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 Das Bündnis 

27. Oktober und 17. November 1939

 

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Um die Gründe und Hintergründe eines modernen Krieges gab es sonst stets ein schwer durchdringliches Geheimnis, dessen Lüftung zu spät erfolgte. Die Überlebenden erfuhren so zu spät, wofür sie Unsagbares erlitten und wofür die Toten hatten sterben müssen.

Doch der Krieg, dessen Anfang wir jetzt schaudernd erleben, setzte auch in dieser Hinsicht anders als andere ein: Er begann mit der Lüftung eines Geheimnisses, dessen Inhalt für die meisten so überraschend kam, daß erst eine geraume Zeit vergehen mußte, bis das schier Unfaßbare faßbar wurde.

Denn in der Tat hat die Verständigung zwischen Stalin und Hitler alle, besonders aber die vielen Millionen ihrer respektiven Anhänger so unvorbereitet gefunden, daß sie, obschon unzweideutige Tatsachen geschaffen waren, doch noch zu hoffen wagten, es würde hinter diesem Geheimnisse ein anderes hervorgucken — »weil doch nicht sein kann, was nicht sein darf«.

Das Hitlerische Deutschland und das Stalinsche Rußland hatten weit über ihre Grenzen hinaus ergebene Anhänger gewonnen, die in ihnen Vorkämpfer übernationaler Ideen sahen. Die »Fünfte Kolonne« Hitlers war bereit, ihm vieles zu verzeihen und fast alles zu erlauben, weil sie in ihm den Gottfried von Bouillon ihres Kreuzzuges gegen den Bolschewismus gefunden zu haben glaubte.

wikipedia  Gottfried_von_Bouillon 1060-1100

Das Stalinsche Rußland seinerseits hatte in den letzten Jahren bis weit in demokratische Kreise die Überzeugung verpflanzt, daß es entschlossen sei, den Kampf gegen Hitler bis zu seiner endgültigen Vernichtung zu führen, daß es Vorkämpfer für die nationale und die persönliche Freiheit sei.

Mochte es auch bis zuletzt fraglich erscheinen, ob und wann es zu der großen Auseinandersetzung kommen würde, gewiß schien, die beiden Staaten würden sich in feindlichen Lagern befinden. Nun diese Gewißheit zerstoben ist, als wäre sie die dümmste aller Illusionen gewesen, gilt es, die Begriffe zu überprüfen, die Meinungen zu revidieren, die auf dem Grunde dieser falschen Gewißheit gewesen waren, und einen Standort zu finden, der nicht wie der alte wieder zum Ausgangspunkte einer Katastrophe würde.

Hier seien im wesentlichen zwei Fragen, die Hälften einer Frage erwogen: 1. Warum und wozu hat sich Hitler mit Stalin verbunden? und 2. Warum und wozu hat sich Stalin mit Hitler verbunden?

 

1.  Warum hat sich Hitler mit Stalin verbunden?

Dem aufmerksamen Leser dieser Blätter wird die Beantwortung dieser Frage nicht allzu schwierig erscheinen. Ihm ist hier oft und beweiskräftig dargetan worden, daß der sogenannte deutsche Nationalsozialismus die Neuauflage des — zu spät gekommenen und darum brutal aggressiven deutschen Imperialismus ist, der vor zwanzig Jahren von den Westmächten geschlagen, aber vom deutschen Volke nicht vernichtet worden ist. Er war aus einer halben und darum erfolglosen Revolution als hoffnungsvolle, ja siegessichere Konterrevolution hervorgegangen. Zur Macht gekommen, hat der Nationalsozialismus viele Versprechen gebrochen, viele Hoffnungen, die er erweckt hatte, enttäuscht, in einem hat er nicht enttäuscht:

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die Aufrüstung Deutschlands, die Unterordnung aller Zweige des nationalen Lebens gegenüber den Notwendigkeiten der imperialistischen Politik, die schrittweise Expansion — das alles hat Hitler geleistet. Vernichtete er alle Parteien, errichtete er die totale Diktatur, so geschah es natürlich zur Sicherung seiner Macht, aber dies bedeutete gleichzeitig und wesentlich die Sicherung des Staates als einer gigantischen Kriegsmaschinerie, ohne die die letzten »großen Entscheidungen« nicht gewagt werden durften.

Innenpolitisch war sein Antidemokratismus nicht weniger wirksam als sein Antikommunismus.

Außenpolitisch diente der Antikommunismus als Rechtfertigung der ungeheuerlichen Brutalität, mit der das tyrannische Regime die Ausrottung aller seiner Gegner, auch der demokratischen und religiösen, betrieb. Doch — und dies wird allzuhäufig vergessen — war der Antikommunismus anfangs keine außenpolitische Konzeption. Sie wurde es — dies läßt sich genau bestimmen — in dem Augenblicke, als Frankreich und die Sowjetunion die ersten Schritte zur gegenseitigen Verständigung unternahmen und als die Sowjetunion ihre Stellung zum Völkerbund vollkommen änderte.

Der Drang nach dem Osten? Es galt, mit dem Anfang anzufangen, das heißt ein deutsches Mitteleuropa zu schaffen. Dem stand Frankreich, der »Erbfeind«, im Wege. Frankreich schwächen, hieß a) seine Positionen in Mittel- und Südosteuropa zerstören und damit vorerst die deutsch-österreichischen Ausgangspositionen von 1914 wiederherstellen, b) das Bündnis zwischen dem so geschwächten Frankreich und Großbritannien sprengen und damit freie Hand auf dem Kontinent erhalten.

Nun, das Bündnis zwischen Frankreich und Rußland stellte die für den deutschen Imperialismus stets unerträglich gewesene Zange dar, die im Kriegsfalle zur sicheren Niederlage führen mußte. Mit dieser Gefahr begründete übrigens Hitler die Remilitarisierung der Rheinzone und den damit verbundenen Bruch des Locarnopaktes, zu dem er sich vorher ausdrücklich bekannt hatte.

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Der Antikominternpakt hat keinen verständigen Beobachter der Außenpolitik jemals täuschen können. War er, von Japan aus gesehen, in jedem Falle gegen Rußland gerichtet, so war er für Deutschland ein Instrument im Kampfe gegen die Demokratien. Der Antikommunismus hatte propagandistische Bedeutung, es ging darum, in den demokratischen Ländern selbst wirksame Unterstützung bei der Sprengung der russisch-französischen Ost-West-Achse zu erlangen. Sollte diese Sprengung erfolgen, damit Deutschland den Weg in die Ukraine bekäme? Kaum, jedenfalls nicht in erster Reihe! Es ging ja zweifellos darum, mögliche oder tatsächliche Verbündete Frankreichs zu vernichten.

Das Spiel, das da die kapitalistisch-totalitären Staaten mit ihren Anhängern in den demokratischen Ländern begannen, war von einer unwahrscheinlichen Kühnheit. War der Einsatz — in Spanien — auch hoch, so waren die Aussichten in höchstem Maße verlockend.

Man könnte fragen: Welche Hoffnungen konnte Hitler auf ein totalitäres Regime zum Beispiel in Frankreich setzen? Hätte solch ein Regime nicht extrem-imperialistische und damit Hitler wenig genehme Ziele vertreten? Enthält der Begriff der »faschistischen Internationale« nicht einen wesensbedingten, unauflösbaren Widerspruch? Nun, Hitler rechnete vor allem auf einen langwierigen Bürgerkrieg in Frankreich, der dieses Land für eine lange Zeit außerordentlich geschwächt hätte, und darauf, daß die aus diesem langwierigen Bürgerkriege siegreich hervorgegangene hitleristische Regierung noch sehr lange Zeit der Hilfe des Naziregimes in Deutschland bedurft hätte. Ferner durfte er dann auf eine Zerstörung der französisch-englischen Freundschaft rechnen.

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Hitler verrechnete sich mehrfach. Der spanische Bürgerkrieg griff nicht auf Frankreich über; bedeutende Teile der herrschenden Schichten schraken doch vor dem totalitären Abenteuer zurück, ja ließen die allzu exponierten Agenten der Totalitären öffentlich fallen und entschieden sich für eine Politik, die der Geschichte und den Traditionen dieses Landes gemäßer ist.

Spätestens im April 1939 mußte Hitler die Gewißheit erlangt haben, daß das große »Antikomintern«-Manöver gegen Frankreich und England mißlungen war.

Auch das zweite Ziel war verfehlt: England war nicht von Frankreich getrennt worden, im Gegenteil schickte es sich an, eine höchst aktive Kontinentalpolitik zu betreiben. Hitler aber wußte, daß Deutschland in einem Kriege gegen eine englisch-französische Allianz von Anbeginn verloren war, wenn es nicht geläng, die Ostgrenze zu befrieden.

Wir wissen nicht, wann die deutsch-russischen Verhandlungen begonnen haben. Sie mögen im Januar oder Februar dieses Jahres eingesetzt haben, gewiß ist, daß Hitler von April an dringendst wünschen mußte, mit Rußland zu einer Verständigung zu kommen. War es ihm nicht gelungen, die Ost-West-Achse im Westen zu brechen, so mußte er es im Osten versuchen. Daß er diese gut bismarcksche Politik versuchte, ist nicht überraschend, erstaunlich ist aber nur, daß es ihm gelang.

Am Tage der Ratifikation des deutsch-russischen Freundschaftspaktes hatte Hitler erreicht: 1. die Möglichkeit, in Polen einen Blitzkrieg zu führen und schnell zu siegen, 2. die Komplizität der Armee eines Hundertsiebzig-Millionen-Staates, die er somit vorläufig nicht zu fürchten brauchte, 3. die Möglichkeit von Friedensmanövern, die ihn im Westen vom würgenden Druck befreien sollten. Dieses letzte ist ihm nicht gelungen.

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So wird angesichts der Entschlossenheit der Demokratien umso sichtbarer, wie verloren Hitler gewesen wäre, hätte Rußland sich statt auf seine Seite auf die der Demokratien gestellt.

Es gibt viele, die sagen, Hitler hätte mit dem Abschlüsse seines Paktes mit Rußland, den größten Fehler seines Lebens begangen. Wir teilen diese Ansicht keineswegs. Er hat seine Antikomintern-Verbündeten dadurch verloren? — Sein Bündnis mit Japan hatte nur Wert, wenn er gegen Rußland ziehen mußte. Sofern Deutschland im Fernen Osten Interessen hat, sind sie — wie die aller europäischen Staaten — eher im Gegensatz zu den japanischen. Verzichtete Rußland vorerst auf das Bündnis mit dem Westen, hatte Deutschland allen Grund, vorerst auf das Bündnis mit Japan zu verzichten. — Italien? Aus naheliegenden Gründen sehen wir davon ab, die Rolle Italiens näher zu erörtern. Gewiß ist, daß Hitler Mussolinis vor seiner Verständigung mit Moskau nicht sicherer gewesen ist als jetzt.

Hitler hat Sympathien bei der westlichen Bourgeoisie verloren? Er verzichtete auf sie, da es sich erwies, daß sie nicht ausreichend waren, die Westmächte zu einem neuen München zu bestimmen.

Wenn aber die Neutralität Rußlands nicht lange vorhält, wenn sie nur ein Jahr vorhält? Dann hat Hitler ein Jahr gewonnen, das er zum Manövrieren ausnutzen kann, indes das feindliche Eingreifen der Roten Armee ihm binnen eines Monats tödlich hätte werden können.

Inzwischen hat er dank Stalin hundertfünfundachtzigtausend Quadratkilometer fremden Bodens gewonnen. Er hat auf den Drang nach dem Osten verzichtet? Dummköpfe, wo liegen denn diese eroberten Gebiete, im Monde oder im Westen? Er hat so den Krieg, den er im Westen verlieren muß, mit einem Siege im Osten begonnen.

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Mit einem Siege, von dem er hoffte, er würde ihm eben den Krieg im Westen ersparen können. Er hat sich anscheinend getäuscht. Doch konnte er nicht zurück — unsere Leser, die die in diesen Blättern veröffentlichten Darstellungen der wirtschaftlichen Lage Deutschlands verfolgt haben, werden verstehen, warum Hitler nicht zurückkonnte.

Ja, aber Hitler mußte Rußland nach Polen hineinlassen? Gewiß, das ermöglichte ihm, den polnischen Feldzug in einer Rekordzeit zu beenden, was eine entscheidende , Voraussetzung seiner Friedensoffensive war. Er erkaufte sich überdies eine Komplizität, die im Falle, daß der Krieg im Westen sich nicht vermeiden läßt, unendlich wertvoller ist als die wolhynischen Sümpfe. Ja, aber die ostgalizischen Petroleumgruben? Er hat das Nutzungsrecht. Hätte er es nicht, er ist ihnen jedenfalls näher, als er es vorher gewesen.

Aber er hat auf das Baltikum verzichtet?

Aber im Falle einer kommenden Auseinandersetzung mit Rußland hat er eine schlechtere Ausgangssituation als vorher?

Im Jahre 1914 hatte Rußland das ganze Baltikum, ganz Polen (ausschließlich Galizien). Heute hat Deutschland fast alle österreichischen Positionen und überdies das ganze polnische Industriegebiet, Deutschlands Grenzen sind zum Bug vorgeschoben. Ostpreußen ist heute gegen einen russischen Einfall besser geschützt als vorher, das zeigt ein Blick auf die neue Landkarte.

Welche Vorteile, die es besessen hätte, hat Deutschland geopfert? Gar keine, doch was hat es alles bekommen! Geopfert wurde nur das Bündnis mit Japan, das jederzeit zu haben sein wird, wenn es einmal gegen Rußland geht.

Hitler hat dem Bolschewismus den Weg nach Berlin geebnet — schreiben die reaktionärsten Zeitungen Europas, als ob sie im Dienste der stalinistischen Propaganda wären. Und manche ernsthaften deutschen Hitlergegner wiederholen es.

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Falsch! Vorerst hat Stalin dem Hitler zum ersten großen Siege über die deutschen Kommunisten verholfen. Wo ist die Stellungnahme der K.P.D, zu diesem Kriege? Will man sie kennen, so höre man die deutschen Sendungen aus Moskau und man wird verstehen, daß die deutschen Stalinisten aufgehört haben, eine Oppositionspartei zu sein. Hitler hat sie heute weniger zu fürchten als je.

Ja, aber später? Es gibt zwei Perspektiven: 1. Hitler siegt. Dann hat der Nationalsozialismus freies Spiel, an der Spree, an der Weichsel und bald auch an der Newa und an der Moskwa; 2. Hitler wird besiegt, dann wird das Schicksal Deutschlands von den Siegern bestimmt. Wir glauben an die zweite Möglichkeit. Und daß sie nicht den Sieg des Stalinismus in Deutschland mit sich bringen wird, braucht nicht bewiesen zu werden. Eine deutsche kommunistische Partei, die nicht bis zum letzten Einsatz gegen den Krieg und seinen Hauptschuldigen gekämpft haben wird, wird weniger Einfluß besitzen, als sie jemals in Deutschland besessen hat.

Im übrigen hat natürlich die Frage, was nach seinem Sturze würde, Hitler gewiß am wenigsten beunruhigt. Er konnte nur eines tun, auf die Kapitulation der Westmächte rechnen, alles darauf setzen und sie durch das Bündnis mit Rußland herbeizuführen versuchen. Er hat sich verrechnet. Er wird zugrunde gehen und Deutschland mit sich in den Abgrund stürzen. Das russische Bündnis war die letzte Möglichkeit, glaubte er, ihn davor zu bewahren. Also hatte er allen Grund, es zu suchen.

Doch welchen Grund hatte das Stalinsche Rußland, ihm diese Hilfe zu gewähren? Diese Frage ist ungleich schwieriger zu beantworten als die erste Frage.

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2  Warum hat sich Stalin mit Hitler verbunden? 

Als sich die Oktoberrevolution in dem berühmten Funkspruch »An alle!« für die sofortige Beendigung des damaligen Krieges und die Beseitigung seiner Ursachen einsetzte, war eine neue Tatsache geschaffen.

Damit galt der russische Imperialismus als endgültig erledigt. Man suchte von da ab ideologisch-revolutionäre Gründe, wollte man die Außen- wie die Innenpolitik Rußlands begreifen.

Seit dem 22. August dieses Jahres gibt es wieder das alte russische Imperium. Wer dessen Politik verstehen will, wird die gleichen Voraussetzungen gelten lassen müssen, die für die Politik anderer Länder gelten.

Somit war der Weg von der Oktoberrevolution bis zu jener Sitzung des Obersten Sowjets, in der Molotow zur Begründung des deutsch-russischen Vertrags erklärte, daß die Außenpolitik der Sowjetunion »durch das Interesse der Sowjetvölker und durch dieses allein bestimmt würde«, somit war, was in den zweiundzwanzig Jahren seither geschehen war, an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt. Millionen hatten ihrem Leben und ihrem Kampf um eine bessere Ordnung einen Sinn zu geben versucht durch den Glauben, die Entwicklung dieser zweiundzwanzig Jahre sei der kühnste und weiteste Vorstoß in der Richtung des wahren Sozialismus gewesen.

Die Sowjetunion hatte zwischen zwei Wegen zu wählen. Sie konnte sich für eine Politik der Neutralität, der Unterstützung des Klassenkampfes in der ganzen Welt und der Bekämpfung jeder Art von Krieg zwischen anderen Mächten entscheiden. Diese Politik lehnte sie seit dem Jahre 1935 so scharf ab, daß als Gestapo-Agent, trotzkistischer Bandit und dergleichen bezeichnet wurde, wer derartige Gedanken zu äußern wagte.

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Der zweite Weg — und für diesen hatte sich die Sowjetunion entschieden — sollte zum Bündnis mit den demokratischen Staaten gegen Hitler führen. Diese Politik bedingte eine immer größere Annäherung an die demokratische Arbeiterbewegung der ganzen Welt und die Einsetzung aller Kräfte in diesem einen Kampf: gegen den totalitären Kapitalismus, besonders aber gegen das Hitlerregime, seine Innen- wie seine Außenpolitik.

Im entscheidenden Moment, als der Sowjetunion die Aufgabe zufiel, durch die Drohung ihres Einsatzes einen Weltkrieg zu verhindern, entschied sich das Stalin-sche Regime für einen dritten Weg, für eine Politik des Bündnisses mit Hitler-Deutschland, für die Ausrichtung der Komintern auf den Kampf gegen die Demokratien und auf die Unterstützung der Hitlerschen Außenpolitik und damit für die vollkommene und irreparable Zerstörung der sich anbahnenden Einheit der Weltarbeiterbewegung.

Untersuchen wir vorerst diese neue Außenpolitik und die Vorteile, die dem russischen Imperium aus ihr erwachsen. Indem Rußland aus der Friedensfront ausbrach und mit dem von ihr millionenfach denunzierten »Angreifer« Freundschaft schloß, gewann es: die weißrussischen und ukrainischen Gebiete Polens, sowie die Vorherrschaft im Baltikum, die gesamten Schlüsselpositionen am östlichen Teil der Ostsee. Rußland entzog sich damit der gefährlichen Umklammerung, die ein japanisch-deutscher Angriff bedeutet hätte. Es sicherte sich die Vorteile einer Neutralität, deren Aufrechterhaltung allein in sein Belieben gestellt scheint. Hätte Stalin hingegen den Pakt mit den Westmächten geschlossen, so hätte Rußland aktiv eingreifen müssen. Landgewinn war kaum zu erwarten.

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Die deutsche Drohung wäre allerdings für lange Zeit, wenn nicht für immer, erledigt gewesen und damit auch die japanische Gefahr.

Die Nachteile, die Rußland aus seiner neuen Außenpolitik erwachsen können, sind im Augenblick nicht abzusehen. Sie wären sofort fühlbar geworden, hätten die Westmächte kapituliert.

Rußland hätte dann nicht die neuen baltischen Positionen bekommen, wahrscheinlich auch nicht den westlichen Teil Ostgaliziens mit den Ölgruben, es hätte, aller Sympathien im Westen beraubt, wenige Monate nach dem Einmarsch in Polen einem wieder dem Osten zugewandten, mit Japan wieder verbündeten, sehr gestärkten Deutschland gegenübergestanden. Aber Rußland rechnete mit der Entschlossenheit der Westmächte, den Krieg durchzuführen. Doch auch in der gegenwärtigen Situation steht Rußland unter »Zugzwang«. Es ist vielleicht gezwungen, Deutschland zu erlauben, nach dem Südosten vorzudringen, und damit selbst an den zukünftigen Raubzügen teilzunehmen. Es stehen uns wahrscheinlich bedeutende Überraschungen bevor, aus denen Rußland vielleicht vergrößert, aber für die Zukunft gefährdeter als je hervorgehen wird. Jedenfalls gewinnt es gegenwärtig und trotz allem, was gesagt werden mag, weniger auf Kosten Deutschlands als auf Kosten anderer Staaten, deren Unversehrtheit schützen zu wollen Rußland bis zum 22. August vorgegeben hatte.

Ginge es also hier um eine Diskussion über die Außenpolitik des russischen Reiches, so könnte man natürlich die Methoden, die seine Diplomaten angewandt haben, aufs schärfste kritisieren, doch wäre solche Kritik letztlich so belanglos wie alle moralische Kritik, die ein Recht ohne Macht verteidigt.

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Doch geht es darum, verständlich zu machen, wie aus dem Verband der Sozialistischen Räte-Republiken wieder das expansionistische Groß-Rußland geworden ist, zu erklären, warum Stalin den voraussichtlich irreparablen Bruch mit der außerrussischen Arbeiterbewegung herbeigeführt hat.

Die Führer der Oktoberrevolution hatten ihre Tat gewagt, weil sie überzeugt gewesen, daß das westliche Proletariat ihnen am Kriegsende nachfolgen und so das rückständige Rußland seine Revolution in einem Bündnis mit den Revolutionen fortgeschrittener Länder sichern würde. Lenin hatte die Überzeugung, daß der Reformismus, durch diesen Krieg bis auf die Knochen kompromittiert, erledigt wäre, daß es allein darum ginge, das in seinem Wesen revolutionäre Proletariat von seinen reformistischen Führern loszulösen! Das konnte, schien es, nicht schwer sein! Das deutsche Proletariat enttäuschte diese Hoffnungen, das Proletariat der anderen Länder spaltete sich zwar, doch hatte diese Spaltung keineswegs ein rapides Wachstum der revolutionären Massenbewegung zur Folge. Im Gegenteil verloren mit der Zeit die kommunistischen Parteien auch dort, wo sie ursprünglich majoritär gewesen waren, die Majorität. Diese behauptete fortab überall die Sozialdemokratie, deren Manövriermöglichkeiten durch eine ultralinke massenfremde Politik der Kommunisten fortgesetzt vergrößert wurden.

Alle Hoffnung war auf die richtig vorausgesehene Weltwirtschaftskrise gesetzt. Diese Krise gab dem kapitalistischen Totalitarismus einen ungeahnten Aulschwung und brachte ihn in Deutschland zur Macht. Doch fuhr die Komintern fort, in der Sozialdemokratie den Hauptfeind zu bekämpfen, den Unterschied zwischen dem demokratischen und totalitären Kapitalismus zu vernachlässigen, somit also die Demokratie und ihre Anhänger in der Arbeiterbewegung zu bekämpfen.

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In dieser selben Zeit betrieb die Sowjetunion eine revisionistische Außenpolitik, die im wesentlichen gegen den Völkerbund und seine Exponenten gerichtet var. Doch in dem Ausmaß, als die Gefahr einer Verständigung der »vier Mächte« und somit die Bedrohung Rußlands durch Deutschland immer größer wurde, änderte Rußland seine Politik gegenüber den Demokratien und dem Völkerbund und fand Entgegenkommen. Gleichzeitig begann die Komintern ihre Politik zu ändern und im Sommer 1935 - spät genug - schlug sie den demokratischen Kurs ein. Damit war ein entscheidender Schritt zur Harmonisierung der Interessen der Sowjetunion mit denen der vom Totalitaris-mus aufs schwerste bedrohten und in der Majorität demokratisch gebliebenen Arbeiterbewegung der anderen Länder ermöglicht. Diese Politik, die die Isolierung der Kommunisten innerhalb der Arbeiterklasse aufhob, verwandelte manche Kominternsektionen aus deklamatorischen Sekten, die sie bis dahin gewesen waren, in aktionsfähige politische Parteien.

Die kommunistischen Parteien bekannten sich überall zur Verteidigung der Demokratie, beziehungsweise — in Deutschland — zum Kampf um ihre Wiederaufrichtung. Sie traten entschieden für die Landesverteidigung gegen die totalitär-kapitalistischen Staaten ein — kurz, sie paßten sich dem Wesen der westlichen Arbeiterklasse an. Von da aus allein ist auch ihr verhältnismäßig großer Erfolg — zum Beispiel in Frankreich — zu verstehen. Es schien, daß die Kommunisten fest entschlossen seien, die Einheit der Arbeiterbewegung wiederherzustellen.

Zwei Ereignisse klärten die jetzigen Führer Rußlands darüber auf, diese Einheit könne niemals bedeuten, daß die europäische Arbeiterbewegung souverän von Moskau aus lenkbar sein würde: die Nicht­inter­ventions­politik in Spanien und die Haltung der sozialistischen Parteien, aber auch der kommunistischen Massen im Zusammenhang mit München.

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Beide Ereignisse waren für Rußland enttäuschend. Es erwies sich, daß eine scheinbar so starke kommunist­ische Partei, wie es die französische war, nicht in der Lage war, wirksam einzugreifen, es erwies sich, daß die Methode der plötzlichen Wendungen, im totalitären Staate vielleicht durchführbar, am demokratischen Charakter der westlichen Arbeitermassen scheitern müßte.

»Ein Maschinengewehr in der Hand eines Rotarmisten ist für die Verteidigung der Sowjetunion wichtiger als das ganze westeuropäische Proletariat« — als diese Überzeugung für die Stalinleute zur Gewißheit geworden war, schien es ihnen an der Zeit, eine Politik zu wählen, die durch keine Rücksicht auf das Weltproletariat mehr gehemmt war. Daß sie trotzdem monatelang die alte Politik fortsetzten, beziehungs­weise durch die kommunistischen Parteien fortsetzen ließen, war diplomatische Notwendigkeit.

Stellen wir fest, was sehr vielen unglaublich erscheinen mag:

Die Führer der kommunistischen Parteien waren ahnungslos. Sie erfuhren keinen Tag früher als andere Leute, daß ein neues Spiel gespielt wurde. Sie glaubten noch am 23. August, es handele sich um einen Nicht­angriffs­pakt ohne Bedeutung, sie glaubten nachher, es handele sich um ein Manöver, das nur für einige Tage bestimmt war. Sie erfuhren erst allmählich, daß sie nun plötzlich ihren Patriotismus durch einen hemmungslosen Defaitismus zu ersetzen hätten.

Mehr als das: Als die Russen den Pakt abschlossen, verzichteten sie auf eine weitere Kominternpolitik, sie rechneten damit, daß diese »Wendung« ihre Parteien erledigt haben würde.

Allmählich entschied man sich dann doch, weiter Kominternpolitik zu machen. Wozu? Um ein an Deutschland gegebenes Versprechen zu halten.

Die Kommunisten, die nun Hitler überschätzten, sollten »zersetzen«, die Friedensoffensive unterstützen. Man begann von Anti-Imperialismus zu sprechen, der aber somit in Wirklichkeit bis auf weiteres nur eine linke Maskierung einer aktiven pronazistischen Politik ist.

Haben die Stalinleute bewußt den Sozialismus verraten? Sie wollen wohl argumentieren: »Es gibt keine andere sozialistische Position als die Sowjetunion. Was ihr Interesse ist, ist auch das Interesse der Sozialisten. Also ist, was wir tun, wohlgetan.« Damit irren sie sich, wie sie sich immer geirrt haben, wo es um die europäische Arbeiterbewegung ging, wie sie sich geirrt haben, als sie die Sozialdemokratie zum »Zwillingsgeschwister des Faschismus« (Stalin) ernannten und daraufhin den »Hauptkampf« gegen den »Hauptfeind«, gegen die Sozialdemokratie, also gegen die überwiegende Majorität der organisierten Arbeiterschaft, eröffneten.

Genau denselben Fehler wiederholen sie jetzt im Weltmaßstab. Sie werden mit tödlicher Sicherheit das Gegenteil dessen erreichen, was ihre bornierten Sekretäre für die Zukunft voraussagen. Sie geben der bürgerlichen Demokratie einen neuen Sinn.

Sie haben wahrhafte Sozialisten heimatlos gemacht.

In einem weiteren Aufsatz wird zu untersuchen sein, ob der Totalitarismus der Sowjetunion nicht auch ein ideologischer Grund ist für das Bündnis mit dem Hitlerischen Totalitarismus. Es wird zu untersuchen sein, ob nicht die politische Herrschaftsform zwischen den beiden Systemen ein Band geschaffen hat, das unsere Grundbegriffe fraglich machen könnte. Diese Problematik wird morgen umso dringlicher sein, als die deutschen Stalinisten gezwungen sein werden, Hitler-Deutschland in eine Art sozialistisches Deutschland umzufälschen. Die deutschen Stalinisten werden die Nazifikation des Marxismus versuchen. Wir wollen uns bemühen, ihnen das unmöglich zu machen.

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