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 3. Staatliche Kirchenpolitik in Zwickau in den 80er Jahren 

Abkürzungen    Böttger   Henrich

  5) Stephan Krawzyck    6) Konziliarer Prozess    7) Neues Forum 

  

   5)   Krach um Krawczyk  

68-85

Der Sozialfürsorger der sozialdiakonischen Arbeit bei der Inneren Mission, Frank Kirschnek, hatte im Herbst '87 den Liedermacher Stephan Krawczyk und dessen Frau Freya Klier eingeladen, im Rahmen der regelmäßig am ersten Sonnabend eines Monats stattfindenden Jugendveranstaltung "Liederbuch" mit ihrem Brecht-Programm in den Kellerräumen der Lutherkirche aufzutreten. Was im März 1986, als Krawczyk letztmalig im Zwickauer Lutherkeller aufgetreten war, noch möglich war, sollte im November 1987, wenige Tage vor der Durchsuchung der Umwelt-Bibliothek in der Ostberliner Zionsgemeinde durch Staats­anwaltschaft und MfS, um jeden Preis verhindert werden. 

Seit Jahren schon war Krawczyk den Staatsorganen ein Dorn im Auge gewesen und im August 1985 mit landesweitem Berufsverbot belegt worden.230) Seine Bemühungen, wenigstens in kirchlichen Räumen auftreten zu können, hatten das Problem um seine Person zu einem Konfliktherd zwischen Staat und Kirche werden lassen, der mit jedem Auftritt neu zu einer Kraftprobe zwischen örtlichen Staatsvertretern und Gemeindepfarrern geworden war und zunehmend an Schärfe gewonnen hatte.

Als nun das geplante Auftreten Krawczyks wenige Tage vor dem geplanten Termin den örtlichen Staats­organen bekannt wurde, löste dies sofort eine Reihe von Maßnahmen aus, um den Brecht-Abend des Künstlerpaares am 7. November zu verhindern. Zunächst ließ der Oberbürgermeister, am Superintendenten vorbei, dem nichtsahnenden Pfarrer der Lutherkirche eine Gesprächseinladung für den 2.11. um 16.00 Uhr überbringen, ohne daß ihm jedoch im Vorfeld der Grund dieses Gesprächs genannt worden wäre. Auch wurde die Anwesenheit des gesamten Kirchenvorstandes gefordert. Man beabsichtigte, den Pfarrer, im übrigen CDU-Mitglied, und den Kirchenvorstand über die "staatsfeindliche Position" Krawczyks aufzuklären, dem Vorstand die Unverantwortbarkeit eines Auftritts vor Augen zu führen und auf eine Verhinderung durch die Gemeindeleitung zu drängen.231

Der zuvor abwesende Superintendent erfuhr am Vormittag des 2. November von seinem irritierten Pfarrer von dem anberaumten Gespräch und wandte sich sofort an den Mitarbeiter für Kirchenfragen, um gegen diese völlig unübliche Vorgehensweise zu opponieren und dem Oberbürgermeister ausrichten zu lassen, wenn bis Mittag kein Grund bekanntgegeben würde, könne ein Gespräch nicht stattfinden, schon gar nicht nähme der ganze Kirchenvorstand daran teil. 

229)  StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 110499 (nicht paginiert).

230)  Vgl. dazu: Klier, Freya, Abreißkalender. Ein deutsch-deutsches Tagebuch, München 1988, S. 113-115. 

231)  Vgl. STAZ, Rat der Stadt Zwickau/OB, 3017, Bl. 80.

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Um 12.30 Uhr teilte der OB dem Superintendenten den Gesprächsgrund mit, nicht ohne ihm wiederholt zu bedenken zu geben: "Wenn Sie als Superintendent das Auftreten Krawczyks rückgängig machen und ihn ausladen lassen, ist kein Gespräch um 16.00 erforderlich. [...] wenn es doch zur Veranstaltung kommt, bleibt das nicht ohne Auswirkung."232

An diesem Beispiel läßt sich augenfällig demonstrieren, wie Staatsvertreter mit dem Mittel der vagen Drohung versuchten, ihre kirchlichen Gesprächspartner in Konfliktsituationen unter Druck zu setzen oder doch mindestens zu verunsichern, ohne dabei gesprächsgefährdende Sanktionen zu konkretisieren. Der Superintendent lehnte jedoch eine eigenmächtige Entscheidung ab, und das Gespräch wurde auf den 3.11. vertagt. Dort wurde keine Einigung erreicht,233 nachdem der OB das Angebot des Superintendenten abgelehnt hatte, durch eigene Teilnahme einen ruhigen Verlauf der Veranstaltung zu garantieren.

Am 4.11. gab der Superintendent auf einen Anruf des Referenten für Kirchenfragen hin zu verstehen, daß er Kirschnek beauftragt habe, Krawczyk abzusagen. Über die ausschlaggebenden Gründe kann letztlich nur spekuliert werden: eine Rolle hat sicher die Tatsache gespielt, daß auch Bischof, Landeskirchenleitung und Synode an der kirchlichen Berechtigung eines Brecht-Programms zweifelten.234

Zu allgemeiner Aufregung kam es nun, als Krawczyk und Klier, die das Absagetelegramm des Sozialfürsorgers nicht rechtzeitig erhalten hatten, am 7.12. in Zwickau eintrafen. Da sich auch vor Ort die späte Absage des Abends nicht herumgesprochen hatte, drängten sich bereits zahlreiche Jugendliche im Lutherkeller, als draußen Superintendent, Kirchenamtsrat, Gemeindepfarrer und Sozialfürsorger dem entsprechend konsternierten Künstlerehepaar die Absage der Veranstaltung überbrachten.

Im Ergebnis der, wenn man Freya Kliers Beschreibung folgen möchte, tumultartigen Szene — "stellen uns in den eisigen Wind und schreien uns an, eine halbe Stunde vielleicht"235) — fand schließlich auf Drängen Krawczyks der Brecht-Abend statt. Krawczyk hielt sich an das angekündigte Programm, die kirchlichen Amtsträger blieben vorsichtshalber und "waren von der Art der Darbietung, den wahrhaftigen Aussagen Brechts, die man schon gut verstehen konnte im Hinblick auf Probleme, die der Staat und die Gesellschaft hatten, angetan und haben ihm [Krawczyk] das nach dem Auftritt auch bescheinigt".236

232)  Ebd., Bl. 81.  

233)  Da Kellerräume der Lutherkirche an die Innere Mission vermietet waren, nahm Diakon Albrecht als Leiter der Inneren Mission an diesem Gespräch teil. 

234)  Vgl. zur Stellungnahme der Landeskirchenleitung gegenüber Krawczyk-Auftritten: StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 143954 (nicht paginiert). Mieth verwies im Gespräch darauf, daß er kurz vor dem geplanten Auftritt von Krawczyk in Zwickau an einer Versammlung von Superintendenten und Landeskirchenamt teilgenommen habe, wo Amtskollegen, in deren Kirchen Krawczyk bereits aufgetreten war, den Inhalt des Programms als einigermaßen unkirchlich bis antikirchlich beschrieben hatten, was sein Interesse am Zustandekommen des Auftritts nicht gerade erhöht haben dürfte. Vgl. dazu: Interview Mieth, S. 61.  

235)  Freya Klier, Abreißkalender, S. 232. 

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Dem Superintendenten, der kurz darauf unausweichlich zur Stellungnahme in den Rat bestellt wurde, gelang es nicht, die Funktionäre von der Unabwendbarkeit des Auftritts zu überzeugen trotz des Arguments, daß es bei einer beharrlichen Absage an Krawczyk zu mehr Unruhe gekommen wäre, als schließlich das Stattfinden des Brecht-Abends ausgelöst habe. Sie beharrten auf der Deutung eines Vertrauensbruchs, der das Verhältnis zwischen Staat und Kirche belaste; in der Vorlage für das Sekretariat der SED-Stadtleitung wurde diese Einschätzung schließlich in die Form gegossen: "Obwohl der Oberbürgermeister den Krawczyk als notorischen Gegner unseres Staates charakterisierte, ist dessen Auftritt von Superintendent Mieth nicht unterbunden worden. Er versuchte, sich dann mit einer fadenscheinigen Begründung zu rechtfertigen."237

Das Krawczyk-Intermezzo macht nicht nur deutlich, wie, unbeeindruckt von aller staatlichen Rhetorik über das angeblich so gute Verhältnis von Kirche und Staat, Oberbürgermeister und Superintendent in Zwickau über Jahre hinweg in jeder Einzelfrage immer wieder neu um ihre jeweilige Position gerungen haben. Hier zeigt sich auch, daß von etwas wie "Grundvertrauen"238 zwischen den Gesprächspartnern vor Ort keine Rede sein konnte. 

Doch neben dem Konfliktverhalten gegenüber dem Staat wird am Beispiel Krawczyks eine interessante Beobachtung zum Umgang der örtlichen Kirchenleitung mit Andersdenkenden deutlich: In der Vergangenheit hatte sich der Superintendent immer wieder schützend vor Initiativen aus dem kirchlichen Raum geschoben, auch wenn sie vom Staat als feindlich befunden worden waren. Im Grunde war es solchen Initiativen um ein konkretes, aus christlicher Ethik begründetes Anliegen gegangen und nicht um eine Kritik am Staat, auch wenn die Partei, wie bereits wiederholt angemerkt, jede eigenverantwortliche Initiative als Kritik an der Qualität ihrer Fürsorge für die Gesellschaft und damit letztlich als Infragestellung ihrer Legitimation begriff. 

 

236)  Interview Mieth, S.7. 

237)  StAC, SED-KL Zw./Stdt. 1709, Bl. 32.  

238)  Der Begriff des "Grundvertrauens" als Charakterisierung der Staat-Kirche-Beziehungen geisterte immer wieder durch die Gespräche von Staat und Kirche, nachdem er 1984 in einer Aussprache während der Tagung der Bundessynode in Greifswald von Bischof Hempel in Anlehnung an das Motto der sieben regionalen Kirchentage im Lutherjahr "Vertrauen wagen" gebraucht worden war. Mit großer Hartnäckigkeit wurde er fortan vor allem von Staatsfunktionären zur Untermauerung ihrer Erwartungen an die Kirche zitiert. Der Begriff hatte auf der Synode bereits zu scharfen Kontroversen geführt, in deren Ergebnis ihn die Synode auch nicht übernommen hatte; vgl. dazu: Schmid, Josef, Kirchen, Staat und Politik, S. 301. Hempel selbst äußerte sich 1996 im Gespräch mit Udo Hahn wie folgt zum Gebrauch dieses Begriffs: "Es war [...] ein Fehlgriff, eine Dummheit, weil es eine Illusion war. Es gab kein Grundvertrauen zwischen Staat und Kirche; es blieb all die Jahre bei dem ,Grundmißtrauen', zu dem die klassische marxistische Religionskritik aufgerufen hatte." Hahn, Udo, Annehmen und frei bleiben, Landesbischof i.R. Johannes Hempel im Gespräch, Hannover 1996, S. 60.

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In dem Moment, wo nun, wie im Falle Krawczyks, die Kritik am Staat an die Stelle des ethischen Anliegens trat und zudem auch noch von einem beträchtlichen Maß an Skepsis gegenüber der Kirche begleitet war, endete die Bereitschaft des Superintendenten sich als Person und als Amtsträger gegenüber den staatlichen Organen zu exponieren.

Doch mit dem Brecht-Abend war der Krach um Krawczyk in Zwickau nicht vom Tisch. Anfang Januar 1988 hatte die Berliner Staatsbürgerschaftsrechtsgruppe Ausreisewillige und Mitglieder verschiedener Oppositionsgruppen dazu angeregt, sich mit Losungen aus Luxemburg-Zitaten wie "Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden" oder "Der einzige Weg zur Wiedergeburt - breiteste Demokratie" an der alljährlichen propagandistischen "Kampfdemonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg" unter Beteiligung der SED-Führung am 17. Januar in Berlin-Friedrichsfelde zu beteiligen.

Während Mitglieder etlicher Gruppen eine Teilnahme ablehnten, um sich nicht mit dem Ausreiseanliegen der Staats­bürger­schafts­rechtsgruppe zu assoziieren,239) beschloß Krawczyk, die Demonstration dafür zu nutzen, mit einem Plakat auf sein Berufsverbot aufmerksam zu machen. Noch auf dem Weg zur Demonstration wurde er verhaftet. Mit ihm waren noch etwa 160 Menschen im Vorfeld der Veranstaltung festgenommen worden.240) In den darauffolgenden Tagen lief in vielen Orten der DDR,241) ausgehend von Berlin und angeregt durch einen Solidarisierungsappell Freya Kliers an westdeutsche Künstler,242) eine Solidarisierungswelle an, die weiter anschwoll, als am 25. Januar weitere Verhaftungen erfolgten, die diesmal auch Klier und einen Teil der Kernmitglieder der Initiative Frieden und Menschenrechte betrafen. In Zwickau fand am 27. Januar im Domgemeindehaus ein Gemeindeabend unter dem Motto "Markt der Möglichkeiten - Infos -Experimentelles Theater - Gespräche - Anregungen - Klamottenmarkt" statt.243

Im Verlauf dieser Veranstaltung, an der etwa 250 Leute teilnahmen, verlas der kirchliche Laienmitarbeiter Erwin Killat im Beisein des Superintendenten und des Dompfarrers ein Schreiben von Bischof Forck sowie einen selbstverfaßten "Tatsachenbericht" zu den "Berliner Ereignissen".244

 

239)  Zwischen Antragstellern und Oppositionellen war es vermehrt zu Spannungen gekommen; die Mitglieder oppositioneller Gruppen lehnten mit großer Mehrheit eine Ausreise ab; sie kämpften für die Notwendigkeit einer kritischen Kultur und gerade dies wurde durch Weggang unterhöhlt. Vgl. zu diesem Konflikt im Zusammenhang mit der Luxemburg/Liebknecht-Demo im Tagebuch von Freya Klier: "[...] was haben die Ausreiser mit Stephan [Krawczyk], Vera [Wollenberger] und Herbert [Mißlitz] zu tun? Wut kommt auf, wünsche die Ausreisegruppe zum Teufel - gebe ihr die Schuld, daß uns Mahnwachen diesmal untersagt werden." Klier, Freya, Abreißkalender, S. 266-267. 

240)  Vgl. dazu: Neubert, Ehrhart, Geschichte der Opposition, S. 696-697.  

241)  Vgl. dazu: Heydemann, Günther/Schaarschmidt, Thomas, Innenpolitische Voraussetzungen und Etappen der "Wende" in der DDR, in: Fischer, Alexander, Heydemann, Günther (Hg.), Die politische "Wende" 1989/90 in Sachsen, Weimar/Köln/Wien 1995, S. 45-70, hier S. 64-65.  

242)  Vgl. Klier, Freya, Abreißkalender, S. 270-271. 

243)  StAC, SED-KL Zw./Stdt. 1709, Bl. 32.

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Unter Berufung auf die Aufforderung des Berlin-Brandenburger Bischofs, in Protestschreiben ihre Solidarität mit Krawczyk, Klier und den anderen Inhaftierten auszudrücken und auf diese Weise die Arbeit der in dieser Sache eingesetzten kirchlichen Anwälte zu unterstützen, wurde im Anschluß daran eine Zwickauer Protestnote verlesen. In diesem Schreiben, das dem Generalsuperintendenten Krusche zugestellt werden sollte, wurde der Solidarisierung mit den Inhaftierten Ausdruck verliehen und deren sofortige Freilassung bei Verzicht auf weitere staatliche Sanktionen gefordert. Außerdem drängte man auf eine Rehabilitierung Krawczyks als Liedermacher. Das Protestschreiben schloß mit den Worten, "daß Zwickau voll und ganz hinter den Inhaftierten steht"245.

Im Laufe des Abends wurde zu Unterschriftensammlungen für die Inhaftierten aufgerufen, von Pfarrer Käbisch wurde symbolisch eine mit Stacheldraht umflochtene Kerze für die Betroffenen angezündet und diese wurden für die Zeit ihrer Inhaftierung in das Fürbittgebet eingeschlossen . Am 5.2. und 12.2. kam es zu weiteren Solidarisierungsveranstaltungen am Dom247.

Die ungerechtfertigte Verhaftung hatte die Auseinandersetzung um die Person Krawczyks plötzlich doch zu einem kirchlichen Anliegen werden lassen. Dem verschloß sich auch der Superintendent trotz aller geschilderten kritischen Distanz nicht, als es mit der Person zugleich um eine Gefährdung der zumindest formal im DDR-Recht garantierten Grundfreiheiten ging. Entsprechend trat er den Solidarisierungs­bekundungen nicht entgegen, sondern verantwortete sie vor Ort. War ihm im Vorfeld des Krawczyk-Auftritts die staatliche Erwartungshaltung unmißverständlich nahegebracht worden, so war doch durchaus noch ein gewisses Bemühen spürbar gewesen, es darüber nicht zur Konfrontation kommen zu lassen . Nur wenige Wochen später hatte sich der Ton drastisch verschärft. Man warf dem Superintendenten vor, er habe nicht nur zugelassen, daß man sich in Zwickaus Kirchen für "den Feind Krawczyk"249 einsetze, er habe sich auch noch durch seine persönliche Anwesenheit auf dem "Markt der Möglichkeiten" mit der dort verlesenen Protestnote identifiziert.

 

244)  Vgl. dazu: StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 122491 (nicht paginiert). Es ist davon auszugehen, daß Killat über die Vorgänge in Berlin bestens informiert war, da sein Schwiegersohn Martin Böttger zur Kerngruppe der Initiative Frieden und Menschenrechte gehörte und ab dem 20. Januar Mitglieder fast aller Gruppen zu Informationsaustausch und Koordinierung von Solidarisierungsmaßnahmen im Berliner Stadtjugendpfarramt zusammenkamen. Vgl. dazu auch: Neubert, Ehrhart, Geschichte der Opposition, S. 697.  

245)  StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 122491 (nicht paginiert).  

246)  Ebd.  

247)  StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 143958 (nicht paginiert).  

248)  Vgl. etwa die Bemerkung des Referenten für Kirchenfragen: "Trotzdem (sie!) es nicht zur Annäherung der Standpunkte kam, verlief das Gespräch sachlich." STAZ, Rat der Stadt Zwickau/OB, 3017, Bl. 83.  

249)  StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 122491 (nicht paginiert). 

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Seitenlange schriftliche Vorhaltungen waren die Folge, sie gipfelten in dem Resümee:

"Sie haben mit der Duldung dieses provokatorischen, sich gegen die verfassungsmäßigen Grundlagen der DDR richtenden, schmutzigen, unseriösen und der Verkündigung des Evangeliums konträr gegenüberstehenden <Marktes der Möglichkeiten> in ihrem Verantwortungsbereich dem Ansehen der Kirche in der DDR enormen Schaden zugefügt und das Verhältnis zwischen Staat und Kirche über Gebühr belastet."250

An diesem Beispiel wird deutlich, daß sich zwischen dem Krawczyk-Auftritt am 7.11.1987 und dem "Markt der Möglichkeiten" vom 27.1.1988 innerhalb nur weniger Wochen die Stimmung im örtlichen Staat-Kirche-Verhältnis grundlegend verändert hatte: War man in der Vergangenheit von staatlicher Seite aus immer bemüht gewesen, die Ebene des gemeinsamen Gesprächs bei allen Positionsunterschieden nicht nur nicht zu gefährden, sondern auch zu nutzen, um angebliche gemeinsame Interessen zu formulieren, so war nun eine krasse Frontstellung entstanden, in der man auch vor offenen Drohungen nicht mehr zurückschreckte.251

Diese Zuspitzung ist sicherlich im Zusammenhang mit den Ereignissen in Berlin zu sehen. Diese allein haben jedoch wohl keine hinlängliche Erklärungskraft für den schnellen Stimmungswechsel in Zwickau. Ein wesentlicher Grund für die hohe Reizbarkeit der Zwickauer Funktionäre wird wohl darin zu sehen sein, daß es zwischen Oktober 1987 und Januar 1988 zu Vorbereitungstreffen und schließlich, unter direktem Bezug auf den "Konziliaren Prozeß" und unter maßgeblicher Federführung des kirchlichen Laienmitarbeiters Erwin Killat, zur Gründung der Zwickauer "Friedensbibliothek" gekommen war. 

Von Mitgliedern dieser, in den staatlichen Akten damals noch als "Umweltbibliothek" bezeichneten Initiative war der entscheidende Impuls zur Solidarisierung mit den Berliner Inhaftierten ausgegangen. In diesem Anliegen verbanden sich die Initiatoren des Konziliaren Prozesses nun auf dem "Markt der Möglichkeiten" mit den bereits bestehenden Umwelt- und Antragsteller-Initiativen252 am Dom, die dort in den Augen der Staatsvertreter bereits für genügend Unruhe sorgten. In doppeltem Maße mußte, gerade nach den Berliner Ereignissen, die Gründung einer "Umweltbibliothek" die staatlichen Alarmglocken schrillen lassen . Zugleich mußte aber auch die Sammlung verschiedener kritischer Gruppierungen das tiefste staatliche Mißtrauen erregen, zumal der Auslöser dieses Zusammengehens ein 'Staatsfeind' wie Krawczyk war.

 

250)  Ebd. 

251)  Man behielt sich beispielsweise vor, den Superintendenten über das Landeskirchenamt disziplinieren zu lassen, falls er solche Veranstaltungen in der Zukunft nicht unterbinden würde. Vgl. ebd.  

252)  In welcher Form Ausreiseantragsteller am Dom eine Rolle spielten, wird im späteren Kapitel "Gruppen am Dom" eingehender erläutert werden.  

253)  Vgl. dazu im oben erwähnten staatlichen Schreiben an den Superintendenten: "Hier stellt sich die Frage, ob sich in Zwickau das nachvollziehen soll, was mit der sogenannten Umweltbibliothek in der Zionsgemeinde Berlin beabsichtigt ist. Eine Antwort darauf hat das bereits eingangs erwähnte provokatorische Auftreten der Herren Killat und Banitz gegeben [gemeint ist das Verlesen der Protestnote gegen die Festnahmen in Berlin durch Erwin Killat und eine anschließende Theaterszene von Jörg Banitz, die sich kritisch auf eine Rede Erich Honeckers bezog]." StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 122491 (nicht paginiert).

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    6)   Der Konziliare Prozeß in Zwickau  

 

Auf der 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1983 in Vancouver hatten die Delegierten aus der DDR angesichts der sich zunehmend verschärfenden weltpolitischen Lage den Antrag gestellt, zu prüfen, "ob die Zeit reif ist für ein allgemeines christliches Friedenskonzil, wie es Dietrich Bonhoeffer254 angesichts des drohenden 2. Weltkrieges vor 50 Jahren für geboten hielt".255

Auch wenn in der Folge der Begriff des "Konzils" umstritten blieb, so leitete die Weltkirchenkonferenz in Vancouver einen "konziliaren Prozeß gegenseitiger Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung"257 ein, der, wie vom Ökumenischen Rat der Kirchen 1984 beschlossen wurde, 1990 zu einer Weltkonferenz führen sollte. Dieser Gedanke wurde 1985 auf dem Düsseldorfer Kirchentag in Carl Friedrich von Weizsäckers Appell an die Kirchen der Welt, ein "Konzil des Friedens"258 einzuberufen, noch einmal wirksam verstärkt.

Das inhaltliche Anliegen des Konziliaren Prozesses war bereits im Antrag der DDR-Delegierten wie folgt beschrieben worden:

"Jesus Christus [...] ruft uns zur Umkehr aus der Gefangenschaft unter den Mächten des Todes in das Leben, das uns Jesus Christus schenkt, damit wir dem Leben der Mitgeschöpfe dienen. In dem immer noch andauernden Wettrüsten wie auch in der ausbeuterischen Zerstörung der Natur und der herrschenden Ungerechtigkeit sehen wir das <Gesetz der Sünde und des Todes> am Werk, aus dessen Knechtschaft uns der Leben schaffende Geist Christi befreit (Rom. 8,2). Die Umkehr, zu der wir gerufen sind, muß im Bekenntnis und politischen Handeln, in Zeugnis und Dienst geschehen."259

 

254)  Dietrich Bonhoeffer hatte 1934 auf Fanö auf der Weltkirchenkonferenz gefordert: "Nur das eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, daß die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muß und daß die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt." Zit. nach: Neubert, Ehrhadt, Sozialisierende Gruppen im konziliaren Prozeß, in: KiS 6/1985, S. 242.  

255)  Antrag der Delegierten aus der DDR an die 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, in: Theologische Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik, Referat Friedensfragen, Informationen und Texte, Nr. 14, Sept. 1985, S. 21.  

256)  Orthodoxen und römisch-katholischen Christen war aus kirchenrechtlichen Gründen die Teilnahme an einem "Konzil" nicht möglich. Vgl. dazu: Neubert, Ehrhart, Sozialisierende Gruppen im konziliaren Prozeß, KiS 6/1985, S. 241-245.  

257)  Zit. nach: Der Sonntag vom 24. Mai 1987, S.2.  

258)  Vgl. epd-Dokumentation 32/1985.  

259)  Antrag der Delegierten aus der DDR, S. 18-19.

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Dieses Anliegen machte sich 1985, unter maßgeblicher Führung des Erfurter Propstes, Heino Falcke, selbst einer der Antragsteller von Vancouver, zunächst die Synode der Kirchenprovinz Sachsen zu eigen. Kurz darauf rief auch die Bundessynode zu aktiver Beteiligung auf. Diesem Vorschlag folgte auch die Synode der sächsischen Landeskirche.260) Auf diese Weise wurde der konziliare Prozeß für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung konzeptionell in den Ortsgemeinden verankert: "Der Prozeß der Vorbereitung und der Durchführung des ,Konzils' vollzieht sich im Zusammenwirken zwischen Kirchenleitungen, Synoden, Gemeinden und Gruppen."261)

Für die Gruppen im Umfeld der Kirche bedeutete das also, daß ihre Themen fortan durch das Anliegen der internationalen Ökumene eine besondere Legitimation erhalten hatten. Zudem entwarf Falcke ein vielschichtiges theologisches Konzept, welches die Stellung der Gruppen in den Gemeinden stärken sollte: Zum einen stellte er fest, daß sich in den Gruppen "das Leiden an der Friedlosigkeit und das Friedensengagement eine eigene [kirchliche] Sozialgestalt schafft".262) 

Zum anderen sah er in dem Konziliaren Prozeß eine Art Bundesschluß, durch den sowohl innerer Frieden unter den verschiedenen Erscheinungsformen von Kirche in der Gesellschaft geschaffen werden sollte als auch Weltfrieden unter den verschiedenen Völkern. Eine analoge Argumentation galt natürlich auch für die Anliegen von Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Auch wenn man der theologischen Ansicht Falckes, daß biblische Hoffnungsbilder von Frieden, Gerechtigkeit und <Neuer Schöpfung> sich schon in dieser Welt sozial und politisch konkretisieren könnten, nicht folgen wollte, so hat in jedem Fall diese ernsthafte Auseinandersetzung mit den Gruppen deren Selbstbewußtsein gestärkt.

Es dauerte jedoch eine Weile, bis das Anliegen des Konziliaren Prozesses tatsächlich bis zu den örtlichen Pfarrern, Gemeinden und Gruppen durchdrang. Im Sommer 1985 konstatierte Ehrhart Neubert jedenfalls noch ein "fast durchgängiges Informationsdefizit".263) Maßgeblich beschleunigt wurde die Verbreitung des konziliaren Gedankens durch die Initiative des Dresdener Stadtökumenekreises, der in einem Brief vom 13.02.1986 an die Kirchenleitungen zur Vorbereitung auf die internationale Konferenz eine ökumenische Versammlung der Christen und Kirchen im Gebiet der DDR für 1988 vorschlug.264)

 

260)  Vgl dazu auch: Schmid, Josef, Kirchen, Staat und Politik, S. 383; Neubert, Ehrhart, Geschichte der Opposition, S. 618. 

261)  Beschluß der Synode des Kirchenbundes vom 24.9.1985, in: KiS 6/1985, S. 245.  

262)  Diese Form der Sozialgestalt der Gruppen ist dabei eine gleichberechtigte unter vier möglichen Sozialgestalten von Kirche. Neubert, Ehrhart, Reproduktion von Religion in der DDR-Gesellschaft, Heft 2, in: KiS 35-36/1986, S. 78-122.  

263)  Neubert, Ehrhart, Sozialisierende Gruppen im konziliaren Prozeß, KiS 6/1985, S. 241.

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Diese Anregung nahm der BEK auf seiner Herbstsynode im September 1986 auf. Träger dieser ökumenischen Versammlung sollte die <Arbeitsgemeinschaft Christliche Kirchen in der DDR> (AGCK) sein, wobei die organisatorische Federführung beim Kirchenbund blieb. Dieser hatte auch Sorge zu tragen, "daß in angemessener Weise kirchliche Gruppen zu Friedens- und Umweltfragen mit einbezogen werden".265

Im Juni 1987 schließlich kam der Stein ins Rollen: Auf Einladung des sächsischen Bischofs Johannes Hempel konstituierte sich eine Vorbereitungsgruppe unter Beteiligung verschiedener Kirchen.266) Auf einer zweiten Sitzung im September gab diese Vorbereitungsgruppe unter dem Motto "Eine Hoffnung lernt gehen" bereits einen Aufruf an alle Christen, Gemeinden und Gruppen heraus, sich aktiv in die Vorbereitung der Ökumenischen Versammlung einzubringen.267) Auch die Bundessynode ermutigte auf ihrer Tagung im September in Görlitz die Gemeinden zum Gespräch über den konziliaren Prozeß und rief auf, "Gespräche mit Andersdenkenden zu den Problembereichen Gerechtigkeit, Abrüstung und Ökologie zu suchen und gemeinsame Aktionen mit ihnen anzustreben".268) 

Um diese Entwicklung zu befördern, wurde das Thema des Konziliaren Prozesses unter dem Motto <Miteinander leben> zum "besonderen Anliegen" der Friedensdekade 1987 bestimmt.269) Damit wurden die Ortsgemeinden direkt in den Prozeß einbezogen. Nun lag es tatsächlich in der Verantwortung der dortigen Christen und Gemeinden, das Anliegen aufzugreifen und ihm vor Ort eine Gestalt zu geben. 

Diese Entwicklung läßt sich am Beispiel der Stadt Zwickau konkret nachzeichnen: Im Rahmen einer kirchlichen Veranstaltung war das Thema "Konziliarer Prozeß" erstmals am 10. September 1987 auf einem Abend der Jungen Gemeinde am Dom aktuell. Dort resümierte ein Mitglied der Jungen Gemeinde, das über das Anliegen des Konziliaren Prozesses berichtet hatte, daß "in Zwickau kaum Ergebnisse in dieser Richtung zu verzeichnen seien und daß der Konziliare Prozeß eben noch nicht gefruchtet habe".270) 

Das änderte sich, als am 15.09.1987 Erwin Killat die Initiative ergriff und Vertreter der verschiedenen Zwickauer Gemeinden und Gruppen zu einer ersten gemeinsamen Gesprächsrunde einlud, in der es darum gehen sollte, "eine Einrichtung zu schaffen, die in der Lage ist, den konziliaren Gedanken zu fördern. Das bedeutet: Den Problemkreis bewußt machen, Informationen liefern, für produktive Unruhe in uns sorgen, die Arbeit der Gemeinden unterstützen."271

 

264)  Vgl. dazu: Schmid, Josef, Kirchen, Staat und Politik, S. 383-384. 

265)  Zit. nach: Der Sonntag vom 29. März 1987, S. 2.  

266)  Vgl: Der Sonntag vom 23. August 1987, S. 1.  

267)  Vgl. dazu: Schmid, Josef, Kirchen, Staat und Politik, S. 386.  

268)  Zit. nach: Der Sonntag vom 11. Oktober 1987, S. 2.  

269)  Zit. nach: Der Sonntag vom 30. August 1987, S.2.  

270)  Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Stasi-Akte Käbisch "OV Kontrahent", Bd. 3, Bl. 219-220.

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Schon in diesem Einladungsschreiben regte er den Gedanken zur Gründung einer Bibliothek als Sammel­punkt für interessierte Menschen, als Impulszentrum für Aktivitäten, als Arbeitsmöglichkeit für kirchliche Laien sowie als Koordinationspunkt für die vorhandenen Zwickauer Gruppen an.272) Zu dem Treffen kam es am 20. Oktober unter dem Motto "Global denken — lokal handeln". Killat machte deutlich, daß es zunächst noch nicht um die Bildung von einzelnen Gruppen zu den konziliaren Themenschwer­punkten gehen sollte, sondern daß zunächst ein "geistiger Kopf" geschaffen werden müsse, der ein Konzept für koordiniertes Denken und Handeln entwerfen sollte, das durchaus in seiner Wirkung auch über Zwickau hinausgehen sollte: "Er selbst könne sich vorstellen, daß Zwickau als Mittelpunkt des westsächsischen Raumes diese Aufgabe für dieses Gebiet übernimmt." Im konkreten Ergebnis des ersten Treffens wurde ein organisatorischer Kern gebildet, der im folgenden eine konkrete Ausgestaltung des konziliaren Anliegens erarbeiten wollte.

Zu einem zweiten Zusammentreffen im Gemeindehaus der Katharinenkirche kam es am 24. November: "Das Thema der [...] Zusammenkunft [war] Einrichtung einer Bibliothek." Im Beisein des Superintendenten Mieth, des Dompfarrers Käbisch, des Pfarrers Sieber von St. Katharinen und Vertretern verschiedener Gruppen wie Jörg Banitz, Susanne Trauer und anderen legte Killat seine Überlegungen dar, nach dem Vorbild etwa der "Friedens- und Antikriegsbibliothek" an der Berliner Friedenskirche, der Berliner Umweltbibliothek oder der Dresdener Friedensbibliothek in Zwickau eine eigene Bibliothek zu schaffen.

Dieser Vorschlag wurde in der Folge auf diesem und weiteren Treffen heftig diskutiert. Strittig war dabei sowohl die Frage, ob es überhaupt eine solche Bibliothek geben solle, als auch der Ort.275) Auch wenn der Gedanke einer Umweltbibliothek nur langsam Gestalt gewann, hatte sich mit Killats Initiative ein dynamischer Arbeitskreis 'Konziliarer Prozeß' etabliert, in dem Mitglieder verschiedener Gruppierungen versuchten, neue gemeinsame Ausdrucksformen für die umstrittenen Themen zu finden. Eine der ersten gemeinsamen Initiativen fand ihren Ausdruck in der Protestnote für die Berlin-Inhaftierten auf dem "Markt der Möglichkeiten". 

271)  Privatarchiv Killat, Stasi-Akte OV "Konzil", Einladungsschreiben vom 15.September 1987.  

272)  Vgl. ebd.  

273)  Ebd., Informationsbericht vom 20. Oktober 1987.  

274)  Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Stasi-Akte Käbisch "OV Kontrahent", Bd. 4, Bl. 067.  

275)  Vgl. ebd.

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Hier wurde bereits deutlich, daß es dieser Arbeitsgruppe nicht nur um eine Zwickauer Aktionsvernetzung ging, sondern daß bewußt auch ein Bezug und Zusammengehörigkeitsgefühl zu kritischen Geistern und Gruppen anderer Städte hergestellt und ausgedrückt werden sollten. Dies wurde nicht zuletzt dadurch begünstigt, daß mehrere der Initiatoren starke persönliche Bindungen nach Berlin unterhielten.276

In der Folge wurde jedoch recht schnell deutlich, daß es dem Arbeitskreis 'Konziliarer Prozeß' nicht darum ging, eine weitere ad-hoc-Gruppe für aufrüttelnde Aktionen zu sein. Hier sollte vielmehr eine komplexe Organisationsstruktur für ein rechtlich abgesichertes Informations-, Koordinations- und Aktionszentrum für breites, kirchlich angebundenes Basisengagement zu den konziliaren Themen geschaffen werden.

In wenigen Monaten schälte sich unter der Federführung des stark engagierten Kirchenamtsrates Andreas Richter ein ausgeklügelter Entwurf zur Aufteilung der Verantwortlichkeiten heraus: In einem ersten Schritt gelang es dabei, nach anfänglichen Widerständen,277 den Direktor der Inneren Mission, Diakon Albrecht, für eine rechtliche Angliederung des <Konziliaren Prozesses> an die <Innere Mission> zu gewinnen. 

Am 16.05.1988 wurde eine Arbeitsordnung zwischen <Konziliarem Prozeß> und <Innerer Mission> rechtskräftig: "Bei der Inneren Mission im Kirchenbezirk Zwickau wird ein Arbeitskreis <Konziliarer Prozeß> gebildet, der in diakonischer Verantwortung die Arbeit der Ökumenischen Versammlung der Christen und Kirchen in der DDR für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung unterstützt und deren Anliegen vor Ort trägt."278

Hier wird greifbar, welche besondere Bedeutung der weltweite Konziliare Prozeß für die DDR-Verhältnisse hatte: Die Autorität eines ökumenischen Weltanliegens konnte für die konkrete Legitimation der örtlichen Gruppenarbeit sowohl vor der Amtskirche als auch vor staatlichen Organen nutzbar gemacht werden.

276)  Auf Erwin Killats Familienbande zu Böttgers in Berlin ist bereits hingewiesen worden; zugleich war die Puppenspielerin Susanne Trauer seit ihrer Jugend mit Familie Killat befreundet und besuchte Böttgers häufig in Berlin. Dort nahm sie auch zwischen November 1987 und Ende Januar 1988 an verschiedenen Veranstaltungen in der Zionsgemeinde und in der Umweltbibliothek teil. Vgl. dazu: Privatarchiv Trauer/Hartzsch, Stasi-Akte Trauer, Information vom 21. Januar 1988. 

277)  Anhand des Protokolls einer von Albrecht einberufenen Aussprache zu diesem Thema wird deutlich, daß die "Innere Mission" nur zögerlich die neue Rolle als Protektor des Konziliaren Prozesses übernahm: "Schubert [der Stellvertreter Albrechts] sowie Albrecht stellten immer wieder dieselbe Frage, warum unbedingt die <Innere Mission> der Dachträger des <Konziliaren Prozesses Zwickau> sein müsse. Killat wie Richter erklärten nochmals, daß ein Eindringen sowohl in die Landeskirche als auch in die Kirchenleitung Sachsens über einen Zeitraum von 6 bis 8 oder 9 Monaten [...wegen zu langer Bearbeitungszeiten eines entsprechenden Antrages] nicht zu realisieren sei." Sie wiesen im folgenden darauf hin, daß nur bei der <Inneren Mission> eine schnelle rechtliche Angliederung möglich wäre, die den Konziliaren Prozeß zügig auf eine abgesicherte Arbeitsgrundlage stellte. Privatarchiv Killat, Stasi-Akte OV "Konzil", Zusammenkunft in der "Inneren Mission" am 13. April 1988.  

278)  Ebd. Arbeitsordnung für den Arbeitskreis "Konziliarer Prozeß" im Bereich des Ev.-Luth. Kirchenbezirkes Zwickau.

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Zugleich wurde in der Arbeitsordnung auch eine Struktur für die Arbeitsbereiche zu den verschiedenen Themenschwerpunkten festgelegt. Entsprechend gliederte sich die Arbeit des 'Konziliaren Prozesses' in die folgenden Bereiche:

a) Gerechtigkeit
b) Frieden 
c) Bewahrung der Schöpfung 
d) Theologische Reflexion 
e) Information und Kommunikation

Eine Leitungsgruppe, die sich aus Verantwortlichen für die einzelnen Themenschwerpunkte zusammen­setzte, traf sich monatlich in nicht öffentlichen Beratungen zu Austausch und Abstimmung über Initiativen der einzelnen Bereiche. Damit war ein erster wesentlicher Schritt zur Gründung eines konziliaren Arbeitsschwerpunktes in Zwickau getan. Ein zweiter und dritter Schritt betrafen in erster Linie den Kernpunkt der Arbeit, den Bereich Information und Kommunikation, also die Bibliothek. 

Um die Last der kirchlichen Verantwortung nicht nur auf die Schultern der 'Inneren Mission' zu laden, wurde für den Buchbestand der zu etablierenden Bibliothek, ein Bereich der von vornherein heikel zu werden versprach, eine zusätzliche Regelung gefunden: Die Bibliothek wurde als ausgelagerter Teilbestand der Ephoralbibliothek deklariert und unterstand somit in letzter Verantwortung dem Superintendenten. Entsprechend wurden auch die von Kirchenamtsrat Richter erarbeiteten Benutzungsbedingungen in Absprache mit Mieth eingesetzt.279) Ein wertvoller Garant für die Stabilität der Beziehungen des 'Konziliaren Prozesses' zum Superintendenten stellte hier sicherlich auch die persönliche Freundschaft dar, die Killat und Mieth seit langen Jahren verband.

Weitaus schwieriger war es, Pfarrer und Gemeindeleitungen in Zwickau zu finden, die bereit und in der Lage waren, dem 'Konziliaren Prozeß' geeignete kirchliche Räumlichkeiten zu vermieten. Schließlich konnte der Kirchenvorstand der Zwickau-Neuplanitzer evangelisch-lutherischen Versöhnungs­kirch­gemeinde, deren Pfarrstelle zu diesem Zeitpunkt vakant war,280) gewonnen werden, sich zur Vermietung einer leerstehenden kirchlichen Wohnung bereit zu finden. Man kam überein, daß über Veranstaltungen in diesen Räumlichkeiten die Arbeitsgruppen des Konziliaren Prozesses zu entscheiden hätten, bei Bedenken könne der Vorsitzende des Kirchenvorstandes Einspruch erheben.281)

279)  Vgl. Archiv der Friedensbibliothek, Entwurf der Rahmenordnung des Arbeitskreises "Konziliarer Prozeß" vom 27. März 1989.
280)  Pfarrer Storl trat erst im Dezember 1988 dort seinen Dienst als Gemeindepfarrer an, zudem äußerte Pfarrer Schönfelder gegenüber dem Referenten für Kirchenfragen, "daß von ihm nicht zu erwarten ist, daß er gegen die negativen Tendenzen der ,Friedensbibliothek' seine Stimme erhebt [...]". StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 143942 (nicht paginiert). 

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Auf den 1. September wurde die feierliche Eröffnung der Friedensbibliothek — auf diesen Namen hatten sich die Beteiligten inzwischen geeinigt — anberaumt, zu der sowohl Kirchenobere aus Landeskirche und Ökumene, als auch Sachkundige aus Umwelt- und Friedensarbeit geladen waren.284)

Natürlich war diese neue Sammlungsbewegung, die mit dem 'Konziliaren Prozeß' in die Zwickauer Basisgruppen gekommen war, von den staatlichen Organen nicht unbemerkt geblieben, zumal vielfältige Initiativen die rechtliche Etablierungsphase begleiteten. Gleich am 23.12.1987 hatte die Staatssicherheit einen Operativen Vorgang "Konzil" eröffnet, um "Beweise dafür zu erarbeiten, daß der Charakter dieser Gruppenarbeit darin besteht, die verfassungs­mäßigen Grundlagen der DDR anzugreifen".285

Zum zentralen Problem zwischen Staat und Kirche wurde die Friedensbibliothek, von einzelnen Ausnahmen abgesehen,286) allerdings erst nach deren offizieller Eröffnung. Bemerkenswert ist zunächst, daß von staatlicher Seite aus nicht mehr wirklich versucht wurde, der im Konziliaren Prozeß verankerten kirchlichen Beschäftigung mit den Themen Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung ihre generelle Berechtigung abzusprechen. Statt dessen bemühte der Oberbürgermeister im Gespräch mit dem Superintendenten fortan die Argumentationslinie, "daß in dieser "Friedensbibliothek" nicht genehmigte und illegal eingeführte Schriften ausliegen und somit gegen das Gesetz der DDR verstoßen wird" oder daß "illegaler Verkauf von Literatur"287) stattgefunden habe. 

Trotz wiederholter Forderungen, wegen dieser Gesetzeswidrigkeiten die Bibliothek zu schließen oder die beanstandete Literatur zu entfernen und trotz wiederholter "Anschwärzungen" beim Landeskirchenamt durch den Rat des Bezirkes, ließ der Superintendent lediglich Jürgen Fuchs' "Fassonschnitt" entfernen. Die Illegalität der anderen Titel289 hielt er für nicht erwiesen und der Verkauf von Literatur wurde — nach dem Aufstellen von Spendenbüchsen — eingestellt.

281)  Ebd.  

282)  Dazu gehörten etwa Oberlandeskirchenrat Ihmels und Oberlandeskirchenrat Schwinteck  

283)  Hier wäre Superintendent Ziemer als Leiter der Ökumenischen Vollversammlung der DDR zu nennen. 

284)  Zu diesen zählte beispielsweise Joachim Krause oder der Leiter der Dresdener Friedensbibliothek Joachim Stellmacher. Angaben der letzten drei Fußnoten in: Privatarchiv Killat, Stasi-Akte OV "Konzil", Bericht vom 14. Juli 1988.  

285)  Ebd., Eröffnungsbericht vom 23. Dezember 1987. 

286)  Der Auftritt des Arbeitskreises auf dem "Markt der Möglichkeiten" etwa harte zu Spannungen geführt.  

287)  StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 143942 (nicht paginiert).  

288)  OB Fischer hatte nicht nur den RdB wiederholt in Kenntnis gesetzt. Er hatte auch eine sich bietende Gelegenheit genutzt, den Staatssekretär für Kirchenfragen selbst von den Vorgängen zu informieren, der sich daraufhin gleich an Hempel gewandt hatte. Vgl. ebd.

289)  Im einzelnen handelte es sich um Titel wie Spuren der Geschichte der Friedensbewegung in der DDR, Aufrisse 2, Umweltblätter, Dokumentation "Zion", Schrift "Wendezeit", Kontext 2, Friedrichsfelder Feuermelder, Pechblende, "Die da oben", "Polnische Stalinisten zum Sprechen gebracht", Minimalkonsens zur Ausreiseproblematik, Prager Frühling Teil 2, Schwarz und weiß —für welchen Preis. Ebd.

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Lakonisch wird in den staatlichen Berichten zur kirchenpolitischen Situation bemerkt: "Staatlicher Einspruch gegen die Aktivitäten der Organisatoren der <Friedensbiliothek> wird von den kirchenleitenden Persönlichkeiten der Ephorie Zwickau [...] zurückgewiesen."290) 

Am Beispiel dieser beharrlichen Weigerung der kirchlichen Amtsträger, den staatlichen Forderungen zu entsprechen, wird deutlich, wie eingeschränkt die staatlichen Sanktionsmöglichkeiten gerade auch gegenüber Aktivitäten, die mit dem Anliegen des Konziliaren Prozesses gerechtfertigt wurden, Ende 1988 und zunehmend im Jahr 1989 war: Nachdem mehrfache Zurechtweisungen ohne Ergebnis geblieben waren, wurde sowohl in den Akten des Rates der Stadt, als auch in denen des Bezirkes wiederholt und nachdrücklich eine zentrale Handlungsvorgabe durch den Staatssekretär für Kirchenfragen gefordert: 

"Da bereits eine Vielzahl von Gesprächen sowohl mit Vertretern des Landeskirchenamtes [...] als auch mit dem Superintendenten von Zwickau Mieth [...] zum Problem der <Friedensbibliothek> ohne greifbares Resultat geführt wurden, bitten wir um Ihre Entscheidung, wie lange wir diesen politischen Mißbrauch einer kirchlichen Einrichtung noch dulden können."291

Die Antwort von oben aber blieb aus. Dieses vielsagende Schweigen mag bei aller Entrüstungsrhetorik der örtlichen Staatsorgane das Selbstbewußtsein der kirchliche Akteure zunehmend gestärkt und eine vage Ahnung in ihnen geweckt haben: der Kaiser ist nackt.

 

    

   7)  Aufbruch '89 - Ein Neues Forum entsteht 

 

Am 2. August 1989 zog mit Erwin Killats Schwiegersohn Martin Böttger einer der "führenden Exponenten der Untergrundszene in Berlin"292 nach Zwickau. Monatelang war der Umzug der Familie Böttger in der Friedensbibliothek erwartet worden.293 Man versprach sich durch ihre Mitarbeit vielschichtige Impulse sowohl für die örtliche Arbeit als auch für die überregionale Vernetzung mit Initiativen anderer Städte. 

290)  Ebd.  
291)  StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 143942 (nicht paginiert).  
292)  Privatarchiv Böttger, Stasi-Akte OV "Diplom" Bd. 10.  
293)  Schon im März 1988 hatte Killat mit dem Umzug der Böttgers gerechnet und Martin Böttgers Mitarbeit für die Gruppe angekündigt, die sich mit den Risiken, die von der SDAG Wismut ausgingen, beschäftigen sollte. Vgl. Privatarchiv Killat, Stasi-Akte OV "Konzil", Bandabschrift vom 2. März 1988.

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Kaum daß sie schließlich in Zwickau angekommen waren, berichtete Oberstleutnant Springer von der Kreisdienststelle des MfS bereits nach Karl-Marx-Stadt:

"Durch seinen Schwiegervater, Erwin Killat, wurde Böttger seit seiner Wohnsitznahme allen maßgeblichen Vertretern des <Konziliaren Prozesses> vorgestellt und sofort in die Arbeit integriert. Unter Beibehaltung seiner engen Verbindungen zu Exponenten des politischen Untergrunds in Berlin, wie Bärbel Boley, Ibrahim M. Böhme, Ulrike Poppe, Ehepaar Grimm, Fischer, Templin, begann Böttger, Gedankengut, <Strategien> und Niveau der Untergrundarbeit auf Zwickauer Verhältnisse zu übertragen."294

Zunächst hatte Böttger Material, meist im Selbstverlag auf Wachsmatrize abgezogene Zeitschriften, von verschiedenen Berliner Gruppierungen, aber auch von solchen, die aus dem Gebiet der gesamten DDR ihre Samisdat-Erzeugnisse zur gegenseitigen Vernetzung etwa in der Berliner Umweltbibliothek sammeln ließen, in die Zwickauer Friedensbibliothek eingebracht. Dadurch wuchs in Zwickau das Bewußtsein, daß das ganze Land von einer inneren Unruhe ergriffen war, die ihren Ausdruck in zahlreichen Initiativen an verschiedensten Orten fand.

Mit dem zum einjährigen Bestehen der Friedensbibliothek am 31. August / 1. September 1989 anberaumten Festwochenende begannen sich die Ereignisse dann plötzlich zu überschlagen: Ein Diskussionsforum war angesetzt worden, auf dem durch Böttgers Vermittlung Ibrahim Böhme sprechen sollte. In der Moritzkirche stand eine Lesung des Rechtsanwalts Rolf Henrich aus seinem Buch "Der vormundschaftliche Staat" auf dem Programm. Deren Organisation war einem überaus engagierten Mitglied der Friedensbibliothek übertragen worden, doch am 31. August mittags kam der Organisator "mit einer merkwürdigen Geschichte" und teilte mit, die Geladenen kämen nicht.296 Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft <Konziliarer Prozeß> sprangen daraufhin ein und übernahmen die geplante Lesung in der Moritzkirche.297

Sodann überraschte Martin Böttger die versammelten Sympathisanten der Friedensbibliothek mit neuesten Überlegungen aus Berlin zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei, ein Stoff, der allemal angetan war, nicht nur die Veranstaltung zu retten, sondern erst recht die Gemüter über der Frage zu erhitzen, ob ein solches Unterfangen wegen der enormen Provokation, die es gegenüber der SED darstellte, überhaupt realistisch sei.298

294)  Privatarchiv Böttger, Stasi-Akte OV "Diplom" Bd. 10.  

295)  Interview Böttger, S. 2.  

296)  Erst die Öffnung der Stasi-Akten enttarnte jenen Organisator und äußerst engagierte Mitglied der Friedensbibliothek als IMS "Uwe Schaarfschwert", der in seinem Einsatzplan beauftragt worden war, 
"unter Ausnutzung seiner Vertrauensstellung innerhalb des OV [...] die Pläne und Absichten dieser Personen im Zusammenhang der Organisierung und Durchführung kirchlicher Gruppenarbeit aufzuklären, um im Ergebnis [...] tschekistisch klug reagieren zu können und unter Wahrung der Konspiration seinen Einfluß auf diese Verdächtigen geltend zu machen, um sich ergebende Gefahren aus dieser Gruppenarbeit für die staatliche Ordnung und Sicherheit vorbeugend abzuwenden." 
Privatarchiv Killat, Stasi-Akte OV "Konzil", Erstmaßnahmeplan zum OV "Konzil" vom 23. Dezember 1987. Genau diesem Auftrag scheint "Uwe Schaarfschwert"' am 31. August und 1. September 1989 vorbildlich nachgekommen zu sein.  

297)  Vgl. StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 143954 (nicht paginiert).

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Böttger hatte diese Überlegungen direkt aus Berlin mitgebracht, wo er am 28. August in den Räumen der Golgathagemeinde an einem Menschenrechtsseminar teilgenommen hatte, auf dem Markus Meckel und mit ihm Ibrahim Böhme, Martin Gutzeit und Arndt Noack den Aufruf zur Gründung einer SPD vorgestellt hatten.299) Auch wenn die erwähnte Gründungsabsicht in Zwickau noch auf erhebliche Skepsis stieß, so weitete sie wohl doch die Grenzen des Denkbaren. 

Als nämlich keine zwei Wochen später, am 12. September, Böttger wiederum aus Berlin als einer der Erst­unterzeichner den Aufruf zur Bildung einer politischen Plattform namens "Neues Forum" nach Zwickau mitbrachte,300 löste dies in der Friedensbibliothek durchaus rege Aufmerksamkeit aus. Erste Interessenten trugen sich in ausliegende Unterschriftenlisten ein, um ihre Zustimmung zu bekunden; Böttgers Adresse wurde beim Bibliotheksdienst als Kontaktadresse hinterlegt.301

Diese positive Aufnahme mag vielschichtige Gründe gehabt haben. Einer dürfte darin zu sehen sein, daß Böttger selbst als einer der Initiatoren für die Seriosität des Anliegens stand, ein anderer darin, daß in dem Aufruf in moderatem Ton, aber entwaffnender Offenheit augenfällige Mißstände und rechtliche Ansprüche benannt wurden, deren schlichte Evidenz auch die kühne Forderung nach öffentlichem Nachdenken und demokratischem Dialog auf breite Akzeptanz stoßen ließen. Ein weiterer Grund ist sicher auch darin zu sehen, daß in den Handlungsmotiven deutliche Übereinstimmungen zwischen 'Konziliarem Prozeß' und Neuem Forum auszumachen waren, wenn es etwa hieß: "Allen Bestrebungen, denen das Neue Forum Ausdruck und Stimme verleihen will, liegt der Wunsch nach Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie sowie Schutz und Bewahrung der Natur zugrunde."

Die Bedeutung, die in der Ergänzung des gängigen konziliaren Themenkanons um die Dimension der Demokratie zu sehen ist, darf indes keinesfalls unterschätzt werden. An dieser Stelle gewann das kritische Engagement im Vergleich zum 'Konziliaren Prozeß' eine neue Qualität: Zu dem politischen Anspruch auf gesellschaftliches Mitspracherecht in ethischen Fragen trat der politische Anspruch auf gesellschaftliches und politisches Mitspracherecht und stellte damit systemverändernde Anfragen an das Machtgefüge der DDR.

298)  Privatarchiv Böttger, Stasi-Akte OV "Diplom" Bd. 10. 

299)  Vgl. Interview Böttger, S. 1, vgl. dazu auch: Neubert, Ehrhart, Geschichte der Opposition in der DDR, S. 835.

300)  Das Neue Forum war am 9. September in Grünheide bei Berlin in der Wohnung von Katja Havemann gegründet worden. Vgl. dazu auch: Neubert, Ehrhart, Geschichte der Opposition in der DDR, S. 835 f.

301)  Vgl. StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 143954 (nicht paginiert).

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Ausdruck dieser neuen Qualität war der bewußte Schritt heraus aus dem innerkirchlichen Kommunikations­raum; nur außerhalb dessen glaubte man eine wirklich unabhängige Basisöffentlichkeit herstellen zu können, für deren Entstehen man die Zeit für reif hielt. Angesichts der Tragweite des Gründungs­aufrufs erstaunt es nicht, daß Bärbel Bohleys Versuch, am 19.09.89 das Neue Forum beim Ministerium des Inneren in Berlin anzumelden, mit der Erklärung, "für die Gründung einer solchen Vereinigung bestünde keine gesellschaftliche Notwendigkeit, weshalb es als Organisation nicht zugelassen werde",303 zurück­gewiesen wurde. Nicht anders erging es Martin Böttger, als er das Neue Forum am 3.10.89 Oktober beim Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt anmelden wollte.304

An der Auseinandersetzung der Zwickauer SED-Kreisleitung mit dem Neuen Forum läßt sich beispielhaft nachzeichnen, wie das dogmatische Selbst­bewußtsein der Partei vor Ort innerhalb weniger Wochen zerfiel: Am 29.09. befand die SED-Kreisleitung auf ihrer Sekretariatssitzung zum Gegenstand des Neuen Forums noch: "Die Anträge zur Bildung <Neues Forum> sind abgelehnt. Das gilt für alle. Wer sich mit dem <Neuen Forum> solidarisiert, kann kein Genosse sein."305

Am 20.10.89 wurde nur am Rande erwähnt, daß eine Demonstration im Zusammenhang mit "eine[r] Zusammenkunft von Anhängern des illegalen <Neuen Forums>" nur dadurch verhindert werden konnte, daß entgegen der eigentlichen Ablehnung doch das Haus der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft für das Treffen geöffnet wurde. 

Doch das bewegte die Genossen nicht wirklich in diesen Tagen: "Die wichtigste Antwort [...] muß zuerst die Festigung unserer Reihen [...] sein." Eine Woche später hatte sich der Ton gegenüber dem Neuen Forum spürbar verändert: "Bürger, die sich zum <Neuen Forum> bekennen, sind in die Diskussionen und vor allem dann in die Mitarbeit einzubeziehen."307

Am 14. November, sechs Tage, nachdem das Neue Forum als Vereinigung zugelassen worden war, kam es sogar zum Eingeständnis von Fehlern: "Hinsichtlich des ,Neuen Forums' haben wir anfangs diese Kräfte nicht nur unterschätzt, sondern auch nicht gesehen, daß hier große Unzufriedenheit auch unter den Genossen wirksam wurde." Zwei Tage später hieß es lakonisch: "Genosse Braun wird beauftragt, umgehend eine Zusammenkunft mit Vertretern des Neuen Forums zu organisieren und durchzuführen."309

 

302)  Aufruf zur Gründung des Neuen Forums Aufbruch 89 - Neues Forum vom 9. September 1989, Privatarchiv Böttger.
303)  Zit. nach: Privatarchiv Killat, Stasi-Akte OV "Konzil", Bericht über einen Besuch in der "Friedensbibliothek" am 26. September 1989.
304)  Vgl. StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 122448 (nicht paginiert).
305)  StAC, SED-KL Zw./Stdt. 1734 (nicht paginiert).
306)  StAC, SED-KL Zw./Stdt. 1735 (nicht paginiert).
307)  Ebd.
308)  StAC, SED-KL Zw./Stdt. 1744 (nicht paginiert).
309) 
StAC, SED-KL Zw./Stdt. 1736 (nicht paginiert).

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Noch während die SED dem Neuen Forum die Öffentlichkeit verwehrte, errang dieses bereits eine Breitenwirkung, die schließlich die Genossen zum Dialog zwang. Diese schnelle Breitenwirkung, die nicht zuletzt auch durch die Westmedien befördert wurde, konnte dadurch erzielt werden, daß bereits bei der Gründung Vertreter der verschiedenen Bezirke beteiligt waren, die sofort in ihren jeweiligen Bereichen als Multiplikatoren fungieren konnten. 

Im Bezirk Karl-Marx-Stadt tat dies Martin Böttger, indem er "die bestehenden Strukturen kirchlicher Basisgruppen, wie beispielsweise in Zwickau des <Konziliaren Prozesses> [...und] des <Christlichen Friedensseminars> Königswalde nutzte", um das Anliegen zu verbreiten und um Verantwortliche zu gewinnen, die in ihren jeweiligen Kreisen als Ansprechpartner und Gruppengründer des Neuen Forums auftreten würden und schließlich auch die Anmeldung bei den staatliche Behörden übernehmen sollten.310

Bis jedoch das flächendeckend gedachte Modell des Neuen Forums annähernd so funktionierte, wurde das gemeinsame Wohnhaus der Familien Killat und Böttger zum zentralen Umschlagplatz der Informationen: Aus allen Teilen des Bezirkes reisten Menschen an, die von dem Aufruf gehört und zumeist über Berlin die Kontaktadresse für den Bezirk erfragt hatten. Dort, im privaten Raum, nahm die Basisöffentlichkeit ihren Anfang, dort liefen die Informationen zusammen, dort wurden sie diskutiert und von dort setzten sie sich schließlich wieder fort, von dort gingen Initiativen des Neuen Forums aus,311) auch wenn sie sich später über kirchliche Räume verbreiteten. 

Die Arbeit der kirchlichen und konziliaren Arbeitsgruppen ging jedoch weder in der neuen Initiative auf, noch in deren Wogen unter: In der Unterschiedlichkeit ihres gesellschaftlichen Anspruchs und mit den Überschneidungen in ihren Handlungsmotiven bestanden in Zwickau <Konziliarer Prozeß> und <Neues Forum> in konstellationsbedingt selten fruchtbarer Koexistenz, auch wenn sich das Gewicht unter den Bedingungen der ungehinderten Öffentlichkeit zunehmend zugunsten des Neuen Forums verlagerte.

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310)  Vgl. Interview mit Antje und Martin Böttger, S.U.

311)  Kleine Schulhefte im Privatarchiv der Familie Böttger, in die ein ständiger Telefonposten ungezählte Nachrichten eintrug, zeugen eindrucksvoll von der Kommunikationsdichte jener Tage.

 Böttger bei detopia

 wikipedia  Günter Mieth  (1929-2018)

 

 

www.detopia.de     ^^^^

 Katja Schlichtenbrede (1999) Alternative Gruppen in Zwickau  in den 80er Jahren im Spannungsfeld  von Staat und Kirche

3. Staatliche Kirchenpolitik in Zwickau in den 80er Jahren