zu sein.

Als Amys Bruder Chuck wegen Entführung und Kindesbelästigung ins Gefängnis kam, war die Familie einhellig der Meinung, daß »Amy, die Schlampe, ihn dazu gebracht hat. Hätte sie ihn als Teenager nicht rangelassen, wäre er heute nicht in diesen Schwierigkeiten.« Amy war vier Jahre alt, als Chuck sie sexuell belästigte.

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Leider erhalten Kinder eine innere, psychologische Belohnung, wenn sie glauben, der Mißbrauch sei ihre Schuld - ein falsches Machtgefühl. Das Kind kann sich von der Ungerechtigkeit und Gefahr der Gewalt zerstören lassen, oder aber es kann sich sagen: »Ich habe keine Angst«, oder: »Ich bin nicht wütend oder traurig oder hilflos oder unschuldig. Die Situation ist völlig in Ordnung. Das alles passiert mir aus einem guten Grund. Es passiert mir, weil ich es verdiene, weil ich es provoziere, weil ich zur Welt gekommen bin, um solche Dinge zu ertragen. Es ist im Grunde alles ganz normal.«

Das Kind tut sein Bestes, um einen Sinn in Mißhandlung oder Vernachlässigung zu sehen, indem es sich schuldig und verantwortlich fühlt, wobei es die Illusion aufrechterhalten kann, er oder sie habe Kontrolle über etwas, das in Wahrheit außer Kontrolle ist.' Diese Illusion der Macht klingt besser als das Eingeständnis, ohnmächtig zu sein. Diese Pseudologik unterdrückt Gefühle von Schmerz, Wut, Entsetzen, Verwirrung oder Trauer, zerredet und rationalisiert sie und steckt sie damit in ein Gefrierfach der Psyche.

Dem Kind Schuld und Verantwortung zuzuschieben kommt dem mißbrauchenden Elternteil zugute, der glaubt, er treibe keinen Mißbrauch - es ist das Kind, das ihm Mißbrauchsverhalten aufzwingt. Die nichtschützenden Erwachsenen wollen dem Kind die Schuld zuschieben, um dem Schaden, den ihre Vernachlässigung anrichtet, auszuweichen. Was für das Kind als Illusion, das Gesicht zu wahren, beginnt - daß es Kontrolle hat, was in Wahrheit nicht stimmt - wird für die Erwachsenen zur ergaunerten Schutzhaltung. Sie sagen dem Kind: »Ja, du hast recht. Du bist böse und hast unrecht. Ich bin gut und tue mein Bestes.« Damit beginnt der Teufelskreis in der gewalttätigen Familie: Kinder sind für das Verhalten Erwachsener verantwortlich; Erwachsene sind für nichts verantwortlich.

Angesichts der Willkür und Sinnlosigkeit des Mißbrauchs beginnt ein Kind sich für unliebenswert zu halten. Die achtjährige Esther wurde von der Mutter an die Heizung im Keller gefesselt, weil Esther sich weigerte, sich von der Mutter Zöpfe flechten zu lassen.

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»Ich ging davon aus, daß ich böse sein müsse, sonst würde meine eigene Mutter mir das nicht antun. Das Schlimmste daran war, daß ich mir wie eine Verschwörerin vorkam. Wenn ich mich wehrte oder mich ihr widersetzte, machte ich meine Lage nur noch schlimmer. Ihrer Meinung nach konnte sie nicht anders handeln — schließlich kratzt man sich ja auch, wenn es juckt. Mich zu bestrafen gab ihr ein besseres Gefühl, und wenn ich mich wehrte, war ich böse — ich mißbrauchte sie, statt umgekehrt.«

Manchmal bricht das Kind unter der Last der ihm aufgebürdeten Schuldgefühle zusammen und kommt sich dabei noch unzulänglicher vor. Janet dachte zwar nie, daß sie Schuld hatte an der Trunksucht ihres Vaters, an seiner Spielsucht und seinen Mißhandlungen, wenn er sie und ihre Mutter verprügelte — ihren Bruder rührte er nie an —, aber sie war der Meinung:

»Ich müßte mir etwas einfallen lassen, damit er aufhört. Ich dachte mir, es muß doch etwas geben, was mich liebenswerter macht, damit er mir das nicht mehr antut. Wenn ich ein Junge wäre, würde er mich nicht so behandeln. Dann wäre ich ein Sportler und er wäre stolz auf mich.«

Die Überzeugung, man trage die Schuld oder Verantwortung für das Mißbrauchsverhalten anderer, kann zu einer hartnäckigen Gewohnheit werden. Viele Mißbrauchsopfer bewältigen Leidenserfahrungen - körperliche Krankheit, von einem Freund oder Liebhaber verlassen zu werden, schulische oder berufliche Rückschläge - indem sie sich mit der Illusion Tröstern, sie seien selbst dafür verantwortlich, es sei ihre Schuld. Durch solche irrationalen Schuldzuweisungen vergeuden sie eine enorme Menge an Energie.

Nur selten glauben sie, über das Gute in ihrem Leben solche Macht zu haben. In dieser Hinsicht sind sie von der ständigen Projektion ihrer Eltern geprägt. Viele Überlebende, überzeugt von ihrer angeborenen Wertlosigkeit und Unzulänglichkeit, suchen Rettung bei anderen Menschen, Orten und Dingen: nur der perfekte Liebespartner, das Traumhaus, die öffentliche Anerkennung für ihre Leistungen kann ihnen die Erlösung bringen. Natürlich kann etwas, das die Macht hat, ihr Leben zu retten, es auch zerstören; diese Überlegung bringt das Mißbrauchsopfer wieder zurück in den Kreislauf seines ursprünglichen Ohnmachtsgefühls. Der Betroffene ist verantwortlich für allen Schmerz dieser Welt und dabei unfähig, sein eigenes Glück zu genießen.

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    Nur zu deinem Besten    

 

In manchen Problemfamilien wird über Mißbrauch und Vernachlässigung gesprochen, allerdings in beschön­igender Weise, als sei es etwas >Gutes<, das den Kindern zukommt. Ein Sexualtäter sagt selten: »Komm her, ich will dich sexuell mißbrauchen.« Statt dessen sagt er: »Das machen Leute miteinander, die sich lieben.«

Kein Kind würde den Mut haben zu sagen: »Mama ist wieder betrunken«; statt dessen heißt es: »Mama ist glücklich«, oder: »Mama ist müde.«

Würde jemand gestehen: »Papa ist wieder in der Entziehungsanstalt.« Die Erklärung lautet vielmehr »Papa ist auf Geschäftsreise« oder »Papa macht Urlaub«.

Streitende Ehepaare werden die Angst in den Gesichtern der hilflos zuschauenden Kinder kaum eingestehen oder bestätigen: »Richtig — Menschen, die du liebst und von denen du abhängig bist, können einander verletzen oder umbringen.« Statt dessen werden die Kinder gerügt: »Halte dich da raus — das geht dich nichts an.«

Ebensowenig wird ein vernachlässigender Elternteil dem Kind sagen: »Deine Bedürfnisse sind völlig gerechtfertigt und vernünftig, aber leider bin ich unfähig, sie zu erfüllen.« Wenn das Bedürfnis überhaupt anerkannt wird, bekommt das Kind vielleicht zu hören: »Was du für Ansprüche stellst. Ständig verlangst du etwas von mir. Wenn du etwas bescheidener wärst, ginge es mir viel besser. Deine Bedürfnisse machen mir das Leben schwer.«

Ein Elternteil, der sein Kind körperlich mißbraucht, wird niemals sagen: »Jetzt lasse ich meine Wut an dir aus, weil du wehrlos bist.« Statt dessen bekommt das Kind zu hören: »Ich leide darunter mehr als du.«

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Lauras Eltern, die sie körperlich mißhandelten, zwangen sie, in einem Zimmer mit ihrem deutlich gestörten acht Jahre älteren Halbbruder John zu schlafen, der sie häufig sexuell mißbrauchte. Ihre Mutter machte kein Geheimnis daraus, wie sie ihre Kinder erzog. Sie hatte ihr Vordiplom in Psychologie gemacht und kurzzeitig mit behinderten Kindern gearbeitet, bevor sie sich der Erziehung der eigenen Kinder widmete. Im Park hielt sie anderen Müttern Vorträge: »Meiner Meinung nach wirken Schläge auf Kinder wie Medizin, wenn sie krank sind. Es tut ihnen gut.«

In Lauras Familie war Mißhandlung nicht nur gut für das Kind — Mißbrauch adelte das Opfer in gewisser Weise. »An einem Weihnachtsabend, kurz vor meinem sechzehnten Geburtstag, betranken meine Eltern sich sinnlos. Sie fingen an zu jammern: >Was seid ihr bloß für eigensüchtige Geschöpfe, verzogen, oberflächlich, wertlos seid ihr. Ihr habt nicht so furchtbar gelitten wie wir. Man muß leiden, um ein guter Mensch zu werden. Ihr werdet nie so gut sein wie wir.< Wie das Kind in >Des Kaisers neue Kleiden stand ich auf und sagte: >Ihr seid beide betrunken und ich höre mir das nicht länger an.< Mein Vater hat mich nie geschlagen — er schlug nur John. An diesem Abend verprügelte er mich, weil ich gewagt habe, die Wahrheit zu sagen.«

Kein Wunder, daß manche Überlebende sich die Denkfehler ihrer Eltern aneignen. Wenn sie ihnen die Slogans abkaufen, ergattern sie sich einen einigermaßen gesicherten Platz in der Familie. Sie kaufen sich damit vorübergehend etwas Geborgenheit und Ruhe.

 

    Flucht durch Lernen   

 

Thelma kommt aus einer großen, chaotischen und gewalttätigen Familie, die in den 20er Jahren in einer Industrie­gegend an der Ostküste der Vereinigten Staaten lebte. Die Stadtbibliothek war für sie eine Oase: »Mit sechs ging ich schon in die Bibliothek, weil es dort warm und sauber war. Ich erinnere mich noch genau an die Angestellten in der Bibliothek: Sie waren hübsch angezogen, sprachen mit leiser Stimme, und immer standen Blumen auf ihren Schreibtischen. Ich führte Tagebuch über die Bücher, die ich gelesen hatte, mit ein paar Anmerkungen, wie sie mir gefallen hatten. Ich habe jedes Buch in der Kinderbibliothek gelesen.«

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Rob flüchtete sich auf den Speicher, um Gedichte zu schreiben: »Kleine Verse eines Achtjährigen darüber, was für ein toller Typ Abraham Lincoln war. Die Verse versteckte ich im Speicher, weil ich Angst hatte, jemand könne sie finden und sich darüber lustig machen. Manchmal würde ich gern auf diesem Speicher nachsehen, ob sie noch in ihrem Versteck sind.«

Rita konnte den Existentialismus besser verstehen als den Alkoholismus und die Gewalttätigkeit ihrer Eltern und den Selbsthaß ihrer Mutter auf ihre indianische Herkunft. Als Zehnjährige schrieb Rita einen Aufsatz: >Der Mensch gegen sich selbst: ein aussichtsloser Kampf <. Als Dreizehnjährige erhielt sie eine Auszeichnung ihrer Schule für einen anderen Aufsatz, >Franz Kafka: Blinder oder Prophet?<

Viele fanden in ihren geistigen Interessen Sicherheit, Achtung, Anerkennung, ja sogar Zuneigung. Anerkennung von Lehrern und gelegentlich von Eltern, die in den guten schulischen Leistungen ihres Kindes das Ergebnis ihrer fabelhaften Erziehung sahen, ermutigten diese Mißbrauchsopfer, in ihrem Kopf zu leben, im Reich der Gedanken Kraft und Selbstachtung zu finden.

Für manche war der Verstand ein direkter Verbündeter: Elaine sagt: »Mein Verstand hat mir das Leben gerettet. Wenn meine Mutter drohend über mir stand und mich mit Fäusten traktierte, wiederholte mein Verstand immer wieder: >Bedeck dein Gesicht, bleib auf den Beinern, so lange, bis ich das Bewußtsein verlor. Ich hatte nur die Kraft, die mein Verstand mir einpaukte.«

Der Verstand kann nach wie vor die Funktion eines Trainers haben. Viele Mißbrauchsopfer benutzen ihre Denkfähigkeiten noch heute dazu, ihre Kindheitstraumen intellektuell zu meistern. Stefan lag als kleiner Junge nachts wach und versuchte herauszufinden, wie die Pyramiden gebaut wurden oder wie ein Raketenstart funktioniert: »Heute liege ich nachts wach und versuche herauszufinden, wie meine Familie damals funktionierte.«

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Stefan und andere Überlebende wissen, daß sie am besten mit Hilfe anderer Menschen lernen. Vernachlässigte und mißbrauchte Kinder lernen durch die Erwachsenen falsches Denken. Ein Überlebender kann aber auch von anderen Erwachsenen falsches Denken verlernen, die entweder mehr wissen oder falsches Denken selbst verlernt haben. Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, Denkfehler in der Isolation zu korrigieren. Die Mehrheit der Überlebenden, mit denen ich sprach, glaubte, ihre Genesung sei durch das Lesen von Büchern, durch Filme und Vorträge beschleunigt — wenn nicht in Gang gesetzt — worden.

Das Sammeln von Informationen ist für die Heilung wichtig, aber es ist nicht das Wichtigste. Die Psychotherapeutinnen Jane Middleton-Moz und Lorie Dwinell veranstalten Workshops, in denen sie Überlebende dazu anregen, ein <kognitives Rettungsfloß> zu bauen, wie sie sich ausdrücken. Sie schreiben in <After the Tears>:

Teilnehmer, die körperlich oder sexuell mißbraucht wurden, beginnen in ihrer durchdringenden Angst vor normalen Konflikten, ihrer Vertrauensangst und den Mustern wiederholten Mißbrauchs­verhaltens in ihrem Erwachsenenleben einen intellektuellen Sinn zu sehen. Das >kognitive Rettungsfloß< lindert zwar nicht ihren Schmerz oder setzt ihre Vertrauensangst herab, die Teilnehmer sprechen aber von einem Nachlassen ihrer alles überlagernden Scham. Sie beginnen, wenn auch nur intellektuell zu erkennen, daß ihr Leben durch die therapeutische Arbeit sich verändern kann und daß die strenge Kontrolle, die sie als enges Gefängnis empfinden, nachläßt und sie die Spontaneität spüren und genießen können, die andere allem Anschein nach längst erreicht haben.2

 

Der Psychiater James Anthony stellte in seiner Studie bei unverletzbaren Kindern chronisch geistes­kranker Eltern fest, daß solche Kinder von geistes­kranken Eltern weniger bleibenden Schaden erlitten haben als befürchtet, die »hartnäckigen Widerstand dagegen leisteten, sich von der Krankheit vereinnahmen zu lassen; ein Kuriosum im Studium der Ätiologie, Diagnose, sowie der Symptome und Behandlung der Krankheit... sie besitzen die Fähigkeit einer objektiven, realistischen, in gewisser Weise distanzierten und dennoch deutlich einfühlsamen Beurteilung der elterlichen Krankheit, wobei sie sich weder davor zurückzogen noch davon einschüchtern ließen.«3

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Das Potential der intellektuellen Problembewältigung darf nicht mit hohem Intelligenzquotient oder Begeisterung für die Schule oder einer besseren Lernfähigkeit gleichgesetzt werden. Bei vier der Mißbrauchsopfer aus meiner Studie wurden im späteren Leben schwere Formen von Lesestörungen diagnostiziert. Esther und Stefan sprachen vor Eintritt in die Grundschule kein Englisch, sondern nur die Sprache ihrer Eltern. Sie berichteten, in der Schule falsch behandelt und als faul oder dumm bezeichnet worden zu sein. Vinnie hatte wegen seines Stotterns Schulschwierigkeiten. Christina wurde zunächst wegen ihrer Taubheit als geistig zurückgeblieben fehldiagnostiziert. 

Dennoch behielten die Betroffenen ihre Lernlust bei und sahen schließlich Sinn in sinnloser Gewalt. Sie überwanden Benachteiligungen und Unvermögen, um ihr Leben über den Intellekt zu meistern. Daryls Erfahrung im ersten Collegejahr spiegelt die Zähigkeit vieler Überlebender. 

»In der High School war ich kein besonders guter Schüler, aber ich wußte, die einzige Chance für einen jungen Schwarzen war eine College-Ausbildung. Ich wurde von einem kleinen College aufgenommen. Mein Englischlehrer war ein gläubiger Christ aus den Südstaaten, der in mir ein Geschöpf Gottes sah, dem er helfen mußte, von dem er aber nicht viel erwartete. Sein Lieblingssatz war: <Daryl, du bist einfach zu ehrgeizig>. Das war Anfang der 60er Jahre und ich fing grade an, mir Gedanken darüber zu machen, wie die schwarze Bevölkerung in Amerika behandelt wurde. Er wollte mir Aufsatzthemen geben wie <Bobby und Alice pflücken Äpfel>, und ich wollte über die Sklaverei, Malcolm X und die Lynchjustiz der Weißen schreiben. Er versuchte mich ständig davon abzubringen: <Manche Themen rührt man besser nicht an.> Trotzdem nahm ich seine Ratschläge über meinen Schreibstil an — er brachte mir wirklich ein paar Sachen bei — und ich schrieb, worüber ich schreiben wollte. Nach ein paar Jahren bekam ich bessere Noten bei ihm und er gab sogar ein- oder zweimal zu, daß ich recht hatte.«

Wie Daryl machten sich viele der von mir interviewten Überlebenden <Gedanken> über die Ungerechtigkeit in der Welt, bevor sie Ungerechtigkeit und Mißbrauch in der eigenen Familie erkannten.

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   Phantasie   

 

Ob wir mißhandelt wurden oder nicht — wir setzen unsere Phantasie ein, um uns zu unterhalten, aufzu­heitern oder um über die Phantasie Gefühle auszudrücken, die wir nicht in die Realität umsetzen dürfen. Wenn ein Autofahrer Sie auf der Autobahn schneidet, möchten Sie ihn vielleicht am liebsten von der Straße drängen. Schon der Gedanke an einen solchen Racheakt bewirkt, daß Ihre Wut verraucht. Malen Sie sich gelegentlich aus, wenn Sie Langeweile haben, mit einem geliebten Menschen zusammenzusein, oder träumen Sie davon, berühmt zu sein? Wenn Sie mit unsicheren Gefühlen zu einer Besprechung gehen, stellen Sie Überlegungen über das mögliche Ergebnis an, natürlich ein Ergebnis, das zu Ihren Gunsten ausfällt?

Jüngste psychologische Theorien behaupten, daß bei traumatisierten Kindern die Fähigkeit zum Phantasieren herabgesetzt ist. Vielfach verdrängen Erinnerungen an traumatische Ereignisse aufkeimende Phantasien. Doch die von mir interviewten Überlebenden gaben sich in der Kindheit häufig ihren Phantasien hin.

Ihre Phantasien erkannten das Trauma häufig als real an, sie versahen es aber mit einem wünschenswerteren Ende. Esther erinnerte sich:

»Ich spielte mit meinen Puppen und stellte mir vor, daß ich ein Fotomodell oder Filmstar sei. Ich war damals schon kurzbeinig und pummelig und wußte, daß das für mich aussichts­los sei, also malte ich mir aus, eine begehrte Prostituierte oder ein berühmter Pornostar zu sein. Mir ging es dabei darum, begehrt und geliebt zu sein.«

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Laura malte sich aus, bei den Countrysängern Dale Evans und Roy Rogers zu leben. Als Fünfjährige zog sie fast täglich ihr Cowgirl-Kostüm an, beugte sich über ihr Bett, zog ihr Unterhöschen herunter und schlug sich selbst auf den nackten Po. Sie hatte die Lüge im Kopf noch nicht verlernt, die Liebe mit Mißbrauch gleichsetzt, und sie war der Meinung, wenn Dale und Roy sie liebten, würden die beiden sie auch schlagen. Was sie im Rollenspiel ausagierte, war unendlich viel milder als die körperliche Züchtigung, der sexuelle Mißbrauch und die Schimpfnamen, die sie im wirklichen Leben erdulden mußte. In ihrer Phantasie war sie Dales und Roys Lieblingstochter.

Glen war >ein typisches Schlüsselkind<, der bereits als Siebenjähriger völlig auf sich allein gestellt war und regelmäßig als >kleiner Scheißkerl< bezeichnet wurde. Er wurde fernsehsüchtig, liebte besonders Serien wie Perry Mason und 87th Precinct. Glen stellte sich vor, daß er eines Tages einen Mord begehen und dadurch die ganze Aufmerksamkeit dieser >tollen Kerle< erringen würde. Im Gefängnis wäre er vor seinem Vater sicher und andere wären vor ihm sicher. In seiner Phantasie reagierte er seine Wut darüber ab, ständig gedemütigt zu werden.

Manche Überlebende haben wie Glen gelegentliche Rachephantasien, die sie als >reinigend< empfinden. Doch es gibt bedeutende Unterschiede zwischen ihren Phantasien und solchen, die zu wirklichen Verbrechen führen. Die Phantasien Überlebender sind unweigerlich gegen den Mißbrauchenden gerichtet und finden Ausgleich in positiven Phantasien. Sie wissen auch, daß eine Umsetzung ihrer Rachephantasien in tatsächliches Verhalten schädlich ist und sie dadurch letztlich nur ihre Selbstachtung verlieren würden. Kurzum, ihre Phantasien sind für sie keine Realität.

Andere setzten Phantasien ein, um sich zu trösten und zu beschwichtigen, wobei sie gleichzeitig das Trauma anerkannten. Joans gewalttätige Stiefmutter zwang die Dreizehnjährige, bei wohlhabenden, weißen Familien zu putzen. »Ich war froh, nicht bei Dominique sein zu müssen, doch am besten gefiel mir der Gedanke, in einem solchen Haus zu wohnen. Ich malte mir aus, das echte Dienstmädchen sei krank und ich tue ihr lediglich den Gefallen und mache die Arbeit für sie.«

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Christina erschuf sich »einen Schutzengel. Ich spürte, wie er mir auf die Schulter klopfte, damit ich weiß, daß er bei mir ist. Er versicherte mir: <Es wird alles gut. Eines Tages kommst du da raus und bist auf dich selbst gestellt.>« Hans Christian Andersen verwandelte seine traumatische Kindheit in Märchenerzählungen. James Anthony schreibt: 

Seine Umgebung war sich seiner Mischung aus extremer Empfindsamkeit und Unverwundbarkeit bewußt. Hans wurde beschrieben als »empfindsame Pflanze mit der Fähigkeit, sich zu öffnen und auch den rauhesten Stürmen zu trotzen«. Von früher Kindheit an äußert sich seine ungewöhnliche Begabung in seiner schöpferischen Phantasie, seiner hohen Intelligenz, seinem Eifer, seiner Begeisterung und seiner verbissenen Hartnäckigkeit, Rückschläge einzustecken... Er selbst machte mehrere Gründe für seinen Erfolg verantwortlich: seine außerordentliche Fähigkeit, sich in die Welt der Phantasie zurückzuziehen und der brutalen Realität zu entfliehen; seine Fähigkeit, starke Gefühle abzureagieren, indem er Einzelheiten seines >Falles< in einer Fülle von Darstellungen, Metaphern und Selbsterkenntnissen von sich gab; sowie seine Fähigkeit, >grausame< Situationen in Märchenerzählungen umzusetzen und durch diesen Schöpfungsakt einige seltene, wunderschöne Augenblicke der Erleichterung zu erleben... Sein Arbeitseifer hatte direkten Bezug zur erschütternden Realität, die er in seiner Vorstellungskraft neu formte, mit Wunscherfüllungen versah und diese Phantasie als Geschichte oder Märchen wiedererzählte. Durch diesen Vorgang verwandelte sich das <häßliche Entlein> (Andersen berühmteste Metapher) in einen schönen Schwan.4

 

Schließlich machten viele Überlebende <Ferien> von der Realität ihres Traumas und phantasierten sich ein schönes Zukunftsbild zurecht. Rob erinnert sich an seine Kindheit: »Ich hörte Radio und schaute aus dem Fenster auf die Lichter auf der anderen Seite der Bucht. Ich hörte Musik und wußte, daß es da draußen ein besseres Leben gab. Ich wußte nicht wo — das Radio war meine einzige Verbindung nach draußen. Ich wußte, nicht, wie ein gutes Leben aussah, aber ich wußte: <Das hier ist es nicht — diese Leute sind verrückt.> Das Radio und die Lichter gaben mir Zuversicht.« 

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Robs Metapher trifft für viele Überlebende zu: In ihren Köpfen spielt ein Radio und sendet und empfängt ständig Botschaften, die nichts mit der Problemfamilie zu tun haben.

Vinnie hatte keine Rollenmodelle in seiner verarmten Nachbarschaft, also malte er sich aus: »Seit ich ein kleiner Junge war, träumte ich davon, einmal ein wohlhabender Geschäftsmann zu sein mit einer tollen Sekretärin; ich würde nur weiße Hemden und teure Anzüge tragen — ich würde von allem nur das Beste haben.« Vinnie erkämpfte sich ein Jurastudium und konnte seinen Traum verwirklichen.

Wie bei vielen Bewältigungsstrategien kann die Fähigkeit zu phantasieren auch eine Schwäche darstellen. Esthers einziger Freund in der Kindheit war ihre Vorstellungskraft, die einzige zuverlässige, dauerhafte und hilfreiche Zuflucht: »Und viel von dem, was ich mir damals über Beruf oder Reisen ausgemalt habe, ist später eingetreten. Aber Beziehungen funktionieren nicht so. Oft sind meine Träume für mich wirklicher als die Beziehungen. Und ich überlege mir auch oft, was andere Menschen über mich denken oder fühlen, und gehe davon aus, daß diese Phantasien wahr sind. Es fällt mir oft schwer, mich davon zu überzeugen, daß das nicht stimmt.«

Christinas reichhaltige Phantasiewelt »überzeugte mich davon, daß die ganze Welt wunderbar ist, nur meine Familie war eine Bedrohung für mich. Als Erwachsene mußte ich den Verlust der Idealvorstellung der Welt betrauern. Eine Zeitlang war ich total verschreckt, weil ich nicht wußte, wem ich vertrauen kann. Welch böses Erwachen, nachdem ich erwartet hatte, jedem vertrauen zu können und feststellen mußte, daß das unrealistisch war. Das war schmerzlich, aber ohne meine Phantasien hätte ich nicht überlebt.«

Manche Sozialforscher sind der Anschauung, traumatisierte Menschen würden sich zu sehr mit der Vergangenheit beschäftigen, weil sich ihnen häufig Erinnerungen an das Trauma aufdrängen, wobei ihre Beschäftigung mit der Gegenwart und Zukunft zu kurz kommt. 

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Die von mir interviewten Überlebenden neigten allerdings dazu, sich zu sehr auf die Zukunft zu fixieren. Schließlich bauten sie in ihrer Kindheit alle Hoffnung auf die Zukunft. Viele Überlebende machen es sich zur Aufgabe, sich bewußt mehr mit der Gegenwart zu beschäftigen. Esther fährt fort:

»Ich sehe mich ständig in meiner Umgebung um und mache mir bewußt, was ich sehe, etwa den schönen blauen Himmel, ein tolles Haus, an dem ich jeden Tag vorbeifahre, die Farbe eines Wagens, die mir gefällt. Das hilft mir, meine Gedanken vom >Herumwandern< abzuhalten. In der Vergangenheit hatte ich oft Rückblenden, oder ich versank plötzlich in tiefe Hoffnungslosigkeit, weil mir nur Dinge auffielen, die mich an die Greuel meiner Kindheit erinnerten. Dann träumte ich davon, mit Martina Navratilova zu verreisen. Ich schenkte meinem wirklichen Leben keine Beachtung.«

 

   Ausgeglichenes Denken   

 

Das Trauma beeinflußt, wie wir das Geschehen um uns herum verarbeiten. Überlebende, die im Leben nicht sonderlich gut zurechtkommen, neigen zur Verallgemeinerung — Menschen oder Situationen sind entweder gut oder schlecht, für sie gibt es keine Zwischentöne. Sie kennen nur >immer< oder >nie<, es findet sich kein Platz für >gelegentlich< oder >selten<. Alles ist >Leben oder Tod<, selten ist etwas >halb so tragisch<.

Einige Überlebende haben mir berichtet, daß ihr Denken stark gegliedert ist. Christina beschrieb ihren Verstand als ein Schachbrett mit vielen Quadraten: »Ich kann von einem Feld zum nächsten springen. Ich kann mir gestatten zu weinen und mich dann durch Willenskraft auf etwas anderes konzentrieren, wenn ich fürchte, ich hätte zu viel geweint.«

Als kleiner Junge teilte Glen die Menschen in zwei Kategorien ein, sie waren entweder wie seine Eltern oder nicht wie seine Eltern: »Zum Glück erkannte ich schon sehr früh, daß nicht alle Erwachsenen ungerecht sind. Ich rechnete mir quasi mathematisch aus, daß man vom Verhalten zweier Menschen nicht auf die Allgemeinheit schließen könne, und daher konnte ich mir den Glauben bewahren, daß es auch gute Menschen gibt.«

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Esthers Denkweisen ließen Platz für die Realität ihrer ungerechten Mutter und für ihre kindliche Liebe zur Mutter: »Wenn sie mich schlecht behandelte, nannte ich sie in Gedanken Ilena und wenn sie nett zu mir war, nannte ich sie Mama. Gute Menschen können sich auch schlecht benehmen.«

Die Befragten meiner Studie neigten auch dazu, einen großen Unterschied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu machen. »Das war damals, jetzt ist heute.« Doch manche hatten Schwierigkeiten, wenn die Einteilungen überlappten, wenn das >Heute< zu sehr an das >Gestern< erinnerte. Joan hatte als Zehnjährige einen Streit mit ihrer Mutter und wünschte ihr den Tod.

Am nächsten Tag starb ihre Mutter. Dreißig Jahre lang glaubte Joan, sie habe ihre Mutter getötet, bis sie in einem Vortrag über Sterbeberatung eines anderen belehrt wurde. Sie ist in ihrer Heilung zwar weit fortgeschritten, doch wenn sie an der Zuneigung eines geliebten Mannes zweifelt, »übernimmt mein Verstand die Führung und schreibt eine Geschichte über Verlassenwerden. Ich habe wieder jemanden umgebracht und zerbreche daran.«

So nützlich ein solches Schubladendenken für Mißbrauchsopfer zu gewissen Zeiten auch gewesen sein mochte, es fordert seinen Preis, was ihr Bild von sich selbst als ganzer und integrierter Mensch angeht. Joan fährt fort: »Als mein Vater meine Stiefmutter Dominique heiratete — ein ordinäres Fischweib, das er in einer Kneipe aufgegabelt hat —, sah sie meine Rolle in der Familie als >kleine Mutter und Ehefrau< und machte sich daran, diese Rolle zu zerstören. Schlimmer als die häufigen Prügel, die ich von ihr bezog, waren ihre Verwünschungen. Sie sagte, der Geist meiner verstorbenen Mutter würde sich an mir rächen. Es fiel mir schwer, der böse Mensch zu sein, als den sie mich sah. Wenn ich in den Spiegel schaute, fürchtete ich, eine Teufelsfratze würde mir entgegenblicken. Doch in der Schule war ich ein Kind, das von den Lehrern gemocht und geachtet wurde. Selbst heute gibt es einen Teil in mir, der weiß, daß ich alles schaffe und ein anderer Teil in mir ist schrecklich unsicher und hält sich für wertlos! Manchmal komme ich mir vor, als sei ich zwei völlig verschiedene Menschen.«

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Kinder haben noch nicht die kognitive Entwicklungsstufe erreicht und nicht die Lebenserfahrung, um im Angesicht des Traumas klar denken zu können. Ihre Denkfehler spiegeln ihren ehrlichen Versuch, das Unver­ständliche zu verstehen, wenn die Wahrheit entweder nicht zugelassen oder nicht zugänglich war. 

Ein erster Schritt zur Heilung besteht darin, sein bisheriges Denken über das Trauma in Frage zu stellen, zu analysieren und zu verändern.

 

Janet sagt: »Ich habe ziemlich früh in meinem Leben begriffen, daß das, was ich meinem Verstand einrede, mit großer Wahrscheinlichkeit eintrifft. Wenn ich mir sage, ich bin ein Opfer, ich bin hilflos, das Leben ist schrecklich, dann treffen solche Umstände ständig ein. Wenn ich mir aber sage, ich habe es überstanden, das Schlimmste liegt hinter mir, fühle ich mich stark, gesund und erhalte Liebe und Schutz. Und die meisten Menschen und Situationen, auf die ich in meinem Leben treffe, sind gut.«

Rob hat wie Janet gelernt, »die Metapher umzudrehen: Ich habe keine Kontrolle über das, was mir angetan wurde, aber ich habe Kontrolle, wie ich darüber denke und welche Wirkung das Geschehen auf mich hat. Wenn ich einen Sachverhalt mit meinem zwanghaften Schubladendenken beurteile und darin Verhängnis und Unheil sehe, gelingt es mir, diesen Sachverhalt von einem anderen Blickwinkel her zu betrachten und darin eine positive Herausforderung zu sehen. Dadurch schöpfe ich wieder Hoffnung.«

Bei anderen Überlebenden besteht das Problem darin, daß sie zu viel denken. In ihrem ersten Collegejahr erlebte Esther Panikattacken. »Ich war gelähmt vor Angst und wagte mich nicht in die Vorlesung. Ich wandte mich an die Studentenberatung um Hilfe.« Am Ende der ersten Sitzung sagte der Therapeut zu Esther, sie sei »intellektuell überentwickelt und emotional unterentwickelt. Seine Worte haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt.« Was für kränkende Worte! Der Therapeut hätte sagen können: »Ich bewundere Ihre Denkfähigkeit; Ihre Stärke liegt in der Intellektualisierung Ihrer Erfahrungen — ich weiß nicht, ob Sie zu mir gekommen wären, wenn Sie diese intellektuelle Seite nicht so stark entwickelt hätten. Es gibt keinen Grund, nicht daran zu glauben, daß Sie eines Tages auch mit Ihrer emotionalen Seite so gut umgehen können.«

Ein >kognitives Rettungsfloß< — realistische und stärkende Denkweisen im Umgang mit dem Trauma — ist absolut notwendig, bevor ein Überlebender tief in seine Gefühle eintaucht. Eine Floßplanke ist die Bewußtmachung der Fakten zum Trauma; eine zweite ist die Erweiterung der eigenen Fähigkeit, über Machtstrukturen oder Hoffnungen zu phantasieren; eine dritte besteht darin, dem Denken weitere Schubladen hinzuzufügen, um mehr Möglichkeiten zu schaffen. Esther sagte, sie habe ein »kognitives Rettungsfloß, das einen Öltanker tragen könnte«. Diese Vorstellung ist nicht das Problem und darf nicht belächelt werden. Im Alter von zweiundvierzig führt sie ein emotionales Leben, das ebenso gesund und lebendig ist, wie ihre Denkweisen es sind.

Das Ziel des Durcharbeitens der Lügen im Kopf ist der Lernprozeß, Mißbrauch weniger persönlich zu nehmen und mehr Selbstsicherheit zu gewinnen. Im Rückblick kann der Verstand des Erwachsenen die Ohnmacht des traumatisierten Kindes objektiver bewerten: »Schließlich traf mich keine Schuld daran.«

Klares Denken gibt uns zwar nicht die Antwort auf alle Fragen, ist aber ein ausgezeichneter und notwendiger Anfang. Emerson sagte: »Nur die verletzte Auster verschließt ihre Schale mit Perlmutt.« Wir Menschen sind jedoch im Gegensatz zu Austern keine Einzelgeschöpfe. Wir helfen einander ebenso, wie wir uns selbst helfen. Perlen der Weisheit helfen uns, den nächsten Schritt zu tun, im Zusammensein mit anderen Menschen gesund zu werden, die Wirkungen des Traumas zu spüren, während wir uns an unserem Lebens­rettungsfloß festhalten.

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