Ende und Anfang
(6. Oktober 1939)
Notizen eines Radiohörers
126-131
Die Platte war zu Ende, das Sieg-Heil!-Gebrüll »seiner deutschen Männer« hatten wir nun auch hinter uns. Hitler hatte sein Reich wohl bestellt: Wenn ihm etwas zustoßen sollte, dann ..., wenn Göring etwas zustoßen sollte, dann ... Nun folgten Militärmärsche.
Wir stellten auf einen französischen Sender ein. An diesem Tage — die Deutschen waren in Polen eingebrochen, hier waren die allgemeine Mobilisierung und der Belagerungszustand ausgerufen — spielten die französischen Sender fast die ganze Zeit Konzerte von Händel und Bach.
Es gab nichts mehr zu sagen. Wir hörten zu, als könnte es das letzte Mal sein, daß wir diese Töne hörten. Die Türme von Notre-Dame waren in der Luft dieses Altweibersommers ganz nahe gerückt.
H. begann mir von einer Diskussion mit einem Stalinisten zu berichten. Ich mochte nicht hinhören. Nun war alles klar, nun mußte es auch denen klar sein, denen der Vertrag vom 23. August noch nicht eindeutig genug gewesen war.
Die Katastrophe war zu verhindern gewesen. Stalin hatte im entscheidenden Moment genau das getan, was den Krieg geradezu unvermeidlich machen mußte. Was sollten noch die Diskussionen, nun, da man sich nicht mehr im Bereiche bestreitbarer Interpretationen bewegte, nun, da Tatsachen geschaffen waren. — Der deutsche Sender gibt eine ausführliche Schilderung der Begeisterungskundgebungen, mit denen der Oberste Sowjet die Ratifikation des Hitler-Stalin-Paktes begleitet hat.
Es wird allgemach schwer, den deutschen Sender vom Moskauer zu unterscheiden. Beide geben die Rede Molotows wörtlich wieder. Der deutsche Arbeiter hört dieses infame Geschwätz des folgsamen Molotow, er hat am Vormittag Hitler sagen hören, daß er Molotows Rede »Wort für Wort unterschreiben« kann.
In welch heillose Verwirrung ist das deutsche Proletariat gestürzt! Die deutschen Kommunisten, der kampfbereiteste, opferfreudigste Teil der deutschen Arbeiterschaft, sind desorientiert, ihre revolutionäre Kraft ist bis auf weiteres gelähmt. Die Folgen werden ungeheuerlich sein.
— Nun sprechen die englischen und französischen Sender offen gegen Hitler. Es wäre leicht nachzuweisen, daß wir alles, was sie ihm heute vorwerfen, seit 1936 vorausgesagt, daß wir vor all dem Grauenhaften, das nun gekommen ist, immer wieder gewarnt haben. Erfolglos! Daß man von elend Geschlagenen nicht lernen mag, ist verständlich. Doch hätte man an uns lernen können. Hitler hat immer nach gleichem Schema gehandelt. Die Mischung von Demagogie und Terror ist stets die gleiche in seiner Innen- und in seiner Außenpolitik gewesen. Wir haben in Deutschland seinen Sieg nicht zu verhindern vermocht, wir haben - in der Emigration — vor ihm wirksam zu warnen nicht vermocht. Man erleidet nicht unverdient so viele Niederlagen. Daß sie alle sehr wenig wiegen werden gegenüber dem Schlag, den Herr Stalin dem revolutionären Proletariat und der deutschen Arbeiterklasse im besondern zugefügt hat, ist schon heute gewiß. Doch welche Schuld tragen wir auch daran, daß diese Täuschung so gut gelang.
127
— X. wundert sich, daß ich mich freiwillig melde. Er meint, man müßte sich doch aufbewahren, man werde Köpfe brauchen usw. Gewiß, gewiß, mein Freund, aber auf Köpfe, die sich so getäuscht haben wie die unseren, sollte man nicht so stolz sein. Es gibt unter uns zu viele, die glauben, daß Niederlagen ohne Folgen bleiben, wenn man sie verleugnet, wenn man sich davor drückt, die Verantwortlichkeit für sie zu tragen. In jener Nacht des 23. August, da Hitler und Stalin ihre Freundschaft schlössen, haben wir eine Niederlage erlitten, die im Schützengraben zu büßen noch die angemessenste Sühne wäre.
— Die deutschen Sendungen der englischen und französischen Sender sind recht gut gemacht. Sehr spät beginnt man, zum deutschen Volke zu sprechen. Man sagt ihm, daß nicht ihm, sondern seiner Regierung der Kampf auf Leben und Tod gelte.
Das genügt nicht. Die Wahrheit ist umfassender, man kann sie gar nicht oft und klar genug den Deutschen sagen. Sie lautet:
»Wenn ihr sehr bald dem Krieg ein Ende macht, das heißt, die Nazis zum Teufel jagt und euch zu möglichen Partnern von Friedensverhandlungen macht, dann werdet ihr Deutschland vor der Vernichtung gerettet haben. Dann wird es möglich sein, die im Moment noch gültige Unterscheidung zwischen Volk und Tyrannei zu praktizieren. Aber 1918 darf sich nicht mehr wiederholen. Damals ging der Kaiser nach der militärischen Niederlage. Stürzt ihr Hitler erst nach der Niederlage, nachdem ihr zuvor Millionen von Franzosen und Engländern habt sterben lassen, die nichts als ein Leben in Frieden gewollt hatten, dann wird es keinen Franzosen und diesmal auch keinen Engländer geben, der aus Vertrauen in eure Versprechungen die Waffe aus der Hand legen wird, dann wird das Deutsche Reich aufhören zu bestehen und es wird dem Deutschland nach dem Dreißigjährigen Kriege ähnlicher sein als dem von 1919. Beendet schnell den Krieg! Wenn es erst unsere Waffen sein werden, die Hitler beseitigen und so eure Separation von ihm erzwingen, dann wird es für euch und eure Unschuldsbeteuerungen zu spät sein!«
128/129
Das ist die Wahrheit. So müßte man zu den Deutschen sprechen — ohne Sentimentalität, doch mit dem einzigen Argument, das jetzt allein noch verstanden werden kann: dem der Macht. Das deutsche Volk, das nicht die Macht aufgebracht haben wird, rechtzeitig seine Tyrannei zu schlagen, wird keine Macht und keinerlei Anspruch mehr haben.
— Seit heute fünf Uhr nachmittags ist der Krieg zum Zustande geworden, der nun alles beherrschen wird. Abends suche ich den Moskauer Sender. Er gibt ohne Kommentare und »unparteiisch« die Nachrichten aus aller Welt wieder. Das Hauptthema der Sendung von heute ist der Entwicklung der Stadt Kasan gewidmet. Der deutsche, der französische und der englische Arbeiter erfahren, was für ein gewaltiger Sieg in Kasan mit der Errichtung einer neuen Straßenbahnlinie errungen worden ist. Ich höre mir das an, nicht weil ich denke, dieser Speaker mit dem allzu preußischen Akzent werde es plötzlich selber nicht mehr aushalten und von anderem, vom Entscheidenden zu sprechen beginnen.
Ich höre es mir an, weil das Gesetz der Desillusionierung lautet: Solange dir eine Enttäuschung wehe tut, ist sie nicht vollendet. Illusionen müssen so gründlich zerstört werden, daß nichts, auch keines der Gefühle, die sie begleitet haben, übrigbleibt.
B., der diese Sendung entsetzt und tief angewidert mitanhört, fragt, wie es psychologisch zu erklären sei, daß sich auch jetzt noch anständige und nicht gerade dumme Leute fänden, die Stalin verteidigen, ja -ihm treu bleiben können.
Das letzte Argument dieser Leute ist ihr Glaube, ihr Vertrauen zu ihrem Führer, dem Vater der Völker usw. Wir hatten es nicht recht beachtet, weil nicht beachten wollen: Ein neuer Typ von Kommunist - war in den letzten Jahren hochgekommen.
Er hatte das Gesetz der Demut bedingungslos angenommen und es revolutionäre Disziplin genannt. Er verzichtete auf seine Denkfähigkeit, die Demut trat an die Stelle der Kritik, er hatte seinen Teufel- und Hexenglauben, und er hatte seinen Heiland. Keiner der Charakterzüge, die durch die Jahrtausende menschlicher Geschichte dem Revolutionär eigen gewesen und ihn eben zum Revolutionär gemacht hatten, durfte ihm eigen sein.
Der Stalinist, den man fortab aufs schärfste vom Revolutionär zu unterscheiden haben wird, hat die Charakterzüge, die man bei den gläubigen, aufrichtigen Nazis, in der Hitlerjugend zum Beispiel, so häufig antraf. Sie argumentieren beide durchaus ähnlich. Nun ist alles klar. Die Prozesse sind neu aufgerollt, die Ankläger sind die Angeklagten. Der Stalinismus ist als ein Neo-Faschismus, der Stalinist als ein Neofaschist entlarvt. Diese Neofaschisten machen »kühne Wendungen«, doch haben sie nicht einen Deut Mut, wenn es gilt, sich Befehlen entgegenzusetzen, deren Befolgung ihre ganze bisherige Existenz aufs jämmerlichste desavouiert. Sie wenden sich leicht, doch lernen sie nichts. Sie schreiben Artikel, indem sie Zitate »des größten Genies der Epoche« zusammenstellen und um sie herum Worte von gleicher Ledernheit gruppieren. Sie haben keine eigenen Meinungen, doch die unverminderbare Bereitschaft, jede ihnen befohlene Meinung mit allem Aufwande einer niveaulosen Sophistik, die sie für Dialektik ausgeben, zu begründen.
Gestern schworen sie auf das Prinzip der kollektiven Sicherheit. Kein Weg zu einer bürgerlichen Polizei wäre ihnen zu beschwerlich gewesen, um einen, der auf dem Standpunkt des Klassenkampfes beharrte, als Gestapoagenten zu denunzieren. Der Frieden war für sie unteilbar, bis es sich erwies, daß Stalin an ihm kein Interesse mehr hatte.
Diese Verräter ihrer Ideen halten sich für treu, weil sie dem größten Verräter die Treue halten.
Die revolutionäre Arbeiterbewegung haben sie vorderhand vernichtet. Doch wird ihr Triumph von kurzer Dauer sein. Die russische Hypothek auf die Arbeiterbewegung gibt es nicht mehr, das gräßliche Ende, das wir erlebt haben, war notwendig, damit ein neuer Anfang gemacht werde.
130-131
#