( Die Barbarei bei Userpage Gesell bei userpage ) Anmerk Start Weiter
Ein geniales Werk
Welch ein Titel: <Entspannt in die Barbarei>! Apart verfasst und schön gebunden, für wahr: ein alles seiner Art überragendes Werk, in dem diese zweite Rosa Luxemburg die unzähligen Feinde des Kommunismus als Faschisten, Rassisten und Antisemiten entlarvt. Mit fundierter Sachkenntnis und rasierklingenscharfer Intelligenz, versteht sich. Bahnbrechend für den antifaschistischen Kampf und strotzend von humanistischen Bekenntnissen, natürlich marxistisch-humanistischen. Und lustig. Selten so gelacht.
Man verzeihe mir meine Euphorie. Zugegeben, ein subjektives Urteil, habe ich doch die Ehre, dass mir die rote Ex-Sprecherin der GRÜNEN auf immerhin 20 der 224 Seiten dieser Spitzenleistung des Konkret-Verlags ihre freundliche Aufmerksamkeit schenkt.
Der "Guru" (S.63 ihres Buches) Dieter Duhm (<Angst im Kapitalismus>), sehr bekannt und beliebt bei den Spontis in den 70er Jahren, z.B. findet sich gerade mal auf drei Seiten ihrer unendlichen Faschistenliste wieder,
der "<neu>-rechte Hochschullehrer" (S.64), "Mystiker und Völkische" (S.13) Rudolf Bahro (Die Alternative), marxistischer DDR-Dissident, wenigstens auf neun,
der "<Euthanasie>-Propagandist" (S.17) Peter Singer (Animal Liberation) auf elf,
der "Ökofaschist" (S.34) Herbert Gruhl (Ein Planet wird geplündert) auf zwölf und
Roman Schweidlenka (Bioregionalismus, Mitautor: E. Gugenberger) immerhin auf 17 Seiten.
Nur wenige fahren mehr ein, zum Beispiel
der "scheinheilige" (S.98) und "chronisch lächelnde Antisemit" (S.16) Franz Alt (Das ökologische Wirtschaftswunder) 19 Seiten
und die "Schanierstelle" (S. 16) zwischen Ökos und Neonazis, Max Otto Bruker (Gesund durch richtiges Essen), sogar 47 Seiten. (Hoffentlich muss der brave Mann nicht kotzen, wenn er von Ditfurths Schwarte kostet.)
Den Spitzenplatz von gut fünf Dutzend registrierter "Faschisten" etc. belegt jedoch der "prokapitalistische, rassistische" (S. 17) und "antisemitische Eugeniker" (S. 16) Silvio Gesell: 56 Seiten!
#
Da kann ich nicht mithalten, bin aber immerhin ein schlimmer Finger. Weil sowohl ein "rechter" als auch ein "Anarchist" (S. 56), zudem noch ein "rassistischer" (S. 110) mit "frauenfeindlichen Positionen" (S. 75) und — oh, Graus! — ein "Antikommunist" (S. 108). Na bitte! Ich belege mit 20 Seiten immerhin den 3. Platz: Bronze!
Lediglich das Etikett <Faschist> vermisse ich. Dabei läge es nahe, mir auch das zu verpassen, schleppte ich doch auf der großen Berliner Demo gegen Fremdenfeindlichkeit 1992 nicht ein Kerzchen, sondern ein Plakat mit mir, auf dem zu lesen war: "Vergast die Rassisten!" Um es vor dem Zugriff böser Buben zu verteidigen, musste ich zudem wieder einmal die Gaspistole "zücken"[1]. Wäre doch Anlass genug, mir für beides, wenn schon nicht das Prädikat Faschist, dann, bitte schön, doch wenigstens das Adjektiv faschistoid zu verleihen, oder [1a]?
Madam's Rundumschlag ist phänomenal. Und weit ausholend. So konnte er auch nicht den kleinen anarchistischen Karin Kramer Verlag in Berlin verfehlen, der sich doch glatt erdreistet, einen Text des "nationalrevolutionären Theoretikers" Henning Eichborn zu veröffentlichen, und - besonders verwerflich - die infame "Jubelschrift für Gesell, voll antilinker Hetze, sozialdarwinistischer Propaganda und prokapitalistischer Euphorie" (S.75).
Gemeint ist die vom "Anzünder-Klaus" herausgegebene "Jubelschrift" Silvio Gesell - ´Marx´ der Anarchisten?[2] mit dem Beitrag des "rechtsextremistischen Autors" (S. 115) und "Nationalrevolutionärs" (S. 75 u. 96) Günter Bartsch: Silvio Gesell, die Physiokraten und die Anarchisten, der mittlerweilen in Japan gut angekommen ist.[2a] Ditfurth hält den Kramers die Anarcho-Zeitschrift Schwarzer Faden als gutes Beispiel vor, hat diese doch "schon 1984 einen ausführlichen Artikel veröffentlicht, in dem die Gesellsche Theorie sowie die GesellianerInnen scharf kritisiert wurden" (S. 113).
"Kritisiert"? Jedenfalls nicht widerlegt. Aber "scharf" war es schon, dieses Sieben-Seiten-Werk eines scharfen, antifaschistischen Wachhündchens in schwarz-rotem Pelz, das auf den Namen Horst Blume hört und dort den gestandenen "Akraten" Silvio Gesell "scharf" ankläfft: "Silvio Gesell - <der Marx der Anarchisten> - ein Faschist! - Wau, wau!"
*
Wie alles anfing? Mit dem Erscheinen der Gesell-Nummer der staatsfeindlichen Underground-Zeitung agit 883 im Jahre des Herren ´83, von der damals mit zwei Auflagen rund 4.000 Exemplare verkauft worden sind und auf die mit etwa 50 wohlwollenden bis begeisterten Leserbriefen geantwortet worden war. Dass das nicht das Wohlwollen dogmatischer MarxistInnen und ihrer "anarchistischen" MitläuferInnen findet, ist klar. Entsprechend reagierten sie. In jenem Artikel im SF (13 / Jan. 1984) wurden bereits damals von Blume, der offenbar aus einer Fleissarbeit des Diplomanden Peter Elger [3] aus Marburg abgeschrieben hatte, die ersten Horrorgeschichten über den "Spinner" (P. Bierl, von Ditfurth zit. S. 80) Gesell verbreitet. Viele wurden in Zuschriften an den SF (14 / Febr. u. 15 / März 1984) widerlegt, einige wichtige 1989 auch in meinem Buch Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten? [4]
Diese Diffamierungskampagne gegen Gesell erinnert mich an die Hetzkampagne der Konservativen und der Springer-Presse gegen Rudi Dutschke und Heinrich Böll in den 60-er und 70-er Jahren. Sie läuft nun länger als ein Dutzend Jahre, Zeit genug, um den Antisemitismus- und Faschismus-Vorwurf zu klären. Doch welcher Jungrevolutzer hat schon Bock, diese Erwiderungen oder gar die Originaltexte von Gesell zu lesen? Von keinerlei Sachkenntnis getrübt, glauben viele "kritische" Junganarchos und sog. Antifaschisten lieber an das, was ihnen andere Leute (über 30) vorkauen, wenn diese nur die rote oder schwarze Fahne schwenken. Wären diese Linken vor 65 Jahre etwa ebenso den braunen Lügnern auf den Leim gekrochen? In einem Flugblatt Syndikat A Info I ´97 fabuliert ein Rezensent (oder eine Renzensentin) des Ditfurth-Buches: "Harte und klare Worte in dem neuen Schmöker der Publizistin und Ökolinken Jutta Ditfurth. Nichts für harmoniebedürftige Linke! Wer sich aber für Fakten und grundsätzliche und differenzierte Kritik begeistern kann, liegt mit dieser Lektüre genau richtig. Fundiert belegt untersucht die Autorin die Esoterik-, Veganer-, Erdbefreier- und gar die Anarchoszene auf ihren rechten Rand hin. / Verwirrte Anarchisten suchen sich mit Silvio Gesell, einem Antisemiten und Rassenhygeniker und dem Begründer der ´Freiwirtschaftslehre´ einen neuen ökonomischen Guru (Marx ist wahrscheinlich verpönt...).
Genau: "Guru" Marx ist Murx. Das war er schon für nicht verwirrte Anarchisten des 19. Jahrhunderts, und die suchten ihr Heil lieber bei dem von Marx als Ideologen des Kleinbürgertums verachteten Anarchisten Pierre Joseph Proudhon, einem geld- und zinstheoretischen Vorläufer Gesells (und der heutigen Tauschbanken und -ringe [5]). Heutige Anarchos fallen - trotz der mittlerweilen bekannten Lügen und den Massakern der Roten an den Anarchisten - immer noch auf die "klaren Worte, Fakten und fundierten Belege" einer roten Demagogin herein. Und alles schön unharmonisch, oder, um es in der Sprache der Stalinisten zu sagen: "spalterisch". Hat dieser (oder diese) offenbar schwarze Genosse (Genossin) Ditfurths "Fakten" und "fundierten Belege" mit den Originaltexten von Gesell verglichen, wie es sich gehört für einen gewissenhaften Rezensenten einer derartigen Schmähschrift? Wohl kaum. Wir wollen das hier nachholen und mal sehen, ob unser Anarcho-Pimpf (beziehungsweise unsere Anarcha-Maid) recht hat, abgesehen davon, dass Ditfurths "Schmöker" ein Schmöker ist (gelinde gesagt).
"Brauner und roter Faschismus"
Das Verdienst von Leuten wie Jutta Ditfurth und ähnlichen Erscheinungen in der linken Szene wie z. B. Peter Elger, Horst Blume, Peter Bierl, Johannes Weigel, Roland Nappert, Peter Kratz und Robert Kurz ist es, dass sich an Hand ihrer literarischen Absonderungen exemplarisch belegen lässt, dass sich bezüglich der Methoden der Diffamierung und Hetze gegen Andersdenkende gewisse Gemeinsamkeiten bestimmter Linker mit den Stalinisten - aber auch mit den Nazis - bis heute erhalten haben.
Das reicht bis zur Aufforderung zu Gewaltanwendung und dem Einsatz von Roll-kommandos. Um einen Vergleich dieser Methoden, politische und/oder humanitäre Ziele duchzusetzen, geht es hier, nicht um einen Vergleich dieser Ziele. Und es geht um tiefenpsychologische Hintergründe solcher Methoden.
In den humanitären Ansprüchen sind die Linken aller Schattierungen zweifellos ganz gross und ihren politischen Gegnern Haus hoch überlegen, nur mit ihrer Umsetzung in die Praxis haperts. So stellt sich Frau Ditfurth als Kämpferin gegen die "Barbarei" dar, zählt jedoch die "MarxistInnen-LeninistInnen" (S. 100) zu ihren Genossen. Bereits in den 30-er Jahren hatte der Links-Marxist und Rätekommunist Otto Rühle in seiner Analyse Brauner und roter Faschismus einige Parallelen gezogen zwischen Nazismus und Stalinismus [5a].
Die rote Barbarei begann jedoch bereits mit Lenin, und sie lässt sich durchaus mit der der braunen messen. Im April und Mai 1997 brachte die linke Ost-Berliner Tageszeitung junge Welt eine Serie über den Aufstand der Kronstädter Arbeiter und Matrosen 1921 gegen die bolschewistische Partei. Dort berichtet Klaus Gietinger über die Verbrechen der Bolschewiki zur Zeit Lenins, über ihre Propaganda für Massenmorde, die Erschiessung Aufständischer, gefangener Gegner und sogar Unbeteiligter und die Verleumdung der Ermordeten als Konterrevolutionäre, Agenten des Kapitals usw.
Leo Trotzki, zweiter Mann nach Lenin und Liquidator der Kronstädter Kommune, Schlächter von Tausenden ihrer Kämpfer für die "Dritte Revolution" und die Macht der Räte, hatte sie zuvor noch als "Schönheit und Stolz der Oktoberrevolution" bezeichnet. Bei Gietinger lesen wir z. B. folgendes Zitat von Lenin: "Solange in Deutschland die Revolution noch mit ihrer Geburt ´säumt´, ist es unsere Aufgabe, vom Staatskapitalismus der Deutschen [Kaiser Wilhelms Kriegswirtschaft 1914 - ´18] zu lernen, ihn mit aller Kraft zu übernehmen, keine diktatorische Methode zu scheuen, um diese Übernahme noch stärker zu beschleunigen, ... ohne dabei vor barbarischen Methoden der Kampfes gegen die Barbarei zurückzuschrecken." Klar: Kommunismus statt Barbarei [6].
Die Umkehr der Tatsachen
Frau Ditfurth eine kleine Lenin? Oder doch ein bischen zu klein? Ich würde sie in die Nähe des Schreibtischtäters Julius Streicher rücken, dem Herausgeber des Naziblattes Der Stürmer, das wegen seiner besonders ekelerregenden Hetze gegen die Juden von dem antisemitischen Reichsfeldmarschall Göring als eine "Kulturschande" [6a] bezeichnet wurde. Ditfurths Methoden, plumper als die des antisemitischen Propagandaministers Goebbels´, sind etwa so primitiv wie die Streichers, geniert sie sich doch nicht, nicht nur zu verzerren und zu lügen wie Goebbels, sondern Autoren sogar das Gegenteil von dem zu unterstelln, was diese geschrieben haben! So werden Zitate gegen den Antisemitismus zu Beweisen für Antisemitismus!
Hier ein Beispiel. Den Autor des interessanten, mit Zitaten von Marx, Bakunin, Kropotkin, Machno, Arschinow und anderen gespickten Buches Untergang eines Mythos (des kommunistischen!) Yoshito Otani, nennt sie einen "knallharten Antisemiten" (S. 101): Der "Auschwitz-Leugner" (S. 56) "Otani stellt die Vernichtung der Jüdinnen und Juden in KZs und die Gaskammern von Auschwitz in Frage. Er leugnet die Kriegsschuld der Deutschen und schiebt selbst die Schuld am ersten Weltkrieg ´jüdischen Bankhäusern´ zu. Otani bezieht sich in seinem Buch ´Untergang eines Mythos´ auf die sogenannten ´Protokolle der Weisen von Zion´" (S. 101).
Ich habe bei Ditfurth nirgends einen Quellennachweis zur Bestätigung dieser Behauptungen gefunden. Die Stelle zu den "Protokollen" habe ich mir selbst bei Otany herausgesucht. Doch was lesen wir dort auf Seite 135 (1981)? Um mich nicht des Vorwurfs des Zitierens aus dem Zusammenhang auszusetzen, gebe ich die betreffende Stelle hier vollständig wieder:
"Die Bezeichnung ´Protokolle der Weisen Zions´ weist natürlich in eine bestimmte Richtung, von der aber die Urheberschaft dieser Schrift aufs Schärfste zurückgewiesen wurde. Auch Henry Ford, dessen Buch aus dem Jahre 1921 ´Der internationale Jude´ die angegebenen Zitate entnommen sind, vertritt darin einen völlig einseitigen rassistischen Standpunkt. Wie gesagt, lehne ich selbst es ganz entschieden ab, ein Volk oder eine Rasse mit der Verfolgung solcher Pläne zu verdächtigen. Gerade den Juden gegenüber wäre das die größte Verantwortungslosigkeit, nachdem solche Massenverdächtigungen unter ihnen schon so furchtbare Opfer gefordert haben. Was mich trotzdem veranlaßt, die Protokolle nicht als ´Fälschung´ beiseite zu legen, ist die Tatsache, daß ihr Inhalt exakt die negativen Möglichkeiten des kapitalistischen Systems aufzeigt, wie sie nach dem Erscheinen der Protokolle schrittweise verwirk-licht wurden. Ich halte sie nicht für Exponenten von ´Verschwörern´, sondern für einen Exponenten des kapitalistischen Systems, d. h. für die Darstellung von Möglichkeiten, die bis heute noch jedem gegeben sind, der skrupellos genug ist, sie bis aufs letzte auszunützen. Sie sollen nicht als Anklage dienen, sondern nur als Warnung für jeden, der am Erhalt unserer demokratischen Freiheiten interessiert ist und die Möglichkeiten ihrer Gefährdung durch das kapitalistische System vielleicht noch nicht ins Auge gefaßt hat."
Otany ein "knallharter Antisemit", wie Ditfurth behauptet? In der berechtigten Hoffnung, dass die unverstümmelten Originaltexte sowieso nicht gelesen werden, kann Frau Ditfurth mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten bis hin zu einfach nur aus der Luft gegriffenen Behauptungen ungeniert ihren politischen Gegnern jede Scheusslichkeit unterschieben, um dann gegen diese falschen Unterstellungen zu Felde zu ziehen. Ist diese besonders schäbige Art der Denunziation nicht eines Julius Streichers würdig?
"Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht", heisst ein Sprichwort. Lohnt es sich da noch, nach den "Beweisen" der übrigen Behauptungen über Otany zu suchen? Da ich die zahllosen von Ditfurth angegriffenen Personen, Organisationen und Gruppierungen nicht oder nur wenig kenne und auch keine Lust habe, meine und vor allem die Zeit meiner Leserinnen und Leser damit zu vergeuden, alle ihre Lügen und Verleumdungen gegen Gott und die Welt zu widerlegen, möchte ich mich auf einige ihrer Behauptungen beschränken, die mir wichtig erscheinen und eine Person betreffen, die mir gut bekannt ist und der Ditfurth eine tragende Rolle in ihrer Schmierenkomödie zugedacht hat: Silvio Gesell. Vermutlich steht er - wie das Otani-Beispiel zeigt - stellvertretend für andere. Außerdem erscheint es mir (um mal eine linke Phrase zu dreschen) "konterrevolutionär", tatenlos zuzusehen, wie dieser interessante Sozialreformer mit revolutionären Ideen wegen dieser aufgeblasenen, sich selbst als "marxistisch-humanistisch" verklärenden Denunziantin und einiger "Spinner" (wie Bierl andere nennt) aus ihrem Dunstkreis permanent in Misskredit gebracht wird. Dazu gehört auch die Richtigstellung einiger Behauptungen über Gesells Wirtschaftstheorie.
Der "Antisemit" Gesell
Ditfurth nennt Gesell "rassistisch" (S. 17) und einen "Antisemiten" (S. 16, 115 u. 124). Mal ganz abgesehen davon, dass selbst dann, wenn Gesell tatsächlich ein Rassist und Antisemit wäre, das noch nicht gegen seine Geld-, Zins- und Bodentheorie spräche. Sollte diese richtig und wichtig sein, kann mich nichts davon abhalten, sie dennoch für meine Zwecke auszuschlachten. Kein Marxist hat sich je von Marxens antisemitischen Sprüchen - ja ja, die gibt es! [7] - abhalten lassen, den "historischen Materialismus" zu studieren und zu propagieren. Doch was lesen wir bei Gesell über die Juden? In seiner Schrift Nervus rerum aus dem Jahre 1892 schreibt er in dem Kapitel Die Judenfrage, hier in der Gänze:
"Bei dem heutigen Geldwesen hat der Geldinhaber dem Wareninhaber, d. h. dem Producenten, gegenüber große Vorrechte und wenn er aus diesen Vorrechten Nutzen zu ziehen sucht, so thut er nicht mehr, als jeder andere an seiner Stelle auch thun würde. / Die Juden beschäftigen sich nun mit Vorliebe mit Geldgeschäften und es ist klar, dass diese Vorrechte des Geldinhabers darum auch vorzugsweise den Juden zu Gute kommen. / Hat aber darum Herr Stöcker [der damalige Hofprediger Kaiser Wilhelms II] ein Recht, die Juden zu verfolgen? / Ist nicht das Geld eine öffentliche Einrichtung, kann nicht Jeder, wenn er dazu befähigt ist, den Juden Concurrenz machen, hat nicht schon Jeder, selbst Herr Stöcker, den geheimen Wunsch gehegt, selber Bankier zu sein? / Die Judenhetzerei ist eine colossale Ungerechtigkeit und eine Folge einer ungerechten Einrichtung, eine Folge des heutigen Münzwesens. / Wo Aas ist, da versammeln sich die Adler; will man die Adler vertreiben, so braucht man die Lockspeisen nur fortzuschaffen und die Adler werden von selbst verschwinden, ohne dass es nöthig sein wird, auch nur einen einzigen zu thödten [!]. / Die Münzreform macht es unmöglich, dass jemand erntet ohne zu säen, und die Juden werden durch dieselbe gezwungen werden, die Verwerthung ihrer grossen geistigen Fähigkeiten nicht mehr im unfruchtbaren Schacher zu suchen, sondern in der Wissenschaft, Kunst und ehrlichen Industrie. / Die Münzreform schützt die Juden nicht allein vor jeder weiteren Verfolgung [!], sondern sie sichert auch der deutschen Wissenschaft und Gesetzgebung die Mitwirkung des jüdischen Scharfsinnes." [8] - So spricht also ein Antisemit.
Der "Rassist" Gesell
Doch Ditfurth hat noch anderes in petto. Um Gesell als Rassisten zu entlarven, verwendet sie Bruchstücke aus Gesells Natürlicher Wirtschaftsordnung: "´Die Rassenpolitik der Amerikaner´ sagt Gesell, könne sich ´ja auch einmal gegen die Europäer richten, auch kann in dieser amerikanischen Rassenpolitik der schwarze Bestandteil, können die Neger eines Tages die Oberhand gewinnen´." Einen weiteren Beleg für Gesells Rassismus glaubt sie dort gefunden zu haben, wo Gesell davon spricht, dass die "Empörung ... bei den schwarzen, wimmelnden Arbeitermassen überall ... zum Kriege führen" könne. Auf diese Zitate bezogen stellt Ditfurth die Frage: "Gesell kein Rassist, wie Schmitt und andere behaupten?" (S. 79)
Na, ist er nun? Für diejenigen, die aus diesen Kurzzitaten noch keine Schlüsse ziehen wollen, hier der ganze Abschnitt des ersten Zitats, in dem Gesell das Völkerrecht und die aus ihm abgeleiteten Einwandrungsgesetze der US-Amerikaner anklagt: "Laut diesem Völkerrecht gab Er die Erde - nicht den Menschenkindern, wie es doch in der Bibel heisst - sondern den Völkern. Und welchen Missbrauch treiben die Völker mit den, wie es heisst, noch nicht weit genug getriebenen Hoheitsrechten! Da sehen wir uns einmal Amerika an! Entdeckte Columbus etwa jenen Weltteil für die Nordamerikaner? Sicher nicht; für die Menschheit entdeckte er das Land, zum mindesten aber für seine Landsleute. Und diesen seinen Landsleuten verweigern die Amerikaner heute die Landung unter dem Vorwand, - sie seien des Schreibens unkundig oder hätten kein Geld in der Tasche! Führte etwa Columbus soviel Geld mit sich, und konnten seine Mannen etwa lesen und schreiben? Auch die Aussätzigen, die Zigeuner, die Blinden, Lahmen und Greise weisen die Amerikaner ab - und stützen sich dabei auf ihre Hoheitsrechte, auf das Völkerrecht, auf das Selbstbestimmungsrecht - das man jetzt erweitern und sichern will? ´Amerika für die Amerikaner´ sagen sie dabei verächtlich. Ja, sie gehen noch weiter und sagen: ´Amerika für die amerikanische Rasse´ und verweigern damit dem Hauptstamm des Menschengeschlechts, dem ältesten und zahlreichsten, den Mongolen, den Zutritt in ihr Land - auf Grund des Völkerrechts, auf Grund der Staatshoheitsrechte. Und dieses verderbte Recht sollen wir zum Zweck des Friedens ausbauen und vor Vergewaltigung sichern! Machen wir uns doch einmal klar, was das heisst. Die Rassenpolistik der Amerikaner kann sich ja auch einmal gegen die Europäer richten, auch kann in dieser amerikanischen Rassenpolitik der schwarze Bestandteil, können die Neger eines Tages die Oberhand gewinnen!" Und ganz unten: "Wie gesagt, die Mongolen, Europäer und Afrikaner haben sich bis heute solche Behandlung gefallen lassen. Aber wie lange noch?" [9]
Wie sieht es mit dem zweiten Zitat aus? Vollständig zitiert so: "Von Menschen, die im Klassenstaat, unter Herren und Knechten, unter Bettlern und Almosenspendern, in Wohltätigkeitsbasaren aufwachsen, unter Gesetzen, die viel mehr darauf zugespitzt sind, den Klassen- und Gewaltstaat, die Vorrechte der Reichen zu schützen, als dem Wohle aller Bürger zu dienen, können wir nicht den christlichen Geist erwarten, der nötig ist, wenn wir den Frieden nach innen, wie nach aussen, aufrecht erhalten wollen. Der Geist der Empörung, der bei den Unterdrückten, bei den schwarzen, wimmelnden Arbeitermassen überall in allen Staaten herrscht, und der Geist der Gewaltherrschaft und Unterdrückung, der in den anderen Klassen in entscheidenden Fällen regelmässig die Oberhand gewinnt, schafft selbsttätig die Zustände, die zum Krieg führen." [9a]
Immer noch Unklarheiten? Eine wie Pol Pot akademisch gebildete Vertreterin des "wissenschaftlichen Sozialismus" sollte sich die Frage, ob Gesell Rassist ist, eigentlich selbst beantworten können. Und siehe da - hat sie auch! Eine Seite zuvor, wo sie sich mit Hilfe eines anderen Zitats von Gesell zu dessen Freiland-Konzept äussert: "Unabhängig von ´der Rasse, der Religion, der Bildung und der körperlichen Verfassung´ habe jeder dann das Recht auf völlige Freizügigkeit und dürfe überall so viel Boden pachten, wie er bebauen könne" (S. 78). Nun, immer noch Fragen? Aber, Leute! Natürlich ist Gesell Rassist, tritt er doch dafür ein, dass die Menschen aller Völker und Rassen sich auf dem gesamten Planeten schrankenlos bewegen und sich ansiedeln können, wo sie wollen. Keine Zollschranken, keine Zuwanderungsbeschränkungen, keine "Festung Europa" - wenn das kein Rassismus ist!
Wer das Wort "Kinderschänder" gebraucht, ist selber einer!
Wenn alle Stricke reissen, Frau Ditfurth weiss sich zu helfen. Sie behauptet, bereits der Gebrauch des Begriffs Rasse sei rassistisch. So sind sicherlich auch jene, die das Wort Kinder benutzen, Kinderschänder. Nein? Aber ganz gewiss doch jene, die das Wort Kinderschänder benutzen, oder? Ganz so nicht. Sie schreibt: "Die Annahme, es gäbe ´Rassen´, ist rassistisch" (S. 42). Die "Annahme"! Die "Annahme", es gäbe Kinderschänder. Wer das annimmt, ist einer! Gibt es sie nicht? Und gibt es keine Volksgruppen, die stammesgeschichtlich miteinander verwandt sind und mit anderen Volksgruppen weniger eng verwandt sind, also "Rassen"? Gibt es keine Abstammungsgeschichte und keine Verwandschaftsgrade? Und wenn doch, mit welchem Begriff sollen dann Biologen, Ethnologen und Anthropologen verwandte Volksgruppen von anderen verwandten Gruppen unterschieden? Ist es nicht erlaubt, diese ethnischen Gruppierungen irgendwie zu benennen, zum Beispiel mit dem Begriff Rasse? Soll ein neuer Begriff für Rasse erfunden werden? Dann konsequenterweise auch für Volk, Stamm, Sippe, Klan, Familie? Das nicht? Nur das Wort Rasse, weil es von Rassisten verwendet worden ist?
Soll es den Ethnologen und Anthropologen untersagt werden, Abstammungslinien und Verwandschaften von Ethnien zu untersuchen? Ist Darwin, den Marx wegen seiner Abstammungslehre bewunderte, wieder out? Gilt wieder die christliche Abstammungslehre des vorigen Jahrhunderts? Dürfen biologische Unterschiede nur in der Tierwelt untersucht und benannt werden? Oder darf auch hier nicht von Tieren, Tierarten und Tierrassen und auch nicht von Unterschieden zwischen dem Homo sapiens und anderen Tieren, z. B. den übrigen Primaten, geredet werden? Damit käme sie aber in arge Nähe zu Vorstellungen Peter Singers! Doch keine Sorge, Ditfurth unterscheidet sehr nachhaltig zwischen Mensch und Tier, wie wir bei ihr lesen können, wenn sie sich mit Singer und den Tierschützern anlegt (S. 123 ff.).
Vielleicht möchte Frau Ditfurth Stalin nacheifern, der jede Forschung unterdrückte, die der Ideologie des Marxismus-Leninismus zuwiderlief. Wozu das führte, zeigt ein Beispiel aus der Biologie. In der vulgärmarxistischen Vorstellung, alles sei gesellschaftlich bedingt, glaubte Stalin anscheinend, man könne Einarmige züchten, indem man nur lange genug einer Generationenfolge von Menschen einen Arm amputieren würde; irgendwann kämen dann Einarmige zur Welt. Entsprechend solcher oder ähnlicher Wahnvorstellungen favorisierte er nicht nur die absurden Landwirtschaftsexperimente des Scharlatans Lyssenko, er liess auch dessen wissenschaftliche Konkurrenten einknasten, darunter den bekanntesten und international renomierten sowjetischen Genetiker und Züchtungsforscher, Wawilow. Dadurch verkam nicht nur die Reputation der biologischen Wissenschaften der sog. Sowjetunion zur Farce, das führte auch zu einer gewaltigen Pleite in der Landwirtschaft [10]. Fürwahr ein strammes Werk "wissenschaftlicher Sozialisten", eines Lenin-Ordens würdig.
Vielleicht geht es Ditfurth auch um die berechtigte Abscheu gegenüber diskriminierender Begriffe, also um die richtige Wortwahl, zum Beispiel "intellektuell behinderte Tiere" statt, wie Ditfurth sagt: "blöde Viecher"(S. 69)? Ist Gesell Rassist, weil er nicht korrekt den heutigen Begriff Schwarzer statt den damals allgemein verwendeten Begriff Neger (nicht Nigger!) benutzte? Dann darf heute kein Bleichgesicht den Begriff Indianer benutzen und muss in vielleicht ein oder zwei Jahrzehnten "Roter" sagen (oder "Rothaut"?). Ditfurth will es ganz korrekt: sie bevorzugt "Indigena" (S. 17 ff.). Und überhaupt: "Schwarzer"! Ist der "schwarze Mann" nicht jener, mit dem uns unsere Mütter drohten? Eine Kabarettistin sagte mal, eine gewisse Operette heisst nicht mehr "Der Zigeuner-", sondern "Der Sintibaron". Schliessslich ist auch das Wort Zigeuner als Schimpfwort misbraucht worden. Das Wort Jude aber ebenfalls, also benutzen wir ein anderes, vielleicht Israelit? Ob das allen Juden gefallen würde? Und was macht man..., Pardon, mensch mit dem Wort Kapitalist? Wird doch auch als ziemlich diskriminierendes Schimpfwort gebraucht. Aber eben auch als wissenschaft-licher Begriff in der Ökonomie. Will Ditfurth auf ihn verzichten oder ihn austauschen gegen einen politisch absolut korrekten? Ich kann und werde nicht auf ihn verzichten. Und andere, rational denkende Menschen können und werden nicht auf den wissen-schaftlichen Begriff Rasse verzichten - wenn sich denn dieser Begriff definieren lässt. Gesells abfälliger Gebrauch der Begriffe "Bummler, Sonnenbrüder, Zigeuner" [11] kann allerdings auch robuste Gemüter verärgern, sogar einen grobschlächtigen Bummler und Sonnenbruder wie mich.
Ditfurth will den Begriff Rasse total abschaffen, auch als wissenschaftlichen Begriff. Glaubt sie, damit die Existenz von Ethnien abzuschaffen? Vielleicht nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf? Ihr Tabuierungsdiktat begründet sie so: "Die Annahme von ´Rassen´ versperrt den Blick auf die vielfältigen wirklichen Unterschiede zwischen den Menschen - biologische wie soziale Unterschiede." Aha! Zwischen den einzelnen Menschen gibt es also Unterschiede, sogar (ach, nee!) "biologische"! Ist das nicht Biologismus, wie viele Linke immer wieder behaupten?
Auch Gesell hat individuelle, vielleicht naturgegebene, Unterschiede nicht geleugnet. Er wollte sie mit seiner Idee von fairem Wettbewerb zum Zuge kommen lassen, zum Nutzen der Individuen aller Völker und Rassen. Der biologische Begriffs Rasse hat ihm keineswegs den Blick versperrt auf die sozialen Unterschiede der Menschen. Gerade die sozialen Unterschiede, die durch die kapitalistischen und feudalistischen Ausbeutersysteme bedingt sind, hatte er im Blick! Er will allen Menschen der Erde zur Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung verhelfen und den Individuen aller Völker und Rassen die gleichen Rechte zugestehen. Ist das rassistisch?
Wo bleibt der Nationalismus-Vorwurf?
Frau Ditfurth, die sonst keine Gelegenheit auslässt, andere mit Dreck zu bewerfen, hat jedoch übersehen, dass Gesell auch ein infamer Nationalist ist. Beschwerte er sich doch nach dem Ersten Weltkrieg in einem Brief an seinen Mitstreiter Will Noebe über die Mitgliedschaft einiger "nationalistischer Federn" im Kleide der Freiwirtschaftsbewegung: "Mein Irrtum ist es auch gewesen, dass ich der freiwirtschaftlichen Gedankenwelt eine viele grössere erzieherische Kraft zumass. Mir war es eine Selbstverständlichkeit, dass die nationalistischen Federn, die den freiwirtschaftlichen Mauserungsprozess überlebten, über kurz oder lang abgestossen würden. Solches ist aber bei vielen FFF-Leuten [FFF = Freiland, Freigeld, Freiwirtschaft bzw. Freiland, Freigeld, Freihandel] leider nicht eingetreten. Diese Federn sitzen sehr fest, und ich bin auch noch nicht dahintergekommen, woran das liegt. Dass es ein Erziehungsprodukt ist, das ist mir klar, aber dass dieses Erziehungssprodukt der reifen Überlegung des heranwachsenden Mannes nicht weichen kann, das ist, wie gesagt, schwer verständlich. Mir deucht fast; dass der nationalistische Wahn mit dem religiösen Wahn zu einer Einheit rattenkönigverschwanzt ist, und dass hier Religion und Nationalismus gleichzeitig angegriffen werden müssen. Als Kaiser Konstantin die christliche Lehre zur Staatsreligion ´erhob´, da wurde wahrscheinlich der Plan geschmiedet, aus Gott und Staat einen Brei zu machen und diesen den Staatsknechten auf die Augen zu streichen." [12]
Nach der verschrobenen Logik Ditfurths beweist dieser Brief eindeutig, dass Gesell Nationalist ist. Er muss einfach Nationalist sein! Wo kommen wir sonst hin! Vielleicht zur Freiwitschaftslehre? Davor behüte uns die heilige Jutta!
Eugenik gleich Rassismus
Da Frau Ditfurth keine wirklichen Beweise für ihren Rassismus- und Antisemitismus-Vorwurf gegen Gesell hervorzaubern kann, aber diesen dennoch erhebt, wollen wir versuchen, andere Quellen zu finden, die sie zu diesen Vorwürfen veranlasst haben könnten. Da sie in diesem Zusammenhang gerne aus Gesells Abgebautem Staat zitiert, vermute ich sie dort. Dort wird eine utopische Frauenkommune geschildert, die Frau Ditfurth (S. 111) eine "rassistische" nennt. In der Tat finden wir in dieser Spätschrift mit dem provozierenden Untertitel Leben und Treiben in einem gesetz- und sittenlosen hochstrebenden Kulturvolk Begriffe wie "Wahlzucht", "Hochzucht", "Aufartung", "reine" und "physiokratische Mutterschaft" und "eugenische Lösung", angesichts der späteren NS-Geschichte schon peinlich, auch wenn sie vor der NS-Zeit geschrieben worden sind. Doch was hat das mit Rassismus zu tun? Frau Ditfurth kann offenbar die Begriffe nicht richtig definieren und daher auch zwei nicht auseinanderhalten, die ledigleich eines gemeinsam haben: dass sie aus der Biologie stammen. Bei Gesells "physiokratischer Mutterschaft" haben wir es mit Eugenik zu tun. Eugenik heisst zu Deutsch Erbgesundheitslehre, eine Lehre, die der Förderung gesunder und/oder leistungsfähiger und der Zurückdrängung krankhafter und/oder untüchtiger Erblinien dient. Rassismus hingegen bedeutet, dass behauptet wird, es gäbe "minderwertige" und "höherwertige" Ethnien und dass es daher erlaubt sei, eine Ethnie - in der Regel die eigene - zu bevorzugen und gegebenenfalls andere zu benachteiligen, zu unterdrücken und auszubeuten oder gar auszurotten. Zweifelsohne ist Gesell ein Eugeniker, aber damit noch kein Rassist.
Es ist nicht weit her mit der Ditfurth von ihrem (ihrer) oben genannten Rezensenten (Rezensentin) unterstellen Fähigkeit zu "differenzierter Kritik". Andererseits erwartet sie, dass kein "ungerechtfertigter Hitler-Stalin-Vergleich" (S. 175) gezogen wird. Wie sensibel plötzlich, wenn es um Stalin geht! Zwischen Hitler und Stalin möchte sie differenzieren. Vielleicht so: Stalin war ein Gott, Hitler nur ein Führer? Oder nicht so schlimm wie Hitler? Oder noch schlimmer? Aber doch wohl nicht völlig anders, oder? Sie wünscht von anderen eine "gerechtfertigte" Unterscheidung von Hitler und Stalin. Gar nicht so einfach. Sie selbst kann noch nicht einmal - sehr viel einfacher - unterscheiden zwischen Rassismus und Eugenik oder auch nur zwischen Rassisten und Kosmopoliten. Oder will sie nicht? Um Gesell als Rassisten diffamieren zu können? Dabei könnte sie ihn doch einfach als Eugeniker verurteilen - vorausgesetzt allerdings, Eugenik ist tatsächlich etwas verwerfliches. Dazu wäre die Frage zu beantworten, ob Eugenik noch etwas anderes bedeuten könnte als Erbgesundheitslehre und insbesondere, ob das, was die Nazis und Rassisten darunter verstanden haben, verallgemeinert werden kann.
"Eugenik" ist ein weites Feld und ein in der sozialistischen Bewegung gängiger und unterschiedlich benutzter Begriff gewesen. Der Anarcho-Historiker Max Nettlau zum Beispiel verwendet ihn in seinem Buch Eugenik der Anarchie als sozialen und kulturhistorischen Begriff. Korrekt und gemeinhin - so auch bei Gesell - wird er jedoch als ein biologischer verstanden. In diesem Sinne finden wir z. B. eine ausführliche Auseinandersetzung und bedingte Befürwortung bestimmter biologisch begründeter Gesundheitslehren und Praktiken bei der Feministin und Vertreterin der freien Liebe und der Kinderrechte, Ellen Key, die Anfang dieses Jahrhunderts von dem libertären Zionisten Martin Buber verlegt worden ist [13]. Die Schrift von 1926: Das Jahrhundert des Kindes (S. Fischer Verlag), widmet Key "ALLEN ELTERN, DIE HOFFEN, IM NEUEN JAHRHUNDERT DEN NEUEN MENSCHEN ZU BILDEN". Diese Aufgabe sieht sie - anders als die auf Erziehung (gleich Dressur) fixierten Marxisten - im Zusammenhang mit der Eugenik: der "Veredelung der menschlichen Rasse" durch die bewusste Förderung positiver Anlagen. Dabei geht es nicht - wie es die NS-Rassisten und auch die Sozialdemokraten in Schweden [13a] später interpretiert haben - um eine bestimmte Rasse: die "arische", sondern um die "menschliche Rasse", also die gesamte menschliche Spezies. Sie meint, "der Mensch so, wie er nun ist, [sei] nur ein Übergang zwischen dem Tier und dem Übermenschen". Ähnlich argumentiert auch Konrad Lorenz: der heutige Mensch befinde sich in seiner naturgeschichtlichen Entwicklung zwischen dem Affen und seinen humanistischen Ansprüchen. Da es im Schutze der menschlichen Kultur keinen natürlichen Ausleseprozess mehr gibt, der zur "Höherentwicklung" der Spezies führt, und "wenn die Art sich nicht [durch die fast ausschlisslich negativen Mutationen] verschlechtern soll", sei es laut Key die Aufgabe der Eltern, diesen natürlichen Evolutionsprozess durch bewusstes Handeln zu ersetzen: zur "Hervorbringung starker und genialer Persönlichkeiten". Das muss aber nicht heissen, dass Geisteskranke, Schwachsinnige und sozial "Auffällige" zwangssterilisiert werden, wie das die Sozialdemokraten seit 1935 in Schweden praktiziert haben, und dass psychisch gestörte und erbkranke Menschen oder rassisch "Minderwertige" getötet werden, wie das die Nazis gemacht haben. Wohl aber kann das heissen, dass sich zum Beispiel Menschen mit Erbkrankheiten aus freiem Entschluss nicht selber fortpflanzen, sondern Kinder adoptieren. Gibt es nicht genug auf der Welt, die auf Eltern warten? [13b]
Die Absicht, die Eugenik für rassistische Zwecke zu missbrauchen und allein auf die "arische" oder "nordische Rasse" zu beziehen, gab es allerdings schon im vorigem Jahrhundert. Damit ist jedoch Eugenik nicht per Definition Rassismus. Kann der barbarische Missbrauch der Eugenik durch Rassisten also ein ausreichender Grund sein, auf Eugenik hysterisch zu reagieren? Geht es hier vielleicht um etwas anderes: um einen Widerspruch der Eugenik als einer biologischen Wissenschaft zu einer pseudo-marxistischen Ideologie, die allein auf den Einfluss der Gesellschaft setzt? Vulgärmarxisten behaupten, der Mensch käme tabula rasa, ohne naturgegebene Anlagen auf die Welt, folglich könne er beliebig erzogen, das heisst hingezogen werden, wo Ideologen ihn hinhaben wollen: herandressiert zum "Neuen Menschen" [14]. Weil eine derart einseitige Behauptung nur schwer zu beweisen ist, könnte eine Diskussion über Eugenik und damit auch über angeborene Eigenschaften des Menschen [14a] dieses heilige Dogma in Frage stellen. Oder handelt es sich einfach nur um eine konservativ-irrationale Abwehrreaktion gegen den neuen und ungewöhlichen Gedanken, es könnten "geniale" Persönlichkeiten herangezüchtet werden, wie das in Rot-China bereits von Staats wegen versucht [14b] und auch in den kapitalistischen Ländern über Samenbanken und bald auch per Gentechnik praktiziert wird? - Mal ehrlich, wünschen sich die Kritiker der Eugenik nicht auch klammheimlich kleine Einsteine als Kinder?
GenossInnen, Schafft die Küchenmesser ab!
Vielleicht wittert Frau Ditfurth, sensibilisiert durch die NS-Vergangenheit, den braunen Terror, wenn sie das Wort Eugenik hört. Haben nicht die Tschetniks mosle-mische Frauen mit Messern "geschlachtet", wie sie stolz berichten? Gehen wir deswegen gleich auf den Horrortrip, wenn ein Küchenmesser benutzt wird, nur weil andere damit schon Menschen getötet haben? Kommt es nicht auch darauf an, wer ein Messer benutzt und wozu? Oder geht es nur darum, Gesell mit allen Mitteln in Misskredit zu bringen? Vielleicht, weil Ditfurth und ihren marxistischen Genossen Gesells Geld- und Zinstheorie - die Gesell wichtiger war als die Eugenik - ein Dorn im Auge ist und sie diese nicht widerlegen können? Das werden sie zwar bestreiten, doch "inhaltliche Kritik" an Gesell, wie es Dithfurth fordert, wollen sie nicht vor Gesellianern üben (S. 113), die doch eigentlich besonders kompetent dafür sind. Vielleicht, weil sie dann alt aussehen würden? Was eignet sich da besser, um Gesell und seine Freunde niederzumachen, als eine Verleumdungskampagne im Zusammenhang mit Gesells Eugenik-Kiste? Wie schön kann man das doch in einen Zusammenhang mit den Nazis bringen! Kommt bei Leuten gut an, die - was Ditfurth Franz Alt vorwirft - alles mit den "Augen des Bauches .. sehen" (S. 14).
Gesell hat sich, obwohl gegen Abtreibung, bereits zu einer Zeit gegen ein staatlich verordnetes Abtreibungsverbot ausgesprochen, als Frauen noch für eine Abtreibung hingerichtet werden konnten. Warum schweigt Frau Ditfurth dazu? Weil eine Polemik gegen Gesells Forderungen nach Freigabe der Abtreibung bei Linken, Liberalen und Feministinnen nicht gut ankommen würde? Wie steht es jedoch mit der Abtreibung von geistig und körperlich geschädigten Föten, was Gesell keineswegs fordert? Hier stimmen viele ein großes Geschrei an: Das ist Eugenik! Ist es auch. Doch wenn das Abtreiben kranker Föten als Eugenik zu verurteilen ist, wieso ist dann das Abtreiben gesunder Föten zu rechtfertigen? Weil es keine Eugenik ist?
Ist es überhaupt zu rechtfertigen, werdendes Leben an der Entfaltung zu hindern? In bestimmten Situationen durchaus. Eine unreflektierte Bejahung der Abtreibung hingegen dürfte wohl kaum als eine ausgeprägt lebensbejahende Position zu bezeichnen sein, wie sie Albert Schweitzer mit seinem Grundsatz Leben fördern und Leben erhalten vertritt und wovon Schweitzer auch Tiere nicht ausschliessen will. Gesell hat jede Abtreibung als Eugenik verstanden. Er meint, auf diese Weise würden gegebenenfalls - ich würde sagen, wenn z. B. ein Auto, zumindest der Zweitwagen, einem Kind vorgezogen wird - die Gene kinderfeindlicher und liebloser Menschen biologisch selektiert werden. Ob diese höchst fragwüdrige These richtig oder falsch ist, muss mit Fakten belegt werden. Und auch das garantiert nicht die absolute Wahrheit.
Die "rassistische" Frauenkommune
Gesells Eugenikvorstellungen verursachen in den Ohren biologisch ungebildeter Idealisten einen befremdlichen Sound [15]. Doch das gilt auch für die Ohren sexuell verklemmter Moralisten, wenn sich Gesell zu Ehe, Sexualität und freier Liebe äussert. Diese Äusserungen klingen eher nach Sprüchen aus der Zeit der "sexuellen Revolution" um ´68 und nicht aus der Zeit von ´33 bis ´45. In Der abgebaute Staat schildert Gesell die Fahrt eines Reisenden durch das "Land der Physiokraten". Er lässt dort eine junge Frau sagen: "Hier ist niemand verheiratet, weder Mann noch Frau" und "Hier hat man die Frauen nicht. Und man hat auch keine Männer."[16] Berta erklärt dem Reisenden beim Besuch einer utopischen Frauenkommune das Ziel der "physiokratischen Mutterschaft": kräftige, gesunde, geistreiche und schöne Kinder, deshalb habe sie sieben Kinder von sieben verschiedenen Männern. Ist das verwerflich? Befremdlich klingt, wenn sie erklärt, dass sie, um "der Aufartung der Menschheit" noch nützlicher sein zu können, wünscht, ihre begrenzte Möglichkeit der Männerauswahl "zu einem Weltwahlkreis erweitern zu können" [16a].
Eine "rassistische Frauenkommune", wie Ditfurth behauptet, wenn es um die ganze Menschheit geht? Darauf kommt es ihr doch an, wenn sie den "Speziezimus" propagiert (S. 159; siehe Kapitel Die Homo-sapiens-Patriotin). Und soll es den dortigen Frauen verboten werden, diese "fixe Idee" (Stirner) der "Aufartung" der ganzen Spezies Mensch auszuleben? Frau Ditfurth plädiert doch für die "Selbstbestimmung und allseitige Entfaltung jedes Menschen" (S. 20).
Aber Stirner sagt doch: "Aus fixen Ideen entstehen die Verbrechen." Recht hat er. Wenn fixe Ideen vergesellschaftet (Moral) oder verstaatlicht (Gesetz) werden. Gesell wollte, dass die Eugenik das alleinige Eigentum der Eignerin ihrer Selbst ist: der Frau. Der Bauch gehört ihr, und nur ihr allein! Das mag man (Mann!) als egozentrisch, unsozial oder wider die Natur kritisieren, aber das war Gesells Position.
Mit Hitlers Zielen "deutscher Mutterschaft" hatte die physiokratische Mutterschaft wohl kaum etwas zu tun, oder? Hitler wollte eine Jugend, hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, bestialisch wie Raubtiere und von "arischem" Geblüt, am besten blond. Dennoch nennt Ditfurth die physiokratische Frauenkommune "rassistisch". Ähnlich schepperte auch ihr Lautsprecher Bierl bei seinem Vortrag über Gesell auf der berühmten Gaspistolen-Party im Berliner Anarchotreff El Locco (siehe Kapitel Die "inhaltliche" Diskussion der roten Kader). Dort behauptete er, auch die internationalen Paarungsfreuden und Fortpflanzungspraktiken in der physiokratischen Frauenkommune seien "Rassismus". Was ist dann das Vögeln mit dem Volksgenossen? Etwa die "internationale Solidarität"? Das, was Bierl "Rassismus" nennt, nannten die Nazis "Rassenschande". Was für eine verdrehte Welt!
Nach dieser El-Locco-Veranstaltung meinte eine Studentin bei einem Glas Bier, sie sei selbst Eugenikerin: sie würde sich nämlich für ihre Liebschaften immer die schönsten und nettesten Männer auswählen. Welche Frau (bitte melden!) versucht das nicht und wünscht sich, wenn sie Mutter werden will, statt von einem zwar reichen, aber dummen, hässlichen und womöglich noch gewalttätigen "Ernährer", lieber von einem zwar armen, aber schönen, netten und intelligenten Mann, den sie liebt, ein Kind - wenn sie es sich denn materiell leisten kann! Das wollte ihr Gesell mit einer finanziellen Absicherung bei einer Mutterschaft mittels eines existenzsichernden Kindergeldes ermöglichen: mit der aus der Bodenrente finanzierten "Mutterrente". Damit wollte Gesell auch der in seiner Zeit verbreiteten Zwangszeugung geistig und körperlich behinderter Kinder durch männliche Alkoholiker in den Elendsvierteln der Grossstädten einen Riegel vorschieben. Es soll in der Feministinnenszene allerdings Frauen geben - wahrscheinlich kinderlose -, die verwechseln die Mutterrente mit Hitlers "Mutterkreuz".
Gesells "Neuer Mensch" - ein Werk der Mütter!
Im Abgebauten Staat beschreibt Gesell Weg und Ziel seiner "Aufzucht" des Menschengeschlechts, zu der er niemanden zwingen will: "Wir wollen nicht umgeben sein von Ärzten, Apothekern und Quacksalbern. Wir wollen keine hohlbrüstigen Jünglinge, keine bleichsüchtigen Mädchen um uns sehen. Wir wollen Geist, Gesundheit, Schönheit, Kraft und die Lebenssfreude, die für alle aus solcher Zucht erwächst, und die allein unserem Dasein einen vernünftigen, paradiesischen Zweck gibt. Wir empfehlen aber auch, nicht mit spartanischen Mitteln hier einzugreifen, wir wollen der Zeit Zeit lassen, das Ihrige zu tun. Was eine 1000-jährige Fehlzucht verpfuschte, das mag ein weiteres Jahrtausend wieder gut machen. Die Härte aller Naturgesetze verwandelt die Zeit, die jene für ihre Ziele brauchen, in Milde, und auch wir wollen diese Milde walten lassen. Es genügt uns, wenn wir wissen, dass die Ursache der Degeneration beseitigt ist, dass wir uns wieder auf ansteigender Bahn befinden... Wir wollen nicht nur in der Freiheit leben, in der Freiheit geboren sein, sondern bereits in der Freiheit, d. h. in der Liebe, gezeugt werden. Der Freiheit und Unabhängigkeit unserer Mütter, der sicheren Führung ihrer Triebe, nicht aber Gesetzen und Rechenexempeln wollen wir unser Dasein verdanken. Die Stallzucht hat aus dem Urstier das Monstrum geschaffen, das wir auf den Ausstellungen prämiieren. Dieselbe Stallzucht [in den patriarchalischen, feudalen und kapitalistischen Ausbeutergesellschaften] hat aus unseren Urvätern das Geschlecht zuwege gebracht, das jeder von uns im Spiegel voll Wehmut und hoffnungsloser Bekümmernis betrachten kann." [16b]
Damit ist auch Ditfurths Frage: "Wer entscheidet, wer Väter ´hoher physischer und psychischer Qualität´ sind?" (S. 111), beantwortet: Die Frauen, und zwar mittels der "sicheren Führung ihrer Triebe", der Triebe der Liebe, der psychischen Instanz "Es" hätten wir ´68-er gesagt. Ob die Führung durch die "Libido" (Freud) oder Liebe, die bekanntlich blind macht, wirklich so treffsicher ist, mag zu bezweifeln sein, auf jeden Fall überlässt Gesell die Entscheidung den direkt betroffenen potentiellen Müttern. Bei ihm ist auch nirgends die Rede von Tötung oder auch nur Sterilisation "unwerten Lebens", wie das bis heute in vielen demokratischen Ländern praktiziert worden ist. Seine Eugenik beschränkt sich auf die von Frauen bestimmte "Zuchtwahl". Die Frauen suchen sich nach eigenem Wunsch und unabhängig von Geld, Ehe, Moral, elterlicher, staatlicher oder patriarchalischer Gewalt den Mann aus, von dem sie ihre Kinder haben wollen. Zu einer fundierten Kritik an Gesells Eugenik-Vorstellungen gehört mehr als die Gleichsetzung von Eugenik mit Rassismus und Faschismus und eine billige Polemik gegen eine Position, die vielleicht nicht Ditfurth, die es auf Verleumdung abgesehen hat, aber vielen anderen Kritikern offensichtlich unbekannt ist.
Im Physiokrat 6 und 10 / 1913 hat Gesell seine Überlegungen zur Eugenik differenziert dargestellt. Hier widerspricht er auch ausdrücklich der Behauptung, "dass die Degenerationserscheinungen in irgend einem Zusammenhang mit der Schonung der Schwachen steht". Ebenso sei der Krieg kein Mittel positiver, wohl aber negativer Selektion. Nur da, "wo die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ausgeschlossen ist" und "wo das Weib in der wirtschaftlichen Ordnung Schutz findet", sind "die Bedingungen für eine natürliche, gesunde Entwicklung des Menschengeschlechts durch die Zuchtwahl gegeben" [17]. In diesem Text können Gesells spezifischen Eugenik-Vorstellungen und -Praktilken mit anderen verglichen und dann kritisiert werden.
Erstaunlich, dass sich Ditfurth darüber beschwert, dass "rationales Denken ... heute denunziert" (S. 14) werde, hat sie damit doch selber Schwierigkeiten. Ihr mangelt es offenbar an der Fähigkeit, Fakten wahrzunehmen wie sie sind und voneinander zu unterscheiden, eine unerlässliche Voraussetzung für wissenschaftliches Arbeiten und zu Kritik- und Urteilsfähigkeit. Aber vielleicht sind Wissenschaftlichkeit und sachgerechtes oder gar gerechtes Urteilen nicht ihr Anspruch. Hat nicht Lenin schon gesagt, im Interesse der Revolution darf gelogen werden? Auch für Ditfurth und ihren Haufen geht es um Politik, und da ist intellektuelle Redlichkeit nicht gefragt. Politik ist ein schmutziges Geschäft, wusste schon Machiavelli, und dass Politiker lügen, um Macht und Einfluss zu erringen, ist allgemein bekannt. Was sollen sie auch machen? Die Wahrheit kommt bei den "Massen" schlecht an, wie 1990 der SPD-Kanzlerkandidat Lafontaine erfahren musste [17a]. Und Lügen werden geglaubt, wenn sie nur oft genug wiederholt werden, wusste vor Dirtfurth schon Goebbels. Insbesondere, wenn sie mit Versprechungen verbunden sind: kommunistisches Paradies, "blühende Landschaften" (Kohl). Kurzum und frei nach Tucholsky: "Politiker sind Lügner".
Auch Ditfurth und ihre "AntifaschistInnen" sind gute, erfolgreiche PolitikerInnen, werde ich doch in Kreuzberg auf Grund ihrer intensiven Aufklärungsarbeit schon mit "Heil Hitler" begrüsst! Eine beachtliche politische Leistung, wie diese Töchter und Söhne aus jener bourgeoisen Klasse, die grösstenteils Hitler gewählt oder mit Hitler symphatisiert hat, den proletarischen Sohn eines linken Antifaschisten, der im KZ gesessen hat und dort ums Leben gekommen ist, linken Kids als Nazi und Hitler-Anhänger verkaufen! Wirklich beeindruckend. Eine Pogromhetze gegen einen Anarchisten [17b], die der Streichers gegen die Juden kaum nachsteht, oder?
Frau Ditfurth ist zwar eine exzelente Politikerin, jedoch eine miserable Feministin, hat sie doch anzuprangern versäumt, dass Gesell nicht nur ein Faschist, Rassist und Antisemit, sondern auch ein ziemlicher Macho war. Hatte er es doch - als Eugeniker der Praxis - mit den verschiedensten Frauen getrieben und mit ihnen zehn schöne Kinder gezeugt. Was auch von einer ausgeprägten Kinderfeindlichkeit zeugt! (War er gar Päderast?)
Gesells "Demokratie-" und "Massenfeindlichkeit"
Frau Ditfurth liegt auch schon mal richtig - fast! Diese Leninistin, deren Genossen penetrant von Demokratie schwatzen, aber die wohl totalitärsten Regieme installierten, meint, Gesell sei "ein erklärter Antidemokrat" (S. 114). Horst Bume, sicher-lich ein Mitglied des Jutta-Ditfurth-Fan-Clubs, deutete im Schwarzen Faden (131 / 1984) zart eine Massenfeindlichkeit bei dem "Faschisten" (Blume) Gesell an. Als Beleg dienen ihnen zwei bis drei Zeilen aus Gesells Natürlicher Wirtschaftsordnung. Wie kann man auch antidemokratisch und massenfeindlich sein?
Als gute Sozialisten und Kommunisten sind Ditfurth, Blume und Genossen "Demokraten" und lieben die "Massen". Die Massen, an denen gewiss auch das Sensibelchen Peter Handke seine Freude hat. Jene Massen von Männern, die den patriotischen Aufrufen des Wende-Kommunisten Milosevic für ein Gross-Serbien tapfer Folge leisteten und in heldenhafter Pflichterfüllung und mit der Kalaschnikow in den Fäusten und den Ständern in den Hosen Bosnien von zehntausenden moslemischen Kindern, Frauen und Männer desin-fizierten. Sehr liebenswert auch schon jene Massen, von denen Ernest Borneman (der die Kommune ZEG "verteidigte"; S. 64) zu berichten weiss: die proletarischen Massen, die sich im alten Rom an den Qualen und dem Brüllen der zerfetzten, zerrissenen brennenden und sterbenden Sklaven, Kriegsgefangenen, Frauen und Kindern bei den "Spielen" in der Arena des Kolosseums ergötzten [18]. Echt geil! Oder jene revolutio-nären Massen, die Tiberius und Marc Aurel fast gestürzt hätten, als sie diese unterhaltsamen Spiele für die bedauernswerten land- und arbeitslosen Massen Roms aufgeben wollten [19]. Was hatten die auch sonst! Glotze und Bild-Zeitung gab´s damals noch nicht. Und jene Masse von Demokraten, die Sulla in das Amt des Prätors wählte, weil er ihr versprach, für diese lustigen Spielchen Tiere in Afrika zu beschaffen [20]. Oder die Massen aus jüngerer römischen Geschichte: die Massen der Kleinbürger, die Mussolini vergötterten, jenen Duce, der das Prügelsymbol dieses althumanistischen Roms, das Rutenbündel, zum Symbol des Faschismus erkor. Und nicht zu vergessen die braven "arischen" Massen, die Hitler und Goebbbels zujubelten, als sie zum Sturm gegen die asiatischen Untermenschen bliesen. Fürwahr: Massen zum abknutschen.
Auch Hitler hielt sich was darauf zugute, von den Massen demokratisch gewählt worden zu sein (die "Intelligenzbestie" Goebbels nannte die Wähler "30 Millionen Idioten"). Im Gegensatz zu den Verherrlichern der Massen, den Faschisten, Nazionalsozialisten, Kommunisten und manchen Neo-Anarchos, ist Gesell in der Tat massenfeindlich. Das heisst jedoch nicht unbedingt, dass er auch, wie die Faschisten, Nationalsozialisten und Kommunisten, antidemokratisch ist. Er hält zwar die Demokratie für ein Übel, aber gegenüber allen anderen bislang praktizierten Herrschaftsformen immer noch für das kleinste und propagiert seine Idee von Anarchie: die "Akratie". Ditfurth wie Blume sollten wissen, dass auch die anarchistischen Klassiker nicht viel von Demokratie hielten, ist sie doch ein Herrschaftssystem: eben Volks-Herrschaft. Anarchisten wollen Selbstbestimmung der Individuen und die Autonomie freier Vereinigungen und nicht die Herrschaft einer Mehrheit über eine Minderheit, schon gar nicht die Herschaft faschistoider [21] Massen. Um der Herrschaft dieser Massen vorzubeugen, fordert Proudhon - wie Gesell - als unumgängliche Grundlage einer humanen und freiheitlichen Demokratie die Lösung der sozialen Frage und darüber hinaus ein föderalistisches Gesellschaftssystem.[21a] Entsprechend der allgemein verbreiteten Definition von Links und Rechts wäre Gesell also links der Demokraten einzuordnen.
Anarchistischer Tradition entsprechend, zieht Gesell das Individualrecht dem Völker-, Staats- und Massenrecht vor. Im Zusammenhang mit dem Recht aller Menschen auf den Grund und Boden des ganzen Planeten schreibt Gesell (hier, im Gegensatz zu Ditfurth, ausführlich zitiert): "Ich aber sage: die Rechte der Völker, das Massenrecht, sind schon zu gross, viel zu gross. Die Rechte der Massen können niemals eng genug begrenzt werden. - Dafür müssen aber die Rechte der Menschheit umsomehr erweitert werden. Wenn die Völker schon ihre jetzigen Rechte missbrauchen, wieviel mehr Missbrauch werden sie mit den erweiterten Rechten treiben.
Nein, hier betreten wir Holzwege - die Rechte der Völker müssen beschränkt und, soweit es um die Staatshoheit der Völker über den von ihnen besetzten Boden handelt, sogar restlos abgeschafft werden. Völkerrecht ist Krieg - Menschenrecht ist Frieden. Die Entwicklung des Völkerrechts nennt man Fortschritt. Das ist nicht richtig, es widerspricht der Geschichte. Zuerst war das Gewaltrecht, das Massenrecht, das sogenannte Völkerrecht. Aus ihm entwickelte sich langsam das Menschenrecht, das Recht des einzelnen Menschen. Der Fortschritt geht also vom Massenrecht zum Recht des Einzelmenschen. / Die Völker sind im Vergleich zu ihren Bestandteilen immer minderwertig. Der Mensch gewinnt nicht, wo er die Verantwortung für alles Tun und Lassen auf die Masse abwälzt: in der Gemeinschaft handelt der Mensch schäbiger als einzeln. Swift sagte schon: ich habe immer die Staaten und Gemeinden gehasst - meine Liebe geht auf den Einzelmenschen." [22]
Wir wissen, welche Verbrechen Einzelne im Schutz der Gemeinschaft, der Masse und des Staates während der NS-Zeit, schon 1915 in Armenien und jüngst in Bosnien und Ruanda begangen haben. Allerdings übersieht Gesell, dass der Charakter der Masse auch etwas damit zu tun hat, wie der Charakter der einzelnen Individuen beschaffen ist, aus der sich die Masse zusammensetzt.
Das hat Wilhelm Reich in Massenpsychologie des Faschismus dargelegt. Er orientiert sich dabei an Freuds Einteilung der menschlichen Psyche in Ich, Es und Über-Ich [23]. Vereinfacht gesagt, repräsentiert das Ich die Intelligenz, das Es die naturgegebenen Triebe und Instinkte und das Über-Ich die gesellschaftlich vermittelte Ideologie und Moral. Im Über-Ich befindet sich also alles, was Reich der "emotionellen Pest" des "faschistoiden", das heisst des autoritär und autoritätshörig geprägten Individuums, zurechnet: Ehre, Treue und Gehorsam, religiöse, nationalistische, völkische und rassistische Wahnvorstellungen, den Hexen- und Beschneidungswahn, Sadismus, Masochismus usw. Diese emotionelle Pest ist nach Reich das Erbe des Patriarchats und wird in den patriarchalischen Sozialisationsprozessen, insbesondere durch Erziehung gleich Dressur, geprägt [23a]. Sie dient den Interessen der Herrschenden als Neigung der Individuen zu "freiwilliger", Über-Ich bestimmter Unterwerfung unter die Vaterfiguren der Gesellschaft und ihre Ideologien.
Diese "faschistoiden" Massen-Individuen lassen sich von den Herrschenden leicht manipulieren und zu allen Verbrechen verleiten. Bezeichnend für die Autoritätshörigkeit und Unterwürfigkeit der Massenmenschen der Textauszug einer Rede des treuesten Knappen Hitlers, Rudolf Hess: "Mit Stolz sehen wir: Einer bleibt von aller Kritik ausgeschlossen, das ist der Führer. Das kommt daher, dass jeder fühlt und weiss: Er hat immer recht, und er wird immer recht haben. [In einem SED-Hit heist es: "Die Partei hat immer Recht"] In der kritiklosen Treue, in der Hingabe an den Führer, die nach dem Warum im Einzelfalle nicht fragt, in der stillschweigenden Ausführung seiner Befehle liegt unser aller Nationalsozialismus verankert. Wir glauben daran, dass der Führer einer höheren Berufung zur Gestaltung deutschen Schicksals folgt. An diesem Glauben gibt es keine Kritik." [24]
#