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III. Die Voraussetzungen der Tyrannis
»Am gefährlichsten drohte der Umsturz in Rom selbst, wo der Gegensatz zwischen reich und arm am größten war. Es bedurfte also nur eines geringen Anstoßes, und die Stadt fiel dem in die Hände, der den Umsturz wagte, denn sie war bis ins Innere hinein krank.« PLUTARCH: CICERO
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Die übliche Geschichtsschreibung hat eine seltsame Scheu bewiesen, das Volk zu schildern. Pharaonen haben die Pyramiden gebaut, Feldherren haben die Schlachten geschlagen, die Kultur war das Werk von Fürstenhöfen, die großen Katastrophen die Tode von Großen — kurz, das Volk, sofern es überhaupt erscheint, tut es wie auf der Schmierenbühne, pittoresk verwahrlost und mit dem immer gleichen Text »Rhabarber, Rhabarber«.
Schon Voltaire beklagte diese Eigenheit der Geschichtsschreibung. Obschon selbst Historiograph am Hofe Ludwigs XV. und Schilderer von Schlachten, verlangte er von der Geschichte, daß sie sich hauptsächlich dem Leben des Volkes selbst zuwende, seine Sitten schildere, seine Eigenheiten, daß sie schildere, wie das Volk Geschichte mache.
Solche Einsicht hat wenig genutzt, ebensowenig wie etwa die Einsicht eines La Bruyère (1645-1696), der schrieb: »Les grands n’ont point d’âme... Faut-il opter? Je ne balance pas, je veux être peuple.« (Caractères, Les Grands.) Das Volk blieb anonym und die treibenden Kräfte der Geschichte pseudonym.
Es ist außerordentlich leicht, den Eindruck zu gewinnen, es sei das Volk, als was es immer geschildert worden ist: stumpf, leicht erregbar, leicht verführbar, dumm und unfähig, seine eigenen Interessen zu erkennen und zu vertreten. Insbesondere dieses Jahrhundert hat eine solche Auffassung vom Volke bestärken können. Intellektuelle Beobachter konnten leicht die von einem tiefen Haß gegen die Massen diktierten Lehrsätze eines Gustave Le Bon gerechtfertigt finden. Einen viereinhalbjährigen Weltkrieg ertragen, unter ihm maßlos leiden, schwören, daß all das nie vergessen werden solle, und doch vergessen haben, ehe die hölzernen Kreuze verfault sind — spricht dieser Mangel an Gedächtnis nicht für Dummheit, nicht für vollkommenen Mangel an Gedächtnis?
Einem Tyrannenwärter glauben, daß er alle Versprechungen erfüllen wird, obschon sie einander widersprechen, das eigene Gestern, die Begeisterung von gestern verleugnen, es vergessen haben, als ob es nie gewesen wäre — sollte all das nicht für die Le Bon’sche Theorie sprechen, daß die Masse nur vom Affekt dirigiert und keinerlei Vernunft zugänglich ist?
Wir sagten schon an anderer Stelle, daß die Tyrannis nur entstehen kann, wenn ganz besondere gesellschaftliche Bedingungen sie ermöglichen. Diese haben nicht wir zu erforschen, sie sind Gegenstand der Soziologie. Indes, was das Psychische an diesen Erscheinungen ist, was der einzelne in der Masse ist, das haben wir zu untersuchen. Denn die Tyrannis kann nicht entstehen ohne die Zustimmung wenigstens eines Teils des Volkes.
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Auch die Tyrannis hat somit wenigstens bei Beginn ihrer Herrschaft und erst recht auf dem Wege zu ihr einen breiten Anhang im Volke. Somit gibt es dieses: daß jemand sich nach der starken Hand, die über ihm walten soll, sehnt, daß jemand darauf brennt, seine Freiheit an jemanden hinzugeben, von dem er sie nach historischen Erfahrungen niemals mehr zurückbekommen wird, daß also im Volke eine Sehnsucht nach einer Gewalt sein kann, die der einzelne in seinem persönlichen Leben ablehnen würde, sofern er ihr Objekt sein müßte. Wie ist dies zu erklären? Und solange dies nicht erklärt ist, ist die psychologische Wurzel der Tyrannis nicht erklärt.
Man braucht keine Psychologie, um zu erklären, warum jemand, der am Verhungern ist, Brot stiehlt. Man braucht nicht viel Psychologie dazu, um zu verstehen, warum der Machtgierige sich der Macht bemächtigt, wenn er irgend kann. Doch ist die Psychologie berufen, die Frage zu beantworten, warum einer eher verhungert, als daß er stiehlt, warum einer den Stock, der ihn schlagen soll, als Wunderstab anbetet.
Die »mœurs du peuple«, die Voltaire von der Geschichte beschrieben wissen wollte, könnten uns aufklären. Wir könnten aus ihrer Beschreibung das Material entnehmen, das wir für die Beantwortung der Frage benötigen. Indes sind diese mœurs nicht beschrieben, trotz allem Gerede vom Volke ist das Volk bisher nur mangelhaft entdeckt. Der Alltag, an dem jeglicher beteiligt ist, ist wenigstens in dem Sinne eine terra incognita, daß er noch niemals analysiert worden ist, daß noch niemals Aussagen über ihn systematisiert worden sind. Die psychologischen Beobachtungen, die uns hier zur Verfügung stehen, reichen natürlich nicht ganz hin. Doch können wir vorderhand nur diese verwenden.
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Einige Tatsachen möchten wir wegen ihrer besonderen Wichtigkeit für unsere Betrachtung etwas ausführlicher charakterisieren. Dies macht sie aus: 1. Die überwiegende Majorität der Menschen muß sich mit einem Defizit an Lebensfreude abfinden. 2. Der Geltungsanspruch der überwiegenden Majorität der Menschen hat überhaupt keine Chance, sich im sozialen Rahmen durchzusetzen. 3. Und im Zusammenhang mit den erstgenannten zwei Tatsachen: In jedem einzelnen dieser ungezählten Millionen, die Volk sind, ist eine mehr oder minder bewußte Sehnsucht, aus diesem Alltag auszubrechen, seine Ordnung außer Kurs gesetzt zu sehen, gleichsam eine Sehnsucht nach dem gesellschaftlichen Abenteuer, die nicht zu verwechseln ist mit einem bewußten Streben nach einer neuen Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse. 4. Jeder einzelne ist zwar durch jeden allgemeinen gesellschaftlichen Vorgang betroffen, aber keineswegs immer in der Lage, diesen Vorgang zu erkennen, geschweige denn, ihn zu verstehen.
1. Gleichviel wie die Kindheit des einzelnen verläuft, sie enthält ein großes Versprechen: das Erwachsensein. Alles, was die Kindheit versagt, wird vom Erwachsensein erwartet: die Erweiterung des Lebensbereichs, die Unabhängigkeit, die Freizügigkeit in Entschluß und Handlung, vergrößerte Genußmöglichkeiten und dergleichen mehr. Sehr wenigen hält das Leben dies Versprechen. Der größte Teil des wachen Lebens aller anderen wird von der Arbeit eingenommen, einer Arbeit, die sie nicht gewählt haben, weil sie sie wollten, sondern weil sie keinen andern Ausweg sahen. Wie viele Menschen haben denn den Beruf gewählt, zu dem sie sich berufen fühlten! Wie viele hatten denn überhaupt die Möglichkeit, in sich zu forschen, wozu sie wohl berufen sein könnten! Die Entfremdung zwischen Mensch und Arbeit ist heute genau in dem Ausmaß verschärft, wie es der Gegensatz zwischen Reichtum und Armut ist. Die Arbeit ist somit für die Überzahl kein Quell der Lebensfreude, dies, obschon sie sich nach ihr sehnen müssen, weil sie ohne sie zugrunde gehen.
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Das geschlechtliche Leben könnte befriedigender sein, und weil es der einzige Bereich ist, wo der einzelne etwas größere Freiheit zur Entfaltung seiner Initiativc genießt, ist das Liebesleben so gut geeignet, zum gleichsam tröstlichen Mittelpunkt abzulenkender Interessen zu werden. Doch darf nicht verkannt werden, daß insbesondere die moderne Familie, die ja nur selten noch - etwa auf dem Lande - Produktionsgemeinschaft, sonst aber nur Konsumtionsgemeinschaft ist, nicht mehr zu bieten vermag, was sie einmal dem einzelnen geboten hat. Zu schweigen von den inneren Konflikten, die sich in ihr notwendig entwickeln als Gegensatz zwischen den Generationen, als Kampf um Aufmerksamkeit, Geltung und Macht in ihrem engen Rahmen. Schließlich ist der Mangel an kulturellen Genüssen und an den geistigen Voraussetzungen, sie sich zu schaffen, eine bedeutende Verkürzung im Anteil an der Freude, die das Leben zu bieten hat. Die im Lichte sitzen, kennen nicht das Ausmaß des Dunkels, in dem das Leben der Majorität verläuft.
2. Wir haben bereits deutlich gemacht, welche Rolle dem Geltungsstreben des einzelnen zukommt. Dieser einzelne, sofern er Volk ist, ist kaum in der Lage, über einen engsten Rahmen hinaus sein Geltungsstreben zu erfüllen. Ihn hebt keine gesellschaftliche Position, kein Orden, keine Teilnahme an Banketts usw. hervor - dies in einer Zeit wohlorganisierter Geltungsorgien. Ungezählte Menschen gibt es, sie leisten Nützlichstes, doch müssen sie im Bewußtsein dahinleben, daß sie überflüssig, weil so leicht ersetzbar sind. Ihnen wird, was sie leisten, so schlecht vergolten, daß sie notwendig ein Gefühl gesellschaftlicher Minderwertigkeit entwickeln müssen. Sie sind verdammt, ihren Geltungsanspruch niemals befriedigt zu sehen.
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Psychologische Feuilletonisten mögen in dem geringen Widerstand, der gegen den Krieg geleistet worden ist, einen Beweis sadistischer Hoffnungen, die die Kriegsteilnehmer beseelen, sehen. Aus solchem Unsinn läßt sich natürlich auch ableiten, daß der Krieg nicht ein Verderben, sondern eine Erfüllung ist. Doch sofern der Psychologe überhaupt etwas über den Krieg zu sagen hat, wird er darauf hinweisen, daß der Krieg das graue Kleid durch Uniform ersetzt, an der Distinktionszeichen angebracht sind. Das Rangabzeichen eines Gefreiten bringt weiß Gott nicht allzu viel Ehre, aber der Gefreite ist eben doch mehr als der Gemeine. Und der Gefreite ist im Frieden ein Gemeiner. Zu schweigen von den Hoffnungen, die der Gefreite hegen mag, von jenen Phantasien, in denen ein Gefreiter sich sogar als Retter des Volkes sehen kann.
Die Macht zu morden, die der Krieg gibt, jedem gibt, dem er ein Gewehr gibt, ist nicht deshalb verlockend, weil sie sadistische Bedürfnisse befriedigt, sondern weil sie Macht ist. Und es ist nicht zu übersehen, daß der Sadist einer ist, eben weil auch er nach Macht strebt und sich vortäuscht, sie im sadistischen Akt zu finden.
Eine riesige Literatur mannigfacher Art ist dem sexuell unbefriedigten Menschen gewidmet. Gewiß, er stellt ein Problem dar. Doch was ist dieses Problem gegen eine andere, massenhafte Unbefriedigtheit, die Unbefriedigtheit der allermeisten in ihrem berechtigten Anspruch auf Anerkennung und gesellschaftliche Geltung. Wer dürfte sich wundern, wenn diese Unbefriedigtheit Wirkungen hervorriefe, die die Menschheit teuer zu stehen kämen?
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3. Der Ausbruch aus solch unbefriedigendem Alltag ist der Inhalt einer Sehnsucht, auf die zum Beispiel die Weltfilmproduktion geschickt spekuliert. Ihre Erfolge sind, denken wir, ein eindeutiger Beweis für die Bedeutung, die diese Sehnsucht der ungezählten Millionen hat auf die diese Filme zugeschnitten sind. Der Ausbruch gelingt natürlich nicht. Versucht es der einzelne im Abenteuer — wie weit mag er denn da gelangen? Der Alltag assimiliert unwahrscheinlich rasch jedes Abenteuer. Aber das gesellschaftliche Abenteuer, so unabsehbar seine Folgen sind, verspricht mehr und hält auch mehr.
Der Tyrann durfte immer auf diese Sehnsucht nach dem Abenteuer, auf diesen Haß gegen den Alltag rechnen. Schon die Inszenierung, in der er sich präsentierte, war ein Spektakel, das reichlich lohnte. Der Aspirant auf die Tyrannis erweckt Hoffnungen, wie sie kühner gar nicht gedacht werden können. Kommt er nicht selbst von unten! Er rühmt sich doch selbst, Fleisch vom Fleische des Volkes zu sein, Blut vom Blute des Volkes zu sein. Nun, sein Aufstieg beweist, daß man aus dem Dunkel leuchtend emporsteigen kann. Gar mancher läßt sich den Tornister gerne aufpacken, ist ihm augenscheinlich bewiesen worden, daß in ihm ein Marschallstab verborgen sein könnte.
Vor der Machtergreifung verspricht jeder Tyrann jedem, der ihm anhängt, alles zu bieten. Er verspricht überdies, einen großen Machtapparat zu schaffen und ihn denen anzuvertrauen, die ihm treu folgen. Er verspricht also Macht. Wann sonst wird denn dem kleinen Mann von der Straße Macht versprochen? Ihm als Person — und das ist sehr wichtig. Ihm wird nicht versprochen, daß die Schicht, der er angehört, Macht haben wird. Ihm wird versprochen, daß er herausgehoben werden wird und sich so von seiner Schicht wird befreien können. Der Tyrann appelliert an die Millionen kleiner verhinderter Tyrannen, die ähnliche Sehnsüchte und Wünsche haben wie er selbst, für die allerdings diese Süchte nicht zum Zwang geworden sind.
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Er hält dieses Versprechen dann, zur Macht gekommen, einigen Tausend. Die anderen muß er fürchten. Doch diese anderen sind ihm gefolgt, weil sie jedenfalls eine Änderung wünschen. Wer seine Situation abgründig haßt und sich geradezu verachtet, weil er in ihr verbleibt, wird ihr jegliche Änderung vorziehen. Er wird deshalb nicht mehr gründlich in dcr Untersuchung der Vorteile sein, welche die neue Situation bringen könnte. Die Tyrannis verspricht eine von Grund auf neue Situation. Der geschichtliche Beweis ist erbracht, daß keine Tyrannis eine grundlegende Änderung der gesellschaftlichen Situation hat herbeiführen können. Jede Tyrannis rühmte sich, eine völlig neue Epoche heraufzuführen, jede endete als eine Episode, die von blutiger Unterdrückung und Bouffonnerie ausgefüllt gewesen war. Weiß Gott, die Tyrannis verändert den Alltag in einigen wichtigen Beziehungen. Doch die sie herbeigewünscht haben, erkennen zu spät, daß sie nicht durch solche Änderungen vom Übel des Alltags befreit werden können.
4. Wenn der Krämer von der nächsten Straßenecke sich ruiniert sieht, weil eine schwere Weltwirtschaftskrise die Produktion und die Konsumtion so weit auseinanderbringt, daß gleichzeitig zuviel produziert und zuwenig konsumiert wird, dann vermag dieser Krämer natürlich das Wort Krise nachzusprechen. Er kann sich ihr eventuell als einem Schicksal beugen, aber natürlich fehlen ihm alle notwendigen Erfahrungen, um zu erfassen, was diese Krise ist, ob sie notwendig ist und wodurch sie vermeidbar wäre. Er empfindet sie als das Böse. Für ihn wird das Böse mythisch, denn so ist es gefühlsmäßig am leichtesten faßbar.
Es ist viel leichter, sich im Kampf gegen den fürchterlichsten Teufel zu wissen als gegen Erscheinungen, in deren Macht man ist, die aber so kompliziert zusammenhängen, daß man sie genau nur an jenem Ende sieht, mit dem sie einen in der Gewalt haben.
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Es leben Millionen Menschen mit dem Bewußtsein der Lokalgeschichte in einer Welt, die nur weltgeschichtlich begreifbar ist. Sie könnten die Krise ihrer nächsten Nachbarn nur begreifen, wenn sie die Krise der Welt begriffen. Aber sie sind auf Grund ihrer ganzen Vorbereitung geneigt, die Welt umgekehrt aus dem Geschehen ihrer Gasse zu begreifen.
Der Tyrann verspricht, diese Krise zu überwinden, den Wohlstand für ewig zu sichern. Das versprechen andere auch. Er aber bietet noch mehr und sehr Wesentliches: den Mythos vom Feinde. Der Feind nämlich, das ist der Nachbar. Und wer hätte nicht Nachbarn, die er haßte? Der Feind, das ist ein Auswurf an Minderwertigkeit und tückischer List. Doch wer dem Tyrannen anhängt, ist ein Vorbild der Nation, ein Edler von Geburt, der es beweist, indem er sich zum Tyrannen bekennt. Bevor also der Tyrann dem Krämer wirklich geholfen hat, hat er ihm bereits wundervolle Geschenke gemacht.
Er hat ihm — erstens — die komplizierte Welt auf einige simple, greifbare Urgründe des Bösen und des Guten zurückgeführt. Nun versteht unser Krämer restlos, warum es ihm schlecht geht und einem andern besser. Der Tyrann hat — zweitens — diesem Mann den Haß gegeben, diesen Haß legitimiert, ihn zu einem Beweis adeliger Gesinnung erhoben. Was schamhaft versteckt werden mußte, diese ganze Skala von Gefühlen, die aus dem Vergleichszwang herrühren und dazu dienen sollen, das Gefühl vom eigenen Werte auf Kosten anderer zu heben — all das ist ehrenwert geworden. Man darf neidisch sein und muß nicht glauben, daß man es ist. Die Entwertungstendenz darf wirksam werden, und es ist eine große Tat. Drittens gibt der Tyrann diesem kleinen Manne ein Gefühl von Wert positiver Art.
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Er sagt ihm: »Du und ich, wir zusammen werden es schaffen. An dich denkt niemand außer mir. Du bist ich und ich bin du.« Diese leutselige Identifikation in der Propaganda für den Tyrannen muß natürlich eine ausgezeichnete Wirkung haben. Die kleinen Krämer bemerken nicht, daß das helle Licht, in dem der Tyrann steht, sichtbar und bewundernswert für alle, von ihren Fackeln kommt. Sie merken nicht, daß es ihr eigenes Licht ist, und finden, daß es gar schön ist von einem so großen Herrn, mit ihnen so auf du und du zu sein.
Die Tugend einer häßlichen Frau, die zum ersten Mal mit der Versicherung umworben wird, sie sei die schönste Frau, gerät in Gefahr, auch wenn der Freier selbst nicht schön und nicht klug ist. Der kleine Krämer, um den sich sonst niemand gekümmert hat, fühlt sich zum ersten Mal angesprochen. Der ihn so ermutigend anspricht, das ist der Demagog. Demagog heißt, wie bekannt, Volksführer, doch bezeichnet man mit diesem Worte den Volksverführer. Somit muß es mit der Führung des Volkes schon immer schlecht bestellt gewesen sein.
Der Demagog (das ist in unserem Falle der zukünftige Tyrann) appelliert an den Affekt. Seine Art zu reden, leidenschaftlich, manchmal fast jähzornig, stets gefühlvoll und mit dem Hang zum Messianischen, trifft seine Zuhörer geradewegs ins Herz. Er spricht aus, was sie sagen möchten, wenn sie reden könnten, und er spricht es gerade in der Art aus, die dem Ideal der Zuhörer genau entspricht. Wer auf das Ressentiment spekuliert, kann nicht fehlgehen. Der Alltag erzeugt in den sozusagen alltäglichen Menschen ein ungeheures und sich ununterbrochen steigerndes Ressentiment. Was auch immer es enthält, es ist seinem Wesen nach mit einem Ohnmachtsgefühl, einem übersteigerten Minderwertigkeitsgefühl identisch.
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In dem Ressentiment steckt die Tendenz, diejenigen zu überwinden, die an der Ohnmacht schuld sind, dasjenige zu zerstören, gegen das nur das Gefühl der Ohnmacht, aber keine überwindende Kraft sich erhebt. Dieses soziale Ressentiment, durchaus individuell empfunden, müßte kompensiert werden. Der einzelne kann es nicht, denn hier geht es um Beziehungen, an denen er nur teilhat, von denen er bestimmt wird, die er allein nicht verändern kann.
Gegenüber einem Leiden, gegen das man nicht ankämpfen zu können meint, wird man leicht wundergläubig. Man wartet darauf, daß einer ein Wunder tue, durch das das Leiden beseitigt würde. Der messianische Gedanke in seiner ursprünglichen Fassung enthält nichts anderes. Die nicht selbst kompensieren, erwarten, daß es einer für sie tue. Der entmutigte Schüler erwartet, daß sein Lehrer schwer krank oder gestorben sein würde, nur um der Peinlichkeit zu entgehen, die ihm sein Versagen in der nächsten Unterrichtsstunde einbringen müßte. Das große Heer jener, von denen Wahrsager aller Art leben, ist: zusammengesetzt aus Menschen, die auf die Änderung ihrer Situation warten und selber nichts tun, damit sie erfolge.
Nicht von ungefähr ist es, daß fast immer, wenn die Zeit für eine Tyrannis gekommen war, die Wahrsager und Zeichendeuter überhand nahmen. Das Wunder ist die Hoffnung der Untätigen und untätig Leidenden. Somit der Feigen. Diese Feigen sehnen sich nach einem, der Mut für sie alle hätte, Kraft für sie alle, und deshalb sind sie bereit, vieles dahinzugeben, was ihnen sonst wert ist. Muß man deshalb wirklich an die Blödheit der Masse glauben? Ein Neurotiker, und wäre er noch so intelligent, gibt zum Beispiel alle Vorteile der Gesundheit auf, nur um den Schutz, den ihm die Krankheit bieten kann, zu erreichen. Sein Gedächtnis versagt, obschon es sich nicht darum handelt, allgemeine, schwer übersehbare Zusammenhänge und Tatsachen in Erinnerung zu behalten, sondern eigene Erlebnisse, Ereignisse, die ihn selbst unmittelbar angingen.
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Untersuche ein jeder sein Leben daraufhin. Er wird finden, daß er sehr oft in schwierige Situationen unter das Niveau seiner gewöhnlichen Einsicht gesunken ist. Denn in schwierigen Situationen wächst man entweder über sich selbst hinaus, man kompensiert oder aber man fällt unter sein eigenes Niveau, man erwartet das Wunder, daß die Schwierigkeit verschwinde, ohne daß sie überwunden wird. Zur Kompensation braucht man erhöhten Mut und vertieftes kritisches Bewußtsein. So oft ermangelt der einzelne des Mutes und des kritischen Bewußtseins, wie sollten die einzelnen, die das Volk bilden, in überschweren Situationen ohne weiteres sich auf jene Höhen schwingen, die erst eine soziale Kompensation ermöglichen würden. Wann wurden je dem Volke soziales Selbstbewußtsein und Mut beigebracht? Wer also die Masse verachten will, muß in einem Maße von sich selbst und von seiner eigenen Wirklichkeit absehen, wie es niemandem erlaubt sein kann, der sich um die Wahrheit müht.
Der Mangel an Bewußtsein und Mut ist somit eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung der Tyrannis. Jenen, die bemüht sind, dem Volke Mut und Bewußtsein zu geben, ist bisher allzuoft entgangen, wie sehr das Volk von ihrer Leidenschaft entfernt ist, zu ändern und umzuwälzen. Man setzt sein Leben aufs Spiel, wenn man in der Tat nichts mehr zu verlieren hat. Doch darüber hat sich bisher fast jeder Apostel getäuscht, wie weniges im Alltag schon als ein Gut geschätzt wird, das man nicht verlieren darf und zu dessen Bewahrung man eine Vorsicht aufwendet, die den Apostel erbosen muß. Er selbst brennt von der Leidenschaft seiner Überzeugung, er glaubt, es sei das gleiche Feuer in allen anderen, er brauche es nur ein wenig anzublasen. Er irrt sich, er hat sich immer geirrt.
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So unterlag er, so unterliegt er immer wieder im Kampfe gegen den Demagogen. Der Apostel sagt: »Geht hin und tut, opfert euer Letztes. Und das ewige Reich wird euer sein.«
Der Demagog sagt: »Laßt mich nur machen, gehorcht meinen Winken! Ich denke an alles, ich sorge für alles! Ihr seid in meinen Händen wohlgeborgen.« Solches Versprechen gibt dem Demagogen einen weiten Vorsprung. Weil die Masse dumm ist? Unsinn! Weil er ihr das verspricht, was gerade der einzelne in der Masse, was er als Isolierter, als ein, sagen wir, gewesenes Kind so leidenschaftlich gern besitzen möchte: die Vorteile der Kindheit, die Verantwortungslosigkeit.
Zum Unterschiede von den Massenpsychologen von der Denkungsart Le Bons meinen wir, daß es nicht das spezifisch Massenmäßigste ist, was die Masse so leicht beeinflußlar macht, sondern daß die durch Demagogen geformten Massen keine soziale Einheit darstellen, sondern ein Gemenge von Egoisten, an deren Egoismus der Demagog appelliert.
Die Kühnheit, die die einzelnen in dieser Art Masse aufbringen, ist für den Feigling charakteristisch, ebenso die Grausamkeit und die Erbarmungslosigkeit. All das Kennzeichen des Machtrausches des Entmutigten. Von da aus ist es leicht verständlich, daß ein Volk sich umso schwerer einem Tyrannen hingeben, ihm seine Freiheit verpfänden wird, je größer sein politisches Selbstbewußtsein ist. Es mag auch nicht zufällig sein, daß die modernen Tyrannien sich gerade bei jenen Völkern konstituiert haben, die sehr spät zu nationalem Selbstbewußtsein und zu nationaler Einheit gelangt sind.
Es gibt ein nationales Minderwertigkeitsgefühl, dem als überkompensatorische Ideen Weltbeherrschungspläne entsprechen. So war es bei den Juden gerade in jener Situation, in der bei ihnen die messianische Idee entstand, so können wir es heute bei modernen Völkern studieren.
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Selten haben Völker, die die Welt wirklich beherrscht haben, messianische Ideen hervorgebracht. Die Wirklichkeit genügte ihnen, sie brauchten nicht den Traum.
Indes würden wir davor warnen, diese Hinweise für mehr als Hinweise zu halten. Wir glauben nicht, daß massenpsychologische Aussagen eine größere Bedeutung erlangen können, und beschränken uns also auf jenen Bereich, innerhalb dessen die Psychologie, wie wir sie verstehen, die Psychologie als Sozialcharakterologie unser Verständnis für gesellschaftlich begründete Ereignisse etwas verbessern, und sofern es um die subjektive Seite der Dinge geht, vermehren kann.
Ein brauchbares soziales Selbstbewußtsein des einzelnen, ist es für ein ganzes Volk charakteristisch, stellt ein starkes Abwehrmittel gegen den Zauber des Demagogen und gegen die Tyrannis dar. Solch ein Volk handelt. Je mehr einer handelt und verändert, umso weniger braucht er Wunder. Je weniger einer Wunder braucht, umso weniger erwartet er sie. Und nur wer Wunder erwartet, glaubt an sie.
Es gibt primitive Völker, die nur Fremde als Magier anerkennen. Sie senden Leute aus, die den erstbesten Fremden, dessen sie habhaft werden, als Magier heimbringen sollen. Es gibt Stämme, in denen es ein gefährlicher Beruf ist, Magier zu sein. Niemand drängt sich, es zu sein. Wem aus dynastischen Gründen solche Aufgabe auferlegt wird, flüchtet vor ihr zu fremden Stämmen oder in den Tod.
Die Moderne schmeichelt sich, vom magischen Denken endgültig befreit zu sein. Der Alltag ist voll von ihr. Das kann niemand leugnen, der selbst oder dessen Nachbar aus Gründen magischer Abwehr auf Holz klopft, der wichtige Unternehmungen nur an bestimmten Tagen wagt, eine schwarze Katze, die über den Weg läuft, verflucht, und was dergleichen mehr ist.
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Es gibt im Denken unserer Zeitgenossen mehr von der Magie als von den Einsichten und Geboten der Denker aller Zeiten. Und es gibt natürlich einen Zusammenhang zwischen der Angst vor der schwarzen Katze und dem Erfolg des Demagogen.
Der Magier, den man heute braucht, nennt sich natürlich nicht mehr so, aber er wirkt dank dem magischen Glauben. Der Tyrann befriedigt magische Bedürfnisse, die nicht da wären, wenn die Menschen, was sie Gutes von der Magie erwarten, selber zu tun Mut hätten, selber zu tun wüßten. Somit schafft den Tyrannen ein Bedürfnis. An dem Soziologen ist es, zu untersuchen, wann und unter welchen Umständen dieses Bedürfnis zu einer politischen Kraft wird. Die Geschichte lehrt, daß es außer den bedürftigen Massen und dem Demagogen stets noch eine dritte Kraft gegeben hat, die den Erfolg des Tyrannen ermöglicht, ja organisiert hat. Diese Kraft machte den Tyrannen zum Anwärter auf die Tyrannis, sie inszenierte seine demagogischen Spektakel, sie machte aus einem Nichts ein Alles, um durch dieses Nichts hindurch und mit seinem Namen als Pseudonym zu herrschen. Es gab eine Zeit, da die Herrschenden sich als Götter oder wenigstens als deren engere Verwandtschaft ausgaben.
War dieses große Renommee verbraucht, mußten sie fürchten, daß der magische Glanz ihrer Herrschaft verschlissen war, so sahen sie sich nach einem Retter um. Diesen präsentierten sie, selbst im Hintergrunde bleibend, sodann dem Volke als seinen Retter. Sie selbst brauchten nicht an die Magie des Retters zu glauben, sie taten Weiseres: sie benutzten den Retter und mißbrauchten die Not, die feige Not, die magisch gläubig auf Rettung wartete.
Wir folgern aus all dem Gesagten: Wie die sozial-adressierte oder die aggressive Angst dort auftritt, wo eine Kompensation notwendig gewesen und nicht erreicht worden ist, so entsteht die Tyrannis, wenigstens psychologisch gesehen, dann, wenn ein Volk aus Gründen, die der Soziologe zu untersuchen hat, in eine bedrängende Not gerät, die es aus gleichen Gründen nicht überwindet. Also dann, wenn eine schwere Krise das Ende einer Entwicklungsphase anzeigt und die Notwendigkeit einer neuen Entwicklungsphase, vielleicht gar einer neuen Epoche anzeigt, die Kräfte aber, dieses Neue durch die Überwindung des Alten zu schaffen, nicht ausreichen. Unter diesem Gesichtspunkte wäre die Tyrannis eine intermezzohafte Episode zwischen zwei Phasen geschichtlicher Entwicklung, keineswegs notwendig noch regelmäßig gegeben, doch, wo sie auftritt, nur aus solchen Gründen begreifbar.
Wir werden in der genaueren Charakteristik der Tyrannis zu zeigen versuchen, wie dieses Moment, gleichsam den Kräften und der Tendenz der Geschichte entgegengestellt zu sein, als steter Druck auf den Tyrannen lastet, sie ängstigt, als ob sie von tausend Toden eingekreist wären und als ob sie mitten im Sonnenlicht ihrer Erfolge den Schatten der kommenden Niederlage sähen.
Der Tyrann befriedigt ein magisches Bedürfnis, wenigstens zeitweise. Er kann es verhältnismäßig gut, weil er selbst im System des magischen Denkens befangen ist. Die Magie erlaubt es ihm, an seine Berufung zu glauben, doch ängstigt sie ihn auch, dies umso mehr und bedrängender, je mehr seine Taten den magischen Dunst um ihn zerstreuen. So ist der Zusammenhang zwischen dem Tyrannen und denen, die an ihn glauben oder geglaubt haben, unlösbar.
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