Start    Weiter

1.  Rudolf Steiner und die Anthroposophie 

    Mit Geometrie und Goethe ins Übersinnliche  

 

9-16

Rudolf Steiner begegnete schon in seinen Knabenjahren dem, was eine mittlerweile aufgewertete Grenz­wissenschaft «außer­sinnliche Wahrnehmungen» (ASW) nennt und durchaus ernstnimmt. Steiners Vater, ein aus dem niederösterreichischen Waldviertel stammender Bahnbediensteter der Donaumonarchie, lehnte dergleichen «Aberglauben» ab. Er war ein Telegrafist, stand der Kirche fern und hielt sich für einen Freigeist. Ihm und den anderen in der Familie fehlte jegliches Verständnis für jene okkulten Fähigkeiten des Erstgeborenen.

Der Knabe hatte Anlaß, die entsprechenden Gesichte für sich zu behalten als ein «Fremdling im Elternhaus», wie er später geschrieben hat. Dem 1861 im Grenznest Kraljevec, am Zusammenfluß von Mur und Dräu geborenen und katholisch getauften Rudolf Joseph Lorenz Steiner wurde durch seine mathematische Begabung und die Wünsche des Vaters, dessen Anerkennung es zu verdienen galt, der Weg zu naturwissenschaftlich-technischen Studien gewiesen — mit dem ehrgeizigen Ziel einer Ingenieur- oder Gymnasiallehrer-Laufbahn.

Noch während seiner Jahre auf der Realschule in der Wiener Neustadt — die Familie lebte mittlerweile in der Nähe von Wien — las er Immanuel Kant und bald darauf Johann Gottlieb Fichte, obwohl er bereits durch Nachhilfestunden zu seinem Lebensunterhalt beizutragen hatte. An der Technischen Hochschule in Wien belegte er ab 1879 Mathematik, Chemie und Naturgeschichte.

Nebenbei hörte er an der Universität philosophische Vorlesungen beim Aristoteles-Forscher Franz Brentano und bei Robert Zimmermann, einem Vertreter der Philosophie von Johann Friedrich Herbart. Für Herbart war die Seele eines jener letzten «einfachen Wesen», denen er unveränderliche und dauernde Eigenschaften beimaß und nach mathematischen Gesetzen beizukommen gedachte.

Das seit dem 16. Jahrhundert bekannte Wort Anthroposophie, («Weisheit vom Menschen»), das Steiner später für sein eigenes Werk voll und völlig neu in Anspruch zu nehmen begann, hörte er bei seinem Lehrer Zimmermann zum erstenmal. «Anthroposophie im Umriß» hatte dieser sein Hauptwerk genannt, eine um philosophische Logik bemühte Verbindung zwischen der Forschung über den Menschen (Anthropologie) und der mystischen Lehre von seiner Wiedervereinigung mit Gott (Theosophie).

Der für Rudolf Steiner wichtigste Lehrer und Förderer aber wurde der Goethe-Forscher Karl Julius Schröer. Er war nebenbei ein Experte deutscher Mundartdichtung aus Ungarn und hat Steiner unter anderem mit jenen Oberuferer Weihnachtsspielen bekannt gemacht, die heute zum festen musischen Repertoire der von Anthroposophen geleiteten sozialen oder kulturellen Einrichtungen gehören.

Steiners Studien liefen auf ein Wechselbad zwischen mechanistisch-naturwissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnissuche hinaus. «Den einzig möglichen Ausgangspunkt für eine wahre Erkenntnis» erkannte er schließlich «in der Tätigkeit des menschlichen Ich». Es handelte sich um einen im «metaphysischen Idealismus» von Fichte angebotenen Gedanken zur Bewußt­seins­findung. Rückblickend stellte Steiner später fest: «Daß das Ich, das selbst Geist ist, in einer Welt von Geistern lebt, war für mich unmittelbare Anschauung.»

Aus dem Studium der Philosophie Friedrich Hegels, der vom Geist als dem «sich selbst tragenden absoluten realen Wesen» gesprochen hatte, und aus dem Umgang mit höherer Mathematik bezog der junge Steiner Wegweisungen für seine Idee einer wissenschaftlich begründbaren Erkenntnis übersinnlicher geistiger Wirklichkeiten.

10


Was sich in den okkulten Wahrnehmungen seiner Knabenzeit unter fühlbarer familiärer Abneigung angemeldet hatte, wurde von ihm in wissenschaftlich abstrahierendem Denken neu erschlossen; ehrenwert nun und in vieler Hinsicht unanfechtbar.

Daneben allerdings besorgte der Student sich Wissen von einem Kräutersammler und Naturheiler namens Felix Koguzki, mit dem er häufig zusammentraf. Das waren Erkenntnisse aus einem ganz anderen Nährboden. Steiner tat da «tiefe Blicke in die Geheimnisse der Natur».

Die Begegnung mit jenem seltsam wissenden Dörfler Koguzki aus Trumau bei Wien war aber nur das Präludium für das Zusammentreffen mit einem großen anonymen Spender übersinnlicher Weisheiten bald danach. Von einem «Agenten d. M.» (des Meisters also) ist da in Steiners Notizen die Rede. Weiterführende Impulse aus einer verborgenen Geisteswelt habe der ihm vermittelt.

Derlei ließ sich für ihn mit Mathematik durchaus vereinbaren. Ohnehin erachtete der Studiosus höhere Mathematik für eine erste Stufe übersinnlicher Anschauung. Synthetische Geometrie, damals gerade aufkommend, verhalf dem Kleinbürgersohn aus Inzersdorf bei Wien bereits zu Vorstellungen über Raum und Zeit, wie sie ähnlich eines fernen Tages beim Atomphysiker Werner Heisenberg wieder auftauchen sollten. Es habe sich, schrieb Steiner, vor seiner «Seele» die Anschauung eröffnet, «daß eine Linie, die nach rechts ins Unendliche verlängert wird, von links wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkommt». Der nach rechts liegende «unendlich ferne Punkt» sei derselbe wie der «nach links liegende unendlich ferne».

Wenn so sich die Raum-Illusion in sich selber auflöste, war vielleicht «eine Vorstellung» möglich, die «durch ein Fortschreiten in die unendlich ferne Zukunft ein Zurückkommen in die Vergangenheit ideell in sich enthält». Es mutet an wie eine Rückspiegelung der zweieinhalb Jahrtausende alten Philosophie des Griechen Heraklit, für den sich die Weltvernunft in einem ewigen, Anfang und Ende vereinenden Strom des Werdens und Vergehens sowie in einem Kampf der Gegensätze und deren Harmonie verwirklichte.

11


Aus diesem ins Außersinnliche schweifenden philosophisch-mathematischen Raum-Zeit-Begriff Steiners nähren sich dessen spätere Beschreibungen von Evolution und Devolution in einem sowohl materiellen wie seelisch-geistigen Universum. Er wird zu einem Schlüssel für seine Sicht von kosmischer Entwicklung, vom Schicksal und von den Wiedergeburten des Menschen.

Dank einer Empfehlung seines Lehrers Schröer wurde Steiner, einundzwanzigjährig mit der Neuausgabe von Goethes natur­wissen­schaftlichen Schriften in Kürschners «Deutscher Nationalliteratur» und danach in der berühmten Weimarer Sophien-Ausgabe betraut. Im Gegensatz zur herrschenden Naturwissenschaft hielt er Goethes Farbenlehre für zutreffend, nicht die von Newton. Nach Steiners Erkenntnissen kamen die Farben nicht aus dem Spektrum des Lichtes, wie Isaac Newton das vorführte. Vielmehr war Licht für ihn ein außersinnliches Phänomen, «eine geistige Entität». Es brachte Farbe nur jeweils dort zur Erscheinung, wo ihm «Hindernisse seiner freien Entfaltung» entgegenstanden.

Allein die Farbenlehre Goethes versah Steiner in der von ihm besorgten Neuausgabe mit fast 1500 Kommentaren. Goethes Formenlehre und Idee von der Metamorphose der Urpflanze eröffneten ihm einen Ausweg zu qualitativer, wahrhaft ganzheitlicher Naturbetrachtung. Damit hoffte er die alle Weltbilder zerstückelnde atomistische Naturwissenschaft im Gefolge Descartes' und Newtons spirituell neu zu beatmen. Mit den Gedanken Goethes, der die intuitive Art der eigenen Erkenntnis wohlweislich nicht einem selbstbeobachtenden Denken hatte aussetzen wollen, verfuhr Steiner freizügig. Er wollte daraus ein auch auf die letzten Schlüssel-Geheimnisse des Daseins und des Universums durchdringendes Erkenntnis-System herleiten und dieses einer Erneuerung von Wissenschaft und Kultur, einer Neuvermählung von Philosophie und Naturforschung dienstbar machen.

12


Ähnlich eigenwillig ernannte er die strikt materialistische Evolutionslehre Ernst Haeckels zur geeigneten Basis seiner durchaus okkulten Betrachtung der Entwicklungsgeschichte. In diese sind die geistigen Impulse aus Goethes «Urpflanze» ebenso eingegangen wie jahrtausendealte Menschheits-Mythen.

Mit 30 Jahren erst hat Steiner in Rostock seine Doktorarbeit eingereicht. Ihr Thema war «die Verständigung des philosophischen Bewußtseins mit sich selbst». Es handelte sich um ein Vorspiel mit dem Leitmotiv seiner künftigen Weltschau. Bald darauf, 1894, gab er sein bedeutendstes Werk heraus, in dem sich die Grunderkenntnis seiner hellsichtigen Ich-Suche bündelt: «Die Philosophie der Freiheit».

Der Mensch, darauf zielte Steiners «Philosophie», könne durch entsprechend geschultes Denken alle vermeintlichen Erkenntnis­grenzen überschreiten und jenseits des sinnlich Wahrnehmbaren introspektiv in die «Ideenwelt» vordringen, das «Prinzip allen Seins», die andere, höhere Wirklichkeit erfahrend. Er werde auf diesem Wege der Idee des freien, sittlichen Handelns gewahr. 70 Jahre vor der «antiautoritären Welle» hat sich Steiner so von den künstlichen Pflichtbegriffen einer repressiven Gesellschaft losgedacht.

In einer bald darauf verfaßten Schrift über den ihm sinnesverwandten Friedrich Nietzsche («Friedrich Nietzsche — ein Kämpfer gegen seine Zeit») lehnte Steiner noch allen Glauben «an ein Jenseits» als des freien Menschen unwürdig ab:

«Man kann sich keiner größeren Verirrung hingeben, als wenn man hinter den Erscheinungen dieser Welt Wesenheiten annimmt, die der menschlichen Erkenntnis unzugänglich sind.»

1897 ging er von Weimar nach Berlin, wurde Herausgeber eines literarischen Magazins, Vortragsredner diverser wissen­schaft­licher Gesellschaften, Mitglied der Literatur-Boheme, Lehrer an der sozial­demo­krat­ischen Arbeiter­bildungs­schule und schließlich deutscher Generalsekretär der internationalen, esoterische Geheimwissenschaft pflegenden «Theosophischen Gesellschaft».

13


Gemeinsam mit Marie von Sivers, seiner Gefährtin und späteren zweiten Ehefrau, stieg er auf in den eingeweihten Kreis der sogenannten «Esoterischen Schule» (E.S.) und zum Hochgrad der geheimen Freimaurer-Loge «Mystica Aetema». Der Goethe-Forscher wandelte sich zum Guru und verwies öffentlich auf die «okkulte Grundlage in Goethes Schaffen». Zu seinen Anhängern zählte bald auch der junge Romano Guardini, aus dem nachher ein katholischer Religions­philosoph geworden ist.

Vermittels seiner eigenen geisteswissenschaftlichen Methoden hatte Steiner inzwischen seine Art von Christen­tum entdeckt. «Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums» hieß ein entsprechendes Buch, zusammengefügt aus Vorträgen, die er den eigentlich nach östlicher Weisheit strebenden Theosophen gehalten hatte. Griechische und germanische Mythen bezieht er neben denen des Ostens in seine Vorträge ein und vertieft sich in die Mysterien der Geheimbruderschaft der «Rosenkreutzer», die im 17. Jahrhundert eine Reform von Religion und Staat erstrebten.

Okkulte Themen beherrschen von da an sein Werk. Die Buchtitel lauten entsprechend: «Wie Karma wirkt», «Theosophie, Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung», «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», «Aus der Akasha-Chronik» (Name einer nur von okkult Eingeweihten aus dem Weltall «herauszulesenden» Gesamtgeschichte der Menschheit) und «Die Geheimwissenschaft im Umriß».

Die ihm eigene Erkenntnismethode und die Arbeit mit den Theosophen führten Steiner immer weiter ab von den Bereichen, in welche die nüchterne, die quantifizierende materialistische Wissenschaft ihm folgen konnte. Nach einer ausgerechnet durch einen Streit über Christus provozierten Sezession Steiners und seiner Anhängerschaft aus der Theosophischen Gesellschaft nahm 1912 die organisierte anthroposophische Bewegung ihren Anfang.

14


Steiners alte Idee organischer Kulturerneuerung wuchs sich aus. Sämtliche nennenswerten Lebens­bereiche der Gesellschaft bezog er nach und nach ein.

In einer Reihe von vier «Mysteriendramen» ließ er in geheimnisschwerem Deutsch Muster-Menschen über jenseitige Begegnungen und die eigenen geistigen Metamorphosen zu höchstem, übersinnlichem Dienst an der ganzen Menschheit berichten. Dem Kräuter-Weisen Felix Koguzki begegnen wir da unter dem Namen Felix Bälde wieder.

Der in München-Schwabing geplante Bau eines eigenen Mysterientheaters zerschlug sich. Dafür entstand in Dornach bei Basel bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein Zentrum der anthroposophischen Bewegung, Kunst und Wissenschaft: das «Goetheanum». An ihm — und seinem nach einer Brandkatastrophe in der Nacht zum 1. Januar 1923 völlig veränderten Nachfolgebau — betätigte sich Steiner als pathetisch richtungweisender Architekt, Freskenmaler und Bildhauer.

Mit der holländischen Ärztin Ita Wegman begründete er in Dornach eine neue, ganzheitliche Spielart der Medizin, die bis heute sorgsam bemüht bleibt, nicht in Widerspruch mit der Schulmedizin zu geraten.

Mit Sozialarbeitern entwickelte er neue Regeln für den Umgang mit Behinderten. Großagrariern gab er eine Rezeptur für einen von ihm schon damals als Heilung des Bodens und der Natur, ja der Gesellschaft überhaupt gedachten Landbau — Vorläufer der ökologischen Bewegung. Von ihm kamen Impulse zu einer neuen Sprachgestaltung und einer neuen Bewegungskunst, der Eurythmie.

Er fühlte sich aufgerufen, die gesamten Industriestaaten umwälzend neu zu gliedern, parallel zur russischen Revolution. Kultur, Staat und Wirtschaft gelte es, ihrer Natur gemäß, auseinanderzuflechten.

1919 veröffentlichte Steiner die Schrift «Kernpunkte der sozialen Frage», eine dement­sprechende Evolutions- und Sanierungstheorie. Nach seinem «Sozialen Hauptgesetz» hat sich der bisher zwingende Zusammenhang zwischen Arbeit und Bezahlung aufzulösen: Das Ende der Leistungsgesellschaft faßte er somit bereits ins Auge.

Unter Steiners Obhut wurde 1920 eine Kombination von Unternehmungen gebildet, die neue, dreigegliederte Gesell­schafts­ordnung in einem Mikrokosmos ins Werk zu setzen. Die Stuttgarter Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria und die pharmazeutische Firma Weleda gehörten dazu. Einzig fortpulsierendes kulturelles Institut aus diesem Versuch ist die Freie Waldorfschule.

Rudolf Steiner starb am 30. März 1925 an einem geheimgehaltenen Leiden, von dem seine Frau nachher altvertrauten Anhängern berichtet hat, es sei Magenkrebs gewesen. Ihr hatte Steiner noch im letzten Stadium seiner Krankheit in einem Brief mitgeteilt, nach dem Brand des ersten Goetheanums sei bei ihm «die Verbindung der höheren Glieder» seines Wesens mit seiner «physischen Organisation» bedrohlich aus der Ordnung geraten.

Die Vollendung des zweiten Goetheanums hat er nicht mehr erlebt. Von den drei Klassen der seinen Anthroposophen zugedachten Erkenntnis­schulung mit den aufwärtsführenden Stufen Imagination, Inspiration, Intuition hat er nur die erste noch zu bewältigen vermocht. Und es gab nicht einen, der dies hätte fortführen können. Im Herbst 1925 meldete sein Unter­nehmens­verbund «Der kommende Tag» Konkurs an.

Die anthroposophische Bewegung hingegen fing erst zu leben an.

15-16

 # 

 

www.detopia.de     ^^^^