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I. Widerspruch und Überwindung
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Herr X., ein kleiner Angestellter, wird von Vorgesetzten und Kollegen als ein überaus schüchterner, geradezu demütiger Mensch beschrieben. Seine Frau hat Grund, in ihm einen tyrannischen, pedantischen, jähzornigen Gatten zu fürchten. Was ist Herr X.? Schüchtern und demütig oder jähzornig und tyrannisch! Wie lösen sich solche Widersprüche?
Mit Einerseits — Andererseits löst sie die Vulgärpsychologie. Indes ist begreifbar, daß die menschliche Persönlichkeit mit solchem Einerseits — Andererseits nicht begriffen ist. Sie ist geschlossen, ihr Charakter scharf umrissen, und dem schärferen Beobachter offenbart sich deutlich ihre Einheitlichkeit.
Der Widerspruch in der Natur ist nicht ein Unfall, er ist ihr Gesetz und Unfall nur dem Denken, das diesen Widerspruch linear begreift. Es klammert dieses Denken den Widerspruch zwischen der einen und der anderen Seite ein, als ob er von solchen Klammern gehalten werden könnte.
Alter Einsicht ist die Erkenntnis verdankt, daß alles Sein Bewegung ist, Prozeß, Werden. Diese Einheit des »Stirb und werde!« muß von jeglichem begriffen sein, der irgendein Sein begreifen will.
Was wäre Tugend, was ihr Wert, wäre nicht die Sünde? Was wüßte man von Recht, erhöbe es sich nicht als Folge des Unrechts, das es aufheben soll? Was wäre die Einsamkeit des Eremiten, wären alle einsam, wäre seine Einsamkeit nicht auf die Gemeinschaft aller anderen bezogen? Außerhalb der Beziehung, aus der, in der ein Ding geworden ist, ist es nicht begreifbar, ja nicht einmal beschreibbar. Ein Flugzeug, durch irgendeinen Unfall in den Lebensbereich Primitiver gebracht, würde ein Fetisch werden, ein überirdisches Wesen, Beweis und Funktion ihres Glaubens. Die spezifische, tätige Beziehung, die das Flugzeug zu einem Verkehrsmittel macht, ginge dem Primitiven notwendig ab und würde durch eine andere, für ihn nicht weniger sinnvolle Beziehung ersetzt.
So ist all unser Denken ein In-Beziehung-Setzen. Das Ding an sich ist Gegenstand skeptischer Spekulation. Doch jegliches Ding verwandelt sich unvermeidlich in das, was allein es uns sein kann: in das Ding für uns. Was ist, ist zwar unabhängig von uns. Doch da unser Bewußtsein sich anschickt, die Wahrnehmung von ihm zu assimilieren, assimiliert es das Seiende und ordnet es in ein Bezugssystem ein. In diesem ist das Seiende nur, sofern es bezogen ist, in ihm wird es gleichsam — in einer nicht mechanischen, sondern produktiven Widerspiegelung — neugeformt, mißformt und mehr oder minder verzerrt.
Wem solcher — hier des engen Rahmens wegen nur skizzierter — Sachverhalt halbwegs einleuchtet, dem wird die Folgerung erlaubt erscheinen, daß der Mensch, Produkt und Produzent seiner Umstände, Subjekt und Objekt aller Wissenschaft, die ihn betrifft, nicht anders begriffen werden kann denn als ein Knotenpunkt einer kaum beschreibbaren Vielfalt von Beziehungen, die er hat und die — sit venia verbo — ihn haben.
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Und die Vielfalt des Lebens, die immer wieder uns erstaunt, was ist sie denn als eben die Vielfalt dieser Beziehungen, von denen wir ja jeweils nur die verwirklichten studieren können, indes wir die viel größere Zahl der möglichen zwar stets als den großen Faktor X beachten müssen, doch nie gesichert in Rechnung stellen können.
Den Beziehungen des Menschen entspricht genau sein Bezugssystem (Adler). Dieses ist das Produkt aller Umstände, die auf den Menschen — etwa bis zu seinem dritten oder vierten Lebensjahre — eingewirkt haben. Einmal geformt, wird es fortab alle Beziehungen dieses Menschen formen, seine Erlebnisse zu ihm gemäßen Erfahrungen umprägen. Dieses Bezugssystem ist die Achse des Bewußtseins, von dem wir ausgesagt haben, daß es alle Wahrnehmungen dirigiert und deren Inhalte assimiliert und verzerrt.
Wollen wir wissen, was Herr X. ist, müssen wir sein Bezugssystem kennen. Um ihn zu verurteilen, genügt es vollkommen, daß wir ihn unserem Bezugssystem unterstellen. Um ihn zu verstehen, wie der Erzieher einen Menschen verstehen muß, dazu allerdings muß man ihn auch aus seinem Bezugssystem heraus beurteilen können, muß man lernen, ihn zu sehen, wie er sich selbst sieht, wie er sich selbst erlebt und erfährt. Das heißt keineswegs, daß wir X.'s Urteil über sich selbst annehmen werden. Wir werden in seinem Urteil nur die typische Funktion seines Bewußtseins finden, und wir werden es als Material verwenden. Wo wäre indes der Gerechte, den seine eigenen Gründe nicht gerechtfertigt hätten? Jeder aber handelt aus seinen, ihn also gerecht dünkenden Gründen.
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Erfahren wir die Gründe des Herrn X. - Er sagt:
»Wer durch eine Türe geht, die niederer ist als er selber, und er bückt sich nicht, ist ein Dummkopf. Das ist eine alte Weisheit. Und wer nicht den Kopf so hoch trägt, als er es eben kann, ist auch ein Dummkopf. Ich will natürlich im Büro weiterkommen. Das kann ich nur erwarten, wenn ich bei meinen Vorgesetzten beliebt bin, wenn sie wissen, daß es bei mir nur eines Winkes bedarf. Wenn ich aber einmal Chef bin, werde ich, verlassen Sie sich darauf, auf strengste Ordnung und Disziplin sehen. Wer befehlen will, muß gehorchen können. Zu Hause, da bin ich Chef. Wie ich meine Frau geheiratet habe, was war sie da? Was hatte sie da? Nichts. Aber stehengelassen hatte sie schon einer. Gewiß, die Ehre war nicht angetastet. Aber daß sie mir dankbar zu sein hatte, war klar. Nun, ich finde, das vergißt sie gar zu häufig. Ich verlange absolute Ordnung! Mit den Jahren aber läßt ihr Ordnungssinn nach. Verlassen Sie sich darauf, ich seh schon nach dem Rechten. Da fahr ich drein wie das Donnerwetter. Schließlich hat man ja seine Pflichten - und man weiß, was die Ehre verlangt!«
Schneiden wir Herrn X. wenigstens hier, wo wir es ohne Gefahr können, und da er uns überdies nur paradigmatisch interessiert, das Wort ab. Einerseits — andererseits? Oder »tiefen«psychologisch: X. reagiert ab? Nein, er reagiert nicht ab, und die Gegensätze, in denen er sich uns präsentiert, bilden eine Einheit. Er verhält sich in beiden Situationen gemäß dem einen gleichen Gesetze, nach dem er angetreten ist. Er ist ein Tyrann, wo er es schon sein kann. Er ist schüchtern und demütig auf dem Wege zur Tyrannis. Er kriecht, ja, aber er kriecht auf den Gipfel, von dem aus er hofft, zusehn zu können, wie andere erfolglos kriechen. Gewiß, X. irrt sich, denn mit Kriechen allein wird er es nicht schaffen. Doch darüber wird in anderem Zusammenhange zu sprechen sein.
Warum ist X. so, daß er, ein kleiner Mann, so dringlich nach dem Gipfel strebt? Er würde sagen: »Machen Sie sich nichts vor! Niemand will unten bleiben, jeder möchte sich über den andern erheben, das ist schon so! Das wird ewig so bleiben!«
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Daß seine Anschauung zu seinem Lebensstil (Adler) paßt, erstaunt uns nicht. Die Anschauungen sind nicht Eingebungen eines objektiven oder eines heiligen Geistes, sie sind ein Teil des Lebensstiles selbst. Man hat die Anschauungen, die man braucht. X. hat, braucht und gebraucht die seinen. Er könnte keine Erfahrung machen, die ihnen widerspräche. Entgegenstehende Erlebnisse? Die Erlebnisse erlebt, erleidet man, doch Erfahrungen macht man. Und Erlebnisse sind in keiner Hinsicht beweiskräftig. Gleiche Erlebnisse sind für verschiedene Menschen Rohstoff für völlig verschiedene Erfahrungen.
So mag es sich auch aufklären, warum umwälzende, zum Beispiel mit dem Blut von zehn Millionen Menschen sichtbar gefärbte Erlebnisse so wenig Erfahrungen ergeben: so mag es leicht kommen, daß warnende Beispiele erinnerter oder erlebter Geschichte Warnung nur denen sind, die ihrer nicht erst bedürfen. Die suchen, haben gemäß einem berühmten Worte Pascals längst gefunden. Die meisten aber suchen nicht, denn sie sind im Banne der privaten Wahrheit oder der Adlerschen »privaten Intelligenz«, die ihren Lebensstil beherrscht, die ihr Bewußtsein, ihr Bezugssystem und ihr demgemäß — im Sinne der privaten Wahrheit — tendenziöses Apperzeptionsschema bestimmt. (Nur grundlegende gesellschaftliche Umwälzungen vermögen es, Erfahrungen aufzuzwingen. Diese Erfahrungen werden nicht gemacht, sie machen — sie machen Menschen und Geschichte.)
X. verdrängt nicht, wie der psychoanalytisch informierte Leser meinen könnte, er nimmt, was er verdrängen müßte, gar nicht oder nicht so wahr, daß er es verdrängen müßte. Die Kontrolle erfolgt nicht unter und nicht über dem Bewußtsein, sie ist bereits in der Wahrnehmung erfolgreich wirksam.
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Warum ist X. so, wie wir ihn geschildert haben? Diese Frage könnten wir in dieser Gestalt nicht beantworten. Sagten wir nicht, daß alles Sein nur als Werden begreifbar ist. Wie, warum, wozu X. so geworden ist, wie er sich uns darstellt, darauf könnten wir versuchen zu antworten, wenn er uns als Person hier interessierte. Uns interessieren aber vorderhand nur die Entwicklungsgesetze, denen gemäß die X.e werden, was sie sind. Und mag uns X. als Person nicht interessieren, so müssen uns die X.e interessieren. Wer ist so restlos selbstentfremdet, daß er sagen könnte, in ihm sei nichts von X. und in X. sei nichts von ihm! Ist es denn denkbar, daß angesichts der Bezogenheit aller auf alle irgendwer lebt, der völlig unberührt hat bleiben können von dem, was einen andern geformt hat?
Alles Sein ist Werden, weil es widerspruchsvoll ist. Mag einer auch an eine Gottheit, an eine prästabilierte Harmonie glauben, so muß er auch glauben, daß diese große Harmonie die Disharmonien im einzelnen nicht verhindern kann oder — wie der Gläubige meint — nicht verhindern mag. Und auch diesem Gläubigen ist die Welt nur aus dem Widerspruche faßbar. Wozu gäbe es denn Sünde, wenn nicht dazu, daß durch ihre Überwindung die Gnade, die Harmonie mit Gott erreicht würde. Verschieden ist das Leben bisher interpretiert worden, doch von allen, die ihm wirklich nahe kamen, als fortgesetzte Überwindung und des Lebens Ruhm und Sinn als Überwindungsprämie. Es kann auch nicht zufällig sein, daß jene Interpretatoren die größte Wirkung erreichten, die, selbst leidenschaftliche Überwinder, von der Leidenschaft für Erziehung und Veränderung erfaßt waren: so von Sokrates her bis in unsere Tage.
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Was gibt es denn zu überwinden? Diese Frage ist verschieden beantwortet worden. (Und vielleicht gar nicht so verschieden, wie es die jeweils zeitgemäß veränderte Ausdrucksweise meinen lassen kann. Vielleicht, wahrscheinlich hat jede Epoche nur ein weiteres Stück Wahrheit hinzugefügt, Erfolg neuer gesellschaftlicher Erfahrungen, und die alte und die neue Wahrheit in einem neuen, umfassenderen System neu formuliert.)
Was denn der Mensch zu überwinden habe, damit er, mit Nietzsche zu sprechen, werde, was er ist? Dies: seinen organisch und sozial minderwertigen Start; alle Schwierigkeiten, die ihm auf Grund dieses minderwertigen Starts die Notwendigkeit bieten, sich einer Umgebung anzupassen, die ohne ihn und vor ihm ihre Spielregeln, ihre Bezugssysteme festgelegt hat, ja, die ihn selbsl schon festgelegt hat, ehe er wahrnehmen, erfassen und sich wehren kann; die Schwierigkeit, sich nicht nur der Umwelt, sondern bis zu einem gewissen Grade die Umwelt sich anzupassen; die Schwierigkeit, ein Ich zu werden, was er nur werden kann in dem gleichen Prozesse, in der er selbst Umwelt wird. (So wird das Kind von sich selbst reden, wie die Umwelt von ihm redet als von der dritten und manchmal von der zweiten Person, ehe es fähig wird, sich als erste Person vor sich selbst zu konstituieren); die Schwierigkeit, daß er, gleichviel wann er zur Welt gekommen ist, zu spät gekommen ist. Alle anderen, an die er sich anpassen muß, waren vor ihm da. Und vor diesen waren - unabsehbar - andere, die nicht nur ihre Weisheiten und Schönheiten hinterlassen haben. Er wird vom Erbe angetreten, ehe er auch nur überlegen kann, ob er es antreten möchte.
Dies hat das Kind schon zu überwinden, diese Schwierigkeiten aufzuheben in dem doppelten Sinn, auf den Hegel in historischem Zusammenhange hingewiesen hat — zu beseitigen und aufzubewahren.
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Doch der Mensch hat auch zu überwinden: die Verleitung zum perspektivischen Fehler, der sich aus seiner gleichsam unendlichen Nähe zu sich selbst in der lebenslänglichen Situation ergibt, in der er — heute — doch stets nur ein zweimilliardstel Teil der Umwelt ist; die Schwierigkeit, Beziehungen zu schaffen, in denen er sich als Ich nur bewähren kann, wenn er sich als Du bewährt; die Not, die darin besteht, daß er alle gesellschaftlich-wirtschaftliche Misere, die ihn trifft, erleben muß, als wär's ein Stück von ihm, indes er auf sie nur als einer von unzählbar vielen einwirken könnte.
Sein Leben bedroht der Krieg, doch allein vermöchte er nichts gegen ihn; die Aufgabe — welch lächerliche Aufgabe! — zu planen und zu leben, als ob des Lebens kein Ende wäre, obschon er stündlich den Tod abwehren muß.
Auf dem Wege zur Aufhebung des Widerspruchs, zur Harmonie, ist er auf dem Wege zu einem neuen Widerspruch, in den sich jegliche Harmonie verwandelt. Und spränge er über den eigenen Schatten, der Schatten spränge mit und wäre an neuer Stelle mit ihm vereint.
Und überwindet der Mensch diese Schwierigkeiten? Ja. Wie? Man verzeihe die erschreckend banale Antwort: eher schlecht als recht. Eher schlecht. Wäre cs anders, wen würde eine Psychologie der Tyrannis interessieren?
Denn die Tyrannis (das ist: der Tyrann und die ihn machen) ist ein Beweis für schlechte Überwindung. Und die Tyrannis ist alt und sie ist schon wieder jung.
Der Prozeß der Überwindung, den im Bereiche der Menschenkenntnis Alfred Adler, von organologischen und psychoneurologischen Untersuchungen ausgehend, als erster wissenschaftlich gefaßt hat, erweist sich als ein fortgesetzter Prozeß der Kompensation, der als Vorgang organisch bedingt und seinem Inhalte nach sozial bestimmt ist.
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Alle Fähigkeit, die der Mensch erwerben oder ausbilden muß, erlangt er in dieser fortgesetzten Tätigkeit des Ausgleichs des Fehlenden, das erfordert ist, von der Umwelt, allgemeinst: vom Leben angefordert wird. Diese Forderung ist die Art, in der das Leben seine Träger fördert. Seine Forderungen sind die Krisen, durch die das Individuum hindurchgehen muß, soll es vorwärts kommen. Es geht vorwärts, sofern es muß, und nur weil es muß, in jenem »Trotzdem!«, das Thomas Mann im Sinne Nietzsches als Beweggrund der Kunst bejahte, das aber, weit über den Bereich der Kunst, allgemein gültig ist.
Es ist einleuchtend, daß eine Minusposition umso fühlbarer ins Bewußtsein treten muß, je größer die Spanne zwischen ihr und dem Ausgleich ist. Das Minderwertigkeitsgefühl, das dieser Position entspricht, kann sich so verschärfen, daß es die Ausgangsposition subjektiv verschlechtert und damit die Spanne zwischen ihr und der Kompensation vergrößert. Es ist sodann, als ob das Minderwertigkeitsgefühl; an sich Wirkung und Widerspiegelung der kompensationsbedürftigen Position und entscheidender Anstoß zu ihrer Überwindung, sich verselbständige. Dieses sekundäre Minderwertigkeitsgefühl, das im Krankheitsbild jeder Neurose vorzufinden ist, fügt zu der objektiv vergrößerten Spanne zwischen Position und Kompensation, zwischen Schwierigkeit und Überwindung, eine neue, primär subjektive Schwierigkeit hinzu. Unter der Einwirkung dieses Gefühls befindet nämlich der Mensch die Sicherung, die der normale Ausgleich bieten könnte, als unzureichend.
Um ein überaus simples Beispiel für die Verschiebung der Kompensationsgrenze zu geben: Jemand soll in der Nacht durch einen Wald gehen. Für den Mutigen wird es normalerweise keine Schwierigkeiten geben. Zur Not wird ihm eine Taschenlampe und vielleicht ein Knüppel zur vollen Sicherheit verhelfen.
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Ein weniger Mutiger wird ein gefährlicheres Instrument, als es ein Knüppel ist, wählen, ein Messer, eine Stahlrute, einen Revolver. Jedes dieser Instrumente ist gewissermaßen ein Quotient der Relation Mensch : Situation. Ein Feigling wird sich weigern, allein zu gehen. Er wird sich Begleitung, und zwar eine möglichst scharf bewaffnete, zu verschaffen suchen.
Zwei Arten von Feiglingen, deren zweite Art uns noch sehr angehen wird, seien noch genauer charakterisiert. Die eine Art weigert sich standhaft zu gehen, kriegt sogenannte hysterische Anfälle, krampfartige Zustände oder verstaucht sich im entscheidenden Moment den Fuß, oder erleidet, was es an ähnlichem glücklichen Pech für den Feigling gibt — kurz, es wird eben nicht gegangen. Dieses Resultat wird in so virtuoser Manier erzielt, daß schließlich die Umgebung durch Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit mannigfacher Art den Feigling zu trösten versuchen wird. Er wird so tun, als ob er sein Versagen der Umgebung verzeihen könnte, aber er wird es ihr so wenig verzeihen, wie er jemals imstande ist, Verantwortungen auf sich zu nehmen.
Die zweite Art Feigling ist dadurch gekennzeichnet, daß sie zu feige ist, sich zur Feigheit zu bekennen. Im Gegenteil, dieser Feigling legt auf Heroismus Wert. Er wird seine Umgebung davon zu überzeugen suchen, daß dieser Wald eine befestigte feindliche Stellung ist, die von geborenen Mördern und unversöhnlichen Feinden gehalten wird. Der Wald, wird er darzulegen versuchen, muß angezündet werden, gleichzeitig muß aus allen verfügbaren Waffen - und wie viele Waffen auch da seien, sie seien zuwenig — in den Wald hineingefeuert werden. Er übernimmt die Führung, umgibt sich mit einer Leibgarde, mit der er gesicherte Unterstände bezieht. Am anderen Tage — der Wald ist niedergebrannt, an den rauchenden Baumstümpfen wachen bewaffnete Männer, die darauf brennen, belobt und belohnt zu werden — schreitet unser Held angstlos durch den vernichteten Wald.
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Weitere und wesentliche Details wären, wenn dies mehr als ein ad hoc ersonnenes Beispiel wäre, anzubringen. Doch genügt das Gesagte auch so zur Verdeutlichung zweier spezifischer Verhaltensweisen, die für das bessere Verständnis sowohl des Herrn X. wie des Gegenstandes unseres Versuchs, der Tyrannis, wichtig sind.
Das neurotische Geltungsbedürfnis und das Machtbedürfnis sind hier aus Kompensationsschwierigkeiten abgeleitet, die in entscheidenden Entwicklungsjahren eingesetzt haben müssen und nie überwunden worden sind. Die somit die Kompensationsgrenze so weit hinausgeschoben haben, daß diese nur gewissermaßen asymptotisch zum Leben verläuft. Die nunmehr angestrebten Kompensationen sind nicht mehr von dieser Welt. Nur das Streben nach ihnen wirkt sich in ihr aus, ist in ihr eine Krankheit, die eine Familie gefährdet, oder — unter ganz besonderen gesellschaftlichen Bedingungen — eine Katastrophe, die Teile der Menschheit oder die ganze Zivilisation gefährdet.
Wir wollen dieses Kapitel nicht schließen, ohne den Leser auf einen Kronzeugen hinzuweisen, der gegen unsere Auffassungen zeugt. Dieser, er könnte zum Beispiel ein Experimentalpsychologe sein, würde, hätte er unsern Helden in jener Nacht auf Angst geprüft, etwa »getestet«, keine Spur von Angst an ihm entdeckt haben. Ihm wären im Gegenteil die männliche Entschlossenheit, die feldherrliche Ungeduld und die Rücksichtslosigkeit im Einsatz aller verfügbaren Kräfte aufgefallen. Er, dieser Kronzeuge, entdeckt die Angst nicht, und wenn sie vor seinen Augen aus Kanonen schießt.
Er sucht sie im so different deutbaren Pulsschlag und nicht in den Handlungen, in denen sie sich am deutlichsten, wenn auch gleichsam pseudonym äußert, also: in jenen Handlungen, in denen die Angst sich zu überwinden trachtet.
Wir mußten den Leser auf diesen Kronzeugen verweisen. Er wird uns aber vielleicht nach all dem vorher Gesagten verzeihen, daß wir dessen Aussagen, nachdem wir sie registriert haben, nicht zu widerlegen versuchen. Mit der Wirklichkeit konfrontiert, auf die sie sich beziehen, erweisen sie sich als leer.
(Von ihren Autoren aber darf gelten:
»Den Teufel spürt das Völkchen nie
Und wenn er sie beim Kragen hätte.«)
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