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1.   Zur Geschichte der Utopien 

Schwendter-1994

 

Es ist eine Ansichtssache, wo wir die Geschichte der Utopien beginnen lassen. Manche zählen die Mythen vom verloren­gegangenen Paradies hinzu — dann sind Utopien ganz alt. Es ist nur noch ein einziger Gedankenschritt notwendig: der, daß das verloren­gegangene Paradies eines Tages wiederkehren wird, in welcher denkbaren Form auch immer.

In der Tradition des Alten Testaments sind es die Propheten, deren Bilder — etwa, daß in der »endgültigen Zeit« das Lamm neben dem Löwen weiden wird — einen bedeutenden Einfluß ausüben: Ihre Verheißungen finden wir bei Jesus von Nazareth und in der Offenbarung des Johannes wieder. Die griechische Mythologie kennt ein »Goldenes Zeitalter« und den schließlichen Ruheplatz der Eleusischen Felder.

Sympathisch alltagsorientiert ist die (schon durch den »weisen Herrscher« zu verwirklichende) Utopie in Laotses »Tao Te King«: Kleine Nachbarschaften, in welchen die Speisen der Menschen süß, ihr Wohnen freundlich, ihre Lebensweise friedlich ist. 

Auch die mythischen Utopien, die von der Umwälzung der Kosmologie ausgehen, gründen in der Negation des jeweils schlechten Bestehenden. So erstaunt es nicht, daß das islamische Paradies der arabischen Wüstenvölker so sehr vom Überfluß an Wasser gekennzeichnet ist.

Andere lassen die Utopiegeschichte bei den ersten nachweisbaren Staatsabhandlungen oder Staatsromanen beginnen. Oft genannt wird hier der griechische Philosoph Platon, der, auf seine Weise, bereits Realutopien / konkrete Utopien konstruiert. Zudem weist er die Besonnenheit auf, schon zwei verschiedene, seiner Ansicht nach ideale Gesellschaftsordnungen (eine »beste« und eine »zweitbeste«) zu entwerfen und miteinander zu vergleichen: Platons »Politeia« mit seiner starren Dreiklassen­gesellschaft (Herrscher/Philosophen; Soldaten; Bauern/Handwerker), Gemeineigentum und »Zuchtwahl« war zwar einerseits autoritär geprägt, andererseits aber auf Freiwilligkeit beruhend. Platon hat auch (erfolglos) versucht, den sizilianischen Diktator Dionysios zu beeinflussen und seine Utopien für die Gestaltung dessen Staates zu übernehmen.

Als erster utopischer Staatsroman des Altertums wird im allgemeinen der »Sonnenstaat« des Iambulos angenommen. Was nicht bedeutet, daß es keine anderen gegeben haben kann — auch wissen wir nicht, was alles in der Bibliothek von Alexandria, zum Beispiel, verbrannt worden ist.

Nur kurz streife ich das Mittelalter, das zwar an utopischen Quellen reich, indes an utopischen Schriften im heutigen Sinne des Wortes jedoch arm ist. Erstere manifestieren sich vor allem in Märchen (Schlaraffenland), in Mythen (Barbarossa, der aus dem Inneren des Berges Kyffhäuser zurückkehren wird), in Vorstellungen unentdeckter Länder und »guter (imaginärer) Kaiser« (das Goldland »Eldorado« und der Kaiser Johannes), in den Normen religiöser Subkulturen (Albigenser) und gerechtigkeits­orientierter Sozialrebellen.

Im heutigen Sinne des Wortes entstand die Utopie im 16. Jahrhundert. Sie ist vor allen mit dem Namen von drei Autoren verbunden: Der britische Kanzler Thomas Morus, später wegen seiner Gegnerschaft zum König Heinrich VIII hingerichtet und als katholischer Heiliger verehrt, schreibt seinen Staatsroman »Utopia«, der dem ganzen Genre den Namen geben sollte. Die Utopien kennen Gemeineigentum, umfassende alternative Bildungsprozesse, Dezentralisierung und Ablehnung des Luxus — allerdings auch sexuelle Repression, Sklaverei, Todesstrafe und Stellvertreterkriege. 

Der Dominikanermönch Tommaso Campanella, in Opposition zur herrschenden Linie seiner katholischen Kirche, daher den größten Teil seines Lebens im Gefängnis verbringend, setzt ebenfalls, mit Thomas Morus, auf einer Insel (wahrscheinlich Sri Lanka) seinen »Sonnenstaat« fest. Regiert von drei techno­kratischen Sonnenpriestern, die von der Staatsorganisation über die Bildung bis zur »Zuchtwahl« (siehe Platon) alles regeln, sind auch hier Armut und Privateigentum abgeschafft. Schließlich bezieht sich Francis Bacon in seinem Fragment »Neu Atlantis« auf eine ausschließlich technologisch-innovative Zukunftsgesellschaft und ist vom Wunder der Fülle künstlicher Herstellungen fasziniert. Böse Zungen behaupten, Bacon hätte all das geistig vorweg­genommen, wogegen unsere zeitgenössischen Bürgerinitiativen gezwungen waren, den Kampf aufzunehmen.

Wiederum kennt das 17. und 18. Jahrhundert eine Fülle utopischer Äußerungen, unter welchen keine einzelne Schrift oder schreibende Person hervorragt. Der Buchdruck ist, in den Händen des aufkommenden Bürgertums, weit verbreitet. Der allmähliche Verfall des Feudalsystems wird langsam offensichtlich. Die Richtungen der gemachten Reformvorschläge (und Revolutions­ansätze) klaffen weit auseinander. Es entstehen Staatsromane, Fürstenspiegel, Reisebeschreibungen zu imaginären »guten« Südseevölkern, entworfene oder wirkliche Geheimgesellschaften, Verfassungsentwürfe, aufklärerische Reformkonzepte (oft genug in Romanform) und Alternativprojekte (Shakers).

Die Amerikanische Revolution 1776 und die Französische Revolution 1789 zeigen, daß Veränderungen möglich sind. Nahe­liegenderweise gibt es viele Autoren (und wenige Autorinnen), welchen die Veränderungen nicht weit genug gehen, zumal das Volk von Paris trotz aller Revolution arm bleibt. Mary Woolstonecraft und Olympe de Gouges fordern in weitreichenden Konzepten die Rechte der Frauen ein. 1.1

 

Vor allen erreichten hierbei drei Utopisten historische Bedeutung, die bis heute anhält: Der Graf Claude Henri de Saint-Simon zeichnet eine technokratische Welt universeller Sozialpartnerschaft von Industriellen und Arbeitenden mit Hilfe von Wissenschaft und Kunst, die in produktivem Bündnis gegen die Herrschaft aller Unproduktiven (gemeint sind vor allem Grundherren, Klerus und hohe Beamte) die Welt dynamisch verändern sollen. Die »Landgewinnung« (der späte Goethe des »Faust II« war wahrscheinlich von Saint-Simon beeinflußt), der »Kanalbau« (bei so gut wie allen Kanalprojekten des 19. Jahrhunderts waren Saint-Simonisten beteiligt), die »Abschaffung« der Ehe und des Erbrechts sind hierbei Momente, die mir in aller Kürze der Erwähnung wert scheinen.

Charles Fouriers Gesamtwerk1.2 kreist immer wieder um einen zentralen Gedanken: die stufenweise Auflösung der unüber­schaubaren und herrschaftlichen Gesamtgesellschaft in eine Vielzahl von Großkommunen (zwischen 500 und 1800 Personen), die in einer Verbindung von Autarkie, solidarischem Austausch und Marktorientierung die Gesamtheit der Produktions- und Lebenszusammenhänge unter sich regeln sollen. Spezifisch für Fourier sind dabei die Auflösung dauerhafter Arbeitsteilung: Jeder Mensch, der dies will, soll in die Lage gesetzt werden, alle 1 1/2 Stunden einen anderen »Beruf« auszuüben, in kleinen Teams zu arbeiten und zu leben (die Fourier »Serien« nennt). Diese »Serien« betreiben geradezu in emphatischem Sinne multikulturelle Hege und Pflege und beinhalten normative Abweichungen (insbesondere sexueller, aber auch ideologischer und konsumtiver). Jahrzehntelang als Spinner angesehen, wozu einige Momente seines Werks, die in Science Fiction übergehen, auch einladen, wie z.B. die Verwandlung des Meeres in Zitronenlimonade und eßbare Gallerte, ist Fouriers Einfluß auf eine Reihe von Utopien des 20. Jahrhunderts groß.

Schließlich der britische Fabrikant Robert Owen, der sein Vermögen für gesellschaftliche Experimente verwendet hat. Auch Owen ist ein Utopist der Dezentralisierung: Seine kleinen, auf die Aufhebung des Widerspruchs von Stadt und Land bedachten Einheiten haben bedeutende Einflüsse auf das Entstehen der britischen (und der weltweiten) Genossenschaftsbewegung und der Gartenstädte ausgeübt. Ebenfalls waren seine Ideen zu Erziehungs- und Bildungsprozessen weitertreibend.

Bis ins frühe 20. Jahrhundert setzt sich der utopisch-sozialistische Diskurs so gut wie bruchlos fort. Als allgemeiner Grundsatz kann dabei festgehalten werden, daß, je mehr die Produktion von Utopien sich häuft, desto stärker wird die ökonomische Strukturkrise fühlbar. Bis zu jener Zuspitzung der Krise, die im Revolutionsjahr 1848 zum Ausdruck gekommen ist, wären beispielsweise die »Reise nach Ikarien« des Franzosen Etienne Cabet zu erwähnen: eine zentralistische Utopie, die auf Effizienz, Arbeit, Gemeineigentum und strikte Hierarchie bezogen ist. Oder die des deutschen Schneidergesellen Wilhelm Weitling, etwa in den Schriften »Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte« und »Das Evangelium des armen Sünders«.1.3

Keineswegs hindert indes die Kritik Marx' und Engels' am utopischen Sozialismus — welcher infolge der Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus als entbehrlich angesehen wird — an der weiteren Abfassung von Sozialutopien, was zur Jahrhundertwende einen Höhepunkt erreicht.1.4  Dazu kommen noch technisch-wissenschaftliche Utopien, Dystopien zu den Wirkungen zukünftiger Kriege — die 1914 von der Wirklichkeit eingeholt wurden — sowie die idealtypische Erprobung in alternativen Projekten insbesondere in den USA. Bei Marx selbst finden sich, wenngleich über das Gesamtwerk verstreut, mindestens 50 realutopische Anmerkungen; zusammen­hangslos, nur wenig originell, aber fraglos von einem Bilderverbot weit entfernt.

Hochmilitarisiert, mit Wehrpflicht bis zum 45. Lebensjahr in einer allgemeinen Arbeiterarmee und einer hierarchischen Herrschaft der Älteren (Gerontokratie) ab dem 45. Lebensjahr, mit vereinheitlichter Meinung und Bildung stellt sich die Gesellschaft in Edward Bellamys »Rückkehr aus dem Jahre 2000« dar. Wie muß eine Gesamtgesellschaft ausgesehen haben, in der selbst diese Utopie die Phantasien von Millionen Menschen anreizen konnte?

Ganz im Gegensatz dazu findet in William Morris' »News from Nowhere« (»Kunde von Nirgendwo«) eine dezentralisierte Reökologisierung statt — in der Themse der Zukunftsgesellschaft können wieder eßbare Lachse gefischt werden. Wie Fourier, zählt auch Morris zu den heute aktuell gebliebenen Utopisten der Vergangenheit.

Um nicht im Eurozentrismus zu verharren — ohnehin wissen wir viel zu wenig von den in den Ländern der 3. Welt abgefaßten Utopien —: Der republikanische, oft emigrierte, chinesische Autor K'ang Yu-Wei versucht in einer außerordentlich umfassenden, immer wieder in veränderten Auflagen erschienenen Schrift (»Das Buch von der Großen Gemeinschaft«) alle von ihm wahr­genommenen Weltprobleme zu lösen. Dabei gelingen ihm zwar eine Reihe von Einsichten; der Vereinheitlichungsdrang K'angs wirkt sich in vielen Momenten allerdings außerordentlich repressiv aus. Alle Staaten sind bei ihm nur als Planquadrate mit geographischen Längen und Breiten zugelassen, und alle Rassenunterschiede werden mit struktureller Gewalt nivelliert.

Zentrale Themen des utopischen Diskurses um die Jahrhundertwende sind die Verkürzung des Normalarbeitstages, insbesondere im Wechselverhältnis von Produktion und Bedürfnissen, bzw. Luxusproduktion, und das Verhältnis von Landwirtschaft, Handwerk und Industrie. Hertzka, Kropotkin, Bebel und andere übertreffen sich geradezu in Prognosen und realutopischen Versicherungen, daß der Normalarbeitstag auf 6, 4, 3, 2, 3/2 Stunden gesenkt werden könnte. Joseph Popper-Lynkeus ist mit seinen präzisen Berechnungen geradezu gemäßigt, wenn er zum Ergebnis von 6 Stunden kommt.

Nun könnte eingewendet werden, der Großteil der Genannten hätte Randströmungen der Arbeiterbewegung angehört. Dagegen spricht allerdings, daß August Bebel, Vorsitzender der SPD, die damals als marxistisch galt und mithin sicherlich im Zentrum der Arbeiterbewegung, nicht nur eine eigene Monographie über Charles Fourier publiziert hat, sondern auch sein Hauptwerk »Die Frau und der Sozialismus«, einen zeitgenössischen Bestseller, mit einer hundertseitigen Realutopie beschloß. Neben einer Reihe von überraschungsfreien Punkten, wie Gemeineigentum, zeichnet sich die Bebelsche Utopie durch einen verhältnismäßig avancierten Umgang mit ökologischen Fragen aus. So sollte Bebels Sozialismus auf Sonnenenergie aufgebaut sein.1.5

 

Der erste Weltkrieg hat utopisches Denken schwer beeinträchtigt. Nicht, daß es in den nachfolgenden Jahrzehnten keine Rolle spielte — doch wird die Form durch die sozioökonomische Lage der Welt beeinflußt. Als ob es darum ginge, dem Zeitgeist der Zwischenkriegszeit ein Symbol zu geben, befaßt sich Sörgels Utopie »Atlantropa« ausschließlich mit der Verbesserung aller Lebensumstände (wenigstens der vorgeblichen) durch die Errichtung eines Riesendamms in der Straße von Gibraltar, der im Laufe der Zeit das gesamte Mittelmeer auszutrocknen imstande wäre und von diesem nur noch einige (wenngleich tiefe) Seen übrig ließe.

Es ist die hohe Zeit der Dysutopien, in der auch Aldous Huxleys sprichwörtliche »Schöne neue Welt« entsteht. Nehmen wir als einen von vielen den fraglos bedeutenden utopischen Autor Herbert George Wells: Fast vierzig Jahre lang steht im Vordergrund Dutzender Romane, theoretischer Schriften und Aufsätze die Vorstellung einer weltrettenden Geheimorganisation kahl­geschorener, kaltgeduschter, sexuell asketischer, großgewachsener Spitzenintellektueller, mögen sie gerade »Neue Samurai« oder die »Weltorganisation der Flugzeugtechniker« heißen. So viele Entbehrungen ziehen sicherlich Aggressionen nach sich, die für eine hierarchische Machtausübung auf Weltebene sorgen. Der Staat darf dann ruhig absterben: im Jahre 2300, ungefähr.

Nach dem zweiten Weltkrieg führt der dann eintretende Aufschwung zu einer widersprüchlichen Situation. In Ost und West sehen alle die Dinge zu ihrem Besten sich entwickeln: Sind es im Osten nur noch »Engpässe«, die die »entwickelte sozialistische Gesell­schaft« vorerst verhindern, so muß im Westen nur noch ein »Kampf gegen die Armut« gewonnen werden. 

Zum einen ergibt sich daraus die Ansicht, daß die Utopie, jedenfalls als Staatsroman zwecks Herstellung besserer Gesellschaft, am Ende sei und in Science Fiction sich auflösen werde (z.B. bei Martin Schwonke oder Judith Shklar). Zum anderen gibt es jede Menge utopischer Konstruktionen, die — wir befinden uns am Anfang des Elektronikzeitalters — eine Zukunftsgesellschaft nach den Grundsätzen des »mehr vom selben, schneller, höher, technologischer« vorsehen.

Der CIBA-Kongreß 1962, die »Modelle für eine neue Welt«, die Szenarios von Hermann Kahn und Anthony Wiener deuten die Richtung an; metaphysisch überhöht auch von Teilhard de Chardin, bei dem, als Punkt Omega, Gott und die elektronische Maschinerie in eins zusammenfließen. Als Ausläufer schließlich noch Arbeiten, wie »Computopia«, des Japaners Masuda: Alles kann mit allem elektronisch kommunizieren; Prozeßrechnergesteuerte Automaten spucken so viele Güter aus, daß es nur noch Überfluß gibt. Selbstredend erzeugt Atom, mit oder ohne »faustischen Pakt« (A. Weinberg), soviel Strom, daß die Energie­probleme auf alle Zeiten gelöst sind, wie beim reformsozialistischen Radovan Richta. Nach Skinners »Futurum II«, wenn auch auf der Kibbuz-Basis entworfen, fungiert sie als Illustration der Verhaltenstechnologien desselben Autors.

In den Jahren nach 1966 beginnt eine erneute langfristige strukturelle Wirtschaftskrise, die 1973 (»Ölkrise«) in das Bewußtsein der Öffentlichkeit tritt — und die immer noch nicht ausgestanden ist. In dieser zweiten »langen Depression« — so wurde die Wirtschaftskrise 1873-1896 genannt — kommt es zu einer zweiten »Resurrektion* der Utopie« (d-2005: Auferstehung - der Toten)

Da ich den großen Teil meiner Ausführungen in diesem Buch auf die letzten Jahrzehnte beziehen will, werde ich mich an dieser Stelle so kurz wie möglich fassen:

 

1. Im großen und ganzen ist die ökologische Weltproblematik, bzw. sind gesellschaftliche Lösungsvorschläge derselben, der bestimmende Gegenstandsbereich der meisten zeitgenössischen Utopien. Dies gilt insbesondere, aber nicht nur, für den nahezu namensgebenden Roman Ernest Callenbachs »Ökotopia«.1.6  
Multikulturell, sanft technologisch, dezentralistisch, frauenfreundlich, hierarchiearm (aber nicht hierarchielos): so idealtypisch dieser Roman (neben einer eher überflüssigen aggressiven Szene) ist, so sehr machen die verschiedensten vergleichbaren Utopien Varianten dieser Normen aus.

2. Daran ändert auch nichts, daß unterschiedliche Interessen (zumal von einem weltweiten Blickpunkte aus) auch unterschiedliche zeitgenössische Utopien nach sich ziehen. Naheliegenderweise sind die Utopien der Dritten Welt industriegeprägter als die der Ersten.1.7  Ebenso wird deutlich, daß das Mischungsverhältnis der intellektuellen Studentenbewegung zwischen elektronischen und ökologischen Momenten in den Jahren nach 1967 von Land zu Land variiert. In den Niederlanden und in den USA traten die ökologischen Einflüsse früher und nachhaltiger auf, in Frankreich, besonders spät.

3. Der markanteste Unterschied zu früheren Zeiten verstärkter Utopiebildung besteht darin, daß nahezu alle mir bekannten utopischen Schriften im Sinne Ernst Blochs »Freiheitsutopien« sind: dezentral, hierarchiearm und wenig Wert legend auf effiziente Organisationsformen. Noch die Übergangsutopien von dem Siegeszug der elektronischen Maschinerie zum ökologischen Paradigma betonen die dezentralistischen Aspekte ihrer Visionen. Stellvertretend mögen hierfür die Zukunfts­forscher Maguroh Maruyama und Alvin Toffler stehen: Maruyama für die Vielwertigkeit aller Erscheinungen, Toffler für den hoffnungsvollen Übergang von der Bürokratie zur »Adhocratie«1.8. Erst recht gilt dies ausnahmslos für alle ökologistisch ausgerichteten Utopien.

Zu dieser Tendenz hat es in den siebziger Jahren markante Ausnahmen gegeben: Ausgehend von der wahrnehmbaren Gefährdung der Menschheit durch die ökologische Globalkrise haben drei Entwürfe außerordentlich unterschiedlicher weltanschaulicher Herkunft eine Öko-Diktatur vorgeschlagen. Es handelt sich dabei um den westdeutschen Konservativen Herbert Gruhl, den ostdeutschen Dissidenten Wolfgang Harich sowie um den amerikanischen Liberalen Robert Heilbronner (den genannten wären noch einige vergleichbare aus dem Umkreis des französischen Rechtsextremismus hinzuzufügen). Ein Übergewicht repressiver Ordnungsutopien ist allerdings dennoch nicht festzustellen.

4. Eine überproportional große Zahl von Utopien (oder utopieähnlicher Entwürfe — zu dieser Differenzierung an anderer Stelle) bezieht sich auf Modelle künftiger Gesellschaften, wie wir sie schon bei Fourier gefunden haben: eine Vielzahl kleiner autonomer Gemeinschaften mit jeweils großer normativer Vielfalt. Dies tun sie sehr oft, ohne sich ausdrücklich auf Fourier zu beziehen.1.9   Die britischen Ökologisten Edward Goldsmith und Richard Allen regen in ihrem »Planspiel zum Überleben« an, in einer Art Hundertjahresplan Großbritannien in Kommunen von 500 Personen zu zergliedern, um die Umweltverheerungen zu beenden. 

Die Ideen des Schweizer Autors mit dem Pseudonym P.M. zirkulieren sowohl in seinen Romanen (»Weltgeist Superstar«) als auch in seiner utopischen Konzeption (»bolo'bolo«) und in dem folgenden Band (»Olten, oder: Ideen für eine Welt ohne Schweiz«) um eine gegliederte Weltföderation aus Gemeinschaften (P.M. nennt sie »bolo's«) aus 500 Personen. Seine zentrale Motivation ist die Begründung von Gemeinschaften auf Selbst­versorgungsbasis mit den Gütern des täglichen Bedarfs. Rudolf Bahros »Kommune wagen« wiederum basiert auf der Neubegründung der Klosterökonomie.

5. Schließlich ist zu prognostizieren, daß die Resurrektion der Utopie noch einige Zeit anhalten wird. Zum einen macht die wirtschaftliche Situation (den ehemaligen Ostblock inbegriffen) nicht den Eindruck, sich in absehbarer Zeit wesentlich zu verbessern. Zweitens sind zwischenzeitlich eine Reihe utopieerzeugender Verfahren entwickelt worden, deren bekannteste die Zukunfts­werkstatt von Robert Jungk ist (sie wird an anderer Stelle skizziert werden). Dies ermöglicht einer Vielzahl von Menschen, ihre Utopien (bzw. die ihrer Klassenströmungen, ihrer Teilkulturen und Subkulturen) zu formulieren, während dies in früheren Zeiten nur relativ kleinen Personen­gruppen möglich war.

Allerdings ist es durchaus möglich, daß innerhalb des nächsten Jahrzehnts ein weiterer wirtschaftlicher Aufschwung eintritt — und dann der angedeutete utopische Impuls nachläßt bzw. sich auf ähnlich kleine subkulturelle Gruppen sich beschränkt, wie dies in den Jahrzehnten des »Wirtschaftswunder« der Fall war.

In diesem Fall würde ich die vorliegende Prognose aufrechterhalten, daß der nächste zyklische Aufschwung auf der groß­technologischen Anwendung ökologischer Erkenntnisse, durchgeführt etwa von multinationalen Konzernen, basiere.

Vorherschaubar wäre dann, daß die Gruppe ökologistisch motivierter Menschen sich teilt in eine dann voraussichtliche Mehrheit (sozialdemokratische Vertreter der »ökologischen Modernisierung«, grüne Realpolitiker, Theoretiker, wie Joseph Huber), die mit dieser Entwicklung die ökologistischen Utopien etwa der Siebzigerjahre als erfüllt ansähen — und in eine dann voraussichtliche Minderheit, der die entsprechenden Reformen nicht weit genug gingen. 

Freilich — unterstellt, ökologische Globalkrise und unkontrollierbare Biotechnik ermöglichten der Menschheit überhaupt ein Überleben, das den Namen verdient — würden jene zu früh frohlocken, die dann, wieder einmal, das endgültige »Ende der Utopie« gekommen sähen. 

Überraschungsfrei wäre vorherzusagen, daß die utopische Dimension spätestens dann wieder verstärkt da wäre, wenn die nächste Strukturkrise eintritt.

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Anmerkungen

1.1  Die Tochter von Mary Woolstonecraft, Mary Shelley, wird zu den ersten dys-utopischen Science-Fiction-Erzählerinnen gezählt: Ihr »Frankenstein«, entstanden um 1820, wird heute noch verfilmt; ihr »Letzter Mensch« nimmt das katastrophenbedingte Aussterben der Menschheit im Jahr 2100 vorweg.

1.2  Umfaßt 20 Bände, leider immer noch nicht ins Deutsche übersetzt.

1.3  Auch Weitling ist auf seine Weise ein faszinierender, auch heute noch lesenswerter Autor, dessen Ideen sich allerdings außerordentlich widersprüchlich zur Darstellung bringen: Einerseits beginnt bei ihm die Utopiearbeit aus dem Geiste einer alternativen christlichen Tradition, welcher heute bis zur Theologie der Befreiung oder zu Franz Alts »Bergpredigt« reichen sollte. Andererseits sind auch seine Lösungsvorschläge keineswegs von technokratischen Ideen frei: Experten, wie Ärzte und Techniker, sollen die künftige Gesellschaft leiten.

1.4  Insbesondere in der Schrift von Friedrich Engels »Die Entwicklung des Sozialismus, von der Utopie zur Wissenschaft«.

1.5  Nur der Ergänzung halber sei festgestellt, daß der utopische Bezug auf alternative Energieformen keine absolute Innovation August Bebels ist. Bereits um 1830 hat der utopische Sozialist Etzler ausführlich und im Detail über die mögliche künftige Funktion von Sonnen-, Wind- und Gezeitenenergie geschrieben.

1.6  Dies gilt auch für den Nachfolgeband »Der Weg zu Ökotopia«, der das Zustandekommen jener utopischen Gesellschaft, die in erstgenanntem Roman bereits als Resultat erschient, zu skizzieren beansprucht.

1.7  Dies gilt für Herrera und Scolniks argentinisches, wenngleich weltweit intendiertes, Barniloche-Modell, in dem die Atomenergie fröhliche Urstände feiert; auch noch für das von Skinner inspirierte, jedoch gesamtgesellschaftlich bewußtere »Futurum III« von Ruben Ardila.

1.8  Ins Deutsche übersetzt: "Hierarchische Teams kommen, hierarchische Teams gehen."

1.9  Vor kurzem forderte auch der anarchistische Theoretiker Murray Bookchin am Ende seine Buches »Ökologie der Freiheit« auf, Fourier zu studieren.

 

 

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