Zur Analyse der Tyrannis         Start    Weiter

IV. Auf dem Wege zur Macht 

 

»Ihr führender Kopf war Lucius Catilina, ein ebenso kühner wie verschlagener Abenteurer. Er stand in einem üblen Ruf, man warf ihm sogar Blutschande mit seiner eigenen Tochter und Ermordung seines Bruders vor. — Als Bettelvolk und Gesindel diesen Mann zum Rädelsführer gemacht hatten, verpflichteten sich die Verschworenen untereinander mit den stärksten Eiden, sie opferten sogar einen Menschen, um gemeinsam von seinem Fleische zu essen.«  PLUTARCH: CICERO 

 

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Des Tyrannen Glück und Ende ist gewöhnlich geschichtlich festgehalten. Seine Anfänge jedoch liegen zumeist im Dunkel oder im falschen Glanze. Es ist ein Kennzeichen des Tyrannen, daß er auch seine Vergangenheit beherrschen möchte. Er schafft sich eine, die ihm paßt. Und da man sich für ihn erst zu einer Zeit zu interessieren beginnt, da er bereits die Macht hat, seine Vergangenheit zu »verändern«, so gelingt ihm das Verwischen vieler Spuren, die für den Psychologen interessant sind. Ginge es nach dem Tyrannen, so hätte ihn eine Wölfin gesäugt, ein Löwe ihn kämpfen gelehrt, und es hätte ein eigens für ihn bestimmter Stern über seinen Häupten seine Besonderheit einer längere Zeit verständnislosen Menschheit angezeigt.

Doch so wenig, wie es dem Tyrannen gelingen mag, die totale Macht, die allein Macht ist, zu erwerben, so wenig gelingt ihm, dem erfolgreichen Mörder, dieser eine Mord: der Mord an seiner Vergangenheit.

Die im folgenden gegebene Charakterisierung des werdenden Tyrannen beansprucht nur insofern Gültigkeit, als in ihr ein für die meisten Tyrannen typisches Bezugssystem konkret aufgezeigt ist. Dieses Bezugssystem ist, meinen wir, verallgemeinbar.

Der Leser darf in dieser Darstellung nicht irgendeinen bestimmten Tyrannen suchen, noch darf er glauben, die konkreten Einzelheiten müßten in jedem Falle zu finden sein. Diese Arbeit ist der Analyse der Tyrannis, nicht aber der des Tyrannen gewidmet. Unter diesem Gesichtspunkte allein wird die folgende, nicht dokumentierte Darstellung hoffentlich auch dem Leser methodisch gerechtfertigt erscheinen können.

Wo es nun gelungen ist, Verifizierbares über die Kindheit und die Jugend eines Tyrannen zu erfahren, ergab sich, daß der Tyrann sich wenig vor anderen Kindern ausgezeichnet hat. Was ihn von anderen Kindern unterschied, berechtigte kaum zu besonderen Hoffnungen und gewöhnlich auch nicht zu besonderen Befürchtungen. Man weiß, daß sich unter Kindern Führertypen hervor­heben. Selten sind spätere Tyrannen unter diesen Führern zu finden.

Eher findet man sie unter jenen, die sich ungerne der Gemeinschaft anschließen, dann gewöhnlich gegen die führenden Kinder intrigieren und früher oder später aus dieser Gemeinschaft wieder ausgesondert werden. Der Tyrann hat schon als Kind keine wirkliche Freundschaft gekannt. Er war eher ein Abseitiger, häufig auch ein Verträumter und Sentimentaler. Typisch scheint folgendes Erlebnis: Irgendeinmal vor der Gemeinschaft mit einem besonderen Anspruch aufgetreten zu sein, gar keinen Anklang, sondern Spott und Ablehnung gefunden zu haben. Das ist verständlich, denn Kinder wählen gewöhnlich denjenigen zum Führer, der tatsächlich der Mutigste oder der Klügstc ist.

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Einen Tyrannen lassen sich nur solche Kindergemeinschaften gefallen, die im offenen Gegensatz zur Umwelt stehen, z.B. verwahrloste oder kriminelle Kindergemeinschaften. Man sieht, trotz aller Märchen, mit denen Kinder erzogen werden, sind sie viel schwerer zu bluffen, als sie es sein werden, wenn sie erst erwachsen sind.

Der zukünftige Tyrann konnte kein Führer sein, gewöhnlich war er auch kein Tyrann, sonst wäre er wohl von der Gesellschaft gefällt worden, ehe er seine Karriere hätte beginnen können.

In jenem Lebensalter, in dem sehr viele von ungewöhnlichen Ehrgeizen bedrängt werden, im Pubertätsalter, konkretisiert der zukünftige Tyrann in seiner Vorstellung jene Machtpläne, von denen er sich nie mehr befreien wird. In diesem Alter wird sein Ehrgeiz, so sehr er ihn häufig geheimhalten möchte, auch für seine Umgebung fühlbar. Zu dieser Zeit entstehen Manieriertheiten, besondere Neigungen, die ihn von seiner Umgebung, von der Schicht, der er angehört, unterscheiden sollen. All sein Verhalten ist so, als ob er von der Leidenschaft erfaßt wäre, in nichts wem andern zu gleichen und »anders als die anderen« zu sein.

In dieser Zeit erlebt er viele Konflikte, seine gemeinschaftsfremde Einstellung macht sie unvermeidlich. Stark depressive Neigungen äußern sich in oft wiederkehrenden Selbstmordgedanken, die nach jedem, noch so unwichtigen Mißerfolg auftreten und gewöhnlich, gewissermaßen tröstlich, von Racheplänen abgelöst werden: »Ihr wißt ja gar nicht, mit wem ihr es zu tun habt, wartet nur, ihr werdet noch eure Wunder erleben!«

Im gleichen Alter erringt der zukünftige Tyrann erste beispielhafte Erfolge. Es gelingt ihm, hier und da einen Anhänger zu werben, der ihm treu folgt und ihm glaubt. Es handelt sich gewöhnlich um einen Abseitigen, der, weil er nicht der Gemeinschaft angehört, ohne Führung ist. Dieser erste Anhänger fühlt sich durch das Vertrauen, das ihm gewährt wird, gehoben. Er wächst, indem er den andern so groß sein läßt, wie ihn keiner sieht.

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So ist er das Modell eines Anhängers, ein Musterbeispiel, das später massenhaft werden wird. Doch auch diese Freundschaften halten selten, denn es sind keine wahren Freundschaften, es steckt in ihnen zu viel Schwindel und zu viel Fiktion. Der Tyrann kommt auf diese Weise nicht aus seiner Isolierung heraus. Seine Haltung bringt ihm noch viele beschämende Erlebnisse ein. Jedes dieser Erlebnisse steigert und überhitzt seinen Machtwillen, seine Träume, in denen er sich über alle erhoben sieht.

Was hier von der Kindheit und der Jugend des Tyrannen berichtet ist, gilt von ungezählten. Doch nur wenige werden Tyrannen. Eine der Voraussetzungen, damit sie es werden, ist ihr Zusammentreffen mit einer Bewegung oder mit noch nicht organisierten Strömungen, deren sie sich bemächtigen können. Es ist klar: diese Strömungen müssen rebellischer Art sein.

Ein zweites: diese Rebellion muß gegen eine Unzahl von gesellschaftlichen Erscheinungen gerichtet sein, aber das Wesen der Gesellschaft nicht berühren. Rebellen in der Art der zukünftigen Tyrannen sind zutiefst konservativ. Das klingt nur erstaunlich, ist es aber nicht. Die Positionen, nach denen er strebt, sind nur zu erreichen, wenn die Welt nicht geändert wird. Er strebt ja nicht nach Abschaffung der Distinktionen, sondern danach, selber die höchsten Distinktionen zu erlangen. Ja es ist sogar sehr wichtig, daß die, die ihm imponieren, erhalten bleiben, denn er kann nur zufrieden sein, wenn er gerade von diesen anerkannt ist. Diesen Gemeinen, der es nicht erträgt, einer zu sein, wird sein Erfolg erst freuen, wenn Generäle ihn ihm bescheinigen werden. So braucht er also die Generäle, und es kommt nur darauf an, ob aus bestimmten Gründen, die er nicht einmal verstehen muß, die Generäle auch ihn brauchen.

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Weise konservative Kräfte haben immer mit Rebellionen als einer Chance ihrer Machterhaltung gerechnet. Nicht selten hat man eine befürchtete Revolution dadurch zeitweise zu verhindern vermocht, daß man rechtzeitig eine Rebellion ausgelöst hat.

Nicht immer erkannten die Rebellen ihre konservierende Rolle, doch darauf kam es auch niemals an, konnten sie ja ihre Rolle umso besser spielen, je weniger sie sie durchschauten. Der zukünftige Tyrann, der sich einer rebellischen Bewegung anschließt, braucht also seine wirkliche gesellschaftliche Rolle gar nicht zu verstehen. Doch alles, was er tut, geschieht im Sinne der Erhaltung dessen, was er radikal zu bekämpfen vorgibt. Nur schlechte Lügner wissen, während sie lügen, genau, daß sie es tun. Der gute Lügner weiß es nicht oder nicht genau. Die Gründe hierfür haben wir bereits angeführt. Wer sich im Bereich zwischen Sein und Schein bewegt, als ob er hier gleichsam im Herzen der Wirklichkeit wäre, der nimmt wahr, wie es seiner jeweiligen Tendenz gemäß ist. Er braucht also gar nicht zu fälschen. Der Demagog überzeugt, weil er zumeist, was er spricht, glauben kann — wenigstens während er spricht.

Anders als andere fühlt sich der zukünftige Tyrann in der rebellischen Strömung zurecht. Sein ganzes bisheriges Leben war nichts als ein Protest. Er bringt den Fanatismus des ewig Protestierenden mit. Im Protest sind auch die anderen, die er in dieser Strömung vorfindet und die sich ihr anschließen werden. Aber diese anderen sind nicht nur protestierend. Sie sind auf vielen Gebieten ihres Lebens positiv, sind mit ihrer Arbeit oder mit ihrer Familie oder mit irgendeinem Spleen halbwegs abgefunden. Zentral ist der Protest in dem Leben des zukünftigen Tyrannen. Haben die anderen neben der Bewegung andere, sogenannte private Interessen, die letztlich für sie ausschlaggebend sind, so ist eben diese Bewegung und der Protest, der sie macht, seine privateste Angelegenheit, sein umfassendstes Interesse, seine große Leidenschaft.

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Selbstverständlich, man möchte sagen gerechterweise, gibt dieser Sachverhalt dem Demagogen sofort ein Übergewicht. Die anderen spüren es und geben nach. Es ist, wie gesagt, gerecht, denn diese anderen wollen nur einen Teil ihres Wesens und ihrer Interessen der Bewegung geben, er aber gibt sich ihr ganz hin. Daß seine Art, sich hinzugeben, in Wirklichkeit ein Nehmen ist, kann nicht deutlich werden. Man kann die Hingabe sogar in dem so engen Bereich des Liebeslebens vorschwindeln, wie erst in dem weiten Bereich einer Bewegung.

So gelangt also der zukünftige Tyrann in die vorderen Reihen. Hier sieht er sich vor die Notwendigkeit gestellt, die anderen, die bereits in der Führung sind, zurückzudrängen. Die Methoden, die er hierbei anwendet, sind imposant und für viele Beobachter ein Beweis besonderer Intelligenz, wenn nicht gar der Genialität. Und in der Tat: auf diesem Gebiet kann der Tyrann wesentlich mehr als alle anderen in seinem Umkreise, denn dafür ist er sozusagen trainiert. Sein Bezugssystem ist dieser Aufgabe ausgezeichnet angepaßt. Er kann einen Teil der Führung für sich in der Art gewinnen, in der er seinen ersten Anhänger gewonnen hat. Das ist verhältnismäßig einfach.

Der nächste Schritt ist etwas schwerer.

Es geht darum, denjenigen, der der erste, also der wirkliche Führer ist, zu isolieren. Es gibt die Tragödie der ewig Zweitrangigen, jenes ewig zweiten Mannes, der sich nie mit seiner Rolle abgefunden hat und sich darum weigert zu begreifen, was denn den ersten zum ersten mache. Der zukünftige Tyrann wird sich dieser zweiten Männer bemächtigen. Sie werden sich ihm schon deshalb anschließen, weil sie mit ihm ein unehrliches Spiel werden spielen wollen: mit seiner Hilfe den ersten Mann fällen, sodann sich selbst in die erste Reihe hineinspielen, ihn dann fallenlassen oder ihn zum zweiten Mann machen.

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Dieser Typ zweiter Mann irrt sich. Er schiebt nicht, er wird geschoben und hat das Spiel verloren, weil in Wirklichkeit nicht er es spielt, sondern der zukünftige Tyrann. Mag der zweite Mann intelligenter sein, er steht seinem Widerspieler, dem zukünftigen Tyrannen, in alledem nach, worauf es bei diesem Spiel ankommt: in der grenzenlosen Rücksichtslosigkeit, in dem Entschluß, vor keinem Verrat zurückzuscheuen, und in der Intensität des Strebens.

Man sollte glauben, daß der Tatbestand des Verrats genügend scharf umrissen ist und daß kein Verräter sich über seine Tat hinwegtäuschen könnte. Dem ist nicht so. Es gibt Verräter, und der Tyrann gehört zu ihnen, die verraten, wie pathologische Lügner lügen. In ihrem Bewußtsein sind sie keine Verräter, sondern Menschen, die in steter Abwehr gegen sie bedrohenden Verrat sich befinden und dementsprechend immer gezwungen sind, ihm zuvorzukommen. Es gibt Verräter, die glauben und glauben machen, daß sie stets in Notwehr gehandelt haben.

Eine fast nie unterbrochene Reihe von Verrätereien markiert den Weg des Tyrannen zur Macht. Würde er zur Rede gestellt und müßte er sich verteidigen, so würde er zweierlei zu sagen haben. Erstens, er habe in Notwehr gehandelt, und zweitens, er habe im Dienste der Idee, der Bewegung usw. so handeln müssen. Man merkt, er handelt tatsächlich immer aus aggressiver Angst, mag er auch aus Gründen der Rechtfertigung die Gefahr übertreiben. Unbewußt hat er sie womöglich noch größer erlebt, und dementsprechend hat er auch gehandelt.

Von hier aus ist es auch verständlich, warum wir die übliche Vorstellung vom Tyrannen, der dasitzt und aus Freude am Übel Böses brütet, ablehnen. Er brütet gar nichts Böses, er ist auch nicht von Gewissens­bissen heimgesucht, wie moralische Dichter ihn schildern, er hat Angst und einen Überbau über dieser, auf den er sich berufen kann, der ihn davor schützen kann, sich zur Angst bekennen zu müssen.

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Er ist rücksichtslos im Kampf um die Position des Ersten. Er ist gerechtfertigt vor sich selbst, denn kann ihm verboten sein zu denken, daß er geeigneter ist als der, den er als Ersten vorgefunden hat? Ja, daß die Bewegung damit steht oder fällt, ob er oder ein anderer der Erste ist. Im übrigen werden seine Erfolge ihm recht geben. Hat er erst einmal die führende Rolle erlangt, so geht es darum, sie zu sichern. Er muß sich mit Menschen umgeben, die ohne ihn nichts, die Schiffbrüchige, Verlorene wären, die aber, wenn sie ihm die Treue halten, zu größeren Positionen gelangen, als es ihnen ihre kühnsten Träume zu erhoffen erlaubt hätten. Damit dies aber geschehe, ist es notwendig, daß der Tyrann selbst von Erfolg zu Erfolg schreitet. Sie müssen ihm also Erfolge verschaffen, und wenn sie ihr Letztes dahingäben, damit sie selbst Erfolge haben. Sie müssen darangehen, die Legende um ihren Führer zu bilden. Und mißlänge ihnen das, so wären sie selbst verloren.

Es ist nicht leicht, um einen Lebenden eine Legende zu bilden und sie als Kampfinstrument zu gebrauchen. Der Kampf mit der Wahrheit, der hier aufgenommen wird, kann grausame Niederlagen herbeiführen. Somit muß um den Sieg grausam und rücksichtslos gekämpft werden. Die Wahrheit, der eigene Freund, der eigene Bruder muß verraten werden, soll dem Führer und seiner Legende die Treue gehalten sein. Hier wird also jene seltsame Treue vorgebildet, die ein Charakteristikum jeglicher Tyrannis ist: die Treue, die sich durch den Verrat legitimiert.

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Den Tyrannen und seinen engen Kreis verbindet fortab etwas, was sonst auf die Beziehungen der Menschen lösend wirkt: die gemeinsame Betätigung ihrer schlechtesten Eigenschaften, ihre Untaten, ihre Lügen, kurz, eine immer umfassender werdende Komplizität. Es wird sich zeigen, daß auf die Dauer auch diese Komplizität dem Tyrannen keine wirkliche Gewähr für die Verläßlichkeit seiner Freunde bieten kann. Er wird sie einzeln verraten müssen, er wird sie fürchten müssen, solange er lebt oder solange sie leben.

Doch noch ist der Tyrann nicht so weit. Er ist erst am Anfang seiner Laufbahn. Er muß es verstehen, sich eine Leibgarde zu schaffen, er muß es verstehen, Massen für sich zu gewinnen. Er braucht eine Inszenierung. Er wird die wählen, die ihm selbst am meisten imponieren würde, begegnete er einem andern in ihr. Somit entspricht seine Inszenierung seinem Geschmack. Entspricht nun sein Geschmack dem Geschmack derjenigen, an die er sich wendet, so sind seine Aussichten schon recht gut. Er muß jedenfalls von Anfang an versuchen, durch eigene Überzeugtheit zu überzeugen. Er muß von Anfang an ein Wundertäter sein. Sein Werben muß etwas Zwingendes haben. Ein Magier kann nicht sagen: Ich kann nur zaubern, wenn ihr mir glaubt. Er muß sagen: Ich kann zaubern, und um mich herum sind ungezählte Zeugen meiner Kraft. Glaubt an mich, oder ihr werdet die bösen Folgen eures Unglaubens erleben. Er muß also mit dem Schein der Macht operieren, ehe er sie erlangt hat, er muß seiner kleinen Macht eine große Geltung verschaffen. Unter diesem Zwange wird er übrigens immer stehen.

Wir sagten schon an anderer Stelle, auf welche Grundtatsachen des seelischen Lebens der sogenannten alltäglichen Menschen der Tyrannenanwärter spekulieren muß. Er muß also gekränkt an Ressentiments appellieren, er muß ungeheure Versprechen leisten und darf sich dabei nicht von der Erwägung leiten lassen, welche Versprechen er wirklich halten könnte, sondern welche Wünsche es gibt, die es auszunützen gilt.

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Mag sein, daß er, da er sein Programm formuliert, schon damit rechnet, daß er dessen Verbreitung verbieten wird, sobald er an die Macht gekommen ist, mag sein, aber es muß nicht sein. Er ist vielleicht aufrichtig bereit, alles zuzugestehen, weil er selbst an den Zauber der Macht glaubt, sozusagen an die Allmacht der Macht. Er ist ein Gefangener, der Gefangene macht. Natürlich schwindelt er, und natürlich weiß er oft genug, daß er schwindelt. Aber seltsamerweise ist ihm der Schwindel seiner Inszenierung, also der Schwindel, der in Kleinigkeiten liegt, viel bewußter und vielleicht auch peinlicher als der, der in seinem Programm, in der Maßlosigkeit seiner Versprechen und in seiner verräterischen Treue liegt.

Um die Macht vorzutäuschen, und dies schon von dem ersten Augenblick an, da er sich dem Volk als Retter anpreist, muß er sich den Glanz ausborgen. Er braucht Geld. Er bekommt es bei jenen, von denen wir ausgesagt haben, daß sie, die die herrschenden Positionen besitzen, in bedrängter Situation Rebellionen brauchen und sie gerne selber schaffen, wenn sie die Gewißheit erlangen können, sie zu dirigieren. Nun, der Demagog ist erst installiert, wenn er das Vertrauen dieser Art Leute oder wenigstens einer Fraktion dieser Leute erlangt hat.

Auch ihnen macht er Versprechungen für die Zeit, da er die Macht haben wird, aber die Wechsel, die er hier ausstellt, können, wie es der wechselrechtliche Ausdruck besagt, protestiert werden. Unter anderm sichern sich diese Geldgeber die Möglichkeit und das Recht, dem Tyrannen Direktiven zu geben. Und es gibt gerichtsnotorische Fälle, in denen der zukünftige Tyrann zu gleicher Zeit, da er vor dem Volk sich als den unbestechlichen Retter aufspielte, vor seinen Geldgebern den gehorsamsten Diener machte. Auch dieser Widerspruch hat die Tyrannen niemals belastet, wenigstens nicht auf dem Wege zur Macht.

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Der Mann, der zu einer Bewegung stieß oder sie zu begründen begann, ist in verschiedener Hinsicht nicht mehr ganz identisch mit diesem gleichen Manne, der eine gewisse Zeit später Millionen Anhänger gewonnen hat, deren Hoffnung er geworden ist, der also vieles von dem bereits verwirklicht sieht, was er vorher so leidenschaflich und doch so mutlos gewünscht hatte. Es ist unausbleiblich, daß das Bild, das sich nun die anderen, die Gläubigen von ihm machen, auf ihn selbst zurückwirkt. Nun ist er krampfhaft bemüht, seinem Idealbild zu gleichen. Nun wird er auch im privaten Leben, so wenig er davon hat, sich benehmen, als ob er vor den Massen stünde, als ob die Maske zum Gesicht und seine Rolle zu seiner Persönlichkeit geworden wäre. Es ist dies ein sehr merkwürdiger Prozeß, wie er ähnlich nur noch in Fällen von Psychose beobachtet werden kann. Dieser Mann beginnt sozusagen seinem Photo das zu propagandistischen Zwecken retouchiert worden ist, zu ähneln.

Ist er soweit, dann kann er nicht umhin, von all denen, die ihn in der ersten Zeit der Bewegung umgeben haben und die selbst die Legende um ihn geschaffen haben, zu verlangen, daß sie an diese Legende glauben sollen. Niemand darf an ihn weniger glauben, als er selbst es tut, er, der sich doch am nächsten ist. Und normalerweise ist solche Nähe dem Glauben abträglich.

In dieser Phase entstehen gewöhnlich die ersten Abspaltungserscheinungen in der engeren Umgebung des Tyrannen. Einige seiner engsten Freunde meutern. Und sie, die wissen, wie man Präsident wird, meinen, sie brauchten dies der Welt nur zu erzählen, damit ihr bisheriger Führer gerichtet sei. Sie irren sich sehr.

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Ihre intime Informiertheit ist nutzlos. Eine Massenbewegung, mag sie auch von einer Clique begründet worden sein, von einer Clique geführt werden, hat eigene Gesetze, die sich von den Gesetzen einer Clique, einer Gang sehr wesentlich unterscheiden. Bestürzt erkennen sie und erkennen ihre Freunde, die dem Tyrannen treu geblieben sind, daß die Legende sich sozusagen verselbständigt hat und es nicht mehr in der Macht ihrer Autoren steht, sie aus der Welt zu schaffen.

Auch an dem zukünftigen Tyrannen geht eine solche Wahrnehmung nicht spurlos vorbei. Er weiß nun, daß er noch rücksichtsloser und mißtrauischer zu sein hat als bisher, und er weiß auch, daß er sich viel mehr leisten kann, als er bisher selbst geglaubt hatte. Würde man daraus folgern, daß sein Selbstbewußtsein verändert, gehoben sein müßte, so würde man sich irren. Gewiß, er hat vieles erreicht, aber die Spanne zwischen seiner Minusposition und seinem Kompensationsziel ist nicht geringer geworden, sondern im Gegenteil noch größer. Sein Unsicherheitsgefühl ist jetzt beherrschend, zwingend. Nun, da er so vieles hat, hat er auch Grund zu fürchten, so vieles zu verlieren. Und beginnt er einmal zu verlieren, so verliert er alles. Das weiß er genau. Aut omnia — aut nihil, entweder alles oder nichts. Dazwischen ist sein Leben gestellt. Der kleine Angestellte X. mag sich sicher fühlen, denn was hat er, objektiv gesehen, schon zu verlieren? Wie tief kann er denn stürzen, da er so niedrig steht? Doch dieser Mann auf dem Weg zur Macht, schon jetzt, bevor er sie erlangt hat, ein großer, fast mächtiger Führer, kann ungeheuer tief stürzen. So hoch er auch steigen mag, die Angst steigt mit ihm mit.

Die Selbstmordgedanken haben ihn nicht verlassen. Seine Freunde wissen, daß er entschlossen ist, sich umzubringen für den Fall, daß seine Unternehmungen mißlingen.

Nun, wenn ein Mensch dieser Art über sich selbst das konditionierte Todesurteil verhängt hat, wird er vor keinem Mittel, vor keinem Morde zurückscheuen, da es darum geht, sein eigenes Leben zu bewahren. Denn schon auf dem Wege zur Macht zeigt der Tyrann eine besondere Wertschätzung für sein eigenes Leben. Sie steht in direkter Proportion zur Verachtung des Lebens anderer, aller anderen.

Zu dieser Verachtung des Menschen, die dem Tyrannen eine so viel größere Manövriermöglichkeit gibt, als sie seine Gegner haben, kommt hinzu, daß dieser Mann nun von seiner Berufung wirklich durch­drungen ist. Und wann sollte ein Mensch grausamer sein können, als wenn er glaubt, einer Berufung gemäß zu handeln.

Die Machterlangung schließlich erfolgt fast immer durch irgendeinen Verrat, einen Treuebruch, ein Verbrechen, eine Provokation. Nach allen Aufschlüssen, die die Geschichte bisher über den Machtantritt des Tyrannen gegeben hat, läßt sich folgern: die letzte Etappe auf dem Wege zur Macht erreicht der Tyrann gewöhnlich doch nicht durch offene Gewalt, durch offenen Kampf, sondern durch Tücke und Hinterlist, durch Mitverschworene, die ihm die Hintertüre öffnen. Einmal so eingedrungen, ist sein Meuchelmord, der darauf folgt, kein Meuchelmord mehr, sondern staatspolitische Notwendigkeit. Er ist auf der Hintertreppe hinaufgekommen. Nun steht er vor dem Volke mit einer neuen Legitimation. Die Macht, die er nun hat, gibt ihm das Recht, sie auszuüben.

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