1.
Skinner-1948
13-19
Eines Tages tauchte er im Eingang zu meinem Büro auf. Er trug schon keine Uniform mehr, hatte aber die lederne Bräune, die seinen Militärdienst verriet, noch nicht verloren. Er war schlank und blond und lächelte das nette unbeschwerte Lächeln dessen, der seine Abschlußprüfung bestanden hat.
Er hätte irgendein beliebiger des halben Dutzends früherer Schüler sein können, an die ich mich undeutlich erinnerte. Er zögerte einen Augenblick wie in Habtachtstellung, streckte dann seine Hand aus und trat näher. »Hallo, Sir!« sagte er heiter, während ich mich auf seinen Namen zu besinnen versuchte, und fügte hinzu: »Rogers, Sir. Einundvierziger.«
»Rogers, Rogers, aber natürlich!« rief ich. »Freut mich, Sie zu sehen. Nehmen Sie Platz.« Er wandte sich zur Tür um, und ich sah, daß er einen anderen jungen Mann mitgebracht hatte, der wie er nach Wind und Sonne aussah. »Professor Burris, das hier ist Leutnant Jamnik. Wir waren zusammen auf den Philippinen, Sir.«
Jamnik gab mir schüchtern die Hand. Er war etwas kleiner als Rogers und stämmiger gewachsen. Seine Lippen machten nicht recht mit, als er zu lächeln versuchte, und er war sich des Eindrucks, den er machte, offenbar nicht bewußt. Keiner von der Universität, dachte ich, und ein bißchen ängstlich, einem Professor gegenüberzustehen. Vielleicht hatte Rogers es ihm noch schwerer gemacht, indem er mich mit Sir anredete. Das hatte nichts mit meinem früheren militärischen Rang zu tun und war eher ein Überbleibsel aus der Schulzeit.
Ich bot ihnen Zigaretten an und stellte die üblichen Fragen. Ob sie die neuen Behelfsheime schon gesehen hätten, die Wohnwagencamps und die umgebauten Kasernen? Wie fanden sie die Quonset-Klassenräume — und so weiter. Rogers gab passende Antworten, schien aber zu einem bloßen Geplauder keine Lust zu haben. Er preßte die Hände zusammen, warf Jamnik einen raschen Blick zu und ließ bei der ersten Gelegenheit hastig eine anscheinend vorbereitete Rede vom Stapel:
»Jamnik und ich haben in den beiden letzten Jahren viele Gespräche miteinander gehabt«, fing er an. »So über allgemeine Fragen. Wir waren auf Patrouillendienst, was immer ziemlich langweilig war, und da redeten wir dann so allerhand; und einmal kamen wir auf Ihre Idee von einer Art utopischen Gemeinwesens zu sprechen.«
Ich kann nicht recht erklären, wieso diese harmlose Bemerkung mich verblüffte. Jahrelang hatte es sich in mir festgesetzt, daß ich nicht ohne Nervosität an meine früheren Studenten denken könne. Sie erschreckten mich. Ich suchte sie zu vergessen und mied sie, wo ich konnte. Mir schien, ihre kümmerliche Entfaltung von Wissen war alles, was ich an Lehrerfolg aufweisen konnte. Und angesichts dieses Flickwerks empfand ich nicht nur keine Befriedigung, sondern ganz einfach Widerwillen.
Was mich so bekümmerte, waren die klaren Beweise, daß meine Lehrtätigkeit ihr Ziel verfehlt hatte. Ich konnte verstehen, daß junge, unbeschwerte Gemüter wohl viel von dem, was ich ihnen beibrachte, vergaßen. Aber nie konnte ich mich abfinden mit der unheimlichen Genauigkeit, mit der sie läppische Einzelheiten behielten. Wenn sie mich besuchten und wir auf die Anfangsgründe zu sprechen kamen und ich etwas anschnitt, was wir — wie ich jedenfalls annahm — zusammen erarbeitet hatten, strotzten sie vor Unwissenheit. Aber fröhlich und wortwörtlich pflegten sie mich an irgendeine smarte Antwort, die ich gegeben hatte, oder an eine improvisierte Abschweifung zu erinnern, mit der ich gelegentlich mal eine leergelaufene Unterrichtsstunde ausgefüllt hatte.
Gern wäre ich einverstanden gewesen, sie allesamt in Unkenntnis der Psychologie fortleben zu lassen, wenn sie nur meine Ansichten über Schokoladen-Sodawasser oder meine amüsante Schilderung einer Episode auf einer spanischen Straßenbahn vergessen hätten. Es ging schließlich so weit, daß ich auf dergleichen Unsinn wartete wie ein Übeltäter mit Anspielungen auf seine Untat rechnet. Und um so etwas handelte es sich jetzt. Meine Idee einer Art utopischer Gemeinschaft! Bei der Erinnerung daran gab es mir einen Stich. Ich hatte tatsächlich einmal über amerikanische Gemeinschaften des neunzehnten Jahrhunderts gesprochen.
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Auf der Universität hatte es einen Sonderling namen Frazier gegeben, der sich dafür interessierte. Ich hatte ihn nicht sehr gut gekannt, hatte ihn aber reden gehört. Möglicherweise war sein Interesse Anlaß dafür, daß ich einmal daran dachte, mit Hilfe der Segnungen moderner Technik so etwas wie ein Gemeinwesen zu realisieren. Aber das lag jahrelang zurück. Hatte ich jemals zu meiner Klasse davon gesprochen? Und, guter Gott, was hatte ich denn eigentlich damals von mir gegeben?
»Sehen Sie, Sir«, fuhr Rogers fort, »Jamnik und ich, wir sind wie viele andere junge Leute heutzutage. Wir können zu keinen Entschlüssen kommen. Wir wissen nicht, was wir eigentlich wollen. Ich wollte Jura studieren, wenn Sie sich erinnern.« Ich nickte heuchlerisch. »Aber damit ist es jetzt aus. Ich habe es mit meinem Vater besprochen, und ich will es eben nicht mehr. Jamnik hat überhaupt noch keine Pläne, stimmt's, Steve?«
Jamnik nickte nervös. »Vor dem Krieg«, sagte er achselzuckend, »hatte ich einen Posten in einem Schiffahrtsbüro. Das kann man kein Plänemachen nennen.«
»Wir sehen einfach nicht, daß wir da weitermachen sollen, wo wir aufgehört haben. Warum sollte es nicht an der Zeit sein, neu anzufangen? Von Grund auf! Warum nicht ein paar Leute zusammenbringen, die irgendwo ein soziales System errichten, das wirklich funktioniert? Es gibt eine Unmenge Sachen auf dem Weg, den wir jetzt gehen, die absolut unsinnig sind — wie Sie zu sagen pflegten.« Ich zuckte zusammen, aber Rogers war zu sehr in Fahrt, um es zu bemerken. »Warum sollten wir nichts daran ändern können? Warum nicht was Neues anfangen, etwas unternehmen?« Betretenes Schweigen.
Ich sagte hastig: »Ihr jungen Leute habt doch bis zum heutigen Tag recht gute Arbeit geleistet.« Ich bedauerte die Bemerkung, denn ich war sicher, daß Rogers solchen zivilen Schmus satt hatte. Aber wie die Dinge lagen, wollte ich ihm ein Stichwort geben. »Es klingt komisch, Sir, aber Krieg führen ist irgendwie ganz leicht. Auf jeden Fall weiß man, was man will und was man zu tun hat. Aber heute wissen wir nicht einmal, wo wir anfangen sollen, um das Durcheinander, in dem wir stecken, in den Griff zu kriegen. Gegen wen kämpfen wir? Was für ein Krieg ist das? Verstehen Sie, was ich meine, Sir?«
»Ich verstehe es schon«, sagte ich und meinte es auch.
15
Als der Krieg zuende war, hatte ich mich darauf gefreut, in mein altes Leben zurückzukehren, aber ein Jahr fragwürdigen Friedens hatte keine besonderen Wandlungen gebracht. Während des Krieges hatte ich mir ein gewisses soziales Verantwortungsbewußtsein angeeignet — trotz alteingewurzelter gegenteiliger Neigung; jetzt fühlte ich mich nicht imstande, es wieder abzulegen. Mein neugewonnenes Interesse für soziale Probleme und mein guter Wille hatten keinerlei Wirkung auf die Gesellschaft, nicht den geringsten Wert für irgend jemanden; das Resultat war Niedergeschlagenheit und die Einsicht, daß alles vergeblich war.
»Viele Leute, die ebenso empfinden«, sagte ich, »gehen in die Politik.«
»Ja, ich weiß. Aber ich weiß auch noch, was Sie darüber sagten.« Abermals holte ich tief Luft. Das mußte an einem meiner smarteren Tage gewesen sein. «Damals«, fuhr Rogers fort, »verstand ich Sie nicht. Wenn ich so sagen darf, Sir, hatte ich den Eindruck, daß eine Art von Unmoralität dahinter steckte — im bürgerlichen Sinne meine ich. Aber jetzt verstehe ich Ihren Standpunkt und Steve auch. Die Politik würde uns nicht die Chancen geben, die wir brauchen. Sehen Sie, wir wollen etwas tun. Wir möchten herausfinden, was mit den Menschen los ist und warum sie nicht zusammenleben können und immerfort kämpfen. Wir wollen wissen, was die Menschen eigentlich wollen; was sie brauchen, um glücklich zu sein; und wie sie das erreichen können, ohne andere zu betrügen. Das läßt sich in der Politik nicht machen. Da kann man keine Experimente machen. Die Politiker verbringen ihre Zeit damit, den Leuten einzureden, daß sie recht haben; aber sie müßten doch wissen, daß sie bloß herumtasten, ohne jemals etwas zu beweisen.«
Das war zweifellos Fraziers Einstellung. In Rogers jugendlichem Enthusiasmus war wenig, das mich an Frazier persönlich erinnerte, aber seine Argumentation war bestimmt die gleiche. In irgendeiner schwachen Stunde mußte ich die Verpflanzung vorgenommen haben.
»Warum sollen wir nicht von Grund auf in der richtigen Weise neu anfangen?« fuhr Rogers fort, beinahe ängstlich, als fühlte er sich gezwungen, mir unliebsame Fehlleistungen vorzuwerfen. Ich verteidigte mich: »Manche sind der Ansicht, daß die Antwort im Lehren und Forschen besteht.«
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»Im Forschen meinetwegen«, erwiderte Rogers rasch. »Aber im Lehren, nein. Es ist schon richtig, die Leute anzuregen, sie zu interessieren, das ist besser als gar nichts. Aber auf die Dauer heißt das nur, den Eimer weiterzureichen, wenn Sie verstehen was ich meine, Sir.« Er hielt verlegen inne.
»Um Himmels willen, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, versetzte ich. »An diesem Punkt können Sie mich nicht verletzen, da liegt meine Achillesferse nicht.«
»Was ich meine, ist: man muß die Sache selber in die Hand nehmen, wenn sie überhaupt etwas werden soll. Und nicht jemanden anders dazu anstacheln. Vielleicht kommen Sie bei Ihrer Forscherarbeit der Antwort nahe, das kann ich nicht beurteilen.« Ich zögerte. »Ich fürchte, die Antwort liegt in weiter Ferne.« »Eben das finde ich auch, Sir. Es ist eine Aufgabe für die Forschung, aber nichts, was Sie auf einer Universität oder in einem Labor betreiben können. Man muß das Experiment selber machen, und zwar als Experiment mit dem eigenen Leben! Und man darf nicht irgendwo in einem Elfenbeinturm sitzen und zugucken, als ob das eigene Leben nicht darin verwickelt wäre.« Er hielt abermals inne. Vielleicht war jetzt meine Archillesferse doch getroffen. Ich verpaßte die Gelegenheit, ihm etwas Beruhigendes zu sagen. Ich mußte an Frazier denken und wie erstaunlich gut seine Ideen die Verpflanzung überstanden hatten. Eine berufsmäßige Überlegung kam mir in den Sinn: vielleicht war dies der Test, ob jene Idee gut und innerlich beständig war. Aber Rogers Stimme unterbrach meine Gedanken: »Haben Sie mal von einem Mann namens Frazier gehört, Sir?«
Der Drehstuhl, auf dem ich, mit dem Rücken an den Schreibtisch gelehnt, saß, kippte nach vorn, und ich konnte nur durch eine rasche, ungeschickte Bewegung dem Vornüberfallen entgehen. Das muß komisch ausgesehen haben, denn ich vernahm ein unterdrücktes, mit einem Erschreckenslaut gemischtes Lachen. Ich rückte den Stuhl wieder zurecht und setzte mich auf, wobei ich nach einer Redensart suchte, um meine Fassung wiederzufinden, fand aber keine. Ich brachte mein Jackett in Ordnung. »Sagten Sie Frazier?« fragte ich.
»Ja, Sir, Frazier, T. E. Frazier. Er hat in einer alten Zeitschrift einen Artikel geschrieben, den Steve Jamnik gelesen hat. Er hat ein Gemeinwesen gegründet, und zwar in der Art, wie Sie es mal entwickelten.«
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»So hat er's also zustande gebracht«, sagte ich unbestimmt und einigermaßen erschüttert.
»Haben Sie ihn gekannt, Sir?«
»Seinerzeit, ja. Zumindest muß es derselbe Mann gewesen sein. Wir haben zusammen studiert. Ich habe zehn Jahre oder noch länger nichts von ihm gesehen oder gehört. Er war es, der ... ja, einige der Ideen, die ich Ihnen über Utopien vermittelte ... er und ich haben sie miteinander gewälzt. Im Grunde waren es überwiegend seine Ideen.«
»Sie wissen nicht, was seitdem aus ihm geworden ist?« erkundigte sich Rogers, und ich meinte Enttäuschung in der Frage zu hören. »Nein, aber ich wüßte es gern.«
»Wir wissen auch nichts, Sir. Dieser Artikel war mehr ein Programm, er ist vor sehr langer Zeit geschrieben worden. Man hatte den Eindruck, daß er bereit wäre, anzufangen, aber wir wissen nicht, ob was daraus geworden ist. Wir dachten, es würde sich lohnen, es zu erfahren. Das könnte uns Anregungen geben.« Ich griff nach dem Jahrbuch meiner Berufs-Gesellschaft. Frazier war nicht als Mitglied darin aufgeführt. Aber ich fand noch eine acht Jahre alte Ausgabe, und dawar er verzeichnet: »T. E. Frazier«, mitsamt seinen akademischen Graden und den dazugehörigen Universitäten. Eine ständige Zugehörigkeit zu einer Universität war nicht mit aufgeführt, offenkundig hatte er das Lehramt aufgegeben, vielleicht überhaupt keins begonnen. Nach dem, was ich von ihm wußte, überraschte mich das nicht. Einmal hatte er mit einem Rotstift zu einem Zeitschriftenartikel des Rektors, den er wie einen englischen Schulaufsatz behandelte, Anmerkungen gemacht. Er hatte die Interpunktion korrigiert, die Wortstellungen verbessert und mittels Reduzierung gewisser Sätze zu logischen Symbolen eine mangelhafte Denkarbeit bloßgelegt. Dann das Ganze signiert und mit der Zensur »mangelhaft« an den Rektor geschickt.
Die Postadresse im Jahrbuch war eine Überraschung. Zu jener Zeit hatte Frazier in einem hundert Meilen entfernten Nachbarstaat gewohnt. Die Anschrift lautete: Futurum Zwei, R. D. i, Canton. »Futurum Zwei«, wiederholte ich langsam, nachdem ich meinen Besuchern die Auskunft mitgeteilt hatte. Einen Augenblick waren wir still.
»Nimmst du denn an —?« sagte Rogers.
»Bestimmt!« erwiderte Jamnik, plötzlich ohne jede Verlegenheit. »Sein Gemeinwesen! In seinem Artikel stand eine Menge über diesen Namen. Weißt du das nicht noch, Rogers?« Mir ging ein Licht auf.
»Futurum Zwei. Futur zum zweitenmal. Klar. Und es sah Frazier durchaus ähnlich. Er wollte eine zweite Zukunft schaffen.« Wir verstummten. Ich warf einen Blick auf die Uhr über meinem Schreibtisch. In zehn Minuten hatte ich Vorlesung und hatte meine Notizen noch nicht geordnet.
»Ich will Ihnen sagen, was ich tue«, sagte ich und stand auf. »Ich werde Frazier ein paar Zeilen schreiben. Ich kannte ihn nicht näher, verstehen Sie, aber er wird sich an mich erinnern. Ich werde ihn fragen, was los ist — wenn überhaupt was los ist.« »Das wollen Sie tun, Sir? Das wäre großartig!« »Wenigstens werden wir erfahren, ob Futurum Zwei noch existiert. Das Wahrscheinlichste ist, daß alles nur ein Luftschloß war und sich in Dunst aufgelöst hat. Aber wir werden ja sehen.« »Ich glaube, Sie werden ihn dort finden«, sagte Rogers. »Dieser Artikel klang nicht nach einem Luftschloß, was meinst du, Steve?« Jamnik dachte einen Augenblick nach wie ein Navigator, der rasch eine Berechnung anstellt. Dann sagte er ruhig: »Er wird da sein.«
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