Zwischen dem 14. Juli und dem 9. Thermidor
(30.06.1939)
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Einem Gott wäre die menschliche Geschichte ein immer aufs neue aufgenommenes Experiment, den Menschen ist jedes Experiment ein Teil ihrer Geschichte selbst. So ist die Geschichtswissenschaft unter Umständen verläßlich, wo sie Chronik ist, doch wo sie deutet, bleibt ein Rest von Willkür der Meinungsbildung zurück: sie kann nichts durch Experimente beweisen. Machte jemand das Experiment, es wäre Geschichte, einmalig und unwiederholbar, also ohne Beweiskraft.
Es gibt Historiker, die sagen: Hätte Danton den 9. Thermidor erleben dürfen, die Präsidentenglocke des Collot und des Thuriot hätte seine Stimme nicht zugedeckt, der unsagbar vereinsamte Robespierre wäre, mit Danton vereint, stets in der Majorität gewesen.
Andere sagen: Damit der Weg des kleinen Mannes mit dem komischen Namen Napoleon Bonaparte gangbar würde, war es notwendig, den Kopf des um ein Jahr älteren Saint-Just abzuschneiden.
Wer könnte solche Meinung außer durch Wahrscheinlichkeiten beweisen und was wäre solcher Beweis wert?
Fünf Jahre und vierzehn Tage nach dem 14. Juli, als Robespierre mit siebzehn seiner Genossen guillotiniert war, war alles vorläufig erledigt. In diesen fünf Jahren war Camille Desmoulins hochgestiegen. Mit der Pistole in der Hand hatte er am 14. Juli den Aufruf zum Sturm pointiert. Tausende mußten noch lange an das grüne Blatt denken, das er zur Kokarde gewählt hatte. Die Pistole war nicht gefährlich, doch seine Worte enthielten mehr Zündstoff als ein Arsenal.
Desmoulins war fünfunddreißig Jahre alt, als er guillotiniert wurde.
Ein Jahr älter und doch wie unter der Last eines zu großen Ruhms gealtert, war Georges Danton. Seine Stimme hatte man mit dem Donner verglichen. Er war der Mann des 10. August und der Septembermorde, er war der Mann, der die Kühnheit auf die Tagesordnung gestellt hatte. Nach sechsunddreißig Jahren eines Lebens, das er geradezu kunstvoll genießerisch gestaltet hatte, machte man ihn abtreten.
Robespierre war ein Jahr älter, er starb um drei Monate später als Danton. Saint-Just hatte siebenundzwanzig Jahre gelebt. Er war dem Leben manches schuldig geblieben, doch der Revolution hatte er alles gegeben.
Marat, der älteste von ihnen allen, fünfzigjährig immerhin, war ein Jahr vorher ermordet worden. Der Freund des Volkes, der Tag und Nacht zur Wachsamkeit aufrief und das Mißtrauen predigte, wurde leicht das Opfer einer ungeübten Attentäterin. Dieser meistverleumdete Mann der Französischen Revolution war jedem erreichbar, der über Unrecht und Leiden zu klagen hatte.
Als sie auf schwindelnder Höhe standen, schien es, daß sie den Sturm entfacht hatten. Als sie geendet hatten, war es klar, daß der Sturm sie hochgewirbelt hatte, und als er sich zu legen begann, da fielen sie, weil ihre Kraft nur die des Sturmes selber war. Eine Macht, die sie nur mangelhaft verstanden, hatte sie in den Vordergrund des größten Schauspiels gestoßen, sie brauchten kaum abzugehen, die Bühne brach zusammen, sie lagen darunter.
Unmittelbar nach ihrem Tode schien es, mit ihrem Tod sei ihre Niederlage besiegelt, hundertfünfzig Jahre später ist es unzweifelhaft, daß sie gesiegt haben, sie, sind, mit dem großen Worte Victor Hugos zu sprechen, unsterblich gestorben.
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Diese Männer hatten, als die Revolution begann, genau gewußt, was sie nicht mehr dulden wollten, viel weniger genau wußten sie, welche Art Recht an die Stelle des umgestoßenen Rechts gesetzt werden sollte. Die Revolution war eine Schachpartie, deren Eröffnungszüge zum Teil vorausbestimmbar, vorausberechenbar waren. Doch die Fortsetzung dieses Spiels ahnten sie kaum. Spielten sie es, so wurde es nicht weniger mit ihnen gespielt. Die Monarchie war tot, ehe sie Republikaner waren, die Republik war da, ehe sie wußten, auf welchen Grundlagen sie zu befestigen wäre.
Robespierre war ein Theoretiker. Er hatte seine Auffassungen der Lehre Jean-Jacques Rousseaus entnommen, dem er, ein Knabe noch, in Ermenonville begegnet war. Diese Auffassungen versuchte er zu verwirklichen, und je weniger sie mit der Wirklichkeit übereinstimmten, umso gewisser war es ihm, daß das Laster sich gegen die Tugend sträubte, die Tugend allein aber das Heil der Menschheit, der Revolution, der Republik sein konnte. Er haßte die Gottlosen, und vor seinem Tode schritt er an der Spitze des Konvents zum Altar des Höchsten Wesens, dessen Fest der Maler David mit großer Bühnenmalerbegabung inszeniert hatte. Es war seine letzte Freude. Das Höchste Wesen aber hatte keinen Erfolg. Das Volk, soweit es Religion brauchte, blieb der vieltausendjährigen Beziehung zum alten Gotte treu und wußte mit seiner abstrakten Konkurrenz, die für Robespierre so konkret war, nichts anzufangen.
Welchen Stand der Dinge wollte Robespierre, für welche verwirklichbare Ideen ließ er die Enrages und die Dantonisten guillotinieren? Für die Verwirklichung eines Rousseauschen Gemeinwesens, für die Verallgemeinerung der Tugend, wie sie im Hause des Drechslers Duplays in der Rue Saint-Honore herrschte?
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Als sich mit Robespierres Namen der Kampf um die »eine und unteilbare« Republik verband, der Kampf gegen ein reaktionäres Europa, das da glaubte, die Ohnehosen wie die Hasen vor sich her jagen zu können, und dessen Armeen es galt, zu schlagen, wie noch nie feudale Feldherren geschlagen hatten, da hatte Robespierre die Majorität für sich. Als er dann im Fraktionskampf gegen die eigenen Freunde ging, da hatte er für sich, was mehr schien als die Majorität und doch viel weniger war: die Einstimmigkeit eines Konvents, den die Angst vorderhand lahmte, den die gleiche Angst drei Monate später tollkühn machte.
Robespierre und Saint-Just kämpften für die Gerechtigkeit, also brauchten sie vor allem Macht. Ihnen drohte keine Gefahr, solange sie die Macht rücksichtslos anwandten, solange sie glauben konnten, nur noch ein Schlag, dann könnte die Verfassung in ihre Rechte treten, dann könnte die Guillotine zum alten Eisen geworfen werden. Doch je schneller die Guillotine arbeitete, umso größer wurde die Zahl der Verdächtigen. Je tyrannischer die Tugend wurde, umso größer wurde das Lager der Untugendhaften, deren Feigheit eines Tages zum Mute der Verzweiflung umschlagen mußte.
Das Schicksal dieser Männer wirkt bis auf den heutigen Tag so erregend, weil, als ob einer dramaturgischen Forderung Gerechtigkeit widerfahren wäre, ihr Leben und Sterben in der Einheit von Raum und Zeit, engem Raum und kurzer Zeit sich abgespielt hat.
Und nichts erregender als die Frage, die deren Sterben uns stellt: Warum starben sie so leicht? Warum wehrten sie sich kaum? Rechtzeitig durch Ruhl von der bevorstehenden Verhaftung benachrichtigt, auch sonst vielfach gewarnt, wartet Danton untätig sein Schicksal ab.
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Er wartet in der entscheidenden Nacht, versunken im Stuhl neben dem Kamin, in dem allmählich das Feuer verlischt, auf die Gendarmen, die endlich um sechs Uhr früh ihn holen kommen. Er weiß schon, daß man sich ihm nicht im Konvent stellen wird. Er darf ahnen, daß Intrigen gesponnen werden, die seine Verteidigung erschweren oder gar unmöglich machen werden. Und doch wartet er ab, geschlagen, ehe der Schlag ihn trifft.
Vor dem Revolutionstribunal, dessen Begründung er selber seinerzeit vorgeschlagen hat, gegenüber der Anklage des Wohlfahrtscomites, dessen Macht dank seinen Vorschlägen so erweitert worden ist, wird er kühn donnern, verlangen, daß seine Ankläger mit ihm konfrontiert werden, damit er ihre Verdächtigungen zunichte mache und die Verleumder in das Nichts zurückschleudere, aus dem sie niemals hätten hervorsteigen dürfen.
Doch sagt er auch, sich selber unterbrechend, daß er bald im Nichts sein werde, gesteht er müde mitten im Aufschrei der Empörung, daß das Leben ihm eine Last sei und er sich danach sehne, von dieser Last befreit zu werden.
Seltsame Verteidigung! Verwunderlich, daß dann noch Intrigen bis ins Beratungszimmer der Geschworenen notwendig sind, um die Volksrichter, die zurückschaudern bei dem Gedanken, Danton, mit dessen Namen die Revolution gleichsam eins ist, im Namen der Revolution unter die Guillotine zu schicken.
Man kolportierte einen Ausspruch Dantons: »Ich ziehe es vor, guillotiniert zu werden als zu guillotinieren.« Das war — verstand er es denn selber nicht? — ein Todesurteil. Er fällte es über sich selbst. Er war müde geworden. Wer auf dem Tiger reitet, sagen die Orientalen, konnte sich auf ihn schwingen, der aber kann nicht mehr abspringen. Zur revolutionären Macht wird man erhoben, man wird von ihr hinuntergestoßen, aber man tritt nicht von ihr zurück.
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Danton hatte die Macht geliebt als ein Mittel, wie er das Geld liebte. Doch die Macht besitzt man nicht, man wird von ihr besessen oder getötet.
Saint-Just, von der Front zurückgerufen, an der er Wunder wirkte, hatte die Anklage gegen Danton im Konvent erhoben. Man weiß es heute genau, daß er sie nur redigiert hatte, daß ihm, der sehr spät in die Arena getreten war, dem also wesentliche Kenntnisse fehlten, Robespierre das Anklagematerial fertig übergeben hatte. Er vertraute Robespierre von jenem Tage ab, an dem er, ein ehrgeiziger Jüngling der Provinz, sich verehrungsvoll an ihn gewandt hatte, bis zu dem Augenblick, da sein Leben ausgelöscht wurde.
Saint-Just war nicht der Klubmensch, nicht der Ingenieur der Klubapparatmechanismen, er glaubte so sehr an die Wahrhaftigkeit des Anklagematerials, das man ihm zu vertreten gab, daß er überzeugt war, Danton im Konvent stellen zu können. Doch als er sich gemäß seinem Manuskript duzend an Danton wandte, da gab es keinen Danton mehr im Konvent, Billaud-Varennes, Vadier und Robespierre hatten dafür gesorgt, daß der vorgesehene Dialog zum Monolog würde.
Saint-Just war von allen der einzige, der sich Vorstellungen zu bilden versuchte, was denn diese Republik sein sollte, welcher Art die Gesellschaft von ihnen aufgebaut werden sollte. Der Mann träumte mit offenen Augen von der Verwirklichung des Glücks: »Möge Europa erfahren, daß ihr weder einen Unglücklichen noch einen Unterdrücker auf französischem Boden wollt, möge das Beispiel auf der ganzen Erde Frucht tragen, möge sich die Liebe der Tugenden und das Glück über sie verbreiten. Das Glück ist eine neue Idee in Europa.«
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Saint-Just entwarf die kommende Gesellschaft. Das Manuskript nannte er »Republikanische Einrichtungen«. Der Mann, der nach seiner ersten Rede im Konvent, vierundzwanzigjährig, als die größte Hoffnung der Revolution erscheinen mußte, hatte damit begonnen, daß er das Recht der Revolution auf die Gewalt formuliert hatte. In seiner ersten Rede hatte er den Satz gesprochen: »Man kann keineswegs schuldlos herrschen.« Er dachte an das Glück des neuen Lebens und nicht im mindesten daran, daß er selbst herrschen und rücksichtslos unterdrücken werde. Die Freiheiten, die er in seiner Erklärung der Menschenrechte für unverbrüchlich erklärt hatte, mußten provisorisch suspendiert werden. Er hatte das Provisorium nicht überlebt, es endete, als er tot war, weil er tot war. Der Autor der »Menschenrechte« hatte nicht geahnt, was aus unverbrüchlichen Rechten werden muß, sobald die Gewalt angewandt werden muß, sie zu verteidigen.
Saint-Just, dessen Entschlossenheit von niemandem angezweifelt wurde, dessen Tapferkeit sich mehrmals mitten im Feuer bewährt und die schwersten Siege erringen geholfen hatte, wurde im Verlauf weniger Monate müde. Hatte Danton die Kühnheit gefordert, so hatte Saint-Just gesagt: »Wagt! Das ist in einem Wort die Politik der Revolution.« Der Wagemutige wagte nicht mehr.
Carnot und Prieur (von der Cote d'Or), die wirklichen Organisatoren der republikanischen Armee, gleichsam die Erfinder des modernen Krieges, hatten ihm, als er Robespierre zu verteidigen versuchte, gedroht.
Als er Carnot sagte:
»Du bist mit den Feinden der Patrioten verbunden.
Wisse, daß einige Zeilen von mir genügen würden, um dich in den Anklagezustand zu versetzen, und dich in zwei Tagen köpfen zu lassen«— wie wirkungsvoll waren diese Sätze bisher gewesen, da antwortete ihm Carnot:
»Ich fordere dich dazu auf, ich verlange gegen mich die ganze Strenge.
Ich fürchte dich nicht, dich nicht und deine Freunde nicht. Ihr seid lächerliche Diktatoren.«wikipedia Lazare_Nicolas_Marguerite_Carnot wikipedia Wohlfahrtsausschuss
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Saint-Just antwortete ihm wild: »Ich fordere deinen sofortigen Ausschluß aus dem Comite.«
Carnot, sehr beherrscht und sehr entschieden, antwortete: »Du wirst vor mir ausgeschlossen sein, Saint-Just. Triumvirn, ihr werdet verschwinden!« schleuderte er Robespierre und Cothon ins Gesicht.
Solche Herausforderung war nun möglich und nichts geschah. Saint-Just, der große Ankläger, weigerte sich, die Anklage, die nun zu erheben stand, zu vertreten. Er sehnte sich nach der Armee, die in Wirklichkeit Carnot in der Hand hatte, nach der Front, wo man im klaren, offenen Kampfe sterben konnte. Dieser schöne junge Mensch, in dem viele das leuchtende Symbol der Revolution sahen, verstand die Logik der Macht, doch nun handelte er ihr zuwider.
Die letzte Anklage, die er, der große Ankläger, noch schreiben sollte, hatte er nicht mehr verlesen können. Er hatte sie nicht mehr dem Wohlfahrtscomite vorgelegt, in dessen Namen er sie zu sprechen hatte, es ging nun darum, da das Machtinstrument sich gegen ihn wandte, den Konvent gegen das Wohlfahrtscomite aufzurütteln. Der Konvent war aber bereits verschworen. Die Verschwörung der Angst mußte bis zu Ende geführt werden. Es galt Hammer zu sein, wollte man nicht Amboß werden. Saint-Just wurde nach den ersten Sätzen unterbrochen.
Vier Stunden lang stand er auf der Tribüne, hochmütig, wortlos wartete er darauf, das Wort zu erlangen, dessen Gefährlichkeit die Verschwörer kannten. Saint-Just sah Robespierre ungeschickt manövrieren, zwischen den Bänken der Deputierten hin und her gejagt, er ließ sich wortlos verhaften, abführen. Er sah, ohne wirklich einzugreifen, dem Zögern Robespierres zu, der, seiner legalen Machtposition beraubt, außer Gesetz gestellt, nicht einmal wußte, in wessen Namen er einen Aufruf unterzeichnen sollte.
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Er sah zu, wie die Kanoniere, die zu ihrem Schutze sich vor dem Rathaus versammelt hatten, von keinem anderen Gegner als dem Regen zerstreut wurden. Er blieb wortlos, und nur als er, wieder verhaftet, in den Comitéraum geführt wurde, und sein Blick auf die Deklaration der Menschenrechte fiel, da brachte er den Satz hervor: »Und das habe ich gemacht.« Er starb wortlos.
Diese Männer starben widerstandslos, weil ihr Tod ihrer eigenen Logik entsprach. Sie wurden umgebracht gemäß den Prozeduren, die sie selbst ersonnen hatten, auf Grund eines Rechts, das sie selbst instituiert hatten. Ihr Todesurteil war von ihnen selbst gezeichnet gewesen. Und das wußten sie genau.
Sie hatten sehr schnell gelebt. Als den Ereignissen der Atem ausging, verloren sie für immer den ihren.
Saint-Just und seine siebzehn Genossen wurden im Friedhof von Errancis begraben, dessen Tore man eigens für sie noch einmal geöffnet hatte. Man schrieb auf das Tor, durch das ihre Leichname hineingetragen wurden, ein Wort: Dormir. Schlafen.
Sie hatten den Schlaf der Welt aufgestört und die Erweckten vom Glück zu träumen gelehrt.
Heute, hundertfünfzig Jahre später, ist die Idee vom Glück noch immer neu und unwirklich. Die Welt wird ihren Schlaf nicht finden, solange sie das Glück nicht gefunden haben wird, für das jene Männer kämpften, töteten und starben. Und diese Idee vom Glück ist es, deren Unbesiegbarkeit die Unsterblichkeit von Männern wie Marat, Danton, Desmoulins, Robespierre, Saint-Just ausmacht. Sie starben unsterblich.
Wenig vermögen wir aus der Geschichte zu lernen. Wir sind schlechte Schüler. Doch vermöchten wir an dem Beispiel dieser Männer Erfahrungen zu gewinnen, so würden wir, selber vielleicht am Vorabend einer Revolution, einander zuschwören: Laßt uns einig sein, unsere Uneinigkeit ist die größte Chance für den Feind. Wir werden einander vielleicht trotz dieser Einsicht bekämpfen, doch bewahren wir uns vor den Fehlern dieser Männer. Überschreiten wir niemals die Blutgrenze. Benutzen wir den Tod nicht als Argument, hüten wir uns davor, die Mörder unserer Brüder zu werden, wir würden damit Selbstmörder und Mörder der Revolution.
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