Zur Analyse der Tyrannis     

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V. Die Gewaltherrschaft 

 

 

 

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Dionysios der Ältere war von einem unüberwindlichen Mißtrauen besessen. In seiner Angst war er so vorsichtig, daß er nicht einmal seine Haare mit der Schere schneiden ließ. Es mußte vielmehr einer von seinen Dienern kommen und sie ihm mit einer glühenden Kohle absengen. Zugang zu ihm in sein Gemach fand weder sein Bruder noch sein Sohn in dem gewöhnlichen Gewand. Ehe er eintreten durfte, mußte jeder Besucher sein Gewand ablegen und ein anderes anlegen, damit die Wachen feststellen konnten, daß er keine Waffen bei sich trug.

Als sein Bruder Leptines ihm eines Tages die Lage eines Ortes erklären wollte und sich von einem Mann aus der Leibgarde einen Speer geben ließ, um damit den Ort auf den Boden zu zeichnen, wurde der Tyrann wütend über seinen Bruder und ließ den Soldaten hinrichten. Gern gebrauchte er das Wort, er müsse sich vor seinen Freunden hüten, weil er weiß, daß sie klug seien und lieber selbst Herren sein als Herren über sich dulden wollten.

Marsyas ließ er hinrichten, obwohl er zu den Männern gehörte, die Dionysios selbst aus niedriger Stellung zu hohen Offizieren befördert hatte. Aber Marsyas hatte geträumt, er hätte den Herrscher erschlagen. Deshalb ließ er ihn strafen, denn einen solchen Traum könne er nur gehabt haben, wenn er sich in den Gedanken des Tages mit diesen Plänen beschäftigt hätte. So war des Herrschers Seele erfüllt von allem Unglück, das die Feigheit mit sich bringt, und das war der Mann, der einem Platon grollte, weil er ihn nicht als Tapfersten der Menschen bezeichnen wollte.   PLUTARCH

 

Für die Macht spricht nichts so sehr wie sie selbst. Die Macht als Argument überzeugt, ehe sie von der Gewalt, die ihr zur Verfügung steht, Gebrauch machen muß. Nicht nur, weil die Macht dem gefährlich ist, der ihr Feind ist, gewinnt sie am Anfang so viele Freunde, sondern auch deshalb, weil sie fasziniert. Ein großer Teil der früheren Gegner des Tyrannen werden seine aufrichtigen Freunde von dem Augenblick an, da er die Macht hat. Sie denken: Wenn dieser Mann wirklich ein solch gewaltiger Kerl ist, daß er es zustande gebracht hat, die Macht zu erobern, dann gebührt sie ihm auch. Dann sind seine Fähigkeiten, die wir leider bisher verkannt haben, außerordentlich. Einem Mann, der das zustande gebracht hat, trauen wir auch zu, daß er die Wunder tun wird, die er versprochen hat.

Der Start des Tyrannen läßt sich also sehr gut an. Er schlägt seine Feinde nieder und erschreckt damit die Schwankenden. Die nicht ganz entschiedenen Gegner schreckt er zurück, und alle, die in der Mitte stehen, gewinnt er für sich wie im Sturm. Die Führer seiner Gegner rufen das Volk zum Widerstand auf, verweisen auf die Verbrechen, die der Tyrann schon in den ersten Tagen seiner Herrschaft begangen hat, und müssen darüber staunen, wie wenig Gehör sie finden. Sie staunen aus Unwissenheit über das Wesen der Macht und über die Wirkungen der Macht. Indes sie, um die Feindschaft gegen die Tyrannis zu steigern, auf das Blut, mit der sie sich bedeckt hat, verweisen und die Erbarmungslosigkeit, mit der die neuen Herren vorgehen, laut denunzieren, machen sie sogar selber, natürlich ohne es zu wissen, für die neue Macht Propaganda. Denn, so sagen sich Millionen, wenn es so gefährlich ist, auch nur das Geringste gegen diese macht zu tun oder zu sagen, dann wollen wir uns beeilen, alles zu ihrem Lobe und zu ihrem Ruhme zu sagen.

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Die Macht herrscht durch den Schrecken. Der Schrecken hat wenigstens im Anfang Erfolg. Um ihn zu behalten, muß der Schrecken allerdings gesteigert werden. Eine Macht, die mit dem Schrecken begonnen hat, darf auf ihn nie mehr verzichten, oder sie ist verloren. Mit dem Schrecken macht man keine Kompromisse. Das wußten manche Tyrannen, und andere, die es nicht wußten, gingen etwas früher zugrunde, als sie es ohne die Kompromisse gemußt hätten. Schlechte Erzieher wissen, daß sie Kinder an sich binden können, indem sie sie in Schrecken versetzen. Der Schrecken stößt also nicht nur ab, er zieht auch an. Doch ist’s mit ihm wie mit einem Gifte. Um gleiche Wirkungen zu erzielen, muß man seine Dosen fortgesetzt erhöhen.

Der Tyrann ist gut darauf vorbereitet, durch den Schrecken zu herrschen. Ihm imponiert ja der Schrecken selber. Er würde am liebsten selber mitzittern wollen in jenem Augenblicke, in dem er brüllend droht: Alle werde ich zertrümmern. Der große Augenblick seines Lebens ist erreicht. Es geht darum, diesen Augenblick ein Leben lang auszudehnen. Damit dies geschehe, darf es keine Feinde geben. Aber es gibt Feinde. Wie viele auch immer man vernichten sollte, man hat immer zu wenige vernichtet. Die Väter, die Brüder, Söhne und Freunde der Vernichteten, sind sie nicht zu fürchten? Und vernichtete man diese, auch sie haben Väter, Söhne, Brüder, Freunde. Hinter jeder Reihe Ermordeter erhebt sich eine neue Reihe von Feinden, die nicht leben dürfen, soll das eigene Leben gewahrt und gesichert bleiben.

Die Tyrannis fordert, gebietet, verbietet. Was? Taten! Genügt das? Darf man erst darauf warten, daß die Taten begangen werden? Nein, denn dann ist es zu spät. Also werden Meinungen verboten. Genügt das, darf man zuwarten, bis Meinungen geäußert werden, um dann zu strafen? Nein, es genügt nicht. Es müssen die Worte, die ein Freund zum Freunde spricht, verboten werden, ja, es muß der Gedanke selbst, und bliebe er unausgesprochen, verboten werden.

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Mächtig ist die Tyrannis. Sie braucht vor keinem Schrecken zurückzuschrecken. Doch alle ihre Macht versagt vor dieser Grenze: vor den geheimen Gedanken, der Gefährlichkeit der geheuchelten Zustimmung und der geheimen Kritik. »Oderint, dum metuant!« — mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten, sagt der Tyrann. Doch er bleibt nicht dabei. Man kann durch den Appell an den Haß zur Macht kommen, man kann sich eine Zeitlang gegen ihn halten, aber es ist schwer. Seltsam, der Tyrann und die Tyrannis, sie haben es nötiger als irgendeine andere Herrschaftsform, anerkannt, ja, geliebt zu werden. So ist der Tyrann eifersüchtig auf die Gedanken wie ein von der Natur benachteiligter Ehegatte einer schönen Frau. Der Tyrann geht darauf aus, die Liebe zu erzwingen. Millionen-Chöre sollen ihm einstimmig zujubeln: Wir lieben dich. Doch diese Chöre böten keine Befriedigung, denn der Tyrann müßte ja doch daran denken, daß es unter diesen Millionen einen gibt, der zwar die Lippen bewegt, als ob er sänge, der aber nicht singt und nicht jubelt, sondern vielleicht nach dem Leben des Bejubelten trachtet. Dieser Eine - und der Tyrann weiß, es ist nicht einer, es sind viele - verdunkelt das Licht, in das die Millionen den Tyrannen zu stellen scheinen. Und der Tyrann weiß: Solange es diesen Einen gibt, ist seine Tyrannis gefährdet, so lange darf er nicht ruhig schlafen.

Dieser Eine, ist er nicht vielleicht in seiner Leibgarde, steht er nicht unter der Maske des Schützers neben ihm, ist es nicht einer seiner Freunde? Es hat einmal einen Brutus gegeben, und Cäsar war erst tödlich getroffen, nachdem Brutus ihn getroffen hatte. Da erst gab er sich auf. Gegen alle anderen hätte er sich noch halten können, gegen Brutus, den Freund, nicht. 

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Der Tyrann folgert, er dürfe niemandem trauen, es sei denn, um mit ihm gegen einen andern zu intrigieren. Er kann nur Bündnisse mit verbrecherischen Zielsetzungen eingehen, gegen irgendwen, er kann keine Bündnisse für irgendwas schließen. Er schafft um sich herum Fraktionen, deren jede sich auf ihn einschwört, um mit seiner Hilfe die andere Fraktion niederzuringen.

Beschwindelte Schwindler, von denen jeder jeden gebraucht, mißbrauchen möchte. Nur solange sein Kreis ihn als Schiedsrichter braucht, als den zentralen Punkt, um den sie kreisen können, solange sie ihn noch dazu brauchen, um vielleicht irgendeinmal alle Verantwortung auf ihn abzuschieben, fühlt er sich einigermaßen in diesem seinem engeren Umkreise sicher. Noch muß er immer wieder dreinfahren, durch einen plötzlichen, vernichtenden Akt beweisen, daß keiner um ihn ist, der nicht zu fürchten brauchte. Auf der Proskriptionsliste des Tyrannen stehen alle, steht eigentlich, konsequent gedacht, die ganze Menschheit. Solange einer lebt, und mag er noch so treu sein, kann er untreu werden. Solange einer lebt, der den Tyrannen nicht bejaht, ist es, als ob der Tyrann noch immer gar keine Macht hätte.

Deshalb muß die Tyrannis einen Majestätsbeleidigungsparagraphen einführen, wie ihn dynastische Monarchien gar nicht kenncn. Die Beleidigung ist auch gegeben, wenn kein Jubel erfolgt ist, die Beleidigung ist auch erfolgt, wenn sie einmal im intimen Freundeskreise zu einer Zeit ausgesprochen worden ist, als der Tyrann noch in seinen Anfängen war.

Der Tyrann steht unter dem Zwang der Totalität. Die Theorie der totalen Macht kommt erst als Begründung, als eine Ausschmückung durch eine Idee hinzu, doch das Streben nach der totalen Macht ist unausweichlich, und die Tyrannis würde sich selber aufgeben, wenn sie dieses Streben aufgäbe.

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Sie gehorcht hier einem Gesetze, durch das sie stark wird, durch das sie untergeht. Sie wird stark durch die Totalität, weil totale Macht imposant, erschreckend und faszinierend ist. Sie geht an dieser totalen Macht zugrunde, weil es sie in Wirklichkeit nicht gibt und weil der Anschein ihrer Realität nur mit ungeheuren Opfern, die unbedingt Erschütterungen auslösen müssen, immer wieder neu erzielt werden muß. Wie sollte die Totalität verwirklicht werden können, wenn sie schon dadurch aufgehoben ist, daß irgendwo einer gegen sie denkt, zu schweigen davon, daß immer wieder welche aufstehen, die gegen sie handeln.

Doch vorerst adaptieren sich die Untertanen der Tyrannis vollkommen. Und die Zeitgenossen erleben jenes Massenaufgebot der Feigheit, das alle Phantasie, alle Vorstellung eines Menschenverächters übertrifft. Das Cliquengesetz, das im engeren Kreise des Tyrannen von Anfang an geherrscht hat, nun ist es gegen ein ganzes Volk durchgesetzt. Alle Freundschaft ist in Frage gestellt, alle frühere Treue ein Grund zum Verrat, keine menschliche Beziehung darf gegenüber dem Anspruch der Tyrannis stannhalten. Wir sprachen von der Feigheit. Sehen wir näher dazu, was sie in Blüte bringt. Die Tyrannis sagt: Stehst du zu deinem Freunde, von dem wir genau wissen, daß er ein Verbrecher ist, so beweist du damit eindeutig, daß du selbst ein Verbrecher und somit des Todes würdig bist wie jener. Bist du aber kein Verbrecher, so mußt du dich nun, da dein Freund entlarvt ist, von ihm abwenden. Ob du dich wirklich abwendest, zeigst du dadurch an, ob du nun all das, was gegen ihn spricht oder sprechen könnte, uns mitteilst oder nicht. Solltest du versagen, so werden wir dich wie deinen Freund behandeln. Und deine Freunde werden in eine ähnliche Situation geraten, in der du jetzt bist.

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Man sieht, es ist ungeheuer gefährlich, die Freundschaft unter solchen Bedingungen zu halten. Muß man wirklich besonders feige sein, um das Leben einer Freundschaft vorzuziehen? Das totalitäre Regime arbeitet stets mit der ultima ratio. Es macht aus jeder Frage eine Frage auf Leben und Tod. Wie außerordentlich, wie über alle Maßen heldenhaft müßte ein Freundschaftsbündnis sein, damit es solcher Alternative standhalten könnte. Der Charakterverderb jedes einzelnen ist ungeheuerlich von dem Augenblicke an, da es lebensgefährlich ist, anständig zu sein, da grundsätzliche Spielregeln über den Haufen geworfen worden sind, da Verrat zur Treue, Lüge zur Wahrheit und Ehrlosigkeit zur Ehre gestempelt wird. 

Der Mord am Unschuldigen ist gewiß eine Schande an der Menschheit, doch wahrscheinlich eine geringere Schande als die Depravierung der Lebenden. Die Tyrannis darf umso lauter ihre Ehre und ihren Ruhm preisen, je gründlicher ihr diese Depravierung gelingt. Aber vermag das alles dem Regime ein Gefühl der Sicherheit zu geben? Kaum, denn was sollte man von Treuegelöbnissen Depravierter halten? Wie unvorsichtig, wie lebensgefährlich dumm müßte einer sein, der an die Treue dessen glaubte, der bereit ist, jeden zu verraten, von jedem abzurücken, sobald es gefährlich wird, zu ihm zu stehen. Wenn der Tyrann auf sein Volk sieht, und er sieht nur gebeugte Rücken, so darf er dessen nicht lange froh bleiben. Er fühlt sich betrogen: wo sind die Köpfe?

Es wäre ein schwerer Irrtum zu meinen, daß die Depravierten ganz bewußt ihre Depravierung erleben und mitmachen. Wir sagten schon an anderer Stelle, es habe jeder die Anschauungen, die ihm in den Kram passen. Sie wandeln sich auch entsprechend dem Kram, in den sie zu passen haben. Schließlich bemerkt selten einer, während er sich belügt, daß er sich selbst zum Opfer wird. Also handelt es sich um einen Prozeß von bedeutender Unbewußtheit.

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Der Tyrann hat Wunder versprochen. Die Wunder sind ausgeblieben. Sagt man dann, er habe gelogen oder geschwindelt? Nein, man muß es noch lange nicht sagen. Die Gegner der Tyrannis schätzen gewöhnlich die Gründe und das Tempo einer Desillusionierung falsch ein. Ihre Ungeduld ist schuld daran, daß sie den wirklichen Prozeß, der sich vor ihren Augen abspielt, nicht richtig wahrnehmen. Der Gläubige, dem das Wunder ausgeblieben ist, wird gerne glauben, daß es eben etwas später kommen wird. Man kann ein Wunder nicht auf ja und nein zwingen. Er wird sich gern davon überzeugen lassen, daß das Wunder fast fertig war, aber im letzten Moment durch die Tücke der Feinde verhindert worden ist. Er braucht also nur den Haß gegen die Feinde zu nähren, damit er den Glauben an das Wunder sich erhalte. Nun, der Haß wird ihm gebrauchsfertig ins Haus zugestellt. Noch keine Tyrannis ist ohne außenpolitische Feinde ausgekommen. Sie wählte sich gewöhnlich solche, die so schwach waren wie die verfolgten innenpolitischen Feinde, die man also provozieren durfte, ohne die Konsequenzen der Provokation ernsthaft fürchten zu müssen. Wenn der Tyrann kein Brot geben kann, die tägliche Feindschaft kann er bieten, steigern und übersteigern. Da es gefährlich ist zu zweifeln, suchen die Depravierten alles, was ihren Glauben irgendwie stärken könnte. Sie beugen sich Argumenten, für die sie, ginge es um private Dinge, nur ein Hohngelächter übrig hätten, sie brauchen gar nicht zu heucheln, sie glauben, weil glauben ungefährlicher ist als zweifeln. Einem Räuber, der einen ausgeraubt hat und nun mit dem Revolver bedroht, bescheinigt man gerne, daß man ihm gegeben hat, was er geraubt hat. 

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Sollte man aber gezwungen sein, unter seinem Diktat auch weiterhin zu leben, so könnte man dahin gelangen, sich selbst zu überzeugen, daß die Bescheinigung, die man ihm gegeben hat, vollkommen richtig war. Es ist leichter zu leben, wenn man diese Lüge einmal vor sich selbst als Wahrheit bekannt hat. Man heuchelt nur, solange man noch so viel Kraft und Mut hat, die Wahrheit erkennen zu wollen. Wenn auch dieser Mut dahin ist, braucht man nicht mehr zu heucheln. Begegnete die Wahrheit diesen Verängstigten, sie würden ihr sagen: »Ich kenne dein nicht«, und es wäre nicht mehr gelogen. So tief sinkt der Mensch, je höher der Tyrann steigt, so entfremdet er sich der Wahrheit, wenn die Angst sein ganzes Leben zu beherrschen begonnen hat.

Die Verächter der Masse werden das Gesagte gerne auf das, was sie Masse nennen, beziehen. Sie werden aber für die einzelnen »Persönlichkeiten« das gleiche nicht gelten lassen wollen. Grundlos, denn es haben die, denen Wissen und Bewußtsein Beruf sind, selten gegen die Tyrannis besser bestanden als die anderen. Die Feigheit ist kein Monopol, die Angst ist es nicht und auch nicht die Bereitschaft, unter allen Bedingungen, auch denen der fortgesetzten Entwürdigung, zu leben. Im Gegenteil will es dem aufmerksamen Beobachter erscheinen, als ob nicht die »Persönlichkeiten«, sondern namenlose Habenichtse sich noch am würdigsten in dieser »Zeit der Verachtung«, die die Herrschaft einer Tyrannis bedeutet, verhalten hätten.

Der Kredit, den der Tyrann hat, ist somit erst sehr spät annähernd erschöpft. Der Zauberer, der keine Wunder tut, genießt noch lange den Glauben. Er tut überdies Wunder, gesehen von denen aus, die in ihrer Meinungsbildung ausschließlich auf die Interpretation angewiesen sind, die der Propagandaapparat der Tyrannis in einer aufdringlichen, bezwingenden Weise bietet.

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Doch wenn all diese Möglichkeiten, die der Tyrann hat, verbraucht sind, ist er auch dann noch lange nicht am Ende. Er kann viel gewagter und viel ausdauernder manövrieren, als diejenigen ihm zutrauen, die niemals Umgang mit der Macht gehabt haben. Es ist klar, der Tyrann muß seinen Herrschaftsapparat umso mehr ausbauen, je schmäler seine Massenbasis wird. Der gewaltige Apparat, den er so herstellt, verpflichtet ihm unter Umständen Millionen auf Gedeih und Verderb. Ungezählte Familien verdanken ihm ihren Aufstieg. Zittern sie um die neu errungene Position, so zittern sie auch um die Tyrannis selbst. Andere, die dieses G1ück, das neu entstanden ist, sehen, nähern sich der Tyrannis im Bestreben, auch einmal drangenommen zu werden.

Gewiß, auch dieser Apparat ist nicht ganz sicher. Es gibt in jeder Gewaltherrschaft einen Moment, wo diejenigen, die zu ihr am treuesten gestanden haben, weil ihr eigener Aufstieg mit der Tyrannis verbunden war, sie verraten. Das geschieht in dem Augenblick, wo sie nicht mehr glauben, ihre Position halten zu können, aber genau wissen, daß der rücksichtsloseste Verrat allein ihr Leben retten kann. Es kann also der Tyrann nur in dem Ausmaß diesem Herrschaftsapparat vertrauen, als er ihm die Gewißheit geben kann, daß die Macht sich vergrößert oder zumindest sich erhält.

So darf es der Tyrannis nicht genügen, an der Macht zu sein, sie braucht für sich, für alle, die ihr anhängen, und für alle, die sie fürchten sollen, den täglichen Beweis dafür, daß sie die Macht hat. Es ist somit die totalitäre Macht in ganz besonderem Maße auf Geltung angewiesen. Sie konsumiert sie in einem unwahrscheinlich schnellen Tempo, deshalb muß sie immer wieder neue Geltung schaffen. Gelänge ihr das einmal nicht, so wäre viel von ihrem Zauber weg, und sie müßte den Herrschaftsapparat noch wesentlich vergrößern.

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Die Tyrannis hat, wir zeigten es, geheime Dirigenten. Der Tyrann hat Chefs, denen er verpflichtet ist. Er kann sehr wohl durch die Entwicklung dahin getrieben werden, sich auch gegen die Chefs und manche ihrer Interessen zu stellen. Ist zwar ein Herrschafts­apparat ein Instrument der Herrschenden, so ist es doch immer wieder möglich, daß er eine gewisse Verselb­ständigung zeigt, daß er z.B. in Zeiten der Gefahr viel eher um seinen eigenen Schutz als um den Schutz derer, denen er Instrument ist, sich besorgt zeigt. Der Tyrann, der das Volk fürchtet, und weiß, daß er Grund hat, es zu fürchten, kann also in eine Situation geraten, in der er gleichzeitig zwei Feuern ausgesetzt ist. Die Herren im Hintergrund könnten Miene machen, auf ihn zu verzichten, ihn gegen einen seiner Untergebenen auszutauschen oder nun gar auf eine andere Rebellion zu setzen. Er muß manövrieren, er muß den Herren mit dem Volk drohen, das, ginge es wirklich gegen sie, ihm folgen würde wie in den ersten Tagen.

Die Situation des Tyrannen hat sich also rein psychologisch gesehen gegenüber seiner Startsituation nicht gebessert. Alle Gefahr ist bedrohlicher geworden, als sie jemals gewesen ist, das Erreichte ist zuwenig, soviel es auch wäre, und das Wenige zu unsicher. In dieser Situation hat sich gar mancher Tyrann für eine Lösung entschlossen, die ihm der nichtpsychologische Beobachter nicht zutrauen würde: er zog sich tatsächlich zurück. Natürlich nicht von der Macht, sondern von den Entscheidungen. Diese überläßt er bis zu einem gewissen Grade den anderen, er selbst behält sich im Konfliktsfalle das letzte Wort vor, doch auch da zeigt er sich unter Umständen nachgiebig. Mag an sich schon immer die Kunst des Staatsmanns bisher überschätzt worden sein — Tyrannen haben selten große staatsmännische Fähigkeiten bewiesen. 

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Sie wurden ihnen häufig zugesprochen — kein Wunder, denn es wird dem Tyrannen jegliche Leistung zugeschrieben, sofern sie irgendwelchen Wert hat, gleichviel, wer ihr Urheber ist. Er baut, er siegt, er gibt der Wissenschaft neue Einsichten usw. In Wirklichkeit hat er an diesen Leistungen gewöhnlich weniger teilgenommen als andere Staatsmänner, deren Namen auch ein Kollektivpseudonym für fremde Leistungen sind. In einer Hinsicht allerdings haben Tyrannen aller Zeiten staatsmännische Kunst bewiesen und Erfolge errungen. Überall dort, wo es möglich war, mit den Methodcn, die sie innenpolitisch so erfolgreich angewandt hatten, auch außenpolitisch zu operieren, dort, wo Plötzlichkeit des Angriffs, Wortbruch, Verrat, absolute Rücksichtslosigkeit in der Außenpolitik zum Erfolg führen können - das hängt natürlich von den Partnern bzw. Gegnern ab -, dort haben sich Tyrannen bewährt. Natürlich hat solche Methode den Nachteil, nur jene Zeit lang erfolgreich sein zu können, die die umwohnenden Völker brauchen, bis sie diese Methode vollends durchschaut haben. Das gelingt ihnen gewiß viel leichter als dem Volke des Tyrannen, weil sie die Freiheit haben zu denken, zu forschen, Meinungen zu bilden und aus ihnen Schlüsse zu ziehen. Somit haben Tyrannen fast immer Anfangserfolge in der Außenpolitik gehabt, doch führten diese Anfangserfolge gewöhnlich zu einem katastrophalen Endmißerfolg. Es kann gar nicht oft genug daran erinnert werden, daß das Vorbild des Machiavellischen Tyrannen, daß Cesare Borgia als Landsknecht, als verhältnismäßig unbedeutender Offizier in fremden Diensten sein Ende gefunden hat. Der Verräter war verraten worden, sobald er diejenigen zu verraten begonnen hatte, denen er nicht die Freiheit nehmen konnte, seinen Verrat zu vergelten.

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Die nicht selten vorzufindende Auffassung, daß eine Tyrannis in sich selbst zusammenbreche, ist durch die geschichtliche Erfahrung keineswegs gerechtfertigt. Noch nie hat eine Macht sich selbst aufgegeben. Die Auffassung mancher Historiker, daß eine Macht zugrunde gehe, wenn sie den Fehler begehe, Schwäche zu zeigen, ist kurzsichtig. Diese Historiker und Machtromantiker à la Spengler übersehen, daß die Schwäche der Macht in solchem Falle nichts ist als die Stärke ihrer Gegner. Wir sagten schon an anderer Stelle, daß die Macht verloren ist, wenn sie versucht, Kompromisse zu machen. Aber wir fügen hinzu: Nur dann versucht eine Macht, Kompromisse zu schließen, wenn sie bereits verloren ist. Ihre Nachgiebigkeit hat die Schwäche nicht zur Folge, diese ist jener Ursache.

Die Tyrannis bricht also nicht zusammen, sie wird gebrochen. Dadurch, daß der Tyrann aus Gründen der Propaganda, der magischen Beeinflussung alle Macht mit seiner Person identifizieren läßt, betreibt er eine fortgesetzte Provokation zu seiner Ermordung. Die Attentäter, die gegen ihn losgehen, teilen gewöhnlich die Irrtümer, die der Tyrann verbreitet und die er im übrigen zum Teil selber glaubt, wie wir an anderer Stelle gezeigt haben. Es gibt historische Beweise dafür, daß fortgesetzte Tyrannenmorde nur die Person des Tyrannen veränderten, aber nicht die Tyrannis aufhoben.

Zweifellos ist der Tod des Tyrannen ein schwerer Schlag gegen sein Regime, doch wie wirkungsvoll dieser Schlag ist, hängt davon ab, wie weit das Volk ist, wie groß die Kräfte derer sind, die bereits wissen, was die Freiheit ist, und die bereit sind, alles für sie einzusetzen. Sind diese aber in ausreichender Zahl vorhanden, so wird der Tyrann wohl noch zeitig flüchten, und er flüchtet, wenn starke Schläge die Tyrannis zertrümmern. Er flüchtet in Abenteuer oder — sehr selten — in den Tod.

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Der gestürzte Tyrann ist ein Gegenstand des Hohns und der Verachtung. Nun, da er gestürzt ist, weiß ein jeder die Wahrheit über ihn. Ein jeglicher wirft mit Steinen auf ihn. Die Betrogenen sind ihm böse, weil er der Betrüger gewesen ist, doch die meisten sagen, schon längst hätten sie den Betrug durchschaut. Alle Wahrheit, zu der sie keinen Mut gehabt hatten, nun bricht sie hervor, und die, deren Beruf es ist, öffentlich Meinungen zu formulieren, erklären: nie mehr werde solcher Betrug wiederkehren, niemals werde dieses Volk eine Tyrannis dulden.

Der Tyrann aber weiß, daß er der Betrogene ist. Betrogen um seinen Traum, um seine Macht, um seinen Namen. Betrogen durch diejenigen, die jetzt Steine auf ihn werfen. Nun meint er, er sei nur Zauberer geworden, weil der Glaube der anderen ihn verführt hätte. Im übrigen glaubt er auch jetzt noch daran, jetzt erst recht, daß er ein Zauberer ist. Er wartet in der Verbannung darauf, daß man ihn rufe. Und es sind schon Tyrannen zurückgerufen worden.

Jene Persönlichkeitsmythiker, die die Tyrannis aus der Persönlichkeit des Tyrannen erklären, verkennen entscheidende Sachverhalte. Es gibt keinen Tyrannen ohne diejenigen, die ihn machen und ohne diejenigen, die an ihn glauben. Die psycho­logischen Voraussetzungen der Tyrannis sind mit jedem einzelnen gegeben, der fähig ist, ihr anzuhängen. Solange die Machtgier des einzelnen nicht als eine Krankheit erkannt, solange der Machtgierige nicht wie ein gewalttätiger Psychotiker behandelt und wie ein Lepröser gemieden wird, gibt es vom Psychischen her eine Verführung zur Tyrannis. Sie entscheidet natürlich nicht. Die Entscheidung darüber, ob eine Tyrannis entsteht, fällt anderswo — wir haben es annähernd deutlich gezeigt.

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Der Erziehung ist es aufgegeben, in ihrem engen Rahmen alles zu tun, um den heranwachsenden Menschen vor der Machtgier zu bewahren, ihn vor Angst jeder Form, vor allem aber vor jener aggressiven Angst zu bewahren, die ihn sich selbst und anderen gefährlich macht, die ihn zum Narren seiner selbst macht, gerade wenn er zum Gott der anderen werden möchte, die ihn zum Betrogenen macht, gerade da er den schlimmsten Betrug verübt. Der Tyrann würde schneller gestürzt werden, wenn die Unterdrückten sich von der Angst vor ihm soweit befreiten, daß sie das Blut auf seinem Gesichte als Schminke erkännten, mit der ein Clown statt lachen bange machen will. Ihre Angst macht ihn groß, doch ihr Mut, hätten sie ihn zur rechten Zeit bewahrt, hätte dem Clown niemals ermöglicht, in der blutigen Maskerade eines Gott-Clowns zu erscheinen.

Wir hoffen, deutlich gemacht zu haben, welche überragende Rolle der Angst in der Entwicklung des Tyrannen und in der Entstehung der Tyrannis zukommt. Ebenso könnte deutlich geworden sein, daß der Mut eine Funktion des Bewußtseins ist, daß also ein hohes Maß gesellschaftlicher Bewußtlosigkeit, ein peinlicher Mangel an Selbstbewußtsein wesentliche Voraussetzungen für die Tyrannis sind.

Bleibt die Frage, warum die Menschen so leicht ein Gut verpfänden, das sie immer so laut gepriesen haben und preisen: die Freiheit. Die Freiheit ist ein Ausdruck und eine Wirkung eines gesellschaftlichen Verhältnisses, und insofern ist es nicht an uns, ihr Wesen zu untersuchen. Indes erlaubt die psychologische Betrachtung festzustellen, was der Soziologe allein begründen kann, daß es bisher zwar zeitweise mehr und zeitweise weniger Freiheiten gegeben hat, aber niemals die Freiheit. Nimmt man Kants Formulierung an und sieht die Freiheit des einzelnen nur dann als gegeben an, wenn sie in der Freiheit aller begründet ist, so ist es leicht verständlich, warum es bisher die Freiheit als ein wirkliches Verhältnis nicht gegeben hat.

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Daß die Freiheiten, so zahlreich sie auch wären, weniger sind als die Freiheit, leuchtet ohne weiteres ein. Man könnte also sagen: Daß der Mensch so leicht seine Freiheiten dahingibt, ist daraus erklärt, daß sie eine zu geringe Freiheit ergeben. Für ein Wunder mag man mehr als so Geringes opfern. Allerdings sind sie betrogen, denn das Wunder wird nicht geliefert, die Freiheiten aber gehen verloren. Und einmal verloren, bedeuten sie mit Recht ungeheuer viel. Der Beweis für ihren Wert ist dadurch geliefert, daß sie nicht freiwillig zurückgegeben werden, daß man um sie kämpfen muß, da man geschenkt nur solche Freiheiten bekommt, die nichts wert sind.

Der enttäuschende Alltag entwertet diese Freiheiten, und erst das Spektakel der Tyrannis läßt sie wieder wertvoll erscheinen. Die Geschichte schenkt keine Überwindung, die die Entwicklung notwendig macht. Ist das Intermezzo der Tyrannis vorbei, erheben sich von neuem die Probleme, deren wundersame Lösung die Tyrannis versprochen hat.

Eine andere Frage darf noch erhoben werden: Wie ist es zu erklären, daß einem Menschen so vieles geglaubt wird, daß man ihm absolute Unfehlbarkeit, ja Göttlichkeit zubilligt? Es ist klar, daß, wenn im zwanzigsten Jahrhundert solches noch möglich ist, die bisherigen Freidenker — Freidenker in jeglichem Sinne des Wortes — eine erstaunlich schlechte Arbeit geleistet haben. Sie haben z.B. mit bemerkenswerter Dringlichkeit den Glauben an Gott bekämpft und haben dabei übersehen, daß der Glaube an den Teufel viel älter ist und vorerst erfolgreich bekämpft werden müßte.

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Sie haben übersehen, daß ein Bedürfnis nicht anders bekämpft werden kann als durch die Herstellung von Umständen, unter denen es entweder aufgehoben oder völlig anders befriedigt wird. Sollte wer, und mag er dem Gottesglauben noch so ferne sein, bezweifeln wollen, daß es sich mit der Würde des Menschen unendlich mehr verträgt, an einen Gott zu glauben als an einen Tyrannen? Die den Fortschritt anklagen und ihm nachsagen, er habe versagt, irren sich. Der Fortschritt hat nicht versagt, er war nur geringfügiger, als sie geglaubt haben. Er war vor allem nicht allgemein. Tausende von Umständen, für deren Änderung zuwenig getan ist, binden den Menschen dieser Jahrzehnte noch an die Magie, an den wüstesten, wenn auch modern kaschierten Aberglauben. Dieser Aberglaube wird uns überleben, wenn die Umstände, die ihn protegieren, uns überleben sollten.

Und der Aberglaube, auf Grund dessen ein Tyrann zu einem Gott wird, ist daraus erklärt, daß die Umstände es den Menschen noch nicht erlauben, in einem Sinne Menschen zu sein, daß ihnen daraus ein kritisches und ermutigendes Selbstbewußtsein erwüchse. Eine so große gesellschaftliche Distanz, wie sie heute noch zwischen Menschen besteht, erlaubt, mehr als das, zwingt, Menschen so hoch zu stellen, wie der Tyrann sich stellt, damit gerechtfertigt sei, was dadurch natürlich nicht gerechtfertigt ist: daß so viele so tief unterhalb der Grenze leben müssen, unter der das menschliche Sein aufhört, die Würde zu ertragen.

Es gibt noch einen Umstand, der dem Tyrannen reinen Weg erleichtert. Das Volk braucht wirklich Führer. Daß sie zumeist Verführer sind, ist ein Schaden, den das Volk zwar immer wieder tragen muß, doch keine Aufhebung dieser Notwendigkeit, die gerade in der Zeit von Nöten entsteht.

Der Unterschied zwischen einem Führer und einem Demagogen, einem Tyrannen, ist nicht nur politisch sehr bedeutend, er ist es auch psychologisch. Deshalb wollen wir uns im letzten Abschnitt mit einigen Fragen, die sich in diesem Zusammenhange erheben, beschäftigen.

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