Vorwort 1974      Start    Weiter 

Zur Analyse der Tyrannis

 

 

Vorwort  (1937)

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Die vorliegende Studie kann weder eine soziologische Untersuchung ersetzen, noch kann sie eine politische Orientierung bieten. Der nach Macht strebende, der von ihr berauschte und der von der Macht des andern faszinierte Mensch ist ihr Gegenstand. Somit ist dieser Versuch ausschließlich der subjektiven Seite der Macht gewidmet und nicht ihrer objektiven, die, als gesell­schaft­liches Verhältnis allein begreifbar, Gegenstand der Soziologie ist.

Die Psychologie kann das Wesen der Macht ebensowenig ergründen wie etwa die Ursachen des Krieges oder die jeweiligen Veränderungen in der Ordnung der menschlichen Gesellschaft.

Wo die Psychologie es dennoch versucht hat, hat sie sich einer Grenzüberschreitung schuldig gemacht, deren Sinnlosigkeit durch ihre Resultate deutlich geworden ist: Den Daseinsgrund einer Massenbewegung in verdrängter Homosexualität suchen; in der libidinösen Bindung der Soldaten an den Feldherrn die Begründung für den Bestand eines modernen Heeres finden; eine Weltwirtschaftskrise aus dem Mangel an Gemeinschaftsgefühl ableiten — das sind Resultate, denen der Unwert tragischer Scherze, doch nicht der Wert wissenschaftlicher Ergebnisse eignet.

Mit der gekennzeichneten Grenze dieser Untersuchung muß sich der Leser ebenso abfinden, wie es der Autor getan hat. Er mag sich damit trösten, daß die Erkennung einer Schranke häufig — und gerade im Bereiche des Bewußtseins — eine unabdingbare Voraussetzung für deren Aufhebung ist. Die Schrankenlosigkeit ist die nur fingierte Wirklichkeit des Träumers. Der Träumer aber kann schrankenlos sein, weil er nicht handelt und sofern er nicht handelt.

Die andere Grenze, die Beachtung verdient, engt die Wirkung solchen Versuches ein. Mag die Not dieser Zeit manchen dazu verführen, von der Psychologie zu erwarten, sie würde die erkrankte Menschheit erfolgreich behandeln, ihr in Gestalt einer Heilung das Heil bringen — uns hat die gleiche Not in einem über die Macht der Gewalt und über die Geringfügigkeit der Rolle belehrt, die der Psychologie zwischen zwei Weltkriegen tatsächlich zukommt. Die Aussichten eines Kopfes im Zusammenstoße mit einer Faust waren nie glänzend. Doch was vermag ein Kopf gegen ein Maschinengewehr, was gegen Giftgas?

Der entmutigende Schluß, zu dem solche Gegenüberstellung drängt, ist indes nicht vollgültig. Denn, die das Maschinengewehr bedienen — wie weise ist die Sprache: bedienen! — und die das Giftgas abblasen, sind Menschen, die Köpfe zu verlieren haben.

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Sie haben sie auch, um zu denken. Und solange die Denkfähigkeit nicht völlig verschwunden ist, hat der Psychologe, entmutigt zwar in bezug auf seine erzieherische Chance, doch noch eine Aufgabe: nachdenklich zu stimmen. Das ist nicht viel, gewiß! Doch würde einer unsere Bescheidenheit kränken wollen mit der Frage: nicht mehr? — so würden wir ihm antworten: nicht weniger! Denn wir sind Optimisten. Wir sind es, obschon wir genauer, als wir es hier sagen könnten, die Lächerlichkeit erkennen, die damit verbunden ist. Doch mit der Lächerlichkeit der menschlichen Existenz mußte sich der Psychologe abfinden, da er begann, einer zu sein. Also zu jener gleichen Zeit, als ihm die Größe der menschlichen Existenz aufging.

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Und diese Erkenntnis von der Lächerlichkeit und der Größe jeglicher menschlichen Existenz, so fremd und so beängstigend für den Tyrannen, haben frühzeitig in allen, die dem Wesen des Menschen nachsannen, das Interesse für das Wesen des Macht­gierigen, des Tyrannen, für den Machtrausch und für den unvermeidlichen Untergang in der Macht geweckt.

Daß in dem Willen zur Macht die Flucht vor der Lächerlichkeit sich manifestieren müsse, das war früh bekannt, wenn auch nicht mit den Termini einer wissenschaftlichen Psychologie formuliert. Und daß diese Flucht sich stets als eine wirkungslose Ausflucht erweisen müsse, darüber waren schon die Hellenen durch ihre Tragödie belehrt. Da der tragische Held zusammenbrach, belehrte sein Fall alle, die es anging — und das ging und geht alle an — wie lächerlich er gerade dann gewesen war, wenn er, auf dem Gipfel der Größe, sich um Welten von aller Lächerlichkeit entfernt gewähnt hatte.

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So stak in aller Tragödie die gewendete, gleichsam ummontierte Komödie. So ist alle wahre Komödie die Tragödie, von der andern Seite gesehen.

Shakespeare, dessen Menschenkenntnis auch die heutige Psychologie noch nicht ausgeschöpft hat, Shakespeare war es, der der Tragödie diese ihre andere Seite gab. Seine Helden, seine Machtgierigen — das sind Gekränkte, Verkürzte, mißverstandene Mißversteher. Sein Bösewicht ist gewillt, einer zu werden, weil er auf der Flucht vor der Selbstverachtung ist. Seine Mörder morden in Notwehr: Sie fürchten, es würde ihre Lächerlichkeit sie töten.

Stendhal und Dostojewski haben die Lehren Shakespeares vervollkommnet. Alfred Adler, der Begründer der vergleichenden Individualpsychologie, hat sie wissenschaftlich begründet. Nietzsche, mit dessen Namen und dessen Werk der Begriff »Wille zur Macht« unlösbar verknüpft erscheint, hat zwar Dostojewskis psychologische Hellsicht gerühmt, doch nur in seinem »Menschliches, Allzumenschliches« folgt er den Spuren der großen Menschenkenntnis.

Ihm wurden sein eigenes Wesen und dessen Krankheit zur Schranke. Spottet er über das Allzumenschliche, so verkennt er die Größe des Menschlichen. Ihm fehlte der Mut, sich zum Menschen zu bekennen, darum suchte er aus lauter Selbstverachtung den Übermenschen, den Verwirklicher des Willens zur Macht, wie er ihn verstand, und darum endete er im Dunkel seines unguten »Ecce homo«.

Nietzsche leitete den Willen zur Macht von der Stärke, von der Macht selbst ab. Er verkannte den unlös­lichen Zusammenhang zwischen der Schwäche und der Macht. Es war das gleiche Mißverständnis, mit dem er seine eigene Not mißverstand.

Eine andere, von sich selbst mißverstandene, massenhafte Not wurde in unserer Zeit die gesellschaftliche Protektion und Bestimmung für das Heraufkommen von Männern, die sich auf Nietzsches Willen zur Macht berufen. Nicht ganz mit Unrecht berufen, da seine Machtauffassung die Auffassung des von der Macht beseligt träumenden Untertanen war. Die Untertanen aber machen den Tyrannen, sie setzen ihn instand, vor lauter Untertanen keinen Menschen mehr zu sehen.

Unter allen Schulen und Richtungen der modernen Psychologie hat einzig die Adlersche Lehre, hat die Individualpsychologie den psychologischen Problemen der Macht und der Geltung die gebührende, somit eine zentrale Bedeutung eingeräumt. Die Psycho­analyse hat sich niemals von ihrem Ausgangsmilieu, der Familie, und von ihrem Ausgangskonflikt, dem Familienkonflikt, lösen können. Sie versucht es im Gegenteil, die Weltgeschichte als eine konfliktreiche Familiengeschichte und die Machtkämpfe, die alle bisherige Geschichte beherrscht haben, aus dem Ödipus-Komplex zu erklären.

Alfred Adler hat hinter der Familie entscheidende gesellschaftliche Zusammenhänge gesehen oder doch zumindest vermutet. Solche Einsichten, verbunden mit einer Menschenkenntnis, die von den Erfahrungen und den Lehren der Geschichte weise Gebrauch zu machen verstand, öffneten Adler einen Weg, an dessen Anfang die wissenschaftliche Menschenkenntnis beginnt. Lehnen wir das philosophische System ab, in dem Adler später seine psychologischen Erkenntnisse geordnet und zum Teil leider verändert hat, so machen wir dankbar von jenen seiner Befunde Gebrauch, deren — wir sind dessen gewiß — auf die Dauer keine psychologische Bemühung wird entraten können.

Auf die Dauer mag sich auch die Hoffnung auf eine Zeit rechtfertigen, in der die erzieherische Bemühung um Wert und Würde des Menschen, jedes Menschen, nicht zur Lächerlichkeit verurteilt sein wird durch die ständige Drohung, die über unser aller Leben verhängt ist. Über dieses Leben, das Voraussetzung von Wert und Würde, von Sinn und Erfüllung ist.

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Zur Analyse der Tyrannis - Von Manes Sperber - 1937