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Vorwort von Manes Sperber

zur Ausgabe im Europaverlag Wien 1975

 

9-20

Warum schreiben, wozu? Für wen? — Der Schriftsteller stellt sich diese Fragen immer wieder, denn keine der vielen Antworten, die sich ihm anbieten, ist endgültig, jede ruft neue Zweifel hervor.

Als ich im frühen Herbst des Jahres 1937 den Essay »Zur Analyse der Tyrannis« schrieb, wußte ich genau, was mich dazu so stürmisch drängte, daß es mir während jener Wochen nicht gelingen wollte, an irgend etwas anderes zu denken.

Und stand es für mich fest, an welche Leser ich mich wenden mußte, so war es mir nicht weniger gewiß, daß mir der Zugang zu den meisten von ihnen verwehrt war und auf lange Zeit verschlossen bleiben würde. 

In der Tat hatte ich wenige Monate vorher mit der kommunistischen Partei und ihren Deckorganisationen gebrochen, folglich auch mit all jenen, die, Parteimitglieder oder Sympathisanten, jeden nach solcher Abwendung in eine schalldichte Isolation verstießen.

Wehrlos müßte ich verstummen, dachten sie, da ich ja nicht erwarten könnte, daß auch nur eines meiner Worte bei den früheren Gefährten Gehör finde.

Meinem Wesen und meiner Denkart gemäß hatte ich gewiß schon seit langem Zweifel an der Politik der Komintern gehegt und manche ihrer grundsätzlichen Stellungnahmen und strategischen Entscheidungen kritisiert — so etwa die »Theorie« vom Sozial­faschismus und den aus ihr abgeleiteten Beschluß, die Sozial­demokraten so zu bekämpfen, als ob sie die Hauptfeinde der Arbeiterklasse wären; so das Dogma, daß die Partei immer in allem recht hätte; so die hirnrissige Verleumdung, daß Trotzki ein Konterrevolutionär im Dienste des Kapitalismus sei.

Wir waren nicht gar wenige, die glaubten, daß eben die Maßlosigkeit der dogmatisierten Irrtümer das Ende des unerträglichen Stalin-Kultes beschleunigen mußte. 

In unseren Augen gehörten das »Il Duce a sempre ragione« und die wohlorganisierte Hysterie des »Heil Hitler!« zum Wesen des Faschismus, indes die systematisch organisierte Vergötterung Stalins nur im eklatanten Widerspruch zum historischen Materialismus und zu den Prinzipien der marxistischen Arbeiter­bewegung betrieben werden konnte. 

Diese und andere »Abweichungen« diskutierten wir noch ungescheut in den zwanziger Jahren, aber nur geheim und im engsten Freundeskreis zu Beginn der dreißiger Jahre, als die Drohung des Faschismus so gefährlich anwuchs, daß wir alle Aufmerk­samkeit auf ihn und die unvermeidliche, schnell herannahende Auseinandersetzung mit dem Nazismus richten mußten.

Für uns war es eine unerschütterliche Gewißheit, daß die Sowjetunion unter allen Umständen unser sicherster und vielleicht sogar unser einziger Verbündeter war. Daher galt es, in den Kampfreihen der Partei zu bleiben, sagten wir, und solange die faschistische Gefahr nicht völlig beseitigt war, die Kritik an der Generallinie der Komintern und an den Zuständen in Rußland zu mildern, ja sie außerhalb des allerengsten Kreises nie laut werden zu lassen.

Am Ende genügte aber das Verschweigen nicht, man unterwarf sich dem Zwang, öffentlich auch dann zuzustimmen, wenn man insgeheim ganz entschieden einer anderen Meinung zuneigte.

Eines Tages entdeckten wir, daß wir nicht nur in Versammlungen oder anläßlich größerer Zusammenkünfte, sondern immer öfter auch gegenüber einzelnen Genossen uns genauso äußerten, als ob wir zu den Horchern eines Machthabers sprächen, mit dem wir es uns nicht verderben durften, nicht verderben wollten. 

10/11

Eines Tages entdeckten wir... ? Das stimmt nicht. Denn es handelte sich tatsächlich um einen fortlaufenden Prozeß, den wir täglich wahrnahmen und dennoch nicht wahrhaben wollten: Mitten in einem freien Lande — in Paris, in London oder in Prag — verhielten wir uns, als ob wir in der Reichweite der GPU wären; wie Untertanen einer totalitären Diktatur hatten wir uns allmählich in Doppelzüngler verwandelt. 

Warum? Was konnte meinesgleichen zu solch selbstgewählter Unterwerfung bewegen? Die Verpflichtung zur Treue gegenüber der Partei, deren Anhänger im Dritten Reich grausam verfolgt, in Konzentrationslagern gequält und vernichtet wurden! Ja, dies in erster Reihe. Es verging kaum ein Tag, an dem ich nicht an sie gedacht hätte, und um ihnen die Treue zu halten, galt es, den wahren Feind nie aus den Augen zu verlieren und, solange es ihn gab, kein anderes Übel in der Welt zu beachten.

Dieses Jahrhundert der Emanzipation der Frau, des Kindes, der Kolonialvölker, des Proletariats — dieses Jahrhundert der Revolutionen und Weltkriege wurde zu Beginn seines zweiten Drittels zum Jahrhundert der Erpresser. Immer bedrängender wurde damals das Gefühl, daß wir dem Sturmwind auf einem beängstigend schmalen Grat standhalten mußten, wir konnten keinen Schritt machen, ohne — rechts oder links — in den Abgrund zu stürzen. 

Es war damals, es ist noch immer die Herrschaft der falschen Alternative. Ich habe sie später einmal wie folgt gekennzeichnet: 

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Seit fünfzig Jahren liefert die totalitäre Pseudo-Alternative der bedrohlichsten Erpressung unserer Zeit ihre doppelt falsche Argumentation:

Die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts, Kurt Eisners, Gustav Landauers und so vieler anderer Sozialisten und Kommunisten in Deutschland; die Ermordung Matteotis; der faschistische Terror in Italien; die Schandtaten des semifaschistischen Regimes der balkanischen und lateinamerikanischen Länder; und schließlich das permanente Verbrechen des Nazismus — dies Wüten der Gewalt begründeten alle Diktatoren und ihre Schergen, ihre Diplomaten und gefügigen Intellektuellen mit der Erpressung: »Wer gegen uns ist, hilft den Kommunisten und fördert ihren Aufstieg zur Diktatur. Vergeßt keinen einzigen Augenblick: Es gibt nur sie oder uns! Wählt!«

Gleichzeitig verkündeten Stalins Propagandisten überall: 

»Wer es wagt, die Zwangskollektivierung zu kritisieren oder die Unterdrückung der Opposition oder die administrativen Verschickungen nach Sibirien, wer es wagt, die Moskauer Prozesse zu bekritteln, der stellt sich damit hinter Mussolini und gegen die Verbannten auf den Liparischen Inseln, hinter Hitler und gegen seine Opfer in Dachau, Oranienburg und Buchenwald, hinter Franco und gegen das ermordete Volk von Guernica! Es gilt zu wählen: sie oder wir!«

Jedes Parteimitglied hörte und wiederholte pausenlos: 

»Wer auch nur im Gedanken einen Zweifel daran aufkommen läßt, daß in der Sowjetunion die Freiheit der Person ebenso gewährleistet ist wie das Recht auf nationale Selbstbestimmung, auf unbeschränkte Äußerung von Meinung und Glauben — wer bestreitet, daß die Sowjetunion unter Stalins unfehlbarer Führung die sozialistische Heimat der einzig wahren Demokratie ist, der leistet Hitler Schützenhilfe, der ist objektiv ein Feind der Arbeiter­klasse und auf dem besten Weg, ein Faschist zu werden.«

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Genau das wiederholten auch fast alle Intellektuellen und bürgerlichen Sympathisanten, das schrieben in den repräsentativen Zeitungen der ganzen freien Welt bekannte Schriftsteller, Philosophen und Priester, welche betonten, keineswegs Kommunisten zu sein, aber eben deshalb umso mehr verpflichtet, allen Menschen guten Willens zur Kenntnis zu bringen, daß ein Antifaschist weder an der Sowjetunion noch an der kommunistischen Weltbewegung Kritik üben dürfte. Sie wiederholten dies am eindringlichsten in den Jahren der Moskauer Prozesse und der sogenannten Jeschowtschina, über die zwanzig Jahre später Chruschtschow einige Geständnisse ablegen und dabei Stalin als den einzigen diabolischen Ursacher allen Unglücks anprangern sollte. 

Wahrnehmen, verifizierbares Wissen erlangen und schließlich verstehen, ehe man irgendein Urteil fällt — diese Regel braucht ein Psychologe sich nicht erst in Erinnerung zu rufen, um sich angesichts komplexer Verhältnisse, nur teilweise bekannter Sachverhalte vor jeglicher Denk- und Urteilshast zu bewahren. Dies mag erklären, warum ich sowohl in der Einsamkeit wie im Gespräch mit den intimsten Freunden nicht so sehr darauf aus war, das, was in der Sowjetunion geschah, zu verurteilen, als vor allem zu ergründen, welche Ursachen und Motive dort Geschehnisse hervorriefen, die meinesgleichen seit Jahren störten, unsicher machten, oft bestürzten und schließlich geradezu verstörten.

Manches erklärte sich daraus, daß die Revolution sich im rückständigen Rußland und nicht in einem sozial und industriell hochentwickelten Lande ereignet hatte, wie es gemäß der marxistischen Auffassung hätte geschehen müssen. Vieles andere sahen wir als Folge des Bürgerkrieges an, der nicht nur das Land an den Rand des wirtschaftlichen Abgrunds gebracht, sondern dem Volke unheilbare psychische Wunden geschlagen hatte.

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In Stalins Sieg über Trotzki fanden wir die Bestätigung für die Echtheit des im Westen veröffentlichten Testaments, in welchem Lenin vor den zerstörerischen Charakterzügen Stalins gewarnt hatte. Wir wußten es nicht genau, doch ahnten wir, wie grausam die Dekulakisierung gewesen war, und vermuteten, daß im Zusammenhang mit ihren Folgen das Regime unfähig geworden war, irgendeinen Fehler zuzugeben, und fortab unter den Zwang geriet, systematisch die für Stalin charakteristische Verantwortungsschieberei zu betreiben — immer öfter, immer grausamer und schließlich mörderisch. Stalin a sempre ragione — das wurde zu einem Dogma, an dem man auch in den ausländischen kommunistischen Parteien nicht einen Zweifel ausdrücken durfte, wollte man nicht ausgeschlossen und als Feind behandelt werden.

All das bedrückte meinesgleichen, ließ uns manchmal an uns selbst irre werden und an dem Sinn unserer unbedingten Parteitreue, verursachte unsere geheimen »Abweichungen« und erschwerte es uns, wie vorher im Futurum zu konjugieren: »Wenn dieser letzte Engpaß der sowjetischen Wirtschaft überwunden, wenn die Lebens­mittel­versorgung erst einmal gesichert sein wird; sobald die jüngere Generation von Wissen­schaftlern und Technikern den ihr gemäßen Platz eingenommen haben wird ...«

Doch hörte all das auf, für mich zu gelten, als die Moskauer Prozesse begannen. Noch versuchte ich, mich selbst zum Schweigen zu bringen, nur an die Opfer Hitlers, Mussolinis, Francos zu denken und mit deren Leiden zu rechtfertigen, was in Moskau geschah.

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Es gelang mir noch einige Monate, bis ich entdeckte, daß ich die Angeklagten der Moskauer Prozesse nachahmte, daß auch ich, wie diese Kapitulanten es während langer Jahre getan hatten, mit falschen Ketten­identifikationen mein Verbleiben in der Partei zu begründen suchte. Doch eines Nachts, im Herbst 1936 — ich ging nach Hause, der Vollmond stand über dem Pantheon, das auf meinem Weg lag — wurde ich von einer Herzschwäche übermannt; ich blieb stehen, rang schwer um Atem, wartete.

Noch ehe diese Extrasystole aufhörte, wußte ich, daß mein Herz nicht krank war, sondern nur im Organ­dialekt ausdrückte, daß es nun aus sein mußte mit allen Vorwänden, mit allen falschen Rechtfertigungen, mit dem Selbstbetrug.

Nur durch eine einzige Türe verläßt man die Revolution, sie öffnet sich ins Nichts — daß hatte ich mir oft vorgehalten, mich damit geängstigt. Nun, die Herzbeschwerden kamen wieder; sie hörten erst auf, nachdem ich den Sprung ins Nichts gewagt hatte.

Ich beschloß zu schreiben; nicht über die Prozesse, an ihnen war mir nichts mehr rätselhaft.

Was ich damals, 1937, über ihre Hintergründe, über die Prozeduren und die Rolle der Richter dachte, brauchte ich nicht mehr zu ändern, auch nicht nachdem ich — zehn Jahre später — aus dem Munde meines Freundes Alexander Weissberg den Erlebnisbericht vernommen hatte, den er 1951 unter dem Titel Der Hexensabbath veröffentlichte.

So erfuhren dann all jene, die die Wahrheit kennen wollten, mit welchen Mitteln nicht nur körper­licher, sondern auch zerstörender seelischer Folter die falschen Geständnisse und ihre Wiederholung vor der Öffentlichkeit erzwungen wurden.

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Was ich nach dem Kriege in meinen Romanen und in mehreren Essay-Bänden, zuletzt in Leben in dieser Zeit darüber geschrieben habe, erklärt deutlich genug, warum mir jene Prozesse, Dramatisierungen mörderischer Fiktion, als endgültiger Beweis dafür erschienen, daß das Regime zwanzig Jahre nach der siegreichen Oktober-Revolution einen Zustand totaler, totalitärer Depravation erreicht hatte, in welchem die Sinnverkehrung aller Ideen und die Verleugnung der Wahrheit unvermeidlich wurden.

Als Psychologe und als Marxist hatte ich mich von früh auf mit dem Phänomen der individuellen Selbstentfremdung beschäftigt. Die Moskauer Prozesse waren nun, weit mehr als die ärmlichen Hexenprozesse, Manifestationen einer extremen Selbst­entfremdung, einer mit psychisch atomisierenden Drohungen erzwungenen Verfeindung des Menschen mit sich selbst — all dieses ohne Psychose und ohne irgendwelche mystische Verwirrung der Sinne oder der Vorstellungen.

Ein Regime, das dergleichen zustandebringen und der ganzen Welt als Triumph der Friedensliebe und des sozialistischen Humanismus verführen konnte — unter dem anbefohlenen Jubel der gesamten Bevölkerung und der lauten Zustimmung aller Kommunisten und ihrer Sympathisanten — ein solches Regime enthüllte sich damit als vorbildlich totalitär.

Im Organdialekt meiner Herzbeschwerden drückte sich die unerträgliche Qual aus und die grenzenlose Beschämung darüber, für solch eine totalitäre Herrschaft eingetreten, für sie Anhänger geworben, ihretwegen so vieles hintan gestellt zu haben. Der Sturz war tiefer als der Abgrund. 

Da ich nie ein Stalinist gewesen war, wurde ich auch nicht ein Antistalinist nach der Art jener, die im Jahre 1956 von Chruschtschow erfuhren, daß man fortab Josip Wissarionowitsch Djugaschwili, genannt Stalin, retroaktiv als einen Feind, als den allein an allem Unglück Schuldigen anzuklagen und zu verleugnen hatte.

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Die marxistische Geschichtsauffassung so gut wie meine psychologische Denkweise hinderten mich daran, einer einzelnen Person für alles Geschehen die Verantwortung, das Verdienst und die Schuld zuzuschreiben — gleichviel ob dieses »weltgeschichtliche Individuum« Alexander der Große oder Julius Cäsar, Napoleon oder irgendein Tyrann unserer Zeit gewesen ist.

Daher war mein Ausgangspunkt die in diesem Essay wiederholte Feststellung: »Die Tyrannis, das ist nicht nur der Tyrann, allein oder mit seinen Komplizen, sondern auch die Untertanen, seine Opfer, die ihn zum Tyrannen gemacht haben.«

Es gibt in jedem Volke Tausende potentieller Hitler und Stalin, doch nur selten gelingt einem von ihnen der Aufstieg zur absoluten Macht, in der er endlich die Erfüllung seines unzähmbaren Wunsches nach Gottähnlichkeit findet.

So kommt es auf die politische, soziale und ökonomische Lage an, etwa auf eine von der Mehrheit des Volkes als drückend, ja als erniedrigend empfundene Notlage, der die herrschende Schicht nicht steuern kann oder will, weil sie damit ihre Privilegien oder ihre Machtposition gefährden könnte. Schwankend zwischen fatalistischer Gleichgültigkeit gegenüber allem außer den unausweichlichen Erfordernissen des zermürbenden Alltags einerseits und einem sporadischen, jedoch kraftlosen Aufruhr andererseits, ersehnt das Volk das Kommen eines Retters, der mit einem Schlag alles zum Guten wenden würde. Jene, die Wunder erwarten, statt ihre Lage selber zu bessern, bringen Wundertäter an die Macht, die sich schnell genug in Tyrannen verwandeln.

Zum Unterschied von vielen Autoren, die in späteren Jahren das gleiche Problem behandelten, und im Gegensatz zu der Massenpsychologie Gustave Le Bon's und seiner modernen Anhänger, habe ich keineswegs versucht, das Verhalten der Unterdrückten aus deren Massencharakter zu erklären, sondern ich habe es im Gegenteil unternommen, die Masse oder Menge selbst individualpsychologisch aufzugliedern und sie in den gegebenen sozial-ökonomischen Zusammenhängen, in ihren politischen Reaktionen zu erforschen.

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Die Adlersche Psychologie fand hier ihre adäquate Anwendung, da ja gerade sie die überragende Rolle des Gemeinschaftsgefühls und zugleich die mannigfaltigen Auswirkungen des individuellen Machtstrebens innerhalb aller gesellschaftlichen Verhältnisse am eingehendsten behandelt hat.

Im Jahre 1937 versuchte ich, das totalitäre Modell, wie man heute gerne sagen würde, so scharf wie möglich herauszuarbeiten, also nicht namentlich das Hitler- oder das Stalinregime darzustellen, sondern nur das zur Geltung zu bringen, was ihnen beiden gemeinsam war. Neben den naheliegenden sachlichen Gründen hatte ich auch einen taktischen Grund, zumindest scheinbar im Abstrakten zu bleiben, das heißt kein einziges Mal das Dritte Reich oder die Sowjetunion, ihre Diktatoren, deren Komplizen und Cliquen namentlich zu bezeichnen. Die Sowjetunion wollte ich nicht frontal attackieren, weil - wie gesagt - meinesgleichen in ihr damals noch, zwei Jahre vor dem Abschluß des Stalin-Ribbentrop-Paktes, den sichersten Verbündeten gegen Hitler sah.

Und so naiv es klingen mag, hoffte ich damals, daß unter Umständen Exemplare dieses Büchleins nach Deutschland gebracht werden könnten. Griff ich die Nazis nicht namentlich an und erwähnte ich niemals den Marxismus, so gefährdete es den deutschen Leser viel weniger, selbst wenn man den Essay bei ihm entdeckte. Überdies bestand nicht der geringste Zweifel daran, daß jeder Deutsche in der hier dargestellten Tyrannis vor allem, wenn nicht gar ausschließlich das Nazi-Regime erkennen würde.

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Meine Naivität war noch größer, da ich glaubte, daß die Kommunisten nichts gegen die Verbreitung meiner Schrift unternehmen würden, eben weil darin ja so vieles auf Hitler persönlich hindeutete und für einen orthodoxen Kommunisten fast nichts auf Stalin hinwies. Doch interpretierten die Funktionäre der Partei die am Ende dieses Essays formulierten sechs Prinzipien einer Prophylaxis zur Vermeidung der Tyrannis ganz richtig: in jedem Satzteil erspähten sie die Anspielung auf den Vater aller Völker, auf den unfehlbaren Stalin. 

 

Ein ganz neuer, von jungen Wiener Intellektuellen gegründeter Verlag wollte den Essay im Frühjahr 1938 herausbringen; der Text war schon gesetzt, ich schickte mich an, die Bürstenabzüge zu korrigieren, als Hitlers Truppen in Österreich einmarschierten. Schließlich erschien Die Analyse der Tyrannis zusammen mit dem etwas später geschriebenen Essay Das Unglück, begabt zu sein ein Jahr später im Verlag Science et Littérature in Paris. Der Band bildete die zweite der »Schriften zu dieser Zeit«, die der emigrierte deutsche Buchhändler Dr. Ernst Heidelberger herausgab; Alfred Döblin verfaßte den ersten Band: Die deutsche Literatur im Ausland seit 1933.

Die Zeit war aber dieser Schrift ganz entschieden nicht günstig: einem Parteiverbot gehorchend, hüteten sich Kommunisten und Sympathisanten, das Buch auch nur in die Hand zu nehmen. Der Befehl, es überdies totzuschweigen, war so strikt, daß auch die bürgerlichen Zeitungen der Emigration sich sogar weigerten, eine bezahlte Ankündigung seines Erscheinens zu drucken. Schließlich erledigte die Gestapo diese Angelegenheit radikal: sie vernichtete die ganze Auflage.

Es war das charakteristische Schicksal eines Buches, dessen Autor sich selbst ins Niemandsland verbannt hatte. Im Niemandsland lebt man nicht, da wird man doppelt erschlagen — dies hatte ich mir oft wiederholt. Und eben das Schicksal widerfuhr dieser verfrühten Analyse der Tyrannis.

19/20

*

Ich würde heute recht vieles anders ausdrücken als der Zweiunddreißigjährige, der ich damals gewesen bin. Trotzdem lasse ich in dieser neuen Auflage, was er geschrieben hat, unverändert. Die Leser von heute, insbesondere die Jungen unter ihnen, werden vielleicht mit Staunen feststellen, wie Wesen und Wüten der totalitären Diktaturen im Jahre 1937 zwar nicht in allen Einzelheiten bekannt, doch durchaus erratbar waren.

Der junge Autor sah Hitlers Selbstmord nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches voraus; ebenso die Wahrscheinlichkeit, daß selbst Stalins Tod nicht unbedingt das Ende des von ihm vervollkommneten Regimes zur Folge haben würde, soviel anderes bot sich dem Blick dessen dar, der auf das Privileg der praktikablen Unwissenheit ein für allemal verzichtet hatte.

Auch der zweite Essay ["Das Unglück, begabt zu sein"] bleibt genau so, wie ich, nach Paris in die zweite, doppelte Emigration zurückgekehrt, ihn geschrieben und veröffentlicht habe. Ich mag seinen schulmeisterlichen Ton nicht und noch weniger die zugleich anklägerisch und maßlos optimistische Rhetorik seiner Schlußfolgerungen. Hingegen bleibt meine Sorge um die Erhaltung des kulturellen Erbes auch heute bestehen; es ist schon wieder aufs schwerste gefährdet, unter anderem auch von jenen, die sich auf die gleichen revolutionären Prinzipien berufen, zu denen ich mich damals bekannt habe. Einige von diesen haben bis heute meinem Skeptizismus standgehalten.

Der kritische Leser wird die beiden so verschiedenen und dennoch zusammenhängenden Essays am besten verstehen, wenn er dessen eingedenk bleiben wird, daß der erste unter der »ständigen Drohung, die über unser aller Leben verhängt ist«, geschrieben wurde und der zweite »im Augenblick unserer tiefsten Erniedrigung«. In ihm bekannte sich der Skeptiker zur Hoffnung auf eine Zukunft, die, schrieb er, heute ferner scheinen will als je.

»Der bittere Geschmack dieser Hoffnung entspricht einer Gegenwart, die die Last des Lebens besonders drückend macht.« Die ereignisreiche Zeit, die seit jenem Sommer 1938 vergangen ist, hat die Hoffnung nicht zerstört und nicht erfüllt; der bittere Geschmack ist an ihr haften geblieben.

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Paris, November 1974  

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Vorwort 1974 von Manes Sperber zur Ausgabe im Europaverlag Wien 1975