Zur Analyse der Tyrannis             Start    Weiter

II.  Sein und Schein

 

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Nur eitle Tröpfe und Tyrannen könnten die kühne Feigheit aufbringen, die Bekanntschaft mit der Angst zu leugnen. In der Tat ist die Angst das allgemeinst verbreitete Gefühl. In der Furcht, die von der Angst scharf zu unterscheiden ist, widerspiegelt sich eine mehr oder minder richtig eingeschätzte Gefahr einer richtig wahrgenommenen Situation. In der Angst äußert sich ein Charakter in einer Situation, die keineswegs gefährlich sein muß, die aber jedenfalls mangelhaft, tendenziös-verzerrt wahrgenommen ist. Die Furcht ist von der Wahrnehmung erzeugt, aber die Angst erzeugt die sie bestätigenden Wahrnehmungen. Die Furcht ist durch die Zahl der wahrscheinlichen Gefahren beschränkt, die Angst ist unbeschränkt, wie es praktisch die Zahl der möglichen Irrtümer ist.

Es gibt verschiedene Arten von Angst. Uns interessieren hier vor allem zwei Arten. Die eine nennen wir die sozial-adressierte und die andere die aggressive Angst. Die sozial-adressierte Angst, in ihrer Wirkung sehr offenbar, ist die Methode einer Kompensation, die die Umwelt für das Individuum zu leisten hat. Die Angstsituation wird nie von Grund auf und stets nur durch Heranziehung anderer überwunden. Der Platzängstler, der ohne Begleitung nicht ausgehen kann; das Kind, das durch Pavor nocturnus, die schreckhafte Nachtangst, die Eltern zwingt, sich auch nachts mit ihm zu beschäftigen, es zu sich zu nehmen usw.; der Flüchtling in die Krankheit, die ihm die sozial gültige Legitimation zur Enthebung von der Kompensationspflicht gewähren soll und die seine Umwelt zwingt, für ihn zu leisten — sie alle arbeiten mit der sozial-adressierten Angst, mit einer Schwäche somit, die durch das Entgegenkommen der Umwelt zur Stärke wird.

Es ist klar, daß diese Methode zur fortgesetzten Vergrößerung der Angst führen muß, die sich in wechselnden Formen konkretisieren wird. In Verfolg dieser Entwicklung wird der Mensch in ein immer problematischeres Verhältnis zur Umwelt geraten. Das zwiespältige Verhältnis macht ihn selbst leiden und verwirrt seltsam sein Sein, das sich mit dem Schein verfilzt, hinter dem er sich zu schützen versucht und den er immer mehr als einen Teil seines Wesens erlebt. Der Antagonismus, der sich zwischen ihm und der Realität erhebt, verschärft sich immer hoffnungsloser.

Indes wirken ungezählte Erlebnisse im Sinne des Scheins und scheinen seinen Wirklichkeitscharakter zu bezeugen. Seine Unfähigkeit, andere Erfahrungen zu machen als die, die ihm in den Kram passen, schützt solchen Menschen zeitweise vor Ausein­ander­setzungen, in denen er erliegen müßte.

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Auf die große Bedeutung des Scheins soll noch durch folgende Überlegung hingewiesen werden. Was wir Wert nennen, ist gesellschaftlich bestimmt. Es ist zum Beispiel klar, daß die gleichen Verhaltensweisen, die einen in anderen Zeiten verehrungswürdig, heilig machen konnten, ihn, sagen wir, in unseren Zeiten ins Irrenhaus bringen müßten. Somit mag es in der Philosophie absolute Wertungsmaßstäbe geben, im praktischen Leben sind die Kriterien nichts als die veränderlichen Bewertungen der Gesellschaft. Sie belohnt den Wert mit Geltung, den Unwert mit Vernachlässigung oder mit Verachtung. Sie selbst erscheint als Nachfragerin auf dem Markte der Werte und erzeugt das Angebot jener Werte, deren sie bedarf.

Doch wie entscheidet sie ob ihr Wertanspruch erfüllt ist? Sind da Irrtümer ausgeschlossen? Läßt sich die Gesellschaft nicht täuschen? Erzeugt sie nicht selbst, etwa in Form verschärfter Konkurrenz, Haltungen, die der Vortäuschung von Werten dienen? Erzeugt sie nicht unsachliche Begleiterscheinungen im Kampfe um die Geltung, die allmählich, was Wert ist, zurückdrängen und all das zur Anerkennung bringen, was den Schein des Wertes hat? Der gegenwärtige Stand der Zivilisation belehrt ziemlich eindeutig darüber, daß es für diejenigen ungezählte Chancen gibt, die mit dem Schein erfolgreich zu operieren wissen.

Es braucht wohl nicht erst nachgewiesen zu werden, daß, gibt es im gesellschaftlichen Leben Gegensätze, diese auch im Seelenleben des einzelnen wirken müssen. Es kann erlaubt scheinen zu folgern, daß die Konkurrenz auch im Seelenleben des einzelnen zu einem konstitutiven Element werden muß, wenn die Gesellschaft In der Konkurrenz eines ihrer konstitutiven Prinzipien gefunden hat.

Das Kind kennt die Konkurrenz der Geschwister, der Erwachsene die Konkurrenz aller innerhalb seines eigenen Lebensbereichs, die mit ähnlichen Zielen handeln wie er selbst.

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In diesem Konkurrenzkampfe wird der einzelne mit der Leistung oder mit dem Schein der Leistung sich durchzusetzen versuchen, je danach, wie seine spezifischen Bedingungen und wie die Umwelt­bedingungen sind. Der Mensch mit der sozial-adressierten Angst setzt an die Stelle der Leistung den anspruchsvollen Schein. Als Kind hat er auf die bessere Schulnote seiner Geschwister mit Fieber reagiert und so die Anerkennung der Erwachsenen für die Konkurrenten mit der liebevollen Aufmerksamkeit überdeckt, die er von ihnen für sich erzwungen hat. Er konnte das System des »Wenn nicht« bis zur Vollendung entwickeln. Wenn er nicht krank gewesen wäre, wenn der Lehrer nicht gerade so gewesen wäre usw. Als ob er von negativen Konditionen an den größten Leistungen gehindert worden wäre und nur durch sie, verlangt er einen ewigen Kredit. Wenn aber einmal die negativen Bedingungen wegfallen, dann werde er alle übertreffen, dann werde er unter Beweis stellen, daß was immer die anderen leisten, nichtswürdig sei im Vergleich zu jenen Leistungen, an denen er nur momentan noch verhindert sei.

Staunend hat der Psychologe erfahren müssen, daß man solches Wenn-nicht-System einem ganzen Volke schmackhaft machen kann. Über die Wirkungen, die es in diesem Falle gehabt hat, wird noch ausführlich gesprochen werden.

Der Mensch mit der sozial-adressierten Angst strebt nach der Geltung, und nur insofern auch nach Macht, als jeder Geltung ein gewisses Maß von Macht zugeordnet ist. Der Mensch mit der aggressiven Angst aber strebt nach Macht, und zwar nach der totalen Macht, da es eine teilweise Macht gar nicht gibt. Für ihn ist die Macht ganz da oder sie ist Ohnmacht, also genau das, was er so wenig ertragen kann, wie irgendwer die Verneinung der eigenen Person vertragen kann.

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Die aggressive Angst bekennt sich nicht zu sich selbst, sie tritt nicht als Angst zutage, sondern als affektive Aggression. Jener unser Held, der den Wald anzünden ließ, hat sich nicht zur Angst bekannt, ja sie muß ihm nicht einmal ins Bewußtsein getreten sein. Sie manifestierte sich sofort als eine Aggression, die prinzipiell grenzenlos ist, vor nichts haltmachen muß. Um diese Angst loszuwerden, muß man alles beseitigen, was Angst machen kann. Doch dem Ängstler kann alles Angst machen.

So ergibt sich die Konsequenz, daß das unbewußte Ziel des aggressiven Ängstlers die Allmacht, dic Gottähnlichkeit ist. Alles, was den Wert seines Wesens in Frage stellt, alles, was das Gefühl des eigenen Wertes in ihm erschüttern könnte, würde er vernichten oder sich in einer endgültigen Weise untertan machen wollen. Nur der Tod, doch nicht einmal dieser, zieht seinem Machtwillen eine Grenze. Es ist von einem Tyrannen berichtet, der seine Spaziergänge zwischen Gräbern machte, in die er seine Feinde gebracht hatte. Somit war er sogar nach ihrem Tode mit den Feinden nicht fertig. Er hätte sie ein Leben lang betrauern mögen, nur um sich auf diese Weise zu überzeugen, daß sie wirklich, daß sie endgültig tot waren.

Wer seines Wertes gewiß ist, kennt die aggressive Angst nicht. Wer sich mit seiner Unvollkommenheit abgefunden hat, kennt sie ebensowenig. Wer wirklich mitmenschlich ist, ist frei von ihr. Wer sich damit abgefunden hat, als einer von vielen zu leben, wird unter dieser Angst nicht leiden. Und wer die Menschen liebt, wird vor ihr bewahrt bleiben.

Der Mensch mit der aggressiven Angst liebt nicht, nicht die Menschen, nicht eine Frau, nicht einmal sich selbst. Die Kraft der Bejahung ist aufgebraucht in der Bejahung der Macht, die ihre Dynamik aus der Verneinung der Machtlosigkeit bezieht. Das Empfinden der Machtlosigkeit aber wird er nie los. Der Amoklauf nach der Macht führt zu keinem Endpunkt. Gleichviel wann der Tod diesen Amokläufer niederschlägt, er hat ihn vor seinem Ziele erreicht.

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Einem Gott wäre der Mensch Objekt, dem Menschen aber ist er Widerstand. Solange ein jeglicher Mensch sich dazu bekennt, Ziel zu sein, und solange er sich dagegen wehrt, einem andern nur Mittel zu sein, so lange wird der Machtstrebige — und das ist der Mensch mit der aggressiven Angst — mehr Widerstand finden, als sich überhaupt überwinden läßt.

Der nach Geltung strebt, braucht die anderen, und wäre es, um ihnen die Sonne zu geben, die er ihnen sein will. Er kann die anderen anerkennen, ja er muß es sogar tun, denn würde er sie für gering achten, wie sollte er die Geltung, die er bei ihnen erlangt, schätzen können? Darum wird er geneigt sein, von einem bestimmten Punkte seiner Entwicklung ab alle, die ihn gelten lassen, selbst auch gelten zu lassen. Wer nach Geltung strebt, setzt sich somit nicht in Gegensatz zur Realität, außer dort, wo er sie zu erschwindeln versucht. Aber auch da gibt es, wie wir angedeutet haben, bestimmte Phasen der Zivilisation, die ihm eine günstige »soziale Konjunktur« (Müller-Main) bieten, ebenso wie es - im engeren Rahmen - Familien gibt, die diese Haltung protegieren. Mag somit die sozial-adressierte Angst einen Mißbrauch der Sozialität der anderen darstellen, so erzwingt sie diesen Mißbrauch doch nicht, so ist sie nicht durchweg mit der Verachtung des Menschen und des Menschlichen selbst verbunden.

In dem aggressiv Ängstlichen steckt ein unaussprechbares und unbekennbares Maß von Selbstverachtung. Daher verachtet er alle anderen, vor denen er sich gleichzeitig, aber unbewußt ängstigt. Der Wille zur Macht ist der Wille der Schwäche, Macht über die anderen zu erlangen, die zu diesem Zwecke schwach gemacht werden sollen.

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Wenn alles Sein Werden ist, weil es voller Widerspruch ist, so ist alles Sein Krise und Kritik. Die Kritik, das ist die Lehre, die das Bewußtsein in der Krise gewinnt und mit deren Hilfe der Mensch die Krise überwindet. Wer es ablehnt, sich zu kritisieren oder kritisieren zu lassen, versucht, einer Lehre zu entgehen, versucht, die Krise zu verewigen, indem er sie leugnet. Er versucht, den Rauch des Feuers zu verheimlichen, als ob dadurch das Feuer gelöscht würde.

Der Machtgierige lehnt alle Kritik ab, weil er sie fürchtet, wie der Abergläubige den Teufel, weil sie ihm unerträgliche Majestätsbeleidigung ist. Unter uns gehen Menschen umher, nichts Besonderes verrät sie, die erlebcn alles, wie ein rächender Gott eine Gesellschaft von Blasphemikern, in die man ihn hineinzwänge, erleben würde. Kommt einer von diesen einmal zur Macht, dann gibt es was zum Staunen über ein Gedächtnis, das, sonst sehr durchschnittlich, alles frisch bewahrt hat, was irgendwie eine Kränkung hatte sein können. Und Kränkungen werden von diesen nie verziehen. Mögen manche Autoren dem Willen zur Macht bescheinigen, daß er aus Stärke, aus Entschlußkraft, aus Retterwillen und dergleichcn mehr herrühre, schon dieser Zug allein, diese Rachsucht einer hysterischen Gekränktheit müßte einen auch nur primitiven Menschenkenner davon überzeugen, daß der Wille zur Macht die Krankheit der Schwachen ist, die niemandem ihre eigene Schwäche verzeihen, die Krankheit der Asozialität und der moralischen Feigheit. Der Wille zur Macht, das ist die Kompensationsform der aggressiven Angst.

Der Geltungsstrebige möchte scheinen, was er sein möchte. Er kämpft um den Schein der Wirklichkeit. Der Machtstrebige möchte, daß die anderen ihm durch ihre Unterwerfung zuerkennen, daß er sei was er sein möchte. Er möchte die Wirklichkeit des Scheins erzwingen. Auch der Psychotiker will es.

Er vollzieht diesen Prozeß im Monolog. Er verrückt die Welt in seinem Kopfe und ist, der er sein möchte. Der Machtgierige möchte die Welt wirklich verrücken. Und es gibt kein Zwangsmittel, das ihm nicht gerechtfertigt erschiene, dessen er sich nicht bedienen würde. Psychotiker werden im Irrenhaus isoliert. Doch den Machtgierigen eröffnet sich eine große Karriere — wenn sie das Glück haben, daß diese Linie mit bestimmten Entwicklungslinien der Gesellschaft zusammenfällt. Wenn zu der einzigen Idee, die sie haben, zu der von ihrer Besonderheit und ihrer Berufung, eine gesellschaftlich begründete Idee hinzukommt, dann kann damit ihr Schicksal entschieden sein. Man wird den Machtgierigen an der Spitze einer Bewegung sehen, er wird sich entfalten, er wird »die Idee« sagen, und die Idee wird ihm identisch sein mit ihm selbst. Er wird rufen: »Die Idee an die Macht!« und er wird meinen: »Bringt mich an die Macht!« Und wenn es ihm gelungen ist, dann hat die Geschichte wieder einmal Gelegenheit, den Menschen sozusagen ein Kollektivissimum über die Tyrannis zu geben.

Alle Undurchsichtigkeit und Schwerberechenbarkeit der Pläne und Entwürfe der Tyrannen rührt nicht zuletzt daher, daß die Tyrannen, sofern ihre eigene Einsicht und ihre eigenen Entschlüsse in Frage kommen, schlechthin unfähig sind, sich aus ihrem System zu befreien, in dem Sein und Schein hoffnungslos verschränkt sind. Die »Romantik« aller Tyrannis ist eben darin begründet.

Doch bevor wir uns dem Tyrannen zuwenden und den Versuch machen, ihn auf der Grundlage dessen, was wir bisher allgemein über ihn ausgesagt haben, zu charakterisieren, müssen wir diejenigen, die den Tyrannen machen, wir möchten sagen, die verhinderten Tyrannen des Alltags, näher beschreiben.

Wir vermögen nicht, die soziologischen Voraussetzungen der Tyrannis zu geben, doch hat sie auch psychologische Voraussetzungen. Diese müssen erkannt werden, ehe die Größe und die Nichtigkeit der Tyrannis beleuchtet werden können.

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