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6. Das Kind in uns, die Eltern in uns

Wir werden nie aufhören zu forschen
Und am Ende all unserer Forschungen
Werden wir dort ankommen, wo wir begonnen haben
Und den Ort jetzt erst kennenlernen.
T. S. Eliot:  Little Gidding, Four Quartets

143-164

Wie die meisten Kinder spielte auch George gern im Freien mit seinen Freunden, stand morgens spät auf, liebte Fertiggerichte, wusch sich ungern und stellte ständig Fragen. Das alles brachte seine Mutter Evelyn in Wut, die ohnehin ständig gereizt war. Im leicht angetrunkenen Zustand ging sie etwas nachsichtiger mit George um. War sie aber völlig betrunken oder hatte einen Kater, verprügelte sie ihn mit einem Leder­riemen.

Der achtjährige George spielte mit zwei Freunden an einer Baustelle und kam völlig verdreckt nach Hause. Evelyn — die gerade eine einwöchige Sauftour hinter sich hatte — schlug ihn, bis er blutige Striemen hatte. Dann verpaßte sie ihm einen Einlauf mit kochend heißem Wasser, nur »damit du nie wieder vergißt, sauber zu bleiben, du ekelhaftes Schwein«. Das war der Augenblick, in dem George aufhörte, Kind zu sein und zum <kleinen Mann> wurde. Genauer gesagt, er wurde der Pfleger seiner Mutter, er blieb ständig an ihrer Seite und umsorgte sie. Bei ihm konnte sie sich <ausheulen>, er putzte ihr Erbrochenes oder ihre Ausscheidungen weg, wenn sie zu betrunken war, um es bis zur Toilette zu schaffen. 

Georges neues Persönlichkeitsbild funktionierte; sie verprügelte ihn seltener. Sie schlug ihn zwar immer noch, wenn sie meinte, er kümmere sich nicht ausreichend um sie, doch nach Georges heutiger Ansicht gab es dafür wenigstens <einen Grund>. Er klammerte sich an die Illusion, daß er die nächsten Prügel abwenden könne, wenn er <sich mehr Mühe gab, wenn er sich als Mann erwies>.

Georges Vater war Handelsvertreter, der sich durch Georges unplanmäßige Geburt in die Ehe gezwungen fühlte. Abgestoßen durch Evelyns Verhalten, verbrachte er möglichst viel Zeit auf Geschäftsreisen. Da beide streng katholisch waren, kam eine Scheidung nicht in Frage. Es wurde nicht klar ersichtlich, ob er wußte, wie schwer George mißhandelt wurde. Jedenfalls interessierte er sich nicht sonderlich für seinen Sohn. Aus Selbstschutz kümmerte George sich auch um seinen Vater, bedauerte ihn, ergriff seine Partei und bemühte sich, ihn aufzuheitern, um ihn im Haus zu halten. Der Junge wurde für seine Eltern zum <kleinen Vater und kleinen Ehemann>.

George arbeitete als Schüler und später als Student in seiner Freizeit und in den Ferien als Pfleger im Krank­en­haus. Für diesen Job brachte er wegen der Krankheit seiner Mutter beste Voraussetzungen mit. Die Krank­en­schwestern hatten ihn gern, weil er zuverlässig war, gut zuhören konnte und bei der Krankenpflege nicht zimper­lich war. Die Arbeit bot ihm eine Fluchtmöglichkeit aus dem Elternhaus und das verdiente Geld ermöglichte ihm den College-Besuch.

In Georges erstem Collegejahr brachte Evelyn sich um: sie hatte eine Woche lang ein Gemisch aus Methyl­alk­ohol und Azeton getrunken. Der unter­suchende Arzt gab als Todesursache Leberzirrhose an, um zu gewähr­leisten, daß ihre Lebensversicherung ausbezahlt wurde, die Evelyn auf George als Nutznießer abge­schlossen hatte. Mit dem Geld der Versicherung begann George ein tiermedizinisches Studium.

Heute ist George Tierarzt und Leiter einer großen Veterinärklinik. Er ist sehr fleißig in seinem Beruf und steht bei Kollegen und den Besitzern seiner vierbeinigen Patienten in hohem Ansehen. Er ist ein guter Zuhörer, einfühlsam, außergewöhnlich diplomatisch und auch heute noch bei den Kranken­schwestern sehr beliebt. Er kümmert sich um seinen gebrechlichen Vater, der mittlerweile in einem Pflegeheim untergebracht ist.

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Aber wenn jemand George zu nahe kommt, begegnet er dem >kleinen Georgie<. Seine Freunde sind fassungslos, wenn er wütend vom Tennisplatz stürmt, weil ihm ein Punkt nicht zugesprochen wird. Er lädt Freunde zu sich ein, macht aber seinerseits ungern Besuche und sagt Einladungen gewöhnlich in letzter Sekunde ab. George erobert die Herzen der Frauen im Sturm, die nach einer Liebesnacht allerdings neben einem Tyrannen aufwachen, der ihnen Vorträge über Sauberkeit hält, herumnörgelt, wenn sie nicht nach seiner Pfeife tanzen, und in Wut gerät, wenn ihre Vorstellungen über die Beziehung nicht mit seinen Vorstellungen übereinstimmen. George ist der Meinung, in seinem Körper wohnen zwei Menschen: »der uralte Greis und das Riesenbaby«.

George fliegt mit nachtwandlerischer Sicherheit auf Frauen, die entweder suchtmittelabhängig sind oder Eßstörungen haben. Seine Beziehungen endeten ausnahmslos schlecht.

Vor kurzem lernte er Sandy kennen, die seit einiger Zeit trocken ist und einen siebenjährigen Sohn, Will, hat. George und Will verstehen sich prächtig. Sie spielen mit Wills Hund, bauen stundenlang Sandburgen am Strand und lesen gemeinsam Science-Fiction-Geschichten und Rätselbücher. Die Beziehung zwischen Sandy und George ist immer dann getrübt, wenn Sandy alleine oder alleine mit Will sein möchte. Dann fühlt George sich ungeliebt, verlassen, angstvoll. Er bekommt Wutanfälle und wirft Sandy vor, ihn nicht wirklich zu lieben.

Sandy stellte ihm schließlich ein Ultimatum: entweder geht George in eine Therapie oder sie trennt sich von ihm. George ging, redete sich aber ein, er tue es, »um Sandy mit ihrem Alkoholproblem zu helfen«. Er war sicher, daß sein ernsthafter, junger Therapeut, der sich darauf spezialisiert hat, erwachsene Kinder von Alkoholikern zu behandeln, ihm nichts vormachen könne. Doch der Therapeut sprach nicht mit dem >über alle Maßen guten< erwachsenen George. Er richtete sich an den >über alle Maßen schlechten< kleinen Georgie. Er machte George darauf aufmerksam, daß auch er einmal so unschuldig und liebenswert wie Will gewesen sei, und forderte George auf, zu zeichnen, zu malen und mit Ton zu arbeiten, um seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, statt sich auf die übliche Gesprächstherapie einzulassen. George willigte ein, da er wußte: keine Therapie bedeutete keine Sandy.

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Eines Abends, als Sandy sich auszog, um zu Bett zu gehen, sagte George: »Findest du nicht, daß du mal wieder einen neuen Büstenhalter brauchst? Deine sind so abgenutzt und schmuddelig.« Das reichte Sandy. Sie warf ihn hinaus. George verbrachte die Nacht allein und fürchtete, er würde Sandy nie wieder sehen. Er hatte einen Alptraum: »Ich träumte, ich machte mit Freunden ein Picknick und ging allein im Wald spazieren. Plötzlich stand ich mitten unter verbrannten Bäumen. Soweit ich sehen konnte, nur verbrannte Baumstrünke.« George wollte zurück zum Picknickplatz, verirrte sich aber in dem verbrannten Wald. »Ich lief ständig im Kreis herum. Plötzlich stürzte ich zu Boden. Ich lag völlig verzweifelt und voller Angst auf der Erde, da hörte ich ein schwaches Weinen. Ich stand auf und folgte dem Geräusch. Ich kam an ein tiefes Loch, schaute hinunter und sah den kleinen Georgie, der wimmernd und zu Tode erschrocken um Hilfe rief. Ich schrie zu ihm hinunter:

>Klettere rauf!... Zieh dich hoch!... Hör auf zu weinen!... Versuch es doch!<« Der kleine Georgie bemühte sich mit aller Kraft, aber je mehr er das tat, was George ihm sagte, je mehr er um sich schlug, desto tiefer versank er. Gerade als er im Mittelpunkt der Erde zu versinken drohte, wachte George schweißgebadet auf.

In der nächsten Sitzung erzählte George dem Therapeuten seinen Traum. Er fing an zu schluchzen, obwohl er sich nicht erklären konnte, »wieso ein lächerlicher Traum mir Angst macht — ich müßte es doch besser wissen«. Der Therapeut schlug ihm vor, die Augen zu schließen und sich die letzte Szene vorzustellen. Dann konnte er den Traum zu Ende denken. Das furchterregende Bild des kleinen Georgie, der lebendig begraben wird, kam zurück. Doch diesmal sprang George in das Loch, zog den kleinen Jungen an den Armen hoch und brachte ihn in Sicherheit.

Ein paar Wochen nach der Analyse seines Traums machte George einige Veränderungen in seinem Leben. Er begann im Garten zu arbeiten, eine für Erwachsene passende Form, im Dreck zu spielen. Seit kurzem ist seine Panik abgeflaut, er kann jetzt Freunde besuchen und mit ihnen >spielen<; er weiß, daß er deshalb nicht bestraft wird. Er streitet zwar auch heute noch mit Freunden auf dem Tennisplatz darüber, ob ein Ball im Aus war oder nicht, aber er lernt zumindest, Sandy die Freiräume zu geben, die sie braucht.

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George sagt heute über sein Leben, er komme sich vor, als würde er ein Geschenk auspacken. »Sie kennen den Scherz, wenn man ein Geschenk in einen kleinen Karton packt, diesen Karton in einen größeren und diesen wieder in einen noch größeren Karton packt und so weiter. Ich bin gerade dabei, die größeren Kartons zu öffnen, einen nach dem anderen. Ich behalte meine Erwachsenenkartons für den Fall, daß ich sie wieder mal brauche. Aber wichtiger ist, daß ich an das Geschenk im kleinsten Karton herankomme.«

 

     Das Kind in uns    

 

Viele einstige Opfer schilderten mir die furchtbaren Mißhandlungen, die sie erlitten haben, mit großer Detailgenauigkeit, ohne dabei die geringste Emotion zu zeigen. Wenn ich sie aber nach ihren jetzigen Stärken und Schwächen fragte, weinten viele zum ersten und einzigen Mal. Yolanda spricht für viele, wenn sie von ihrer größten Schwäche erzählt: »Ich glaube einfach nicht, daß ich liebenswert und wertvoll bin. Warum sollte mich jemand lieben?«

Diese tiefe Einsamkeit gedeiht häufig inmitten von Liebe und Bewunderung vieler Menschen. Die einstigen Opfer erfahren die Einsamkeit der Entfremdung des Kindes in ihnen, das sich verzweifelt danach sehnt, geliebt zu werden. Auch wenn sie vor ihrem erwachsenen Ich eine wirkliche hohe Selbstachtung haben, begegnen sie dem Kind in ihrem Innern, das immer noch bedürftig, gefühlsbetont und traumatisiert ist, mit Verachtung.

Die Psychoanalytikerin Alice Miller beschreibt dieses Phänomen in ihrem Buch <Das Drama des begabten Kindes>: Sie bringen ihre ersten Erinnerungen ohne jegliches Mitgefühl für das Kind, das sie einmal waren, und dies fällt um so mehr auf, als diese Patienten nicht nur eine ausgesprochene Fähigkeit zur Introspektion haben, sondern sich auch leicht in andere Menschen einfühlen können. Ihre Beziehung zur Gefühlswelt ihrer Kindheit ist aber durch mangelnden Respekt, Kontrollzwang, Manipulation und Leistungsdruck charakterisiert.1)

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Manche Überlebende befinden sich mit dem Kind in ihrem Innern >auf Kriegsfuß< und sprechen von sich selbst als Kinder in der dritten Person:

 

Kinder im Alter von sechs, sieben, acht Jahren brauchen fast jeden Winter einen neuen Mantel. Bewältigungs­strategien sind wie psychologische Wintermäntel. Das Kind hat möglicherweise Hunderte davon ausprobiert — es wurde krank, versuchte sich als Retter, bemühte sich, den Erwachsenen zu gefallen, zu rebellieren oder sich im Angesicht der Gewalt unsichtbar zu machen — bevor es sich für den Mantel entschied, der es am wärmsten hielt und es vor den Stürmen in der Familie beschützte. Zum Glück verhält die Welt, in der das erwachsen gewordene Kind lebt, sich nicht wie seine Herkunftsfamilie. Der Mantel ist zu klein geworden, er kann abgelegt werden.

George war ein schwer mißhandeltes Kind und sein >Wintermantel< bestand darin, seine Angst zu verleugnen und sich um andere zu kümmern. Er haßt die Ängste des kleinen Georgie, wenn er zum Essen bei Freunden eingeladen ist; er verachtet den kleinen Georgie, der sich an eine Geliebte klammert, wenn sie droht, ihn zu verlassen; er verabscheut Georgies Wutanfälle.

Georges beruflicher Erfolg und seine Freundschaften (zu seinen Bedingungen) gaben ihm >größere und schönere Geschenkkartons<, in die er den kleinen Georgie packen konnte. Erst als er anfing, Mitleid für den kleinen Georgie zu empfinden, und zuließ, daß das Kind in ihm sich in Zeichnungen und Malereien mit den Händen auslebte, kam es zur Aussöhnung der beiden.

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Für Menschen, die an der Existenz des Kindes in einer Erwachsenenpersönlichkeit zweifeln, habe ich einen schlagenden Gegenbeweis. Eine Freundin schilderte mir ihre Besuche bei ihren Eltern: »Ich besteige hier in Boston das Flugzeug als die zweiundvierzigjährige, erfolgreiche, reife Frau, die ich bin. Die Maschine landet in Nebraska und ich bin Anfang Zwanzig, unsicher, aber neugierig auf die Welt. Im Taxi, das mich vom Flughafen zum Haus meiner Eltern bringt, gehe ich meine Jugend durch: sie sollen mir bloß sagen, was ich zu tun habe; ich werde es ihnen zeigen — ich weiß mehr als sie. Sie öffnen die Haustür und begrüßen mich, und ich bin sieben Jahre alt. Ich denke, sie sind das Größte seit der Erfindung der Dampfmaschine und ich habe die besten Eltern der Welt. Am Abend des zweiten Tages meines Besuches sage ich nein! zu allem, nur um ihnen zu beweisen, daß sie mich nicht herumkommandieren können. Wenn ich wieder in der Maschine nach Boston sitze, lutsche ich am Daumen.«

Wenn wir ihre Eltern dazu befragen könnten, würden sie vielleicht berichten, daß sie sich in keiner Weise einmischen wollten, daß sie lediglich den Wunsch hatten, ihre erwachsene Tochter so zu verwöhnen, wie damals, als sie noch klein war. Und sie würden eventuell gestehen, daß sie ihre Tochter genau so >idiotisch< behandelten, wie ihre Eltern sie behandelt haben, wenn sie selbst als junge Erwachsene einen Besuch zu Hause machten.

 

 

     Selbstmord aus Liebe     

 

Vor einigen Jahren fiel dem Psychotherapeuten Nicholas Etcheverry während einer Autofahrt ein Werbeplakat auf, von »einem kleinen Mädchen, dem Opfer von Kindesmißbrauch; aus den großen Augen des Kindes lief eine Träne. Der Text dazu lautete: <Mami, wenn ich sterbe, liebst du mich dann?>«

Das Bild ließ ihn nicht mehr los. Es gab ihm die Anregung zu seinem Konzept von »Selbstmord aus Liebe«.2 Viele einstige Opfer — mehr als wir je wissen werden — haben sich tatsächlich umgebracht. Andere töten nur einen Teil in sich, den Kindteil, in der Hoffnung, mit diesem Opfer die Liebe ihrer Eltern zu gewinnen.

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Vor einigen Jahren erlebte ich selbst einen >Selbstmord aus Liebe< auf einem Skiausflug in New Hampshire. 

Es war Sonntag und auf den Loipen war ziemlich viel los. Unsere Anfängergruppe kam an einen steilen Hügel. Am Fuß des Hügels standen eine Frau und ein siebenjähriger Junge neben einem wutentbrannten Mann, der einen vierjährigen Jungen beschimpfte, der immer noch oben auf dem Hügel stand. »Nun beweg deinen Arsch endlich da runter, sonst komm' ich rauf, und dann kannst du was erleben«, brüllte er. Zaghaft und schluchzend setzte sich der Knirps in Bewegung und schaffte den Hügel, wunderbarerweise, ohne ein einziges Mal zu fallen. Zu Füßen des grausamen Vaters stürzte er mit dem Gesicht nach vorn in den Schnee und blieb erschöpft und verängstigt liegen. Sein Vater stand drohend über ihm, seine Stimme hallte in der verschneiten Landschaft wider: »Hör auf, dich wie ein kleines Kind zu benehmen.« Der kleine Junge hörte sofort auf zu weinen und stand auf. Die ganze Familie setzte ihre Skiwanderung fort.

Kinder in >genügend schlechten< Familien spüren, daß sie nie dafür geliebt werden, wer sie sind, also hoffen sie, als jemand anderer geliebt zu werden. Angesichts des unaufhörlichen Traumas sind sie größerer Gefahr ausgesetzt, mißbraucht und vernachlässigt zu werden, wenn sie sich >wie ein Kind benehmen<.

Sie begreifen schnell, daß es ratsamer ist, erwachsen zu werden, um das Kind in ihrem Innern keiner Gefahr auszusetzen. Sie finden eine Rolle — Betreuer, Kämpfer, Behinderter, Rebell, Wunderkind, Diplomat, Tüchtiger, Sündenbock, Unterhalter — und ihr wirklicher Charakter und ihre gesunden Eigenbestrebungen werden vernachlässigt und zum Schweigen gebracht.

Traditionelle psychiatrische Denkweisen gehen davon aus, daß ein chronisches Trauma, wie es George erlitten hatte, eine seelische Explosion zur Folge hat, an der das Ich des Kindes zerbricht. In manchen Fällen trifft das zu. Bei den Überlebenden, die ich interviewt habe, schien allerdings eher eine Implosion stattgefunden zu haben. Das kindliche Ich hatte sich sozusagen zur Faust geballt, um die sich ein starres, schützendes pseudoerwachsenes Ich gebildet hat.

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Das Kind im Innern kann aber nicht ganz zerstört werden. Auch wenn es von einem harten Panzer umgeben ist, macht es sich bemerkbar. Die Eigenbestrebungen des Kindes im Innern, auf die der mißbrauchende Elternteil mit besonderem Abscheu und Zorn reagierte, verkapseln sich nur und kommen im Erwachsenenleben wieder zum Vorschein.

Georges Bindungen an Spielkameraden außerhalb der Familie stellten für seine Mutter eine Bedrohung dar. Im Erwachsenenleben sehnte das Kind im Innern sich nach Freundschaftsbindungen, fürchtete sich aber zugleich vor der nachfolgenden Bestrafung. George wagte nicht, >mit anderen draußen zu spielen< oder zu lange in ihrer Nähe zu sein.

Elaines Mutter war neidisch auf die Intelligenz ihrer Tochter. Wenn Elaine mit einem Einser-Zeugnis nach Hause kam, sagte die Mutter: »Du hältst dich wohl für klug und für was Besseres«, worauf sie sie verprügelte. In den vergangenen zehn Jahren hat Elaine mehrere College-Studien begonnen und ist unfähig, zu einem Abschluß zu kommen. Dabei schreibt sie ausgezeichnete Klausurarbeiten, erntet Lob und Zuspruch von ihren Professoren und erhielt aufgrund ihrer guten Leistungen in einigen Fächern Stipendien. »Ich halte es nicht aus, die beste in einer Klasse zu sein oder wenn Menschen mich bewundern. Dann habe ich das Gefühl, in einer verrückten Welt zu leben, in der es nur unfähige Menschen gibt.«

Wenn die gesunden Bestrebungen eines Kindes nach Liebe, Fürsorge, Freude, Autonomie und Überlegenheit ständig von den Eltern bestraft werden, beginnt es nach Meinung des Psychiaters Andras Angyal zu glauben: <Was ich möchte, ist verboten.> Von diesem Gedanken zum <Das Verbotene ist es, was ich möchte> ist kein großer Schritt.«3  Daher suchen Erwachsene, die in manchen Aspekten gesund und leistungsfähig sind, hartnäckig das >Verbotene< in anderen Bereichen ihres Lebens: George sehnte sich nach Liebe; Elaine sehnte sich nach akademischer Leistung. Wünschen bedeutete Leben; Haben bedeutete Tod.

 

   Verkehrte Familienverhältnisse  

 

Wiederkehrende Gewalt — mit ihrer Bedrohung leben, sie am eigenen Leib erfahren oder Zeuge davon sein — macht die Kindheit kaputt. Das Kind setzt sämtliche ihm zur Verfügung stehenden psychologischen Mittel ein, um die Gewalt zu überleben; dabei bleibt wenig Energie für eine normale Entwicklung.

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In einer >genügend guten< Familie fragt ein Kind sich: »Was bekomme ich wohl zum Geburtstag geschenkt? Hat Mami mir ein gutes Pausebrot eingepackt? Wie kriege ich meine Eltern dazu, mit mir diesen Walt-Disney-Film anzusehen?« In einer gewalttätigen Familie sind Kinder mit anderen Fragen beschäftigt: »Was soll ich tun, um nicht wieder vergewaltigt zu werden? Wenn ich mich heute verprügeln lasse, ohne dagegen aufzumucken, dann sind meine blauen Flecken vielleicht bis nächste Woche zum Schulausflug nicht mehr zu sehen. Wie kann ich meine jüngeren Geschwister beschützen? Ob wir morgen noch am Leben sind?«

Ein Kindheitstrauma kann bewirken, daß Aspekte des kindlichen Ichs in bestimmten Entwicklungsstadien steckenbleiben. Als der kleine Georgie die ersten Schritte machte, konnte seine Mutter die Ablösung nicht ertragen. Was würde passieren, wenn das Kind sie verließ - einfach losmarschierte -, wie ihr Mann das immer tat? Ihre Prügel hemmten einen normalen Entwicklungsprozeß, den Kleinkinder durchmachen, nämlich fortlaufen und stolz darauf sein. Der Konflikt blieb in Georges Erwachsenenleben bestehen, in seiner Unsicherheit, Sandy zu lieben und ihr gleichzeitig Freiräume zu gewähren.

Nachdem das kindliche Ich implodiert ist, übernimmt der <kleine Erwachsene> zu dem das Opfer geworden ist, Aufgaben, die für wirkliche Erwachsene bestimmt sind. Da die entwicklungsspezifischen Aufgaben der Kindheit unterdrückt oder gehemmt wurden, muß der Betroffene nun Riesensprünge nach vorne machen. Ein sexuell mißbrauchtes Kind muß lernen, mit seinen Gefühlen der Erniedrigung und des Ausgeliefertseins umzugehen, die eine erste sexuelle Penetration bei ihm hervorrufen. Das Kind von gestörten Eltern lernt, seine eigenen zärtlichen Bedürfnisse den Wünschen der Eltern zu opfern, entweder als stellvertretender Geliebter oder als Sündenbock. Um zu überleben, muß das Kind die Illusion von Selbstsicherheit annehmen in einem Alter, in dem Abhängigkeit notwendig und gesund ist; das Kind wird gezwungen, »in ungenügender Form selbstgenügsam zu sein«.4)

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Viele Mißbrauchsopfer müssen ihre kindlichen Eltern und manche auch noch Geschwister betreuen; sie werden >kleine Ehemänner und kleine Ehefrauen< und <kleine Väter und kleine Mütter>. Das ist in >verkehrten Familien< so. 

In einer Familie, die relativ frei von chronischem Trauma ist, kümmern die Eltern sich um das emotionale und körperliche Wohlbefinden der Kinder. In einer Familie mit chronischem Trauma dreht das Familienleben sich um Erwachsene oder um die Übeltäter, nicht um das Kind. Das Kind wird nicht beschützt und nicht gefördert.

Dieser Rollentausch zerstört eine gesunde Kindheit in zweifacher Hinsicht. Viele Befragte meiner Studie mußten wie Jenny in ihrer Kindheit schwere Aufgaben im Haushalt übernehmen. 

»Ich erinnere mich noch heute an das Gefühl des Grauens, wenn ich die näherkommende Staubwolke auf der Landstraße sah. Das bedeutete, mein Vater kam nach Hause. Er spionierte meiner Mutter nach, die als Kellnerin in einer Fernfahrerkneipe arbeitete. Er war krankhaft eifersüchtig und fest davon überzeugt, sie betrügt ihn, wenn er nicht aufpaßt. Und ich mußte die ganze Arbeit auf der Farm machen und meine kleineren Geschwister versorgen. Jeden Morgen mußte ich die Käfige der fünfhundert Legehühner säubern, sie füttern, die Eier einsammeln und ein Dutzend Kühe melken, bevor ich mich mit meinem kleinen Bruder und meiner kleinen Schwester auf den Schulweg machte. Einmal ließ ich den Hühnerstall versehentlich offen; eine Kuh kam rein und fraß das Hühnerfutter. Wir waren zu arm, um das fehlende Futter nachzukaufen, die Kuh vertrug das Zeug nicht und wäre fast eingegangen. Mein Vater schlug mich, bis ich die Besinnung verlor. Ich war neun Jahre alt.«

Daryl war zehn, als die Streitigkeiten seiner Eltern wegen der Trinkgewohnheiten meines Vaters so gewalttätig geworden waren, daß die Mutter mit Daryl und seiner kleinen Schwester Shirley mitten in der Nacht das Haus verließ. Daryl erinnert sich:

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»In den nächsten fünf Jahren setzte ich mich jeden Tag nach der Schule mit meiner Mutter zusammen, und wir sprachen alle wichtigen Dinge durch — die Erziehungs­maßnahmen für Shirley, die nur ein Jahr jünger war als ich, wie wir das bißchen Geld besser einteilen konnten, was ich von dem Mann hielt, mit dem sie gerade ausging. Ich bin jetzt siebenundvierzig Jahre alt und ein überzeugter Junggeselle. Die Ehe hat für mich nichts Romantisches oder Geheimnis­volles — ich weiß, wie schwer das Zusammenleben zweier Menschen ist

Elaines Vater hatte mehrere Herzanfälle, als sie noch klein war. »Mit zwölf mußte ich meine Mutter ins Krankenhaus fahren. Irgendwie kriegte ich es hin, den Wagen zu lenken. Mein größtes Problem war, meine Mutter ruhig zu halten. Sie schrie und jammerte, was aus uns werden sollte, wenn er stirbt. Sie war völlig hysterisch und ich hatte ständig Angst, sie faßt mir ins Lenkrad und wir haben einen furchtbaren Unfall.«

Für manche war die Aufgabe der Elternbetreuung nicht von Dauer. Thelma empfand das Chaos besonders schmerzlich. »Einmal wurde ich mit Hühnerbrühe gefüttert, geküßt und gehätschelt, weil ich krank war, und am nächsten Tag war ich zwar immer noch krank, aber ich rannte im Haus herum und leerte Wodkaflaschen in den Ausguß. Mit fünf konnte ich die Polizei anrufen — und habe es oft genug getan. Von einem Tag auf den anderen wußte ich nicht, wo ich stand.«

Kein Wunder, daß viele Überlebende darüber klagen, sie kommen sich unglaubwürdig vor. In einem Lebensbereich, etwa im Beruf oder ihrer Fürsorge um andere, sind sie ihren Jahren voraus. Und gleichzeitig fühlen sie sich in einem anderen Bereich — möglicherweise in der Fürsorge um die eigene Person in emotionaler oder körperlicher Hinsicht — hilflos und unfähig.

Amy kommt sich vor wie eine Hochstaplerin, wie ein »Rettungsschwimmer an einem überfüllten Badestrand, der nicht schwimmen kann und niemandem etwas davon zu sagen wagt aus Angst, es könne eine Panik unter den Badegästen ausbrechen«.

Jake sieht sich als »Kartenhaus: man kann daran weiterbauen, wenn man den obersten Teil vorsichtig berührt, aber wehe, wenn man das wackelige Fundament anfaßt! Dann bricht alles zusammen«.

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Lernt das einstige Mißbrauchsopfer andere kennen, schämt es sich wegen seiner schlecht organisierten Entwicklung. Da der Betroffene nicht möchte, daß andere seine Unglaubwürdigkeit durchschauen, hält er sie sich auf Armeslänge vom Leib, sie dürfen nur die schöne Verpackung bewundern, aber nichts erfahren von dem Kind, das in seinem Innern tobt und herausgelassen werden möchte.

 

    Die Eltern in uns   

 

Ebenso wie wir ein Kind in uns haben, leben unsere Eltern in uns. Unsere Familie begleitet uns, wohin wir auch gehen, wie uns folgende Geschichte deutlich veranschaulicht: Eine junge Frau lädt Freunde zum Abendessen ein. Man ist in der Küche versammelt und alle sehen zu, wie sie die obere Fettschicht eines Schinkenstücks abschneidet, bevor sie es ins Backrohr schiebt. »Was machst du da?« rufen sie. »Der Braten trocknet doch aus!« Die junge Frau ist verwirrt. »Wieso, was mach' ich denn falsch? So wird ein Schinken gebraten. Das hat meine Mutter mir beigebracht.«

Bald darauf besuchte sie ihre Mutter und erzählte ihr von der Reaktion ihrer Gäste. Die Mutter konnte das auch nicht verstehen. »Was haben die bloß? Du hast es richtig gemacht. So brät man einen Schinken. Deine Großmutter bereitete ihn schon so zu, als ich noch ein kleines Mädchen war.« Die Neugier der Mutter war geweckt und beim nächsten Besuch der Großmutter trug sie ihr die Geschichte vor.

»Also, das war so«, antwortete die Großmutter, »wir hatten damals einen der ersten elektrischen Küchenherde, und das Rohr war ziemlich klein. Die meisten Bratenstücke paßten nicht rein, und ich mußte die obere Fettschicht vom Schinken abschneiden, damit er reinpaßte.«

 

Jeder von uns denkt, fühlt und verhält sich unweigerlich in gewisser Weise so, wie unsere Eltern gedacht, gefühlt und sich verhalten haben, ob wir uns das eingestehen oder nicht. Das Vermächtnis reicht von der Zubereitung eines gebratenen Schinkens über Verhaltensweisen, wenn wir uns hilflos fühlen, bis zu unserem Vertrauen in andere Menschen. Die Bewußtheit dieses Vermächtnisses bestimmt zum Teil, welche einstigen Opfer als Erwachsene gut zurechtkommen und welche von ihnen die Gewalt auf die nächste Generation übertragen, ohne darüber nachzudenken.

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Manche sind sehr schnell dabei, andere zu beschuldigen. »Du benimmst dich wie meine abweisende Mutter«, sagen sie, oder: »Du erinnerst mich sehr an meinen pflichtvergessenen Vater«; sie zeigen mit dem Finger auf andere, um davon abzulenken, wie sehr sie selbst in ihrem Verhalten ihren Eltern nacheifern.

 

Es gibt die Geschichte von dem Mann, der nachts auf Händen und Füßen unter einer Straßenlaterne herumkriecht. Ein Passant bleibt stehen und fragt ihn, was er denn da mache. Der Mann antwortet: »Ich habe meinen Schlüssel im Haus verloren und die suche ich jetzt.« »Aber wenn Sie die Schlüssel im Haus verloren haben, warum suchen Sie dann hier draußen?« Der Mann entgegnet völlig selbstverständlich: »Weil hier draußen mehr Licht ist.«

Vielleicht gibt es draußen >mehr Licht<, aber das Haus bleibt verschlossen und dunkel, und der Schlüssel ist meist drin. Viele Befragte sagten mir, daß ihre erste Bewußtmachung des Elternteils in ihnen unerträglich schmerzvoll war. Das ist der Grund, warum viele Opfer als junge Erwachsene >den Boden unter den Füßen verlieren<. In der Problemfamilie war der >Feind< deutlich außerhalb des Selbst, den man meiden, konfrontieren, manipulieren oder dem man schmeicheln konnte. Wenn Überlebende sich von der Familie trennen, wird ihnen vielleicht zum ersten Mal der >Feind im Innern< bewußt. Sie glauben, endlich frei von Mißbrauch und Vernachlässigung zu sein, und stellen erschrocken fest, daß sie sich zu mißbrauchenden oder kalten Menschen hingezogen fühlen oder ihren Zerstörungswillen gegen sich selbst richten.

Ihr erster Impuls ist, ihren alten >Wintermantel< wieder hervorzuholen. Doch sie stellen fest, daß er nicht mehr paßt — die Flucht in die Krankheit, Tüchtigkeit, Kriminalität, Passivität — oder wie ihre Selbstschutzmaßnahme auch immer aussah — kann sie nicht länger vor Gefahren bewahren. Wieso reagieren andere Menschen jetzt anders als ihre Familie auf die gleichen Verhaltensweisen? Versagen. Niederlage. Was früher funktionierte, klappt nicht mehr, aber sie wissen nicht, was sie sonst tun sollen.

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Rob meint: »Es ist für mich wichtig zu wissen, welche Entscheidungen bei meinen Eltern lagen und welche nicht — mit dem Trinken aufhören, Hilfe holen, Gewalt aus dem Wege gehen, nicht so viele Kinder in die Welt zu setzen — weil ich weiß, daß solche Entscheidungen irgendwann auch auf mich zukommen.«

Glen würde dem zustimmen. Als er fünfundzwanzig Jahre alt war, wehrte seine Mutter sich schließlich gegen seinen Vater, der sie körperlich mißhandelte. »Er brach in ihre Wohnung ein und versuchte sie umzubringen, indem er Gas in die Wohnung strömen ließ und dann ein Streichholz anzündete. Der Anschlag mißlang. Sie zeigte ihn wegen versuchten Mordes an. Ich war in jeder Verhandlung im Gerichtssaal und versuchte, beiden zu helfen. Nach der Vorverhandlung eröffnete ihm sein Anwalt, daß er sich auf eine Gefängnisstrafe gefaßt machen müsse, die Sache sehe nicht gut für ihn aus. In dieser Nacht erschoß er sich. Das war der Wendepunkt in meinem Leben. Ich war Lehrer an einer High School und mein Gehalt reichte kaum, um meine Frau und meine Tochter zu ernähren. Einige meiner Freunde waren Buchmacher und ich wettete häufig bei Pferderennen. Damals in Chicago wurde kein einziger Buchmacher festgenommen, und ich trug mich schon mit dem Gedanken, meinen Lehrerberuf an den Nagel zu hängen und in das Buchmachergeschäft einzusteigen. Ich hatte damals 20 Kilo Übergewicht, nahm ständig zu und trank jeden Abend. Beim Begräbnis meines Vaters sagte ich zu mir, Glen, du hast alles von ihm — Zwangsverhalten, Kriminalität, Übergewicht und das Saufen — du gehst den gleichen Weg wie er und endest wie er. Jetzt brauchst du nur noch eine Kanone.« Glen hörte auf zu wetten und zu saufen und begann Sport zu treiben. An diesem Tiefpunkt angekommen, entschloß er sich auch zur Therapie. Zwei Jahre später gab er seinen Lehrberuf auf und ist seitdem als Drogen- und Alkoholberater tätig.

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Vinnies internalisierter Elternteil taucht in seinen Träumen auf. »Meine Mutter hatte nicht viel Zeit, sich um uns zu kümmern, da sie alle Hände voll zu tun hatte, mit der Sauferei und den Gewaltausbrüchen meines Vater fertig zu werden, meinen todkranken Bruder zu pflegen und der ganzen Nachbar­schaft mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Wir Kinder mußten uns alle ihre Aufmerksamkeit, Zuneigung, ja sogar einen Platz zum Schlafen erkämpfen. Mein Bett gab sie oft einem Kind von der Straße, und ich mußte auf der Couch schlafen. Aber ihr Martyrium machte mich auch wütend, weil ich wußte, es gibt eine andere Seite. Sie verlangte eine hohe Belohnung für das, was sie anderen gab. Sie hatte einen Luxus­geschmack, der nicht zu ihrem schmalen Geldbeutel paßte, und war oft verbittert darüber, daß sie es im Leben nicht weiter gebracht hatte.

Ich habe einen immer wiederkehrenden Traum. Ich bin ein kleiner Junge und fahre mit dem Rad. Da entdecke ich ein Bündel Dollarnoten in einer leeren Konservendose. Ich bleib stehen, bück' mich, um das Geld an mich zu nehmen, da sehe ich aus den Augenwinkeln eine alte, böse Hexe. Wir schauen uns an. Dann schauen wir beide auf die Dose. Wir sind beide voller Gier. Das geht ewig so weiter, hin und her. Ich weiß, daß ich in diesem Traum meine Mutter bin.«

 

Viele sprachen mit Verwandten oder direkt mit ihren Eltern, um das gestörte Verhalten ihrer Eltern besser zu verstehen. Es gibt keine Entschuldigungen, ein Kind zu mißhandeln oder zu vernachlässigen, aber viele Überlebende fanden Erklärungen in der Geschichte ihrer Eltern, die ihnen halfen, sich nicht nur von ihrer Wut zu befreien, sondern auch zu vermeiden, den gleichen Weg einzuschlagen.

Ritas Vater erhielt eine Auszeichnung wegen seiner Verwundung in der Schlacht von Anzio im Zweiten Weltkrieg. »Bei der Einberufungsstelle machte er sich älter, als er war, wurde angenommen und schickte fast seinen ganzen Sold seiner verwitweten Mutter. Wenn er mich schlug, brüllte er mich an: >Sei ein guter Soldat. Nimm es wie ein Mann.< Ich glaube nicht, daß er wußte, wo er war oder was er tat. Als ich das begriff, festigte sich mein Wille, mich wegen meiner posttraumatischen Belastungsstörung in Behandlung zu begeben.«

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Laura wuchs auf »mit Horrorgeschichten über meinen Großvater, der meine Mutter mißhandelte. Einen Vorfall erzählte meine Mutter besonders häufig: Sie war sechzehn und kam von einem Rendezvous mit einem Jungen nach Hause. Sie blieb noch eine Weile an der Gartentür stehen und plauderte mit dem jungen Mann. Kurze Zeit später, als sie das Badezimmer benutzte, stürmte mein Großvater herein und schlug sie mit einem Gürtel, weil er glaubte, sie treibe es mit dem Jungen im Badezimmer.

Sie schlug meine Genitalien und das war beinahe eine perfekte Wiederholung der Szene mit meinem Großvater. Obwohl ich die Machtdynamik verstand — jetzt war sie der mächtige Täter und nicht mehr das hilflose Opfer — so begriff ich nicht, daß sie einerseits zwanghaft an ihre eigene Geschichte dachte und sie andererseits an mir wiederholte.

Vor ein paar Jahren sprach sie öfters von ihrer Großmutter, die sie jeden Sommer gern besuchte. Mit großem Vergnügen erzählte sie mir die Geschichte, als sie mit dreizehn mit ihrem kleinen Cousin in die Scheune ging, um im Heu zu lesen. Den Kindern war der Aufenthalt dort streng verboten, weil es so viel Ungeziefer gab. Natürlich kamen meine Mutter und ihr Cousin voller Ungeziefer nach Hause. Ihre Groß­mutter schlug sie mit einem Gürtel, als sie nackt in der Badewanne stand. Meine Mutter lachte darüber. Ich sagte, ich finde die Geschichte sehr traurig, daß man kein Kind schlagen dürfe, und schon gar nicht auf so sexuell demütigende Weise. Meine Mutter reagierte voll Abwehr, sagte, sie habe diese Prügel verdient und ihre Großmutter habe sie sehr gern gehabt.

Mir wurde einiges klar. Meine Mutter sah keineswegs etwas grundsätzlich Schlechtes daran, ein Kind zu schlagen. Ihrer Meinung nach gibt es gute und schlechte Gründe, ein Kind zu schlagen. Und es gibt gute und schlechte Menschen, die Kinder schlagen. Sie und ihre Großmutter waren gute Menschen mit guten Gründen, Kinder zu schlagen. Ihr eigener Vater war ein schlechter Mensch mit schlechten Gründen, sie zu schlagen. Sie konnte die Gemeinsamkeit oder die Gestörtheit der Verhaltensweisen nicht begreifen. Als mir klar wurde, wie verdreht ihre Denkweisen waren, verlor ich ein wenig meine Verwirrung und Angst vor ihr. Ich sah sie als sehr traurigen, kaputten Menschen. Und das bringt mir meine eigenen verzerrten Denkweisen näher.«

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Viele Überlebende versuchen vergeblich, ihre Eltern zu verändern, aus ihnen liebevolle, nüchterne, gesunde, sanfte Menschen zu machen oder sie dazu zu bringen, das Böse, das sie anderen zugefügt haben, zu bereuen. Ihre Bemühungen sind in den meisten Fällen vergeblich oder, wie mein Kollege Phil Oliver-Diaz sich ausdrückt: »Sie versuchen ein Kaninchen in ein Eichhörnchen zu verwandeln.« Aber es gibt Möglichkeiten, die Eltern zu verändern, auf die es wirklich ankommt — die Eltern in uns.

 

Natürlich sind wirkliche Eltern (oder die Eltern in uns) nie völlig böse, ebensowenig wie ein wirkliches Kind (oder das Kind in uns) völlig böse ist. Und obgleich manche Überlebende zu einem Schwarz-Weiß-Denken neigen, war den von mir Befragten klar geworden, daß sie positive Eigenschaften von ihren Eltern übernommen haben, daß sie in mancher Hinsicht wie ihre Eltern waren.

Janets Vater unterhielt im Keller einen Spielsalon; als kleines Mädchen bediente Janet an der Bar. »Er war ein sehr witziger Geschichtenerzähler«, sagt sie, »und er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. In dieser Beziehung bin ich wie er, und deshalb bin ich eine gute Rednerin.«

George berichtete mir: »Die Passivität meines Vaters hat mir gute Dienste geleistet. Ich kann mich hinsetzen und eine Situation von allen Seiten beleuchten, während die Menschen in meiner Umgebung sich gezwungen fühlen zu reagieren. Der Unterschied besteht darin, daß ich schließlich eine Entscheidung treffe, im Gegensatz zu ihm, aber seine Sanftheit war wunderbar.«

Glen überlegt: »Ich glaube, ich hatte weniger Depressionen als andere Menschen, die aus ähnlichen Familienverhältnissen kommen, weil ich ähnlich explosiv und aufbrausend wie meine Eltern war. Diese Eigenschaft hat mich oft in Schwierigkeiten gebracht, und ich mußte daran arbeiten, aber es würde mir nie in den Sinn kommen, mich zurückzuziehen oder von dem Menschen zu isolieren, auf den ich wütend bin. Ich lasse die Menschen wissen, daß ich wütend bin. Ich denke, ich verarbeite die Dinge heute besser. Es hat mich natürlich Jahre gekostet, bis ich lernte, meine Wut konstruktiv zum Ausdruck zu bringen.«

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Kurz vor Weihnachten durchsuchte die achtjährige Janet alle Schränke nach Weihnachtsgeschenken. »Ich hatte immer geglaubt, mein Vater sei ein Mensch, der alles Lebendige nicht mochte. Er mochte keine Kinder, und wir durften keine Tiere oder Pflanzen im Haus haben. Er war so gewalttätig — zu Hause und in seinem Beruf als Gefängniswärter. Und plötzlich fand ich in einem Schrank versteckt Zeichenblöcke — wunderschöne Kohlezeichnungen, die mein Vater gemacht hatte, von Pflanzen und Tieren und Landschaften. Sie waren liebevoll gezeichnet — er war hochbegabt.« Janet studierte Bildhauerei im College und setzte sich später sehr für die Förderung der schönen Künste ein. »Ich versuchte anderen zu helfen, ihre Begabungen zu fördern, was ihm verweigert war.«

Janet erkennt eine Wende in ihrem Heilungsprozeß, die viele andere ehemalige Opfer bestätigen: »Als ich akzeptierte, daß er mehr war als nur ein Mann, der seine Familie verprügelte, konnte ich akzeptieren, daß ich mehr war als nur ein Opfer.«

 

    Versöhnung   

 

Ein ehemals Mißbrauchter, der andere betreute und dabei seine eigene Kindheit versäumte, empfindet die Aufgabe, noch einen verletzten Menschen zu betreuen — das Kind in seinem Innern — als schreckliche Last, das Letzte, wozu er Lust hat. George erinnert sich: »Als Sandy anfing, über dieses >verletzte Kind< in mir zu sprechen, hätte ich mich am liebsten übergeben. Ich fand das beleidigend — ich bin erwachsen. Aber durch meinen Traum, in dem ich mit meinem >besten Freund< spielte und weil ich einfach zuließ, daß dieses traumatisierte Kind in mir sprechen durfte, habe ich ein fehlendes Stück von mir gefunden. Jetzt empfinde ich die Betreuung nicht mehr als Last. Ich war ein ziemlich niedliches Kind und ich bin froh, daß ich mich gefunden habe. Nein, es ist anders, als mich um meine Mutter zu kümmern. Es ist eine Eltern-Kind-Versöhnung, eine Wiedersehensfeier. Es ist der einzige Weg, den ich kenne, um mit mir ins reine zu kommen.«

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Jeder Überlebende hat die Gelegenheit und die Verantwortung, um dem Kind in seinem Inneren ein guter Vater oder eine gute Mutter zu sein. Der Psychotherapeut Nicholas Etcheverry führt uns vor Augen, daß eine solche >Einzel­elternschaft< die Hilfe anderer Menschen nicht ausschließt. Wir können lernen, für uns selbst >genügend gute Eltern< zu sein, wenn wir zulassen, daß andere uns helfen, unsere Erwachsenenbedürfnisse zu erfüllen und uns um das Kind in uns zu kümmern.

Jake suchte nach Worten, um seinem Freund Bill zu erklären, wie verletzt er von der Kritik eines Kollegen an seiner Arbeit war. Bill entgegnete: »Du hast also eine Schlappe einstecken müssen.« Das Kind in Jake hörte diese Bemerkung ebenfalls: »Ich wußte damit nicht nur, daß Bill begriff, was ich sagte, er half mir, weil er eine neue Bezeichnung dafür fand!«

Beth läßt zu, daß ihre Freunde sie an ihrem Geburtstag feiern. Das fällt ihr schwer, da sie als Kind nie eine Geburtstagsparty feiern durfte, und sie weiß nicht recht, wie sie sich verhalten soll. Sie ging zunächst zu Geburtstagsfesten anderer Leute und registrierte alles ganz genau, bevor sie zuließ, daß man ihren eigenen Geburtstag feierte. Heute kann sie es dulden und sogar Freude daran haben, einmal im Jahr der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein.

Vielleicht hatte Tom Robbins recht, als er sagte: »Es ist nie zu spät, um eine glückliche Kindheit zu haben.«

 

Sobald eine Eltern-Kind-Versöhnung in Gang gesetzt ist, muß jeder der vorangegangenen Schritte des Heilungsprozesses erneut getan werden — diesmal für das Kind im Innern und nicht für den Erwachsenen. Die Heilung kann erfolgen durch Lektüre über Erziehung; durch Beobachtung, wie >genügend gute< Eltern mit ihren Kindern umgehen; sowie durch Information über die Bedürfnisse eines Kindes in den verschiedenen Entwicklungsstadien. An diesem Punkt sucht und findet ein Überlebender häufig Trost in Kinderbüchern. Das ist eine sehr hilfreiche Form der Regression zur klaren Wahrheitsfindung.

 

Tiefere Gefühlsschichten und Trauer werden ans Tageslicht befördert, wenn das innere Kind sich daran erinnert, wie furchtbar das Trauma wirklich war, statt sich darauf zu fixieren, wie ungerecht es war. Frei von Erwachsenenurteilen sind diese tieferen Schichten der Trauer rein und geläutert.

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Die Eltern-Kind-Versöhnung weckt auch den Körper. Stellen Sie sich vor, Sie sind die Mutter oder der Vater eines achtjährigen Kindes, das vor kurzem traumatisiert wurde. Würden Sie diesem Kind am Morgen eine Tasse Kaffee und um zehn Uhr abends ein Stück kalte Pizza vorsetzen und nichts zwischendurch? Hätten Sie nichts dagegen, wenn das Kind eine Packung Zigaretten raucht, sechs Diät-Cokes am Tag trinkt und mitten in der Nacht den halben Kühlschrank leer ißt? Wenn es nachts nur vier Stunden schläft und am Tag zwölf Stunden ohne Unterbrechung am Schreibtisch sitzt, ohne frische Luft zu schnappen und ohne irgendeine sportliche Betätigung? Würden Sie ihm ein paar Drinks anbieten oder Pillen, >zur Entspannung nach einem anstrengenden Tag<? Hoffentlich nicht.

Das aber sind nur einige Formen, wie die Eltern in uns den Körper schädigen und vernachlässigen, den sie mit dem Kind in uns teilen. Wer seinen Körper besser achtet und pflegt, kann vermutlich bald wieder lachen, normalisiert seine ausgebeutete Sexualität und bekennt sich zu seinen mißachteten Talenten.

 

Das Ziel der inneren Eltern-Kind-Versöhnung sollte in der Integration liegen, nicht darin, das Selbst als Flickwerk unterschiedlicher oder widersprüchlicher Teile oder Menschen wahrzunehmen, da dies zu Identitätsproblemen führen kann. Terry Kellog spricht davon, daß manche Überlebende einen >Fanatismus des Kindes im Innern< dazu benutzen, um unverantwortliches Verhalten zu rationalisieren: »Kürzlich leitete ich einen Workshop, in dem ich Sätze hörte wie: >Das Kind in mir bekam einen Wutanfall< oder >Der gewalttätige Vater in mir machte den Mann an der Rezeption im Hotel fertig, weil er meine Reservierung verschlampt hat< oder >Meine mich vernachlässigende Mutter rastet völlig aus, wenn jemand sich vor mir in die Schlange einreiht. < Und ich frage mich, wer sind diese Menschen? Springen sie aus einer Westentasche, machen diese Szenen und springen wieder an ihren Platz zurück?«5

Andere Überlebende übertragen die Verachtung, die sie einst für das traumatisierte Kind in ihrem Innern empfanden auf den Pseudo-Erwachsenen, und geben seinem Charakter die Schuld an all ihren Problemen. Wenn sie sich bloß immer wie ein Kind verhalten dürften, das nach Lust und Laune Wutausbrüche hat und Eis essen darf, dann würden sie bald geheilt sein.

Sie begreifen nicht, daß das Problem beim >Pseudo-Erwachsenen< der >Pseudo<-Teil ist, nicht der >Erwachsene<. Was im Alter von fünf Jahren >pseudo-erwachsen< war, kann im Alter von fünfunddreißig bewundernswert und richtig sein.

Der kleine Georgie vermittelte George durch die Versöhnung neue Spontaneität, neue Natürlichkeit und einen neuen Sinn für Geselligkeit. Dabei ist George seiner erwachsenen Vernunft, seinem Fleiß und seiner Fähigkeit, um Hilfe von außen zu bitten, wenn er sie braucht, treu geblieben. Er hat diese Elemente in seine Meinung über sich selbst eingebracht und hörte auf, sich >wie ein Schwindler< vorzukommen.

In Arthur Millers Theaterstück <Nach dem Sündenfall> erzählt Holga ihrem Geliebten Quentin von ihrer Internierung in einem Nazi-Konzentrationslager und den Jahren danach. Er bewundert sie und fragt: »Wie kannst du so zielbewußt sein? Du bist so voller Hoffnung!« Sie antwortet:

Ich halte es für falsch, Hoffnungen außen zu suchen... Ich hatte einen Traum, der jede Nacht wiederkehrte, bis ich nicht mehr wagte, einzuschlafen und krank wurde. Ich träumte, ich hatte ein Kind, und mir war im Traum klar, daß dieses Kind mein Leben war, und es war schwachsinnig und ich rannte weg. Aber es krabbelte immer wieder auf meinen Schoß und hing mir ständig am Rockzipfel. Bis ich dachte, wenn ich dieses Wesen, das ja zu mir gehörte, küssen könnte, könnte ich vielleicht wieder schlafen. Und ich beugte mich über sein jämmerliches Gesicht und es war gräßlich... aber ich küßte es. Ich denke, man muß irgendwann sein Leben in seine Arme schließen, Quentin.6

Viele Menschen sehnen sich nach Intimität, wollen einander umarmen oder umarmt werden. In unserer hektischen Suche erkennen wir oft nicht, wie wunderbar es ist, <unser Leben in die Arme zu schließen>.

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