Start    Weiter

2. Die anthroposophische Bewegung      

     Das Gute tun aus Lust am Guten

 

17-46

Anthroposophie, hat Rudolf Steiner erklärt, sei «ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschen­wesen zum Geistigen im Weltall führen möchte». So etwas ist zweifellos schwer zu fassen. Doch auch da, wo es sich in allgemein zugänglichen Fakten niederschlägt, werden diese heute fast geflissentlich übersehen. Die meisten denken gerade noch an Schule und Naturdünger, wenn sie den Namen Steiner hören. Anthroposophen, das sind für die Mehrheit ihrer Mitbürger eben die mit der Waldorfschule, sind Ur-Ur-Grüne, die sich beim Zerstäuben ihrer Hornmist-Präparate angeblich nach dem Mond orientieren, so eine Art Sektierer ...

Wie die Freimaurer wurden sie im Dritten Reich von der Gestapo beschnüffelt und fanden einen Fürsprecher in Rudolf Heß, dem Stellvertreter des Führers. Der interessierte sich für ihre Bio-Düngung und für ihre Transzendenz. Erst nach seinem Absprung in England ist auch die letzte Waldorfschule im Reich geschlossen worden. Es war die in Dresden.

Keine dieser Freien Schulen ist in der DDR wiederentstanden. Anthroposophie verklärt das Ich. Das können sie dort nicht brauchen. — Ganz anders in der Bundesrepublik. Da reichen 80 Schulgründungen noch lange nicht, da melden Eltern mitunter Ungeborene bald nach der Zeugung für den Waldorf-Kindergarten an, so lang sind die Wartelisten. Das ist ein Spektrum, das scheinbar Unvereinbares aufnimmt und hervorbringt.

Ulrike Meinhof besuchte eine anthroposophische Schule. Der Grüne Otto Schily, in Stammheim Gudrun Ensslins Verteidiger, ist von Anthroposophen erzogen worden, auch der Märchenschreiber Michael Ende. Bundeskanzler Helmut Kohl, auf verständlicher Flucht vor dem öffentlichen Schulwesen, vertraute der Waldorf-Pädagogik einen Sohn an, Hamburgs Regierender Klaus von Dohnanyi, vormals Bundes-Bildungsminister, die Tochter. Unter den mitredenden Sympathisanten anthroposophischer Bildungs­einrichtungen sitzen Wirtschaftsmächtige wie Egon Overbeck, der Chef des Mannesmann-Konzerns.

In all diesen Köpfen Anthroposophie? Dieses mystisch-phosphoreszierende Menschenbild des Dr. Rudolf Steiner? Ein verschwiegenes Ja somit zu Seelenwanderung und karmischem Denken? Ein erster Trugschluß böte sich so an.

Davon, daß ihr Schöpfer Steiner das kosmische Auf und Nieder von Körpern, Seelen und Geistern seherisch durchschaut hat, geht zwar die gesamte Waldorf-Pädagogik aus. Doch müssen sich darum Eltern und Schüler nicht scheren. Anthroposophen, hat Steiner gesagt, dürfe diese Art Schule gar nicht heranziehen wollen, nur eben den autonomen Menschen. Mittlerweile sind meist nicht einmal mehr die Lehrer von Steiner-Schulen in der fortwirkenden Metaphysik ihres Curriculums recht zu Hause.

Der Expansion des Wirkens dient diese Verdünnung sehr wohl. Wahrscheinlich läßt sich so etwas wie das strikte häusliche Fernsehverbot für den Waldorf-Schüler den Eltern leichter ins Bewußtsein drücken, wenn von Ahriman und Luzifer, den um solches und anderes elektronisches Blendwerk unsichtbar miteinander ringenden Geisterfürsten, bis auf weiteres geschwiegen wird.

Geschwiegen wird über das meiste, und das nicht allein im Schulbereich. Für den Geschmack mancher beim Lesen von Steiners Werken ergrauten Anthroposophen verbindet sich mit dieser Verengung auf gutverdaulich Vordergründiges etwas wie Selbstverleugnung, fast schon Verrat.

18


Vornehm, doch vernehmlich haben sie in den Jahres­versammlungen der «Anthropo­sophischen Gesellschaft in Deutschland» aufbegehrt, weil die von ihresgleichen gegründete Universität in Witten/Herdecke, die erste vom Staat nicht bevormundete Hochschule in der Bundesrepublik, der Steinerschen «Geisteswissenschaft» kaum Platz in ihrem Lehrplan einräumt.

Ist das, fragten sie, nötig bei der doch nun allseits pulsierenden Ausweitung anthroposophischer Wirkungen? Oder ist es etwa der Preis dafür? Sollen statt des subtilen Geisteswissens etwa bloß noch dessen soziale Konsequenzen sich ausbreiten in Form gemein­nütziger Dienstbarkeiten?

Seltsam hügelige Dachformen geben das weithin sichtbare Zeichen dafür, wie sich das ausbreitet und wo überall. Über Schulen, Behindertenschulen, Hochschulen, Heilstätten, Krankenhäusern, Mysterienbühnen, Sozialstationen, Werkstätten, neu entstandenen dörflichen Lebensgemeinschaften ist das die architektonische Mütze von Doktor Steiners Weltenkunde. Die selber zieht darunter nur ganz sachte ein.

Dafür sprechen praktische, sogar taktische Erwägungen. Zu vieles von dem, was erhebend ernstzunehmen eingeweihte Anthro­posophen die Fähigkeit erwerben, weckt bei jenen, die einzig auf eine materialistische Wahrheitsfindung bauen, schnelle Affekte. Was für einen Vers soll so einer sich darauf machen, wenn der Anthroposoph Peter von Siemens, Atomkraft-Exporteur, Präsident der Weltenergiekonferenz, auf einmal anfängt, sich der Kult-Sprache seiner Überzeugung zu bedienen?

Den notabene von Tausenden deutscher Anthroposophen verurteilten Kernkrafthandel des Hauses Siemens hat er folgender­maßen verteidigt: 

«Der Weltenplan, von dem Rudolf Steiner gesprochen hat, vollzieht sich unerbittlich. In der Mitte des vierten Jahrtausends ... wird die Erde beginnen, sich zu astralisieren, das heißt, sie wird in eine Form der Schwerelosigkeit übergehen. Wenn wir jetzt in sehr vorsichtiger Form gewisse erste Stufen der Radioaktivität, also der Dritten Kraft für Energie­zwecke verwenden, so vermag ich darin nichts Verwerfliches zu sehen.»

19


Peter von Siemens liest seit 40 Jahren mit Hingabe Steiners Werke. Dank der für ihn damit verbundenen «meditativen Beschäftigung», sagt er, habe er in sich «den klaren Eindruck fundiert», daß sich der satanische «Herrscher der festen Materie, Ahriman» Elektrizität, Magnetismus und atomare Strukturen «arteigen gemacht» hat. Kernkraftnutzung, darauf läuft die Siemenssche Elektro-Mystik hinaus, sei aber durchaus im Sinne Rudolf Steiners, auf daß «die Erde stufenweise in neue Daseinsformen überführt werde».

Den Laien könnte es in aussichtslose Nachdenklichkeit versetzen, was da von einem berufenen Technokraten offenbar völlig ernsthaft für wahr «erkannt» worden ist. Leute aus der «ersten Klasse» der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft — nach wie vor wird diese höhere Stufe erst den verbürgt intensiver «erkennenden» Mitgliedern eröffnet —, die dürfen es sich so einfach nicht machen. Sie kennen ihren Steiner und dessen Kosmos des Übersinnlichen und weisen die Aussage des Herrn von Siemens würdevoll zurück. «Eine leider völlige Fehldeutung», seufzen sie hinter ihren angeschrägten Türen, «der Arme hat ja alles mißverstanden. Rudolf Steiner hat mit der Dritten Kraft doch nicht die Kernenergie gemeint! Er hat überhaupt nicht gesagt, was er damit gemeint hat!»

Selbst nach längerer Beschäftigung mit dem geistig höchst verwobenen Stoff kann Steiner-Lesern derlei widerfahren. Da hilft auch nicht, wenn sie sich wie Peter von Siemens einen anthroposophischen Sekretär genehmigen.

Phantasten sind das ja meist nicht. Unverkennbar übt Steiners Werk gerade auf Vertreter streng empirischer akademischer Disziplinen eine besondere Anziehungskraft aus. Ich habe höchst qualifizierte Anhänger der Anthroposophie im Göttinger Max-Planck-Institut für Strömungsforschung ebenso gefunden wie in Münchens Amt für Öffentliche Ordnung. Heinz-Dietrich Stark, der bislang experimentiermutigste Leiter des Strafvollzugs in Hamburg-Fuhlsbüttel, bekennt sich zu ihr und handelte in Steiners Geist, indem er

20


Straftätern mit meist positivem Ergebnis Urlaub auf Ehrenwort bewilligte. Professor Ernst Schuberth, der in Bielefeld Mathematik doziert, überfüllt Vortragssäle mit dem anspruchsvollen Vorsatz, Seelenwanderung vermittels höherer Mathematik begreifbar zu machen.

Joseph Beuys, der auch erst nach einem mathematischen Studium zum Künstler und Anthroposophen wurde, schilderte mir ohne Zaudern die in seinem Leben immer wiederkehrende, ihm stets bewußte Erscheinung aus dem Bereich des Übersinnlichen, die ihm seinen bisherigen Weg gewiesen habe. Eine immaterielle Gestalt sei das gewesen, «einmal sehr hell und durchsichtig, einmal schwarz, man könnte sagen, ein Engel». Aufgetaucht sei die schon früh, längst bevor er, als Kriegsheimkehrer, Steiner lesen lernte. Von diesem habe er die Gewißheit seiner Wiedergeburt nicht erst einholen müssen.

Bislang visionslos sitzt in der Direktion der Pegulan-Werke, Frankenthal, der fünfunddreißigjährige Anthroposoph Hans-Peter Schreiner. Ihn hat, steigender Steiner-Nachfrage wegen, der Verlag S. Fischer verpflichtet, aus dem erschlagenden, in Dornach gehüteten Gesamtwerk eine achtbändige Ausgabe von Hauptwerken herauszuschälen. Sogar er hat vieles von Steiner erst noch zu lesen und vom Gelesenen vieles bislang nicht verstanden.

Von Steiner überzeugt, kann er freilich (ohne Zuhilfenahme einer Religion) die landläufige materialistische Vorstellung zurück­weisen, Seele und Geist seien einzig Reflexe körperlichen Daseins. Er kann im Menschen das Ergebnis einer Evolution sehen, die vom Leblosen über das Belebte und das Beseelte bis ins Unvergängliche reicht. Sterbliches und Unsterbliches sind in dieser Existenz miteinander verwoben, und zwar vierfach: Erstens gibt es da den physischen Leib, der ohne Leben in seine stofflichen Bestandteile zerfallen wird; zweitens wirkt darin ein «Lebensleib» oder «Ätherleib», dem vergleichbar, was in jeder Pflanze atmet; drittens kommt mit einem «Astralleib» die Seele und jene bereits höhere geistige Organisation ins Spiel, die sich bei

21


Tieren, von der Ameise bis zum Zebra, zeigt; all dies gipfelt viertens im «Ich», aus dem sich die allein dem Menschen mögliche Fähigkeit zum Denken und zur Freiheit entfaltet. Die Freiheit wiederum befähigt einen Anthroposophen wie Schreiner zu der Vorstellung, sein Ich sei ein zur Wiedergeburt bestimmtes geistiges Potential, sei, wie Goethe von sich behauptet hat, «schon tausendmal dagewesen» und werde «wohl noch tausendmal wiederkommen».

«Anthroposophen», beneidet ihn ein Freund, der das so nicht akzeptieren kann, «sehen kein Chaos wie die anderen alle. Sie sehen einen geordneten geistigen Kosmos.» Jedoch, was der Manager Schreiner nicht müde wird zu wiederholen: «All das ist nur ein Denk-Angebot ohne jedes Dogma.»

Es gibt 20.000 Bundesbürger mit dem Mitgliedsausweis einer anthroposophischen Gesellschaft, aber schon mindestens fünfzigmal mehr, die sich dem Angebot tastend nähern. An Steiners prachtfarben gebundenem Œuvre führt da kein Weg vorbei. Natürlich auch nicht für den Reporter.

354 Bände umfassen noch nicht alles, woraus die mir begegnenden Jünger des «Doktors» ihre Motive, Rechtfertigungen und Handlungsvollmachten schöpfen. Der Doktor hat bis zu seinem Tode im März 1925 insgesamt 5965 Vorträge gehalten, philosophische, theosophische, anthroposophische, sozialkritische, Vorträge über nahezu alles außer Sex

Stenographen haben zitabel auf die Nachwelt gebracht, wie er sich die Wiedererweckung der Alten Welt, der geistig einheitlichen, unter dem Fehlboden der neuen, der materialistisch zerstückelten Welt vorstellte; welche Auren der höher Eingeweihte um welche Leute in welchen Lebenslagen erschaut; wie dick die Luft und das Wasser in urgeschichtlichen Evolutionsphasen waren; wie sich Erde und Mensch in unendlich fernen planetarischen Entwicklungsstufen heraufverwandelt haben; wohin das alles noch führt, und, und.

22


Fast jeglicher Bewegungsmöglichkeit von Materie wie Geist hat er sich ohne langes Fragen, immer eigentlich schon wissend, häufig aus dem Stegreif denkend, angenommen. Selbst Anthroposophen, denen dieses Werk aus meditationsgelichteten Augen brennt, verblüffen einander stets aufs neue mit ihren, solcher Unerschöpflichkeit entrissenen und oft durchaus wider­sprüchlichen Zitaten.

Durchnummeriert haben sie die Absätze der Gesamtausgabe (GA), nach dem bei weitem übersichtlicheren und sprachmächtigeren Beispiel der Bibel. Das erhöht den Gebrauchswert wie ihre Zuversicht, sich handelnd und denkend auf Steiners Kurs zu halten. Es sieht nicht aus, als verlaufe so der wahre Weg. In seinem ersten Hauptwerk, seiner «Philosophie der Freiheit», hat er die «voraussetzungslose Selbsttätigkeit des Denkens» zum obersten Gebot der Ich-Findung erhoben. Einzig durch die Befreiung des höheren Ichs — von vorgegebener Moral, von sittlichen Zwängen — steigt der Anthroposoph auf zur «vollen, wahren Menschen­natur», die das Gute will aus Lust am Guten.

Andererseits hat Steiner später, in seiner «Theosophie», doch wie ein Guru die Denk-Demut des Schülers von den wahren Adepten seines Erkenntniswegs erwartet. Was nämlich der Lehrer gesehen habe, müsse der Schüler, solange er selber es noch nicht sehen könne, für eine hilfreiche Vorgabe nehmen. Auf dem schmalen Grat zwischen Denken und Glauben müssen Anthro­posophen sich folglich halten — geistige Höhenwanderer in einer an Trugbildern reichen Stratosphäre.

Selbst jene, denen die strenge Sezier- und Beweispflicht moderner Naturwissenschaft beruflich auferlegt ist, versuchen in Steiners Nachfolge organische Natur immer wie Lehrlinge Goethes sinngewiß zu betrachten: als eine aufsteigende Folge von Metamor­phosen, mit dem Menschen ganz oben, höher und höher sich wandelnd. Ihr Meister war es, der bei der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes mit dem Satz begann: «Goethe ist der Kopernikus und Kepler der organischen Welt.»

23


Rudolf Steiner mit dem Modell des ersten Goetheanums:

 

 

Das neue Goetheanum, 1928 kurz vor der Fertigstellung:

24


Das neue Goetheanum in Dornach, Zentrum der antroposophischen Bewegung, wurde, wie das am 31. Dezember 1922 abgebrannte, nach Entwürfen Rudolf Steiners erbaut - ganz aus leicht formbarem Beton. Steiner wollte Elementares gewächshaft schaffen. Herauskam eine Mischung aus Bunker (links oben: Innenraum) und Kathedrale (unten: Vorderfront), eine Nachblüte des Jugendstils (rechts unten: Heizhaus)

 

 

 

25


Goethe, nicht Steiner, heißt der Allvater auf dem Stammbaum der Anthroposophie. Der architektonischen Hochburg der Bewegung, weithin sichtbar auf einen geschenkten Jura-Hügel zu Dornach bei Basel gesetzt, hat der Gründer vor dem Ersten Weltkrieg einen dies dokumentierenden Namen verliehen: «Goetheanum». Die bereits Goethe vorschwebende Aussöhnung östlichen und westlichen Geistes andeutend, verlieh der architektonische Dilettant Steiner ihr Symbolgestalt: Zwei Kuppeln schienen wie siamesische Zwillinge aneinandergewachsen. Alles bestand aus Holz und wurde zu Asche, als ein Unerkannter in der letzten Nacht des Jahres 1922 Feuer legte. In dem von Steiner eigenhändig mit ausgemalten Kuppelinneren hatte ein einziges Wort gestanden: ICH.

Das zweite Goetheanum hat mit jenem ersten die Fundamente, den Namen, auch den obersten Bauherrn und Formgeber gemeinsam. Was jedoch Baustorf und Form anbelangte, folgte der schöpferische Wiedererbauer Steiner 1924 völlig anderen Eingebungen. Beton entzückte ihn nun, weil sich mit ihm das von Hand Modellierte imposant nachformen ließ.

Was er modellierte, wuchs sich aus zu einer Mischung aus Kathedrale und Bunker, zu einer monumentalen Nachblüte von Jugendstil — zu etwas, das von Le Corbusier bis Hans Scharoun (Berliner Philharmonie) viele moderne Architekten inspiriert hat und manche noch immer verfolgt.

Steiners Urne und die des anthroposophischen Dichters Christian Morgenstern sind unten in dem betonierten Geistes-Pantheon beigesetzt. Weiter oben residieren die Vorstände der in der ganzen Welt weiterwirkenden Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (50.000 Mitglieder), einer Institution in vorwiegend deutscher Hand. Tonangebende Hochschule in sämtlichen Sachgebieten der Steinerschen Geisteswissenschaft muß das Goetheanum sein, dazu der Kunsttempel für die Mysterienspiele und Faust-Interpretationen im Geiste des Erbauers, oder dem, was heutige Anthroposophen darunter verstehen.

26


Dort in Dornach vor allem wird gehütet, exerziert und gelehrt, was goetheanisch Forschen heißt: Das in der Natur sich Formende, sei es nun ein Löwenzahn oder ein Milchzahn, gilt es in «anschauendem Denken» zu erfassen, statt in der Manier materialistischer Fliegenbeinzähler. Intuitiv sollte das sein und bestrahlt von Goethes Lehrsatz: «In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe.»

Für das, was mit dem lebendigen Anthroposophen geschieht und in ihm, soll das natürlich ebenfalls wahr sein: Dem Ich begegnend, hofft er dem All-Einen zu begegnen. Wie mit seinen Augen Farben und mit den Ohren Töne, so möchte er mit seinem Denken die von Rudolf Steiner (und vor ihm von Mystikern wie Jakob Böhme) für gleichfalls wahrnehmbar erklärten Botschaften einer geistigen Wirklichkeit auffangen lernen, erkennend, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Ein Schulungsweg soll ihn auf dieses in einem Leben schwerlich erreichbare Ziel in geistiger Übung zuführen. Über die Selbst­wahrnehmung weit hinaus, in den Bereich des «denkenden Selbstbestimmens» windet der Weg sich empor. Geduldige, regelmäßige Versenkung dient dazu, leiblich-sinnliche Einflüsse beim Denken zurückzudrängen und sich spirituell der Identität mit einem durch und durch geistigen Universum zu vergewissern.

Die dafür erforderliche Meditation unterscheidet sich fundamental von der indischer Gurus. Während jene ihre Schüler zum schieren Sein anleiten, verlangt es die Anthroposophen nach dem schieren Denken. Baghwan Shree Rajneesh, der Rudolf Steiner für einen «großen Geist» und für «beinahe übermenschlich begabt» hält, nannte diese Denkschule einen «Trugschluß».

Bhagwan:

«Der Weg ist: Wie verlernt man das Denken ..., wie ist man nur ... Der denkende Verstand war das westliche Ziel ... Die Welt der Wissenschaft entstand aus diesem Streben ... und so glauben die Leute, daß die gleiche Methode Erfolg hat, wenn man nach innen geht...»

Genau damit aber fasziniert Steiner seine Anhänger. Nach Selbstauflösung verlangt es sie nicht. Sie wollen über sich selbst hinaus und wohltuend hart an ihrem Karma, diesem Schicksals-Konto, arbeiten.

27


Rudolf Steiner hat viele dabei hilfreiche deutsche Meditationsworte (Mantren) hinterlassen, darunter geheime für die Mitglieder der «ersten Klasse». Unberufen konnte die höchstens die Gestapo lesen, als sie Material für das Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft sammelte.

Unter anderem riet Steiner zur wiederholten geistigen Versenkung in ein garantiert keimfähiges Samenkorn auf dem Tisch. Dabei, heißt es, können die im Korn gespeicherten Wachstumskräfte in der Phantasie zur Pflanze entfaltet und danach plötzlich eine «kleine Lichtwolke» um das Samenkorn wahrgenommen werden. In der Regel ist diese Erscheinung leider eine Selbsttäuschung.

Aus solchem Stoff besteht das Instrumentarium des Erkennens, mit dem Anthroposophie sich anheischig macht, die überprüfbare Methodik der materialistischen Wissenschaft jenseits des sinnlich Wahrnehmbaren zu ergänzen. Die auf diesem eigenen Wege erreichbaren Forschungsergebnisse, heißt es, seien «auf ihre Art so exakt wie die Ergebnisse der wahren Naturwissenschaft».

Wörtlich so steht es in den noch von Steiner mitgestalteten Grundsätzen der «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft», deren Mitglied jeder werden kann, falls er in einer Einrichtung wie dem Goetheanum «etwas Berechtigtes» sieht. Von Beweisen dieser Forschung ist nicht die Rede. Was wahr ist und was nicht, darüber zu befinden erlaubt die, wie sie sich nennt, «durchaus öffentliche Gesellschaft» allein noch ihren in «stufenweiser» Schulung im Goetheanum aufwärts entwickelten Eingeweihten.

Weiter oben also ist die Gesellschaft geschlossen, und von mancher ihr erwünschten Wirksamkeit schließt sie sich damit selber aus. Geistiger Hochnebel zieht durch die kanonisierte Sprache dieser Goethe mitunter arg auswalzenden, ja manchmal sogar für kritische Anthroposophen nerv-goethenden Denker. In ihrem Deutsch «kraften schaffende Wirklichkeiten», vom «schöpferischen Weltengrund» werden «Gedanken abgezogen», und der «Gottesgrund» ist «jeder Ichheit eingeborenes Eigentum».

28


Eine ohnehin esoterische Lehre bedient sich der Sprache oft ganz ohne Not wie einer Jalousie, mit der sie hermetisch dichtmacht. Dabei hat der Gründer einst vorgelebt, wie einer mit so hohem geistigem Anspruch sich der übrigen Gesellschaft Schicht um Schicht erklären kann.

Von Weimar nach Berlin übersiedelnd, wandte der, wie einschlägige Fachlexika ihn nennen, «philosophische Schriftsteller» Steiner sich erst im Klub der «Kommenden» den Literaten und Intellektuellen zu. Stefan Zweig hat ihn bewundert und beschrieben: «In seinen dunklen Augen wohnte eine hypnotische Kraft.» Dann diente der «Geistesforscher» ein halbes Jahrzehnt lang in der von Wilhelm Liebknecht begründeten «Arbeiterbildungsschule».

Er hat dort doziert, nicht agitiert wie bald darauf Rosa Luxemburg, und die Proletarier drängten zu ihm als einem bilderreich erzählenden Geschichtslehrer. Schließlich verdingte er sich der «Theosophischen Gesellschaft», wurde Vertrauter einer nach östlicher Geheimwissenschaft und Guru-Weisheit ausspähenden Bildungs-Bourgeoisie. Die in seinem Denken schon seit den Jahren im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv wetterleuchtenden Idee einer von ihm und seinem Goethe-Verständnis anzufachenden Reform von Naturwissenschaft und Kultur überhaupt weckte in keiner Gesellschafts-Etage sonderlich Resonanz.

 

Übersinnliches, Mystisches, Magisches, dazu östliche Weisheit war schon bei Goethe reichlich zu beziehen. Unter Theosophen lehrend, vollendete Steiner die Geistes- und Geistermischung seines abendländisch-morgenländischen Pandämoniums. Im Feuerofen seiner Phantasie vermengten sich Elemente der Alchemie und der christlichen Mystik, das Wissen von Freimaurern, Naturheilern und Darwinisten, Hinduistisches und Buddhistisches, alle Urmythen der Menschheit und Schlußfolgerungen der idealistischen Philosophie. 

29


Den Lichtbringer Luzifer und dessen Widersacher Ahriman samt ihren Untergeistern finden wir in der Besetzung seines Kosmos, dazu die Engel und Erzengel der Christenheit, unter denen die Anthroposophie Michael zur zeitgenössischen Bezugsfigur erhoben hat: Den Bezwinger des Drachens (Materialismus).

Steiners esoterische Werke und Vorträge überfluten den denkwilligen Wegsucher mit Bildern, Sinnbildern, Farben, Auren — einer vom hellsichtigen Lehrer geschauten «höheren Wirklichkeit». Sein Schulungsweg mutet den Schülern zu, all dies nicht so buchstäblich zu nehmen: eher für die anregende, in einem höheren Sinne gegenstandslose Wiedergabe einer Erkenntniserfahrung, die sich der Sprache wie der Bebilderung entzieht. Selber sollen sie sich mit Hilfe dieser Impulse meditierend und denkend neue, verfeinerte Begriffe bilden von einer «geistigen» Welt, welche, fand Steiner, «aus Verstehen, aus Licht, aus Logos» besteht. Viele Anthroposophen, aus gutem Grund, nehmen Rudolf Steiners Schilderungen dennoch uneingeschränkt passiv und außerdem wörtlich. Sie berufen sich darauf, daß dem Geist entkeimende Bilder niemals bloße Illustration sein können.

Und am Schnittpunkt aller Unendlichkeiten, günstigenfalls in sich, suchen, sehen die Schüler Christus. Streit um ihn war es, was Steiner und seine inzwischen etwa 2000 Anhänger 1911 zum anthroposophischen Exodus aus der Theosophie getrieben hat. Den kurz zuvor entdeckten indischen Knaben Krishna (später Krishnamurti) hatten hellsichtige Theosophen, seiner Aura wegen, aufpäppeln wollen zur Reinkarnation Christi. Das war zuviel für Steiner. Seines Erkenntnisweges sicher, war er längst zu seinem Damaskus gekommen, nämlich introspektiv, war einer dem Johannes-Evangelium entsprechenden Christos-Logos-Lichtgestalt begegnet. (Auf der Basis solch anthroposophischer «Christologie» gründete später ein Pastor namens Friedrich Rittelmeyer die «Christengemeinschaft» und wurde mit Steiners Segen deren «Erzoberlenker».)

30


Das Schisma von 1911 hatte ein Siechtum theosophischer Geheimzirkel zur Folge. Organisierte Anthroposophie nahm dafür ihren Anfang. Es beschleunigte sich die Verbreitung eines über viele Jahrhunderte hin in verschworenen esoterischen Zirkeln gehegten und verkapselten Geheimwissens. Steiner war ein Eingeweihter, der fast alles preisgab.

Sogar in die «Akasha-Chronik» habe er gelesen, dessen sind sich viele gescheite Anthroposophen sicher, wenngleich er über die Art seines Einblicks schwieg. Zumindest hat er diesen angeblich nur mit Hilfe übersinnlicher Fähigkeiten aus dem Weltall herauszulesenden Generalbericht über alle vergangenen wie kommenden Stufen und Taten der gesamten Menschheit in Bilder gefaßt und herausgebracht. Auch gedruckt liest sich das noch fremd genug:

Als die noch mit dem Monde vereinigte Erde sich aus der Sonne herausspaltete, gab es noch nicht innerhalb der Menschheit ein männliches und weibliches Geschlecht. Jedes Menschenwesen vereinigte in dem noch ganz feinen Leib die beiden Geschlechter ... Die niederen Triebe wirkten mit einer maßlosen Energie, und von einer geistigen Entwickelung war noch nichts vorhanden.

Wenige Wochen nach dem Ersten Weltkrieg hat der so Sehende in Dornach bei einer Erörterung der sozialen Frage sich zu einem Hinweis auf eine künftige «okkulte» Geburtenregelung veranlaßt gesehen. Diesen Text hat 1983 «die Drei», das Hausblatt der deutschen Anthroposophen, wohl seiner Aktualität wegen, präsentiert. Steiner 1918:

Innerhalb der Bevölkerung des Ostens wird sich ... ein instinktiv helles Wissen entwickeln ... wie man ... im Einklange mit gewissen Sternkonstellationen die Empfängnis einrichtet, dadurch Veranlassung gibt, gutgearteten oder übel gearteten Seelen den Zugang zur Erdenverkörperung zu verschaffen.

Diese nicht übermäßig sittlich anmutende Seelen-Auslese nennt sich «eugenetischer Okkultismus» und wird von kaum einem lebenden Anthroposophen verstanden.

31


Sehr viel diesseitiger und sozialer hatte der nämliche Geistes-Lehrherr ein Jahr zuvor sein unter heutigen Grünen immer noch nachglimmendes Rezept einer rettend anderen, nämlich naturgerechten Dreigliederung der Industiegesellschaft zu Papier gebracht: Kultur, Staat und Wirtschaft sollten auseinandergeflochten werden, ihrer Eigenart gemäß funktionieren dürfen. Im Bereich des Geistigen habe Freiheit, im Staate Gleichheit, in der Wirtschaft Brüderlichkeit einzukehren - und zwischen diesen Segmenten eine säuberlich geregelte Distanz.

Wie die meisten seiner Ratschläge hatte Steiner das auf Anfrage ausgeworfen — auf die eines bayerischen Reichsrates und Anthroposophen zunächst; später auch für das Berliner Auswärtige Amt und einen Berater des Kaisers in Wien. Gerüstet mit dieser Idee des seherischen Eisenbahnersohnes aus der Donau-Monarchie sollten die Mittelmächte sich geistig und sozial der von Ost und West gleichermaßen dräuenden Umwälzungen innerlich erwehren können, der marxistischen wie der von Präsident Wilson angekündigten demokratischen.

Vor letzterer scheute Steiner wegen der ahrimanischen Macht, die er da vorab schmeckte. Einer Entfesselung von «Volks­egoismus» kam die gleich statt der von ihm, dem hehrsten aller Anarchisten, ersehnten «Menschenbefreiung». Züge des gefürchteten Woodrow Wilson entdeckten Eingeweihte plötzlich im Antlitz des geschnitzten Ahriman im Goetheanum, an den Rudolf Steiner damals selber Hand angelegt hatte.

Dreigliederung der ganzen Gesellschaft, so fand er, entspräche einer Trias, die er in der Natur des Menschen für vereint wirkend erklärte: dem «Nerven-Sinnes-System» (Denken), dem «Rhythmischen System» (Fühlen) und dem «Gliedmaßen-Stoff­wechsel-System» (Wollen). Dieses menschliche Funktions-Schema liefert eine Grundlage für die Pädagogik, Heilkunst und Heilmittelsuche der Anthroposophen.

Einen Staatssekretär im Auswärtigen Amt Kaiser Wilhelms II. hatte die Einsicht in den Dreigliederungs­vorschlag zu der richtigen Bemerkung veranlaßt: «Dann müßte ja Seine Majestät zurücktreten.»

rotzdem trug er das, 1917, als eine Art Evolutions-Spick­zettel mit sich in die deutsch-russi-

32


schen Friedensverhandlungen zu Brest-Litowsk, ohne sich damit hervorzuwagen. Auf der Gegenseite saß immerhin Leo Trotzki, der an der marxistisch-materialistischen Beschaffenheit des von ihm bevorzugten Gesellschafts­entwurfes keinen Zweifel aufkommen ließ.

Steiners Idee ruhte ein wenig. In der Notzeit des Kriegsendes widmete er sich lieber der Verfeinerung seines Goetheanismus, einer spirituellen Rückschau nach den wahren Kriegsursachen oder der immer erneuten Ausdeutung des im anthroposophischen Magie-Kult schlüsselhaften Goetheschen Märchens von der grünen Schlange.

Andererseits feuerte er seine Anhänger zu sozialer Täterschaft an. Seine Anthroposophie hatte ja nicht bloß das Zeug dazu, mit einer an Netzpläne erinnernden Genauigkeit über die Wandlungen und Warteschleifen seelischer Feinstofflichkeit zwischen Mond, Sonne und Saturn bis ins siebte nachatlantische Zeitalter Denkhilfen zu erteilen. Weltanschauung war sie mit dem Auftrag zu sozialer Tat. Der zielte über die brüderliche, Arbeiter und Anthroposophen mittelalterlich vereinende Bauhütten­gemeinschaft fürs Goetheanum hinaus.

Ein «Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus» wurde erst 1919 in Stuttgart gegründet. Anthroposophen forderten von der Regierung Württembergs, Rudolf Steiner mit dem sofortigen Vollzug der Dreigliederung zu beauftragen, was auch immer das heißen sollte. Fixiert auf ihres Meisters alles durchdringende Weisheit, waren die meisten kaum in der Lage, über praktische Seiten der so beabsichtigten Entfilzung Bescheid zu geben.

Manche hatten sich versprochen, Steiners okkulter Fähigkeit und internationaler Reputation werde so nebenbei gelingen, über die den Mittelmächten zugefallene Kriegsschuld die tiefere — und das deutsche Volk entlastende — Wahrheit zu verbreiten. Statt dessen breitete sich bei vielen Industriellen, Gewerkschaftsfunktionären, sozialistischen und nationalistischen Politikern Argwohn wider diese Dreigliederung aus. Dagegen war selbst Steiner machtlos, wie herzenswarm er auch vor den Arbeitern Stuttgarts agitierte.

33


Hätte nicht Emil Molt, der Chef der Stuttgarter Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, die Mittel für eine erste, durch Rudolf Steiner selber zu gestaltende freie Schule gegeben, vom zweiten Anlauf in die Dreigliederung wäre nichts wirklich Funktionierendes hinterblieben. So aber nahm die Waldorf-Pädagogik ihren Anfang.

Folgen von Rudolf Steiners Menschenweisheit erlebt am schnellsten einer, der sich mit den von ihr angerührten Menschen einläßt. Aufbrechend folgen viele der «Philosophie der Freiheit» und handeln jenseits aller sittlichen Imperative und ohne alle Lichtreklame vorbildlich. Krampflos, auf eine sie selber ersichtlich ebenso aufrichtende wie aufzehrende Weise bemühen sie sich um Hinfällige, Behinderte, Kranke, Lernende. Zu spüren ist das in sieben von ihnen geführten Krankenhäusern, einem Dutzend Heilstätten, Dutzenden von Seniorenheimen und Behinderten-Dörfern und natürlich in den Waldorfschulen. Andere denken hauptsächlich in sich hinein. Wo sonst noch, außer in den Hörsälen von Rudolf-Steiner-Häusern versammeln sich Menschen, die ihre Feierabende damit verbringen wollen, sich mit äußerster Kraft mathematische Beweise ihrer Unvergänglichkeit zu erarbeiten? Lineal, Winkel und Zirkel, auch Farbstifte bringen sie mit zur Einführung in die «synthetisch-projektive Geometrie», mit der damals Rudolf Steiner selber abzuheben begonnen hatte.

Unausweichlich streifen einen andererseits Steiner Lesende, die von Mißdeutungen dieses Oeuvres befremdlich umwölkt sind. Hehr geben sie sich, herb und hären: Brahmanen einer Industriegesellschaft. Einer von geistiger Blindheit geschlagenen Umwelt schenken sie kein Lächeln.

Eine keineswegs arme Anthroposophin aus München schickte ihren Sohn zum Cello-Unterricht, ausgestattet mit einem Instrument, von dem die Cello-Lehrerin überzeugt war, es sei die Heimarbeit eines Hobby-Schreiners.

34


Da sie den Jungen für ungewöhnlich begabt hielt, nahm sie die Mutter beiseite, flehte sie an, für ein ordentliches Instrument zu sorgen. «Was soll denn das?», sagte da die Mutter mit großem Ernst, «Wir wünschen, daß unser Kind nach innen spielt.»

Es geschah bei einer Jahrestagung deutscher Anthroposophen in Stuttgart, daß eine dieser Erwählten unter Mißbrauch der vorherrschenden Duldsamkeit das Mikrophon ergriff und eine halbe Stunde lang vor der angeblich geistfeindlichen Erfindung des Elektrorasierers warnte. Sanft ermahnend nahm eine anthroposophische Zimmervermieterin in Dornach der von ihr beherbergten Studentin aus dem Goetheanum die Dusche aus der Hand. Verabsäumt habe die, vor dem Bad die Lemniskate, das Unendlich­keitszeichen der liegenden Acht, in die Wanne zu sprühen.

Wasser gar durch Turbinen zu jagen, was für Unheil mag das heraufbeschwören? Der Turbinen-Fabrikant Hanns Voith aus Heidenheim hat an dieser Frage, da er Anthroposoph war, bis an sein Ende gelitten. Ein auf seine Kosten gegründetes Institut im Schwarzwald sucht noch immer, was, zum Ausgleich, für die Heilung des Versehrten Elementes getan werden muß.

Es gibt reichlich Anthroposophen, die so etwas bloß rührend finden. Sie machen ihren Steiner wahr, indem sie vieles von ihm Überlieferte unter Berufung auf ihn selber ruhen lassen. Hat er nicht immer wieder davor gewarnt, aus der Flut seiner Aussagen Dogmen herauszusieben? Seine eigene Skepsis sogenannten Jüngern gegenüber war beträchtlich und hat ihn unter anderem bis kurz vor seinem Ende daran gehindert, Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft zu werden.

«Ständig schwirrten um ihn Leute, die ihm was abverlangten», bedauert der Mathematiker Ernst Schuberth, «aus dem Stegreif von ihm Hingesagtes hat man für ewig notiert.» Nachwirkungen beiläufiger Bemerkungen glimmen wie magischer Zunder bis auf den heutigen Tag. Auf dem Potsdamer Platz in Berlin hatte Steiner, um sich blickend, anno 23

35


vorweg bedauert, daß dies alles in wenigen Jahrzehnten in Trümmern liegen werde. Konnte man danach später überhaupt noch irgend etwas von ihm Gesagtes für Nebensächlichkeit nehmen?

Beispielsweise seine Bemerkung über das Mikrophon? Begleitern, die ihm die Wirksamkeit von Radio-Übertragungen schmackhaft ausmalten, hat er seinen Anschluß an diese Neuheit mit dem Hinweis verweigert: Allenfalls in ein «Flammen-Mikrophon» würde er sprechen. Er besann sich da wohl auf indische Gurus, die ihre Mantren in den Rauch eines Opferfeuers zu hauchen pflegten.

Lang ist es noch nicht her, da wurde einigen Auserwählten der Anthroposophischen Gesellschaft im Göttinger Max-Planck-Institut für Strömungsforschung von einem dort arbeitenden Anthroposophen bewiesen, wie von Steiner sogar damit Wahres angedeutet worden sei. Eine Gasflamme ließ sich tatsächlich wie eine höchst sensible Membran verwenden. Lediglich die Frage der Verstärkung hätte noch gelöst werden müssen. Es zeichnet den subtilen Steiner-Leser aus, sich in Gesprächen dieser Richtung tüchtig Selbstironie abzuverlangen: verstandesklar und dennoch unverbesserlich okkult. «Denken Sie nur», gestand mir einer belustigt beim Anblick meines Tonbandgeräts, «so ein ahrimanisches Zeug habe ich jetzt selbst gekauft.»

Einige nennen ihren Steiner «Rudi» und führen einen gleich von der Flurgarderobe weg vor die TV-Ecke, das Ausmaß ihrer Liberalität anzudeuten. Ja, sie unterbrechen sogar für einen Schluck die von Rudolf Steiner, des puren Denkens wegen, vorgelebte Alkoholabstinenz. Mühelos kann selbst dies ja mit einem Hinweis auf den vorübergehend süchtig trinkenden Meister begründet werden. Ein Bewunderer aus der Arbeiterbildungsschule rühmt sich, ihn sogar im Besitz einer als Steiner verkleideten Schnapsflasche gesehen zu haben. Und bei einer Befragung hat er während seiner Boheme-Zeit jedenfalls noch völlig unmiß­verständlich «Frankfurter Würste und Cognac» für seine «Lieblingsnahrung» ausgegeben.

36


Luzide Anthroposophen sehen beinahe eine Zumutung darin, kategorisch für ernst und edel erachtet zu werden. Einer hat ein Bein verloren und erläutert mir an seiner Situation die durch eine solche Verstümmelung nicht zu beeinträchtigende höhere Leiblichkeit Steinerscher Schule. «Ich genieße das Privileg», sagt er, «unangenehmen Leuten in den Hintern treten zu können, ohne daß sie davon was merken.»

Auch Besessene haben sich meiner angenommen. Solche, die keinen unbelehrt entlassen. «Begreifen Sie erst einmal, was goetheanistisch forschen heißt», sagte ein alter Waldorf-Lehrer, der das mit jedem macht, und legte vor mich wie zum Examen zwei scharf kontrastierende exotische Schneckengehäuse hin. «Anschauend denken» soll ich nun, wie Goethe es genannt hat, soll die Feinheiten und die Kontraste in mich aufnehmen: das eine Schneckenhaus tiefdunkel, mit Mustern von verschwommener Helligkeit; hell das andere, doch dafür dunkel gesprenkelt.

Mein Goetheanist ist erfüllt von der Überzeugung, aus solcher «Polarität» bilde die Natur ihr Nächsthöheres, und wie, das möge bitte ich mal entwerfen. Darauf spielen wir Schnecken-Metamorphose. Den wunderbaren Beweis dafür, wie goetheanistisch die Natur selber es gemacht hat, zieht er zum guten Ende aus der Hosentasche: ein Schneckenhaus, aufs prächtigste leopardisch gemustert, eine ersichtliche Edelmischung aus den zuvor besichtigten Kontrasten — eine Lösung, von der ich Anfänger mit meinem anschauenden Denken leider weit entfernt geblieben war.

Von der Schnecke auf weitere Naturbereiche — auch menschliche, gesellschaftliche, ja selbst kulturelle und geistige — spielen das Anthroposophen analog hinauf. Gestaltwandel ist ein Prinzip ihrer Hoffnung. Freilich ist Hoffnung ein vielen nicht ausreichendes Wort. Goetheanistische Geisteswissenschaft versorgt sie mit einem, wie sie meinen, Passepartout für alle Natur. Mein Schnecken­lehrer lacht nur Hohn über den Einwand, daß weder Goethe noch Steiner die Anerkennung der herrschenden Naturwissenschaft gefunden hätten.

37


Es liegt nahe, daß in diesem Kreise der Hang zu spiritistischen Sitzungen etwas ausgeprägter ist als im Bundesdurchschnitt. Einem nicht eingeweihten, aber anregenden Gast bedeutet der eine oder andere Anthroposoph mitten im vertrauten Zwiegespräch jählings, man sei übrigens nicht mehr allein. «Haben Sie es bemerkt? Er ist da.» Es handelt sich um den körperlosen Doktor, von dem unsereiner nichts mitbekommt.

Speziell über Reinkarnation hat Steiner in seinem letzten Lebensjahr noch ausgiebig zu seinen Anhängern gesprochen. Das füllt in der Gesamtausgabe Bände. Dort ist nachzulesen, welchen Weg die Seelen von Franz Schubert oder Voltaire genommen haben und wie im Jahre 869 nach Christus, zu Zeiten des achten ökumenischen Konzils, die geistigen Individualitäten von Harun al-Raschid, Aristoteles und Alexander dem Großen in der «übersinnlichen Welt» miteinander um die weitere Vermengung und Entwicklung von Okzident und Orient fürchterlich stritten.

Das sei, hat er berichtet, ein Streit gewesen, von dem sich selbst die (in giftigen Richtungszwisten geübten) Anhänger seiner Geisteswissenschaft nur ein blasses Bild machen könnten. Und wie alle Auseinandersetzungen in der «geistigen Welt» habe sich das ausgewirkt in entsprechenden, noch sehr lebendigen Entwicklungen hienieden.

Für eine anregende, spirituelle Art tieferer Geschichtserklärung nehmen das immerhin auch naturwissenschaftlich durchtrainierte Leute. Im übrigen verweisen sie auf Steiners Ringen um die Beschreibung von Unbeschreiblichem. Doch ihr hellhöriger, eher geistige Nähe zu Heisenberg suchender Zeitverstand hielt manche dann davon ab, zum Sommer-Festival der Anthroposophen nach Chartres zu pilgern, für dessen geheime Ursache gleichfalls ein Bericht über Reinkarnation erachtet werden muß.

38


Zu tun haben wir es hier mit einer um sechs Jahrzehnte verspäteten Würdigung etlicher durch Steiner im August 1924 preisgegebener Informationen aus der übersinnlichen Welt. Ihnen zufolge soll sich das Karma so mancher Anthro-posphen aus der Berührung mit Geistern und Kräften herleiten, die im 13. Jahrhundert aus der damals blühenden Schule von Chartres aufstiegen. Davon angehaucht zu werden, war zusätzlicher Geheimnis-Genuß für die Festivalbesucher, obgleich die Intervalle zwischen den Wiederverkörperungen ein rundes Jahrtausend betragen und die Erdenleben sich abwechselnd in weiblicher und männlicher Leiblichkeit ereignen sollen. Keine Regel ohne Ausnahme.

Es wurde Bartök gespielt, über die von der Mönchsschule damals gepflegten Philosophen des Altertums referiert, und bis weit in die Nacht hinein lauschte die esoterische Gemeinde in der Kathedrale alter Chormusik. Die mächtigsten Stimmen stammten aus einer in Bochum gegründeten «Schule der Stimmenthüllung». Wie es der Sänger dahin bringt, die Töne sogar aus den Ohren zu verströmen, wird dort gelehrt.

Zu den Anregungen nach dem Kunstgenuß zählte dann die allen Gästen wohlvertraute Frage, was der eine oder andere im einen oder anderen seiner früheren Leben gewesen sein mag. Ein Dominikaner? Ein Zisterzienser? Mit den Zisterziensern, jenen verbürgten Freunden von Weisheit und Agrikultur wären die Förderer anthroposophischer Landwirtschaft besonders gerne ur-identisch. Wissen kann das ja keiner. Erinnerung geht auf dem Weg durch den Kosmos der Geister verloren, das wußte Steiner. Und die Weisen des Ostens wußten es lange vor ihm.

 

Einen allgemeinen Wandel des menschlichen Bewußtseins glaubt Michael Ende zu spüren. Zeitlich fast parallel zum Erfolg seiner Märchen-Romane hat das eingesetzt. Und er glaubt, ein «einschneidender Bewußtseins­umschwung» werde das sein, «wie derjenige in der Zeit um Galilei». Er, der Waldorfschüler, der später tatsächlich ein Anhänger Steiners geworden ist, erfährt das nicht bloß vermittels seiner Antennen. Fragende, sagt er, drängten an ihn heran.

39


Vor allem junge Leute seien es, die da fragen — «nach dem Menschenbild, nach einer Weltvorstellung, nach dem Sinn». Ende schließt daraus, diese «junge Generation» suche nach der Konsequenz aus der Erkenntnis, daß all dies bisherige «rein begriffliche, vor allem das kausale Denken nicht mehr weiter führt».

Kräftig lädt das den Magnetismus von Steiners Lehren auf. Was das rumorende Sinnbedürfnis anbetrifft, haben die herrschenden Gruppen ja einfach keine Ideen. Anthroposophen haben die wohl. Aber es sind keine einfachen Ideen.

Alles hat bei ihnen seinen Sinn, seine sich vielfach gar für urnotwendig ausgebende Form. Einem kosmisch geweiteten Bezugs­system unterwerfen strenge Steiner-Interpreten letztlich alles: Sprache und Sprechen, Nahrung und Forschung, Töne und Tanz, Architektur und Design, Arbeit und Zins.

Geisteswissenschaftlich durchaus unbelesene Mütter fügen sich und ihren Säugling ahnungsvoll in diesen Kosmos ein, rüsten Kinderwagen und Kinderzimmer mit Vorhängen in einem gewissen, der Seelenformung freundlichen Purpurrot aus dem Steinerschen Naturfarben-Spektrum aus und ziehen gummierten Windelhosen solche aus kaum waschbarer Schafwolle vor. In kunstvoll primitiven Puppen, teuer geschreinerten Kinderrollern oder in den, Kristallines bloß vortäuschenden Lampen­verkleidungen aus Acryl äußert sich das beiläufige Fortwirken geisteswissenschaftlicher Impulse. Anthroposophie nährt ein Geflecht ganz eigener Produktivität, was wiederum Arbeitsplätze nach ihrem Geschmack erzeugt.

Was die erhabene Freundlichkeit ihrer Innenarchitektur anbelangt, die glühende Farbigkeit von Bezugsstoffen und Wandanstrich, die augenfällige Erdenschwerde* der Tischlerarbeiten, ähneln anthroposophische Zentren einander wie die Glieder einer Motelkette.

 

* OD: So im Original! - Besser: Erdenschwere?

40


Der ins Übersinnliche ausgreifende Sinn der Sache soll sich den Sinnen mitteilen. Bei «Kunst und Spiel» in Münchens Leopold­straße, einem stark frequentierten Bazar für den anthroposophischen Geschmack, verführt täuschende Naturnähe mitunter Frauen aus der grünen Szene dazu, vor aller Augen ihr Baby zu stillen. Aber das im Sinne Steiners eingearbeitete Personal, das sich vor jedem Werktag in einer Viertelstunde der Besinnung vereint, erklärt ein solches Übermaß von Natürlichkeit für unerwünscht. Der Geschäftsführer, halb Künstler, halb Kaufmann und völliger Schüler Steiners, bejaht sogar die Zurechtweisung von Eltern, die in der Spielwarenabteilung «ihre Kinder nicht im Griff haben».

Formlose Freiheit ist nicht gemeint. Der sich frei Denkende findet sich vielmehr umfangen und kultiviert durch veredelte Formen oder Formalitäten, die sich von Erkenntnissen des Doktors herleiten. Und Naturgesetzlichkeit wohnt letzteren nach anthro­posophischer Auffassung wohl inne.

Architektur führt das vor. Auf deutschem Boden jedenfalls geben sich noch fast sämtliche Neubauten anthroposophischer Gemeinschaften und Zweige wie erstgradige Abkömmlinge des vor 55 Jahren entschalten Dornacher Beton-Goetheanums. Ähnlich herrschaftlich gliedern sie sich unter ihren meist bloß noch gekünstelt urigen Dachformen. Das übertrifft an Originalität immer noch die Beton-Waben amtlicher Fertigteil-Architektur. Doch genormt wirkt es auch.

Dieses Bauen repräsentiert eine sehr wissentlich andere Gesellschaft: Feierstätten theatralischen Zuschnitts erweisen fast überall den im Innersten musischen, kultischen Anspruch der auf Steiner bezogenen Gemeinschaftsarbeit. Damit harmoniert es beispiels­weise, wenn sich in einem neuen anthroposophischen Altenzentrum Dortmunds der Festsaal für die Aufbahrung der Toten in unmittelbarer Nachbarschaft zum Speisesaal befindet.

Anthroposophische Architektur weist sich aus durch eine Vorliebe für möglichst handwerkliche Variationen im Detail, durch abgeschrägte Ecken und andere Abweichungen von den Perspektiven der Rechtwinkligkeit. Im Großen jedoch bevorzugt sie Symmetrie.

41


Eine nach Steiners Vorbild in Wachs oder Ton vormodellierte, somit ursprüngliche Form bedeutet den anthroposophischen Bauherren bei der Gestaltung von Säulen oder Trägern noch immer so viel, daß sie sich vom Beton kaum losreißen können, ja in ihm wider alle ihnen geläufigen Argumente der Baubiologie geradezu schwelgen. Säulen und Träger sollen die Schwere des auf ihnen Lastenden dem Auge plastisch mitteilen. Die ersichtliche Leichtigkeit heutiger Bauelemente gerät in Widerspruch zu dem von Steiner übernommenen Bedürfnis, «Gewachsenes» hinzustellen.

Er hatte einst bereits nach der eigenständigen Ausgestaltung der Säulen seines ersten Goetheanums die Überzeugung gewonnen, er handle so im Bunde mit «der schaffenden kosmischen Welt selber». Ornamente formend, fühlte er sich «in das Naturschaffen hineinverwoben» und glaubte, selber zu schaffen - «wie die Natur».

Anthroposophen, die sich in der verständnislosen Umwelt oft fühlen wie die Urchristen im heidnischen Rom, gehen davon aus, daß dem distanzierten Beobachter eine solche geistige Identität mit den Gesetzen des Organischen noch lange wird fremd bleiben müssen. «Entweder man ist Anthroposoph, um solche Architektur zu begreifen», meint ein eher optimistischer Berliner Waldorf-Lehrer,» oder man wird es durch sie».

Manfred Schmidt-Brabant, ein ehemaliger Pianospieler und Privatgelehrter aus Berlin, nun aber Repräsentant des Vorstandes der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, führt seine Geschäfte in einem Inbegriff solcher Architektur: Sein Büro ist einer der düster fürstlichen Betonsäle des Goetheanum II. Dort erlaubt er sich vor Besuchern immerhin weltmännisch Scherze ob des verschwenderischen Aufwandes von Heiz-Energie, der zu den unzeitgemäßen Folgen des fortwirkenden Architektur-Vorbildes gehört.

 

Metamorphose in Zement. Feierliches Wahrzeichen für die Gefahr einer kulturellen «Versteinerung». Gegen den gepriesenen Gestaltwandel, dem Spontaneität, Improvisation, das leicht Bewegliche dienlicher wären, sperren sich die von zuvielen nur nachgebeteten Kulturanweisungen eines Meisters, der, Ewigkeit im Augenblick ergreifend, auf sein Gesamt­kunstwerk zustrebte.

42


Wie er sich zutraute, das Elementare, das in ewigem Fluß Befindliche formend dingfest zu machen, so unternahm er seine Art von Durchstich zu dem, was er für die Ursprünge von Sprache und Bewegung erachtete. Vokale, fand er unter anderem, reflektierten innere Empfindungen, Konsonanten äußere Vorgänge. Und das wahre, Urmenschliche Sprechen, das sei ein künstlerisches, ein rhythmisches. Dokumente einer demgemäß bemühten Sprachkultur haben wir in den Texten seiner Mysterien-Dramen. Bei deren Aufführung verausgaben sich anthroposophisch geschulte Schauspieler heute noch in einer an längst vergangene Zeiten des Burgtheaters erinnernden Sprechtechnik. Die Wiedergabe eines jeden Vokals oder Konsonanten, jedes Hinauf oder Hinab der Stimme, jegliche Geste des Redenden oder Angeredeten sind vorbestimmt durch eine auf Steiner gründende Seelen-Dramaturgie. Den dabei im gewöhnlichen Zeitgenossen entstehenden Eindruck vollkommener Künstlichkeit hat der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt folgendermaßen kommentiert: «Es gibt nichts Komischeres, als uneingeweiht in den Mysterienspielen der Anthroposophen zu sitzen.»

Ein aus ähnlichen Brunnenschächten gehievtes Kunstprodukt ist die Eurythmie. Diese durch Rudolf Steiner erdachte Leibes­bewegung soll Seelisches vors Auge heben und entstand auf Anfrage einer Verehrerin, die sich vom Meister für ihre Tochter eine Art musische Gymnastik gewünscht hatte. Seine Antwort war unwiderstehlich: Ein Kult. Für jeden Schritt, jede Bewegung von Haupt oder Händen war er überzeugt, zwingende Impulse aus Urquellen menschlichen Ausdrucksdranges beziehen zu können. Jeder Buchstabe wurde durch ihn übersetzt in den angeblich einzig gemäßen Körperausdruck. Daraus setzen die Eurythmisten, von farbigem Seidenchiffon ätherisch umflort, in streng geregelter Choreographie Gedichte in Szene.

43


Ein durch Steiners Sprachschule gegangener Rezitator trägt diese Poesie in lautmalendem Pathos wie ein Musikstück vor. Entsprechend werden auch, Ton für Ton, musikalische Werke vorgeführt in streng gefügter Leichtigkeit, die auf körperlicher Schwerstarbeit beruht. Die Lauflinien künstlerischer Eurythmie-Darbietungen sind auf dem Papier vorgezeichnet und muten an, als habe man den Lebensweg eines Glühwürmchens mitgeschrieben.

Waldorfschülern verordnet das Curriculum die für sie befremdlich unsportliche Pflichtübung dieses seelischen Turnens. Für ihr weiteres Leben haben sie damit dann zumeist nichts mehr im Sinn. Kranken und Behinderten beinahe jeder Art hingegen hilft die notfalls auf schwächste Handbewegungen therapeutisch reduzierbare Ausdrucksskala einer medizinischen Variante von Eurythmie. Tiefer eingeweihte Anthroposophen aus dem medizinischen und dem pädagogischen Bereich schließlich bedienen sich ihrer bei der Einschätzung von Seelenbefunden oder Charaktereigenschaften, und das mit einer Treffer-Quote, die neben der anerkannter Test- und Psychotechniken wohl bestehen kann.

Bis zur mindesten Tauglichkeit im medizinischen Bereich oder sogar bloß zur eurythmischen Bühnenreife führt eine siebenjährige Ausbildung. Zu deren harmlosesten Anforderungen gehört es, mit den Zehen Spiegelschrift zu schreiben.

Wo sie Musik und nicht pathetisch deklamierte Verse in Körpersprache übersetzt, auch da, wo sie nur ein vergeistigtes Schreiten vorführt, erreicht Eurythmie allmählich über den Kreis der Anthroposophen hinaus ein allgemeines Publikum. Götz Friedrich bediente sich ihrer bei einer Inszenierung von Wagners «Parzifal», August Everding holte sie in Pendereckis Oper «Paradise Lost» auf die Bühne des Stuttgarter Staatstheaters. Das Ensemble des Stuttgarter «Eurythmeums» hatte dort 1983 mit seiner eigenen abendfüllenden Choreographie von Griegs «Peer Gynt» Erfolg wie ein Weltstadt-Ballett.

44


Weniger solche Bühnenerfolge als die Expansion der anthroposophischen Heilpraxis und der Waldorfschule führen dazu, die Nachfrage nach fähigen Eurythmisten rapid zu steigern. Der Andrang zu den Eurythmieschulen in ganz Europa — darunter denen in Stuttgart, Dornach, München, Hamburg, Berlin, Wien, Den Haag und Kopenhagen — überfordert bei weitem deren Ausbildungskapazität. Viele Hunderte von Anwärtern werden zurückgewiesen. Krasser als hier ist das Mißverhältnis zwischen Bewerbern und Ausbildungsplätzen nur noch im Bereich der anthroposophischen Landwirtschaft, wo auf jede Lehrstelle heute drei Dutzend Bewerber treffen.

Selbst Japaner und Chinesen fangen an, sich nach den von Rudolf Steiner formulierten Ausdrucks-Gesetzen zu bewegen. Im Eurythmeum Stuttgart, unter der beschwingten Autorität der aus Neu-Guinea stammenden Eise Klink schreiten und schweben sie zu einer im Tonfall des 19. Jahrhunderts zelebrierten deutschen Dichtkunst.

So ein zeitfremdes Pathos tönt aus zahlreichen Steiner-Jüngern bereits, sobald sie an ein Rednerpult treten, und sei es zu einem Rechenschaftsbericht. Der Drang zum Wortgebären und zur Wortgebärde behängt noch das bürokratische Deutsch mit Schleiern der Gründerzeit. Öffentlich verklärt ein anthroposophischer Bankprokurist aus Bochum eurythmisch das Wort Risiko: «Im krönenden Schlußbuchstaben — deutet das Allumfassende des O in seiner Stille auf etwas Überpersönliches hin.»

Auch solch bewegte, an Stefan George gemahnende Abwendung von der Sprachwirklichkeit, signalisiert, wie der zementierte Formen-Kanon anthroposophischer Architektur, Erstarrung; esoterische Abkapselung ohne Not. Kritische Anthroposophen beunruhigt das entsprechend. An sich selber beobachten sie einen geradezu unwiderstehlichen Drang zu diesem, neben ihrem tadellosen Umgangsdeutsch gravitätisch einherstolzierenden Herrschaftsidiom, einer Kunstsprache eben. Mit ihr verständigen sie sich untereinander als Eingeweihte in den subtilen Fragen höherer Spiritualität, doch nicht minder über Banalitäten.

45/46

Der Stuttgarter Waldorf-Spezialist Stefan Leber ist Absolvent des Berliner Otto-Suhr-Instituts. Mit seinen sieben Kindern oder mir spricht er völlig leger. Tritt er vor Kollegen hin, hebt, auch wo nur über Schulwerkstätten diskutiert werden soll, wie von selbst das Hohepriesterliche an: «In der muskulären Gestalt wirken vergangene Schicksale. Denn unser Gliedmaßen- und Muskelsystem ist es, das uns zur Begegnung mit anderen Menschen, zum schicksalsmäßigen Ausgleich hinträgt ...»

Muß das so sein? Es müsse, sagt Leber. «Diese Sprache wird erwartet.» Andererseits lobt der ebenso eingeweihte Schriftsteller Christoph Lindenberg vor Anthroposophen einen Autor: Der schreibe «wie ein Nichtanthroposoph ... und dadurch originell». Und der Münchner Alt-Anthroposoph Walter Beck, der noch selber an Steiners Dramatischem Kurs teilgenommen hat, schwört sogar, dort sei dieses Pathos abgelehnt worden. Andere geben ihm recht: «Das Gesäusel hat erst unter Steiners Witwe angefangen.»

Die Beengung wird empfunden. Zur Metamorphose reicht das nicht aus. Allenfalls einem Original-Genie wie einst dem Steiner-Leser Wassily Kandinsky oder einem Joseph Beuys mag diese gelingen wie ein natürlicher Vorgang. Beuys insbesondere erweist Steiners Gesamtkunstwerk Reverenz, indem er einfach, ohne Rückspiegel, in sein eigenes fortschreitet. Darin werden wie von seiner berühmten «Honigpumpe» auf der Documenta 1977 Steiners Ideen umgewälzt — frei von Steiners Formalismus. Auf «Dreigliederung» als einen Schlüssel gesellschaftlicher Neubesinnung bezieht sich ein großer Teil der Arbeit von Beuys. Dies ist für ihn die längst wirkende «Grundgestalt allen sozialen Geschehens».

Gern hätte er seine zwei Kinder in die Düsseldorfer Waldorfschule geschickt. Doch sie tragen seinen Namen, und der, glaubt Joseph Beuys, hätte auf den gutbürgerlichen «Freien Schulverein» am Ort gewirkt wie ein rotes Tuch. Die Beuys-Kinder absolvierten eine öffentliche Schule. Einen fortgeschrittenen Anthroposophen verkraftet heutzutage manche Waldorfschule gar nicht mehr.

46

#

 ^^^^ 

www.detopia.de