Kapitel 1 Einführung
1.1 Kinder an die Macht 1.2 Haben oder Sein
"Warum zerstören die Menschen den Planeten Erde?" — jeden Tag erhält die Umweltschutzorganisation Greenpeace durchschnittlich etwa 40 Briefe von Kindern, in denen viele Fragen gestellt werden. Die Kinder schreiben sich "ihre Erschütterung von der Seele" und bringen "ihre Hoffnung auf Greenpeace als Helferin für die bedrohte Umwelt zum Ausdruck" (Bachmann 1996, S.113). Autorin des folgenden Briefes ist ein siebenjähriges Mädchen aus Berlin:
Liebe Greenpeace
meine
Freunde und ich haben eine
Nämlich die
Kinder aus unserem Haus (Hort)
und
wenn wir ihnen sagen, dass sie aufhören sollen eure Meike |
In diesen wenigen Zeilen ist im Grunde alles enthalten, worum es in der vorliegenden Arbeit geht. Meike ist anscheinend ein sehr aufmerksames Mädchen: Zusammen mit ihren Freunden hat sie eine "Umweltschutzbande" gegründet ("Prinzip Verantwortung"), sie macht sich über Mitmenschen große Sorgen, die "sehr umweltunfreundlich" sind ("Prinzip Angst") und wendet sich schließlich hilfesuchend an Greenpeace ("Prinzip Hoffnung") — mit anderen Worten: Meike hat ein lebendiges "Ökologisches Gewissen", das sich in ihrem engagierten Eintreten für die Umwelt offenbart. Würden alle Menschen so denken und handeln wie Meike, die Welt sähe mit Sicherheit anders aus. Doch Meike gehört wie alle Kinder auf der Erde zu den machtlosesten unter den Menschen.
Angst, Hoffnung und Verantwortung sind die Schlüsselbegriffe des ökologischen Gewissens, wie es hier wissenschaftlich untersucht wird. Hintergrund der Studie ist die weltweite Umweltzerstörung, wie sie am Ende des 20. Jahrhunderts in exponentieller Art und Weise im Gange ist. Auch wenn diese Tatsache heute allgemein kaum bezweifelt wird, gibt es doch unterschiedliche Auffassungen über das Ausmaß und den Umgang mit der Katastrophe. So stellen sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive u.a. die folgenden Fragen: Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen? Ist dieser Prozeß überhaupt noch aufzuhalten? Wenn ja, wie? Weitgehende Einigkeit scheint darüber zu bestehen, daß die globale ökologische Krise keine Krise der Natur, sondern eine Krise des gesellschaftlichen Naturverhältnisses — also ein "Gesellschaftsproblem" — ist (Böschen 1996, S.3).
Wie reagiert die globale Gesellschaft auf ein Problem, das sie selbst hervorgerufen hat und dessen Teil sie ist? Wie reagiert die Wissenschaft auf ein Problem, das sie selbst mitzuverantworten hat? Und wie reagieren Kinder und Jugendliche auf ein Problem, mit dem sie im Laufe ihres Lebens in Zukunft möglicherweise immer öfter konfrontiert werden? Insbesondere die letztgenannte Frage steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Kinder und Jugendliche werden als die einzige "soziale Kategorie" gesehen, die noch kaum Gelegenheit hatte, die Umwelt zu zerstören (Heid 1992, S.25). Aufgrund ihrer "Unschuld" kann davon ausgegangen werden, daß sie mit ihrer Wahrnehmung wertvolle Seismographen für die Gesellschaft sein könnten.
Sind Kinder und Jugendliche unser ökologisches Gewissen?
In der Realität scheint es allerdings eher so zu sein, daß Kindern neuerdings eine ganz andere Last aufgebürdet wird. Statt von ihnen zu lernen und uns für eine lebenswerte Welt einzusetzen, die auch zukünftigen Generationen Überlebenschancen bietet, hinterlassen wir den Kindern nicht nur eine "grausame Hypothek" (Petri 1991, S.109), sondern wälzen unsere Verantwortung auch zunehmend ab. So kann in den letzten Jahren eine Tendenz beobachtet werden, nach der die Lösung der Umweltprobleme von Politik und Wirtschaft auf die Erziehung übertragen wird (vgl. Lehmann 1996).
Auch wenn Familie und Schule zu den wichtigsten Sozialisationsinstanzen gehören, besteht kein Grund, von einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung abzusehen. Ein Beispiel für den derzeitigen Umgang unserer Gesellschaft mit dieser Verantwortung wird im nächsten Abschnitt illustriert. Wie "umweltbewußt" sind wir eigentlich? Sind wir überhaupt "umweltbewußt"? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen setzt eine begriffliche Reflexion voraus.
1.2 Brent Spar:
Umweltbewußtsein haben oder umweltbewußt sein?
Wie Gamm (1988) bemerkt, ist der Begriff der "Umwelt" seit einiger Zeit dabei, dem älteren der "Natur" den Rang abzulaufen. "Umwelt" avancierte im Verlauf der siebziger und achtziger Jahre zu einem Schlüsselbegriff und stand im Zentrum öffentlicher Diskussion. In den neunziger Jahren wird "Um-Welt" als ein "Schlüsselbegriff der Postmoderne" diskutiert. Die Begrenzung der Naturreserven wird als Zeichen der Endlichkeit des Fortschritts als Motor der Moderne aufgefaßt (vgl. Schurig 1994).
Folgende Überlegungen sprechen dafür, sich verstärkt mit dem Umweltbegriff zu beschäftigen: "Im Gegensatz zu dem der Natur ist jener nicht nur der politischere Begriff, an dem die gesellschaftlichen Interessengegensätze aufeinanderprallen; er enthält darüber hinaus auch den wirksamen Zwang zur Interdisziplinarität; er ist der theoretisch differenziertere Begriff, weil er von Anbeginn an das Gegenüber, das Korrelat einer gesellschaftlichen Praxis einbezieht, vermittels dessen allein ein weiter ausgespannter Begriff von dem, was ist, entwickelt werden kann" (Gamm 1988, S. 182).
Nichtsdestotrotz sollte der Mensch "im Verdrängungswettbewerb der Begriffe" (Gamm 1988, s175) nicht vergessen, daß er ein "Naturwesen" ist und bleibt (Seel und Sichler 1993). Als Menschen sind wir Geschöpfe der Natur (lat. natura = Geburt), wir existieren stets in ihr und niemals außerhalb von ihr. Unsere Abhängigkeit von der Natur kann bei der Verwendung des Umweltbegriffs leicht übersehen werden. Meyer-Abich (1990) plädiert daher für den Begriff der "Mitwelt".
Historisch gesehen ist der "Naturverlust in der Moderne" bezeichnend: "Das Ziel der Menschheit war und ist es, die Gefahren der Naturgewalten, wie sie sich am nachhaltigsten im Ereignis des Todes symbolisieren, zu bannen. Auf diesem Wege haben wir uns selbst Gefahren geschaffen, die alles übersteigen, was die Natur für uns Menschen als Bedrohung bereithält. Nun ist nicht mehr nur das eigene individuelle Leben in Gefahr, sondern das der gesamten Spezies" (Preuss 1993, S.216). Die Autorin befürwortet eine Perspektive, die das Bewußtsein der menschlichen Außenwelt ("Umweltbewußtsein") mit dem Bewußtsein für die menschliche Innenwelt ("Naturbewußtsein") verbindet — gemäß dem Credo: "Wir können uns nicht nicht-ökologisch verhalten" (Preuss 1993, S.221).
Umweltbewußtsein wird in einem Umweltgutachten von 1978 definiert als "Einsicht in die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen durch diesen selbst, verbunden mit der Bereitschaft zur Abhilfe" (Eulefeld 1981). Fast zwanzig Jahre später ist ein zu nichts verpflichtendes Umweltbewußtsein heute selbstverständlich: Nach einer Repräsentativumfrage fühlen sich 44% der Deutschen der Gruppe der "Umwelt-Bewußten" zugehörig, so viele wie zu keiner anderen Personengruppe (Ernst 1994, S.3). Fragt man die Bevölkerung allerdings danach, in welchem politischen Bereich es zur Zeit die meisten Probleme gibt, rangiert "Umweltschutz" im Jahre 1996 nur an zwölfter Stelle, weit hinter den Bereichen Arbeitsmarkt, Asylanten, Rentenpolitik, Steuern und vielen anderen Problemen. Thilo Bode, Vorsitzender von Greenpeace international, konstatiert:
"Mit atemberaubender Geschwindigkeit ist in Deutschland der Umweltschutz von der Tagesordnung der Politiker verschwunden. In der Debatte um die Reform des Wohlfahrtsstaates entpuppt sich das hochgelobte Umweltbewußtsein der Deutschen als Schönwetterveranstaltung." (Bode 1996, S.159).
Viele Menschen scheinen bei Greenpeace in einer Form von modernem "ökologischen Ablaßhandel" (Menke-Glückert 1995, S.64) ein gutes Umweltgewissen zu kaufen. Als ein Musterbeispiel für diese These sei an die nationale Aufregung rund um die geplante Versenkung der Ölplattform <Brent Spar> in der Nordsee im Sommer 1995 erinnert. Der Energiekonzern "Shell" hatte nach einem wochenlangen Boykott seiner Tankstellen — mit Bombendrohungen und Brandstiftungen — beschlossen, die Ölplattform nicht zu versenken. Kurz darauf stiegen die Spendeneinnahmen von Greenpeace, die den Widerstand organisiert hatte, kräftig an (mittlerweile stammt ein Drittel der Gesamteinkünfte der internationalen Organisation aus Deutschland), und als die Bundesbürger im Herbst 1995 gefragt wurden, ob sie Greenpeace wählen würden, wenn Greenpeace eine Partei wäre, antworteten 28% der Befragten mit "ja", weitere 33% der Befragten mit "vielleicht" — wobei Anhänger aller Parteien ihre Zustimmung offenbarten. Mehr als zwei Drittel aller Befragten schließlich schlagen Greenpeace für den Friedensnobelpreis vor (Spiegel special 11/95, S.8).
Ist "Brent Spar" nicht geradezu beispielhaft für ein überragendes Umweltbewußtsein der Deutschen? Aus soziologischer Perspektive scheint es sich eher um ein Lehrstück zu handeln, das über die Selektion von Risikothemen Auskunft gibt. Nach Renn (1996) ist weder der Rekurs auf statistisch gegebene Wahrscheinlichkeiten im Rahmen der probabilistischen Risikoanalyse, noch das griffige Modell der Interessenmaximierung einzelner Gruppen in der Lage, soziale Risikowahrnehmung hinreichend zu beschreiben bzw. zu erklären: "Warum z.B. die Öffentlichkeit mit einem Boykott von Shell auf eine potentielle Ölverschmutzung von rund 100 Tonnen reagiert, während das achtlose Wegkippen von Öl von Schiffen die Meere jährlich mit ca. 10 Millionen Tonnen Öl belastet, ohne daß sich jemand nennenswert darüber aufregt, ist nur unter Heranziehen psychischer und sozialer Aspekte zu verstehen" (Renn 1996, S. 42).
Wie sehen die psychologischen und politischen Dimensionen von "Brent Spar" aus? Nach Beck (1996) handelt es sich bei diesem symbolisch inszenierten Massenboykott um eine "Fallstudie globaler Subpolitik": "Im Sommer 1995 hat der moderne Held für eine gute Sache, Greenpeace, zunächst erfolgreich den Ölmulti Shell dazu gebracht, eine abgewrackte Bohrinsel nicht im Atlantik zu versenken, sondern an Land zu entsorgen; dann hat dieser multinationale Aktionskonzern für gezielte Regelverletzungen den französischen Staatspräsidenten Chirac öffentlich an den Pranger gestellt, um so die Wiederaufnahme französischer Atomtests zu verhindern" (Beck 1996, S.138).
Die tiefere Ursache dieser "ökologischen Selbstjustiz" liege darin, daß die entstandenen Zweckbündnisse (Umweltschützer nicht nur mit Autofahrern, sondern sogar mit dem Bundeskanzler in einem Boot) moralisch niemanden ausschloß. Eine solche "Politik ohne Gegner und Gegenwehr" sei umso einfacher, je weniger Kosten das Protesthandeln für den einzelnen verursache und je leichter das eigene Gewissen dadurch entlastet werden könne — um gegen Shell zu demonstrieren, reichte es aus, "moralisch gutes" Benzin bei der Konkurrenz zu tanken.
Unter Anspielung auf Fromm (1990) kann hier festgehalten werden: Zwischen "Umweltbewußtsein haben" und "umweltbewußt sein" besteht ein großer Unterschied (Wiedrich 1996). Trotz der Scheinheiligkeit des ökopolitischen Engagements breiter Bevölkerungsschichten ist es aber dennoch erstaunlich, wie sich die ökologische Bewegung in nur wenigen Jahrzehnten entwickelt hat: "Henry David Thoreau und Mahatma Gandhi hätten ihre Freude, denn Greenpeace inszeniert den weltweiten zivilen Massenwiderstand im und mit den Mitteln des Medienzeitalters" (Beck 1996, S.142). Ein Blick auf die Geschichte der Umweltbewegung ist daher die Grundlage einer Einordnung des Status Quo.
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Sohr 1997