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 Erster Band - Gestalt und Wirklichkeit  - Oswald Spengler

Einleitung  

Die Aufgaben (3)  Morphologie der Weltgeschichte — eine neue Philosophie (6)  Für wen gibt es Geschichte? (10) • Die Antike und Indien unhistorisch (12) • Ägypten: Mumie und Totenverbrennung 17 • Die Form der Weltgeschichte. Altertum — Mittelalter — Neuzeit 21 • Entstehung dieses Schemas 24 • Seine Zersetzung 29 • Westeuropa kein Schwerpunkt 31 • Goethes Methode die einzig historische 35 • Wir und die Römer 36 • Nietzsche und Mommsen 39 • Probleme der Zivilisation 43 • Imperialismus als Ausgang 51 • Notwendigkeit und Tragweite des Grundgedankens 54 • Verhältnis zur heutigen Philosophie 57 • Deren letzte Aufgabe 62 • Entstehung des Buches (64)

 

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In diesem Buche wird zum erstenmal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur — und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen — in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen. 

Die Möglichkeit, eine Aufgabe von so ungeheurer Tragweite zu lösen, ist bis heute offenbar nicht ins Auge gefaßt, und wenn dies der Fall war, sind die Mittel, sie zu behandeln, nicht erkannt oder in unzulänglicher Weise gehandhabt worden.

Ist es möglich, im Leben selbst denn menschliche Geschichte ist der Inbegriff von ungeheuren Lebensläufen, als deren Ich und Person schon der Sprachgebrauch unwillkürlich Individuen höherer Ordnung wie "die Antike", "die chinesische Kultur" oder "die moderne Zivilisation" denkend und handelnd einführt die Stuten aufzufinden, die durchschritten werden müssen, und zwar in einer Ordnung, die keine Ausnahme zuläßt? Haben die für alles Organische grundlegenden Begriffe, Geburt, Tod, Jugend, Alter, Lebensdauer, in diesem Kreise vielleicht einen strengen Sinn, den noch niemand erschlossen hat? Liegen, kurz gesagt, allem Historischen allgemeine biographische Urformen zugrunde?

Der Untergang des Abendlandes, zunächst ein örtlich und zeitlich beschränktes Phänomen wie das ihm entsprechende des Untergangs der Antike, ist, wie man sieht, ein philosophisches Thema, das in seiner ganzen Schwere begriffen alle großen Fragen des Seins in sich schließt.

Will man erfahren, in welcher Gestalt sich das Schicksal der abendländischen Kultur erfüllen wird, so muß man zuvor erkannt haben, was Kultur ist, in welchem Verhältnis sie zur sichtbaren Geschichte, zum Leben, zur Seele, zur Natur, zum Geiste steht, unter welchen Formen sie in Erscheinung tritt und inwiefern diese Formen Völker, Sprachen und Epochen, Schlachten und Ideen, Staaten und Götter, Künste und Kunstwerke, Wissenschaften, Rechte, Wirtschaftsformen und Weltanschauungen, große Menschen und große Ereignisse Symbole und als solche zu deuten sind.

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Das Mittel, tote Formen zu erkennen, ist das mathematische Gesetz. Das Mittel, lebendige Formen zu verstehen, ist die Analogie. Auf diese Weise unterscheiden sich Polarität und Periodizität der Welt.

Das Bewußtsein davon, daß die Zahl der weltgeschichtlichen Erscheinungsformen eine begrenzte ist, daß Zeitalter, Epochen, Lagen, Personen sich dem Typus nach wiederholen, war immer vorhanden. Man hat das Auftreten Napoleons kaum je ohne einen Seitenblick auf Cäsar und Alexander behandelt, von denen der erste, wie man sehen wird, morphologisch unzulässig, der zweite richtig war. Napoleon selbst fand die Verwandtschaft seiner Lage mit derjenigen Karls des Großen heraus. Der Konvent sprach von Karthago, wenn er England meinte, und die Jakobiner nannten sich Römer. Man hat, mit sehr verschiedenem Recht, Florenz mit Athen, Buddha mit Christus, das Urchristentum mit dem modernen Sozialismus, die römischen Finanzgrößen der Zeit Cäsars mit den Yankees verglichen. 

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Petrarca, der erste leidenschaftliche Archäologe – die Archäologie ist ja selbst ein Ausdruck des Gefühls, daß Geschichte sich wiederholt –, dachte in bezug auf sich an Cicero, und erst vor kurzem noch Cecil Rhodes, der Organisator des englischen Südafrika, der die antiken Cäsarenbiographien in eigens für ihn angefertigten Übersetzungen in seiner Bibliothek besaß, an Kaiser Hadrian. Es war das Verhängnis Karls XII. von Schweden, daß er von Jugend auf das Leben Alexanders von Curtius Rufus in der Tasche trug und diesen Eroberer kopieren wollte.

Friedrich der Große bewegt sich in seinen politischen Denkschriften – wie den "Considerations" von 1738 – mit vollkommener Sicherheit in Analogien, um seine Auffassung der weltpolitischen Lage zu kennzeichnen, so, wenn er die Franzosen mit den Makedoniern unter Philipp und die Deutschen mit den Griechen vergleicht. 

"Schon sind die Thermopylen Deutschlands, Elsaß und Lothringen, in Philipps Hand." Damit war die Politik des Kardinals Fleury vorzüglich getroffen. Hier findet sich weiterhin ein Vergleich zwischen der Politik der Häuser Habsburg und Bourbon und den Proskriptionen des Antonius und Oktavian.

Aber das alles blieb fragmentarisch und willkürlich und entsprach in der Regel mehr einem augenblick­lichen Hange, sich dichterisch und geistreich auszudrücken, als einem tieferen historischen Formgefühl.

So sind die Vergleiche Rankes, eines Meisters der kunstvollen Analogie, zwischen Kyaxares und Heinrich I., den Einfällen der Kimmerier und der Magyaren morphologisch bedeutungslos, nicht viel weniger der oft wiederholte zwischen den hellenischen Stadtstaaten und den Renaissancerepubliken, von tiefer, aber zufälliger Richtigkeit dagegen der zwischen Alkibiades und Napoleon. Sie sind bei ihm wie bei andern aus einem plutarchischen, d.h. volkstümlich romantischen Geschmack gezogen worden, der lediglich die Ähnlichkeit der Szene auf der Weltbühne ins Auge faßt, nicht mit der Strenge des Mathematikers, der die innere Verwandtschaft zweier Gruppen von Differentialgleichungen erkennt, an denen der Laie nichts sieht als die Verschiedenheit der äußeren Form.

Man bemerkt leicht, daß im Grunde die Laune, nicht eine Idee, nicht das Gefühl einer Notwendigkeit die Wahl der Bilder bestimmt.

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Von einer Technik der Vergleiche blieben wir weit entfernt. Sie treten, gerade heute, massenhaft auf, aber planlos und ohne Zusammenhang; und wenn sie einmal in einem tiefen, noch festzustellenden Sinne treffend sind, so verdankt man es dem Glück, seltener dem Instinkt, nie einem Prinzip. Noch hat niemand daran gedacht, hier eine Methode auszubilden. Man hat nicht im entferntesten geahnt, daß hier eine Wurzel, und zwar die einzige, liegt, aus der eine große Lösung des Problems der Geschichte hervorgehen kann.

Die Vergleiche könnten das Glück des geschichtlichen Denkens sein, insofern sie die organische Struktur der Geschichte bloßlegen. Ihre Technik müßte unter der Einwirkung einer umfassenden Idee und also bis zur wahllosen Notwendigkeit, bis zur logischen Meisterschaft ausgebildet werden. Sie waren bisher ein Unglück, weil sie als eine bloße Angelegenheit des Geschmacks den Historiker der Einsicht und der Mühe überhoben, die Formensprache der Geschichte und ihre Analyse als seine schwerste und nächste, heute noch nicht einmal begriffene, geschweige denn gelöste Aufgabe zu betrachten. Sie waren teils oberflächlich, wenn man z.B. Cäsar den Begründer einer römischen Staatszeitung nannte, oder, noch schlimmer, äußerst verwickelte und uns innerlich sehr fremde Erscheinungen des antiken Daseins mit heutigen Modeworten wie Sozialismus, Impressionismus, Kapitalismus, Klerikalismus belegte, teils von einer bizarren Verkehrtheit wie der Brutuskult, den man im Jakobinerklub trieb — den jenes Millionärs und Wucherers Brutus, der als Ideologe der oligarchischen Verfassung unter dem Beifall des patrizischen Senats den Mann der Demokratie erstach.1)

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Und so erweitert sich die Aufgabe, die ursprünglich ein begrenztes Problem der heutigen Zivilisation umfaßte, zu einer neuen Philosophie, der Philosophie der Zukunft, soweit aus dem metaphysisch erschöpften Boden des Abendlandes noch eine solche hervorgehen kann, der einzigen, die wenigstens zu den Möglichkeiten des westeuropäischen Geistes in seinen nächsten Stadien gehört: 

1)  Vgl. Bd. II, S. 1105, Anm. 1.

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zur Idee einer Morphologie der Weltgeschichte, der Welt als Geschichte, die im Gegensatz zur Morphologie der Natur, bisher fast dem einzigen Thema der Philosophie, alle Gestalten und Bewegungen der Welt in ihrer tiefsten und letzten Bedeutung noch einmal, aber in einer ganz andern Ordnung, nicht zum Gesamtbilde alles Erkannten, sondern zu einem Bilde des Lebens, nicht des Gewordenen, sondern des Werdens zusammenfaßt.

Die Welt als Geschichte, aus ihrem Gegensatz, der Welt als Natur begriffen, geschaut, gestaltet — das ist ein neuer Aspekt des menschlichen Daseins auf dieser Erde, dessen Herausarbeitung in ihrer ungeheuren praktischen und theoretischen Bedeutung als Aufgabe bis heute nicht erkannt, vielleicht dunkel gefühlt, oft in der Ferne erblickt, nie mit allen ihren Konsequenzen gewagt worden ist. Hier liegen zwei mögliche Arten vor, wie der Mensch seine Umwelt innerlich besitzen und erleben kann. Ich trenne der Form, nicht der Substanz nach mit vollster Schärfe den organischen vom mechanischen Welteindruck, den Inbegriff der Gestalten von dem der Gesetze, das Bild und Symbol von der Formel und dem System, das Einmalig-Wirkliche vom Beständig-Möglichen, das Ziel der planvoll ordnenden Einbildungskraft von dem der zweckmäßig zergliedernden Erfahrung oder, um einen noch nie bemerkten, sehr bedeutungsvollen Gegensatz schon hier zu nennen, den Geltungsbereich der chronologischen von dem der mathematischen Zahl.1)

Es kann sich demnach in einer Untersuchung wie der vorliegenden nicht darum handeln, die an der Oberfläche des Tages sichtbar werdenden Ereignisse geistig-politischer Art als solche hinzunehmen, nach "Ursache" und "Wirkung" zu ordnen und in ihrer scheinbaren, verstandesmäßig faßlichen Tendenz zu verfolgen. 

 

1)  Es war ein noch heute nicht überwundener Mißgriff Kants von ungeheurer Tragweite, daß er den äußern und innern Menschen zunächst mit den vieldeutigen und vor allem nicht unveränderlichen Begriffen Raum und Zeit ganz schematisch in Verbindung brachte und weiterhin damit in vollkommen falscher Weise Geometrie und Arithmetik verband, an deren Stelle hier der viel tiefere Gegensatz der mathematischen und chronologischen Zahl wenigstens genannt sein soll. Arithmetik und Geometrie sind beides Raumrechnungen und in ihren höheren Gebieten überhaupt nicht mehr unterscheidbar. Eine Zeitrechnung, über deren Begriff der naive Mensch sich gefühlsmäßig durchaus klar ist, beantwortet die Frage nach dem Wann, nicht dem Was oder Wieviel.

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Eine derartige - "pragmatische" - Behandlung der Geschichte würde nichts als ein Stück verkappter Naturwissenschaft sein, woraus die Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung kein Hehl machen, während ihre Gegner sich nur der Gleichheit des beiderseitigen Verfahrens nicht hinreichend bewußt sind. Es handelt sich nicht um das, was die greifbaren Tatsachen der Geschichte an und für sich, als Erscheinungen zu irgendeiner Zeit sind, sondern um das, was sie durch ihre Erscheinung bedeuten, andeuten.

Die Historiker der Gegenwart glauben ein übriges zu tun, wenn sie religiöse, soziale und allenfalls kunsthistorische Einzelheiten heranziehen, um den politischen Sinn einer Epoche zu "illustrieren". Aber sie vergessen das Entscheidende — entscheidend nämlich, insofern sichtbare Geschichte Ausdruck, Zeichen, formgewordenes Seelentum ist. Ich habe noch keinen gefunden, der mit dem Studium der morphologischen Verwandtschaft, welche die Formensprache aller Kulturgebiete innerlich verbindet, Ernst gemacht hätte, der über den Bereich politischer Tatsachen hinaus die letzten und tiefsten Gedanken der Mathematik der Hellenen, Araber, Inder, Westeuropäer, den Sinn ihrer frühen Ornamentik, ihrer architektonischen, metaphysischen, dramatischen, lyrischen Grundformen, die Auswahl und Richtung ihrer großen Künste, die Einzelheiten ihrer künstlerischen Technik und Stoffwahl eingehend gekannt, geschweige denn in ihrer entscheidenden Bedeutung für die Formprobleme des Historischen erkannt hätte.

Wer weiß es, daß zwischen der Differentialrechnung und dem dynastischen Staatsprinzip der Zeit Ludwigs XIV., zwischen der antiken Staatsform der Polis und der euklidischen Geometrie, zwischen der Raumperspektive der abendländischen Ölmalerei und der Überwindung des Raumes durch Bahnen, Fernsprecher und Fernwaffen, zwischen der kontrapunktischen Instrumentalmusik und dem wirtschaftlichen Kreditsystem ein tiefer Zusammenhang der Form besteht? 

Selbst die nüchternsten Tatsachen der Politik nehmen, aus dieser Perspektive betrachtet, einen symbolischen und geradezu metaphysischen Charakter an, und es geschieht hier vielleicht zum ersten Male, daß Dinge wie das ägyptische Verwaltungssystem, das antike Münzwesen, die analytische Geometrie, der Scheck, der Suezkanal, der chinesische Buchdruck, das preußische Heer und die römische Straßenbautechnik gleichmäßig als Symbole aufgefaßt und als solche gedeutet werden.

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An diesem Punkte stellt es sich heraus, daß es eine theoretisch durchleuchtete Kunst der historischen Betrachtung noch gar nicht gibt. Was man so nennt, zieht seine Methoden fast ausschließlich aus dem Gebiete des Wissens, auf welchem allein Methoden der Erkenntnis zur strengen Ausbildung gelangt sind, aus der Physik. Man glaubt Geschichtsforschung zu treiben, wenn man den gegenständlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung verfolgt. 

Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Philosophie alten Stils an eine andere Möglichkeit der Beziehung zwischen dem verstehenden menschlichen Wachsein und der umgebenden Welt nie gedacht hat. 

Kant, der in seinem Hauptwerk die formalen Regeln der Erkenntnis feststellte, zog, ohne daß er oder irgendein anderer es je bemerkt hätte, allein die Natur als Objekt der Verstandestätigkeit in Betracht. Wissen ist für ihn mathematisches Wissen. Wenn er von angeborenen Formen der Anschauung und Kategorien des Verstandes spricht, so denkt er nie an das ganz anders geartete Begreifen historischer Eindrücke, und Schopenhauer, der von Kants Kategorien bezeichnenderweise allein die der Kausalität gelten läßt, redet nur mit Verachtung von der Geschichte.1)

Daß außer der Notwendigkeit von Ursache und Wirkung — ich möchte sie die Logik des Raumes nennen — im Leben auch noch die organische Notwendigkeit des Schicksals die Logik der Zeit eine Tatsache von tiefster innerer Gewißheit ist, eine Tatsache, welche das gesamte mythologische, religiöse und künstlerische Denken ausfüllt, die das Wesen und den Kern aller Geschichte im Gegensatz zur Natur ausmacht, die aber den Erkenntnisformen, welche die "Kritik der reinen Vernunft" untersucht, unzugänglich ist, das ist noch nicht in den Bereich theoretischer Formulierung gedrungen.

1)  Man muß es fühlen können, wie sehr die Tiefe der formalen Kombination und die Energie des Abstrahierens auf dem Gebiete etwa der Renaissanceforschung oder der Geschichte der Völkerwanderung hinter dem zurückbleibt, was für die Funktionentheorie und theoretische Optik selbstverständlich ist. Neben dem Physiker und Mathematiker wirkt der Historiker nachlässig, sobald er von der Sammlung und Ordnung seines Materials zur Deutung übergeht.

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Die Philosophie ist, wie Galilei an einer berühmten Stelle seines "Saggiatore" sagt, im großen Buche der Natur "scritta in lingua matematica". Aber wir warten heute noch auf die Antwort eines Philosophen, in welcher Sprache die Geschichte geschrieben und wie diese zu lesen ist.

Die Mathematik und das Kausalitätsprinzip führen zu einer naturhaften, die Chronologie und die Schicksalsidee zu einer historischen Ordnung der Erscheinung. Beide Ordnungen umfassen, jede für sich, die ganze Welt. Nur das Auge, in dem und durch das sich diese Welt verwirklicht, ist ein anderes.

 

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Natur ist die Gestalt, unter welcher der Mensch hoher Kulturen den unmittelbaren Eindrücken seiner Sinne Einheit und Bedeutung gibt. Geschichte ist diejenige, aus welcher seine Einbildungskraft das . lebendige Dasein der Welt in bezug auf das eigene Leben zu begreifen und diesem damit eine vertiefte Wirklichkeit zu verleihen sucht. Ob er dieser Gestaltungen fähig ist und welche von ihnen sein waches Bewußtsein beherrscht, das ist eine Urfrage aller menschlichen Existenz.

Hier liegen zwei Möglichkeiten der Weltbildung durch den Menschen vor. Damit ist schon gesagt, daß es nicht notwendig Wirklichkeiten sind. Fragen wir also im folgenden nach dem Sinn aller Geschichte, so ist zuerst eine Frage zu lösen, die bisher nie gestellt worden ist. Für wen gibt es Geschichte? Eine paradoxe Frage, wie es scheint. Ohne Zweifel für jeden, insofern jeder Mensch mit seinem gesamten Dasein und Wachsein Glied der Geschichte ist. Aber es ist ein großer Unterschied, ob jemand unter dem beständigen Eindruck lebt, daß sein Leben ein Element in einem weit größeren Lebenslauf ist, der sich über Jahrhunderte oder Jahrtausende erstreckt, oder ob er es als etwas in sich selbst Gerundetes und Abgeschlossenes empfindet. Sicherlich gibt es für die letztere Art des Wachseins keine Weltgeschichte, keine Welt als Geschichte. 

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Aber wie, wenn das Selbstbewußtsein einer ganzen Nation, wenn eine ganze Kultur auf diesem ahistorischen Geiste beruht? Wie muß ihr die Wirklichkeit erscheinen? Die Welt? Das Leben? Bedenken wir, daß sich im Weltbewußtsein der Hellenen alles Erlebte, nicht nur die eigne persönliche, sondern die allgemeine Vergangenheit alsbald in einen zeitlos unbeweglichen, mythisch gestalteten Hintergrund der jeweils augenblicklichen Gegenwart verwandelte, dergestalt, daß die Geschichte Alexanders des Großen noch vor seinem Tode für das antike Gefühl mit der Dionysoslegende zu verschwimmen begann, und Cäsar seine Abstammung von Venus mindestens nicht als widersinnig empfand, so müssen wir zugestehen, daß uns Menschen des Abendlandes mit dem starken Gefühl für zeitliche Distanzen, aus dem heraus das tägliche Rechnen mit Jahreszahlen nach und vor Christi Geburt etwas Selbstverständliches geworden ist, ein Nacherleben solcher Seelenzustände beinahe unmöglich wird, daß wir aber nicht das Recht haben, dem Problem der Geschichte gegenüber von dieser Tatsache einfach abzusehen.

 

Was Tagebücher und Selbstbiographien für den einzelnen, das bedeutet Geschichtsforschung im weitesten Umfange, wo sie auch alle Arten psychologisch vergleichender Analyse fremder Völker, Zeiten, Sitten einschließt, für die Seele ganzer Kulturen. Aber die antike Kultur besaß kein Gedächtnis, kein historisches Organ in diesem besonderen Sinne. Das "Gedächtnis" des antiken Menschen — wobei wir allerdings einen aus dem eignen Seelenbilde abgeleiteten Begriff ohne weiteres einer fremden Seele unterlegen — ist etwas ganz anderes, weil hier Vergangenheit und Zukunft als ordnende Perspektiven im Wachsein fehlen und die "reine Gegenwart", die Goethe an allen Äußerungen antiken Lebens, vor allem an der Plastik so oft bewundert hat, es mit einer uns ganz unbekannten Mächtigkeit ausfüllt. Diese reine Gegenwart, deren größtes Symbol die dorische Säule ist, stellt in der Tat eine Verneinung der Zeit (der Richtung) dar. 

Für Herodot und Sophokles wie für Themistokles und für einen römischen Konsul verflüchtigt sich die Vergangenheit alsbald in einen zeitlos ruhenden Eindruck von polarer, nicht periodischer Struktur — denn das ist der letzte Sinn durchgeistigter Mythenbildung —, während sie für unser Weltgefühl und inneres Auge ein periodisch klar gegliederter, zielvoll gerichteter Organismus von Jahrhunderten oder Jahrtausenden ist. 

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Dieser Hintergrund aber gibt dem Leben, dem antiken wie dem abendländischen, erst seine besondere Farbe. Was der Grieche Kosmos nannte, war das Bild einer Welt, die nicht wird, sondern ist. Folglich war der Grieche selbst ein Mensch, der niemals wurde, sondern immer war.

Deshalb hat der antike Mensch, obwohl er die strenge Chronologie, die Kalenderrechnung und damit das starke, in großartiger Beobachtung der Gestirne und in der exakten Messung gewaltiger Zeiträume sich offenbarende Gefühl für Ewigkeit und für die Nichtigkeit des gegenwärtigen Augenblicks in der babylonischen und vor allem der ägyptischen Kultur sehr wohl kannte, sich innerlich nichts davon zu eigen gemacht. Was seine Philosophen gelegentlich erwähnen, haben sie nur gehört, nicht geprüft. Und was vereinzelte glänzende Köpfe namentlich asiatischer Griechenstädte wie Hipparch und Aristarch entdeckten, ist von der stoischen wie der aristotelischen Geistesrichtung abgelehnt und außerhalb der engsten Fachwissenschaft überhaupt nicht beachtet worden. Weder Plato noch Aristoteles besaßen eine Sternwarte. In den letzten Jahren des Perikles wurde in Athen ein Volksbeschluß gefaßt, der jeden mit der schweren Klageform der Eisangelie bedrohte, der astronomische Theorien verbreitete. Es war ein Akt von tiefster Symbolik, in dem sich der Wille der antiken Seele aussprach, die Ferne in jedem Sinn aus ihrem Weltbewußtsein zu verbannen.

Was die antike Geschichtsschreibung betrifft, so richte man seinen Blick auf Thukydides. Die Meisterschaft dieses Mannes besteht in der echt antiken Kraft, Ereignisse der Gegenwart aus sich selbst heraus verstehend zu erleben, und dazu kommt jener prachtvolle Tatsachenblick des geborenen Staatsmannes, der selbst Feldherr und Beamter gewesen war. Diese praktische Erfahrung, die man leider mit historischem Sinn verwechselt, läßt ihn geschichtsschreibenden bloßen Gelehrten mit Recht als unerreichtes Muster erscheinen. 

Was ihm aber vollkommen verschlossen bleibt, ist jener perspektivische Blick über die Geschichte von Jahrhunderten hin, der für uns mit Selbstverständlichkeit zum Begriff des Historikers gehört. 

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Alle guten Stücke antiker Geschichtsdarstellung beschränken sich auf die politische Gegenwart des Autors, im schärfsten Gegensatz zu uns, deren historische Meisterwerke ohne Ausnahme die ferne Vergangenheit behandeln. Thukydides würde schon an dem Thema der Perserkriege gescheitert sein, von einer allgemein griechischen oder gar ägyptischen Geschichte ganz zu schweigen. Bei ihm wie bei Polybios und Tacitus, ebenfalls praktischen Politikern, geht die Sicherheit des Blickes sofort verloren, wenn sie in der Vergangenheit, oft im Abstand weniger Jahrzehnte, auf treibende Kräfte stoßen, die ihnen in dieser Gestalt aus ihrer eigenen Praxis unbekannt sind.

Für Polybios ist der erste Punische Krieg, für Tacitus schon Augustus nicht mehr verständlich, und der — an unsrer perspektivischen Forschung gemessen gänzlich unhistorische Sinn des Thukydides erschließt sich durch die unerhörte Behauptung gleich auf der ersten Seite seines Buches, daß vor seiner Zeit (um 400!) in der Welt Ereignisse von Bedeutung nicht vorgefallen seien (OD: griechische Buchstaben).1)

 

1)  Die ohnehin sehr spät einsetzenden Versuche der Griechen, nach dem Muster Ägyptens etwas wie einen Kalender oder eine Chronologie zustande zu bringen, sind von höchster Naivität. Die Olympiadenrechnung ist keine Ära wie etwa die christliche Zeitrechnung, und außerdem ein später, rein literarischer Notbehelf, nichts dem Volke Geläufiges. Das Volk besaß überhaupt kein Bedürfnis nach einer Zählung, mit welcher man Erlebnisse der Eltern und Großeltern festlegen konnte, mochten einige Gelehrte immerhin sich für das Kalenderproblem interessieren. Es kommt hier nicht darauf an, ob ein Kalender gut ist oder schlecht, sondern ob er im Gebrauch ist, ob das Leben der Gesamtheit danach läuft.

Aber auch die Olympionikenliste vor 500 ist eine Erfindung so gut wie die ältere attische Archonten- und die römische Konsulnliste. Von den Kolonisationen gibt es kein einziges echtes Datum (Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. 11,442; Beloch, Griech. Gesch. I, 2, 219). "An eine Aufzeichnung von Berichten über historische Begebenheiten hat überhaupt niemand in Griechenland vor dem 5. Jahrhundert gedacht" (Beloch, I, 1, 125). Wir besitzen die Inschrift eines Vertrages zwischen Elis und Heräa, der "hundert Jahre von diesem Jahre an" gelten sollte. Welches Jahr das war, ließ sich aber nicht angeben. Nach einiger Zeit wird man also nicht mehr gewußt haben, wie lange der Vertrag bestand, und offenbar hatte das niemand vorausgesehen. Wahrscheinlich werden diese Gegenwartsmenschen ihn überhaupt bald vergessen haben.

Es kennzeichnet den legendenhaft-kindlichen Charakter des antiken Geschichtsbildes, daß man eine geordnete Datierung der Tatsachen etwa des "Trojanischen Krieges", der der Stufe nach doch unsern Kreuzzügen entspricht, geradezu als stilwidrig empfinden würde. - Ebenso steht das geographische Wissen der Antike weit hinter dem ägyptischen und babylonischen zurück. Ed. Meyer (Gesch. d. Alt. III, 102) zeigt, wie die Kenntnis der Gestalt Afrikas von Herodot (nach persischen Quellen) bis auf Aristoteles gesunken ist. Dasselbe gilt von den Römern als den Erben der Karthager. Sie haben die fremden Kenntnisse erst nacherzählt und dann langsam vergessen.

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Infolgedessen ist die antike Geschichte bis auf die Perserkriege herab, aber auch noch der überlieferte Aufbau sehr viel späterer Perioden das Produkt wesentlich mythischen Denkens. Die Verfassungs­geschichte Spartas — Lykurg, dessen Biographie mit allen Einzelheiten erzählt wird, war vermutlich eine unbedeutende Waldgottheit des Taygetos — ist eine Dichtung der hellenistischen Zeit, und die Erfindung der römischen Geschichte vor Hannibal war noch zur Zeit Cäsars nicht zum Stillstand gekommen. 

Die Vertreibung der Tarquinier durch Brutus ist eine Erzählung, zu der ein Zeitgenosse des Zensors Appius Claudius (310) Modell gestanden hat. Die Namen römischer Könige sind damals nach den Namen reichgewordener plebejischer Familien geformt worden (K. J. Neumann). Von der "servianischen Verfassung" ganz abgesehen, ist das berühmte licinische Ackergesetz von 367 zur Zeit Hannibals noch nicht vorhanden gewesen (B. Niese).

Als Epaminondas die Messenier und Arkader befreit und zu einem Staat gemacht hatte, erfanden sie sich sofort eine Urgeschichte. Das Ungeheuerliche ist nicht, daß dergleichen vorkam, sondern daß es eine andere Art von Geschichte kaum gab. Man kann den Gegensatz des abendländischen und des antiken Sinnes für alles Historische nicht besser zeigen, als wenn man sagt, daß die Römergeschichte vor 250, wie man sie zur Zeit Cäsars kannte, im wesentlichen eine Fälschung, und daß das wenige, was wir festgestellt haben, den späteren Römern ganz unbekannt war. 

Es kennzeichnet den antiken Sinn des Wortes Geschichte, daß die alexandrinische Romanliteratur stofflich den stärksten Einfluß auf die ernsthafte politische und religiöse Historik ausgeübt hat. Man dachte gar nicht daran, ihren Inhalt von aktenmäßigen Daten grundsätzlich zu unterscheiden. Als Varro gegen Ende der Republik daran ging, die aus dem Bewußtsein des Volkes rasch schwindende römische Religion zu fixieren, teilte er die Gottheiten, deren Dienst vom Staate aufs peinlichste ausgeübt wurde, in di certi und di incerti ein — solche, von denen man noch etwas wußte, und solche, von denen trotz des fortdauernden öffentlichen Kultes nur der Name geblieben war.

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In der Tat war die Religion der römischen Gesellschaft seiner Zeit — wie sie nicht nur Goethe, sondern selbst Nietzsche ohne Argwohn aus den römischen Dichtern hinnahmen — größtenteils ein Erzeugnis der hellenisierenden Literatur und fast ohne Zusammenhang mit dem alten Kultus, den niemand mehr verstand.

Mommsen hat den westeuropäischen Standpunkt klar formuliert, als er die römischen Historiker — Tacitus ist vor allem gemeint — Leute nannte, "die das sagen, was verschwiegen zu werden verdiente, und das verschweigen, was notwendig war, zu sagen".

Die indische Kultur, deren Idee vom (brahmanischen) Nirwana der entschiedenste Ausdruck einer vollkommen ahistorischen Seele ist, den es geben kann, hat nie das geringste Gefühl für das "Wann" in irgendeinem Sinne besessen. Es gibt keine echte indische Astronomie, keine indischen Kalender, keine indische Historie also, insofern man darunter den geistigen Niederschlag einer bewußten Entwicklung versteht. Wir wissen vom sichtbaren Verlaufe dieser Kultur, deren organischer Teil mit der Entstehung des Buddhismus abgeschlossen war, noch viel weniger als von der antiken, sicherlich an großen Ereignissen reichen Geschichte zwischen dem 12. und 8. Jahrhundert. Beide sind lediglich in traumhaft-mythischer Gestalt festgehalten worden. Erst ein volles Jahrtausend nach Buddha, um 500 n. Chr., entstand auf Ceylon im "Mahavansa" etwas, das entfernt an Geschichtsschreibung erinnert.

Das Weltbewußtsein des indischen Menschen war so geschichtslos angelegt, daß er nicht einmal die Erscheinung des von einem Autor verfaßten Buches als zeitlich feststehendes Ereignis kannte. Statt einer organischen Reihe persönlich abgegrenzter Schriften entstand allmählich eine vage Textmasse, in die jeder hineinschrieb, was er wollte, ohne daß die Begriffe des individuellen geistigen Eigentums, der Entwicklung eines Gedankens, der geistigen Epoche eine Rolle gespielt hätten. In dieser anonymen Gestalt — es ist die der gesamten indischen Geschichte — liegt uns die indische Philosophie vor. Mit ihr vergleiche man die durch Bücher und Personen physiognomisch aufs schärfste herausgearbeitete Philosophiegeschichte des Abendlandes.

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bis Seite 69

 

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