3. Anthroposophische Wirtschafts-Gemeinschaften
«Verfrühte Brüderlichkeit enthält Sprengstoff»
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Das Konto, von dem hier die Rede ist, wurde von 20 Anthroposophen bei der Commerzbank in Bochum eröffnet und sollte geführt werden nach den in Geldangelegenheiten bislang unerhörten Idealen «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit». So war's der aktenkundige Wille sämtlicher Zeichnungsberechtigter.
Jeder von ihnen bekam sein Unterkonto und die Möglichkeit, davon im Bedarfsfall auch über seine bisherigen Verhältnisse hinaus Gebrauch zu machen. Die Grundregel eines solchen Geldverkehrs mutet an wie ein Kinderspiel: Automatisch fließt ins große Gemeinschaftskonto, was jeder verdient, und jeder schöpft heraus, was er braucht; und die Bank macht jedes Minus, das beim einen entsteht, sogleich aus dem Haben der anderen, der Gesamtheit, glatt.
Das klingt nur so einfach. Denn, was braucht der Mensch? Woher soll er wissen, was er brauchen darf? Wie bald ersichtlich wurde, heben einige einen Bruchteil dessen ab, was sie überweisen. Bei anderen verhält es sich umgekehrt. Alle atmen tief durch und sagen dann frohgemut, so sei es recht. Sie wollen ein neues Gefühl für Geld einführen. Doch da hatte die Bankenaufsicht entschiedene Einwände. Die Commerzbank Bochum mußte das Gemeinschaftskonto wieder auflösen und begann die Unterkonten wie ganz gewöhnliche Konten abzuwickeln.
Die Gemeinschaft gab nicht auf. Sie begann den Konto-Ausgleich in eigener Buchführung von außen her zu regeln.
Damit hält sie das Experiment seit 1979 am Leben. Mittlerweile zählt sie 22 Mitglieder.
Ein neues Gefühl für Geld, das kostet einiges, was nicht unter Soll oder Haben steht. So muß gelernt werden, einigermaßen gelassen zur Kenntnis zu nehmen, wieviel sich die anderen genommen haben. Vorsätzlich unterdrücken die Teilnehmer und Teilgeber da ihre negativen Reflexe. Das fällt ihnen schwerer als gedacht.
Nicht nur mit dem Verdienten, vielmehr miteinander und mit sich selber möchten diese weltanschaulich einigen Bürgersleute anders verfahren. Und sie ertappen sich selber dabei, wie sie plötzlich bloß deswegen mehr als gewollt für sich in Anspruch nehmen, weil ihr Ego unberechenbar nach Selbstbedienung drängt. Der Umstand, daß sie einander nicht auch noch wie eine Wohngemeinschaft auf der Pelle sitzen, erleichtert ihnen die da hilfreiche ungestörte Selbstbetrachtung.
Die anderen halten sich mit Kritik zurück. Keiner will dem naheliegenden Gedanken nachgeben, dem Konto-Partner, den er vielleicht gerade in einem neuen Nadelstreifen-Anzug aus dem neuen Wagen steigen sah, könnte vielleicht mal eine etwas schlichtere Lebensart oder Hubraumklasse anempfohlen werden. Dazu sehen sie in der Freiheit des Individuums einfach einen zu erhabenen Wert. Keinerlei Norm oder von außen verordnete Moral soll dessen geistiges Wachstum schnüren, keine Entwicklungsstufe dem Bewußtsein nur so abverlangt werden. Nicht nach Karl Marx und einem kollektiven Schrittmaß darf es hier gehen. Die Einkommens-, oder wie die Teilhaber selber es nennen, «Wirtschafts-Gemeinschaft» von Bochum richtet sich nach der Geldphilosophie Rudolf Steiners.
Anthroposophen sind sie nicht bloß, wo es sich um Geldsachen handelt. Nur eine von den zehn Frauen mit Kontovollmacht ist schiere Hausfrau. Die übrigen leisten - für bescheidenes Entgelt - soziale oder pädagogische Arbeiten der Nachfolge Steiners. Die meisten der zwölf Männer entwerfen Modelle für die Planung, Finanzierung und Verflechtung von Einrichtungen des von Steiner begründeten biologisch-dynamischen Landbaus, von anthroposophischen Schulen, Produktionsstätten, und gehen überdies zumeist noch einem regulären Beruf nach.
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Das mit dem Konto ist nur einer ihrer sozialen Versuche. Es sind Prokuristen der Anthroposophen-Bank GLS («Gemeinschaft für Leihen und Schenken») unter ihnen, Manager, Rechtsanwälte, Steuerexperten, auch Lernende, die derlei werden wollen.
Die von der Commerzbank abgelehnte Bündelung der 22 Unterkonten zu einem kommunizierenden System des Ausgleichs von Haben und Soll besorgt nun Ingeborg Diederich, eine der Frauen aus der «Wirtschafts-Gemeinschaft» und von Beruf sogenannte «Agentin» für alternative Unternehmungen. Alarm zu schlagen hat sie erst, sobald Kontoüberziehungen die von ihr zu hütende Balance des Ganzen mit etwa 100.000 Mark ins Minus kippen lassen. Dann wäre es wieder einmal Zeit für ein etwas intimeres Geldgespräch innerhalb der Gemeinschaft. Es müßte erneut in konzilianter Form nach Grenzwerten für die Bedürfnisse des einzelnen gesucht werden, stets mit dem Seitenblick auf die anthropo-sophische Maxime aus Rudolf Steiners «Philosophie der Freiheit»: «Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens.»
Nicht an ausgemachte Verschwender, sondern an den Gemeinsinn wird dann in tadelloser Form appelliert. «Sollten wir nicht alle», sagt einer der Herren und hat die helle Güte in den Augen, «etwas mehr sparen?» Selbst mit ein bißchen Heuchelei ist es ein hehres Bemühen. Auch Konsum gilt vielen Anthroposophen ja für ein Webmuster des jeweiligen Entwicklungsprozesses. In seiner planmäßigen Steuerung oder Bremsung sähen sie eine Sünde wider den im Konsumenten (hoffentlich) wohnenden Geist.
Genau besehen, war der Einbau von Bremsen aber eine Überlebensfrage der Bochumer Wirtschafts-Gemeinschaft. Gleich zu Anfang wurde auf einen Schlag der Preis für fünf neuerworbene Autos abgebucht. So etwas muß nicht sein. Ingeborg Diederich muß daher auch vor ungewöhnlich dicken Abbuchungen zu Rate gezogen werden. Erst nachdem sie grünes Licht gegeben hat, darf der einzelne das Nötige für eine große Anschaffung abzapfen. Über diese formale Kontrolle wird eine mehr innerliche Selbstregulierung angestrebt.
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Die Bochumer wollten nicht auf einen Knalleffekt zutreiben wie eine Wirtschafts-Gemeinschaft niederländischer Anhänger Rudolf Steiners, die einem ihrer Mitglieder den Erwerb einer kleinen Motorjacht als Verbrauch hat durchgehen lassen. Daraufhin hätte sich dieser Anthroposoph vom gemeinsamen Konto beinahe ein zweites Boot gekauft.
Egoismus, über dessen Vehemenz sich der einzelne keine rechten Vorstellungen gebildet hatte, wird beim Abschiednehmen vom überschaubaren eigenen Einkommen lebendig. Derlei Facetten charakterlicher Entwicklungshilfe bringen eine Menge künstlichen Lichtes in solche Wirtschafts- und Konto-Koalitionen, von denen sich allein in den anthroposophischen Zirkeln des Ruhrreviers an die zwei Dutzend erproben. Unsere Bochumer Gruppe hebt sich von diesen Versuchen dadurch ab, daß sie früher anfing und die meisten Besitzbürger in sich vereinigt.
Unter Anthroposophen (und nicht nur unter ihnen) vergrößert sich generell das Verlangen nach praktikabler Abwendung von rein materialistischen Handlungsweisen. Angesichts apokalyptischer Perspektiven von Privat- und Staatskapitalismus wollen viele noch einmal die Realisierbarkeit dessen erproben, was Rudolf Steiner bereits beim Umsturz des Kaiserreiches als sein «Soziales Hauptgesetz» öffentlich anbot:
«Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Arbeit für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.»
Solcher Abkehr vom egoistischen Lohn-Leistungs-Prinzip huldigen heute in Abstufungen die Mitwirkenden anthroposophischer Schulen, Sozialeinrichtungen, Werkstätten, Landgemeinschaften. Nirgendwo jedoch wird der Kernsatz der Steinerschen Soziallehre so hoch hinauf transformiert wie in Bochum.
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Wilhelm Ernst Barkhoff, ein von Steiners Gedanken ersichtlich weißgeglühter Steueranwalt und Gemeinnützigkeits-Experte aus Bochum, hat diesen Kreis mit seinem Mut zum vielleicht lebenslänglichen Verzicht aufs Selbstverdiente mitgerissen. Seine drei Junior-Partner, sämtlich Familienväter, stiegen mit ein. Was immer einer aus dieser lukrativen Anwalts-Sozietät am Bochumer Husemann-Platz an Honoraren berechnen mag, es geht in den Gemeinschaftstopf. Zuvor wird es in vier gleiche Teile gesplittet und einzeln versteuert. So eine Kontogemeinschaft genießt beim Fiskus einer Leistungsgesellschaft naturgemäß keine Vergünstigungen. Die Betroffenen haben einen Bonus für ihre experimentelle Brüderlichkeit auch gar nicht erwartet.
Schon eher nimmt sie wunder, was alles in ihnen selbst sich querlegt. Das Ego kriecht, manchmal sieht es aus, als wolle es umkehren. So bricht aus einer der Frauen beim Anblick einer anderen vom Konto-Kreis die Frage hervor: «Wieso braucht denn die schon wieder 'nen neuen Mantel?» Andere bedrückt, was ihnen Zinsen bringt. Frau Diederich besitzt etliche Häuser, von denen sie ab und an eins für anthroposophische Zwecke drangibt; überdies gehört ihr ein florierender Eisengroßhandel. Immer neu ringt sie mit dem von ihr empfundenen Anspruch, daran die von Haus aus geringer Bemittelten noch stärker teilhaben zu lassen.
Über das Arbeitseinkommen hinaus Privatvermögen zur Disposition zu stellen, darauf hatte die Gemeinschafts-Regel sich gar nicht erstreckt. Also disponiert die Kontohüterin über den Löwenanteil ihrer Revenuen noch so souverän, daß ihr das ein bißchen mißfällt. Dem Bankprokuristen Rolf Kerler, der sich vom selben Konto ausschließlich nährt, hat sie aus ihrem Vermögen zu Hausbesitz verholfen. Doch wie ein völlig anonymer Akt buchhalterischen Vermögensausgleichs läuft so etwas denn doch nicht.
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So verbindet eigentlich keiner mit dem Gemeinschaftstopf die Hoffnung auf eine schnelle Metamorphose des tiefersitzenden Eigentumsbegriffes. «Unser Verhalten», sagt Kerler, «ändert sich nur sehr allmählich.» Fragt ihn einer, wieviel er verdient, kommt es spontan: «5400 brutto» - als ginge ihn die Summe noch etwas an.
Ihr Experiment besteht aus den wirtschaftlichen Fakten und dem Vertrauen auf den guten Willen aller Teilnehmer. Von einem regen Meinungsaustausch ist es keineswegs begleitet. «Man verbalisiert nicht alles», sagt Barkhoffs Sozius Ingo Krampen. Falls sich jemand vom gemeinsamen Konto einen Überschuß an freundschaftlichen ödere familiären Gefühlen erhofft haben sollte, hätte der fehlkalkuliert. «Unsere engsten Freunde», sagt Krampen, «sind da auch nicht drin.»
Und entgegengesetzte Regungen? Unmut über ökonomische Bocksprünge der jeweils anderen? Derlei Emotionen sind zumindest unerwünscht. Es obsiege, sagt Krampen, immer wieder «irgendwo der Gedanke, ach, vielleicht lerne ich den doch ertragen, vielleicht sehe ich selber das bald neu».
Geduld hat Vorrang. Analyse könnte schaden. Zum Höheren entwickeln kann und muß sich alles: der andere, man selber, der Kontogemeinschaftssinn. Anthroposophen fühlen sich stets auf dem Anstieg, warten, daß der Blick sich weitet. Wie schleppend auch immer - Veränderungen sind in ihnen allen vorgegangen. Ingo Krampen beschreibt es: «Es beeinflußt zwar keiner den anderen moralisch, wie und was er ausgeben soll ..... wir könnten immer noch in die Düsseldorfer Altstadt fahren und groß ausgehen ...... Aber was man sich auch leistet, immer hat man jetzt die anderen mit im Bewußtsein.»
Damit sich das in rechnerisch verläßlichen Größen niederschlägt, wurde vereinbart, zehn Prozent aller Einkünfte regelmäßig zu sparen. Das hat schon deshalb Sinn, weil sie — obschon der einzelne jederzeit all das aufkündigen kann — in diesem Konto-Bund doch etwas fürs Leben, ja sogar bereits für die nächste Generation erblicken. Einige von ihnen kön-
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nen nicht mit einer Rente rechnen. Deren Alterssicherheit sollen alle anderen und das Vertrauen aller in alle garantieren. Und für die Ausbildung sämtlicher Kinder soll der Gemeinschaftstopf natürlich gleichfalls herhalten.
Berufliche Unabhängigkeit soll er erzeugen, nicht Trägheit. Ein Mitglied, der Bochumer Industrie-Manager Albert Fink, quittierte seinen lukrativen Job und widmete sich nun völlig dem Entwurf eines alternativen Wirtschaftssystems im Sinne Rudolf Steiners. Dafür wird er weniger gut bezahlt. Die bloße Existenz gemeinschaftlicher Finanzen, glaubt Fink, habe ihm diesen Übergang erleichtert. Dennoch führt er immer noch dem Gemeinschaftstopf mehr zu, als er von seinem «Unterkonto» abzapft.
Ein Sohn Finks zählt zu denen, die auf Kosten der Gemeinschaft bereits studierten. Später wurde diesem jungen Mann angeboten, selber Mitglied mit Vollmacht über das Konto zu werden, das ihn bislang finanziert hat. Er schlug das erst einmal aus. Vorerst verlangte es ihn nach einem uneingeschränkt eigenen Guthaben. Ein individueller Anspruch, wie Anthroposophen ihn achten. Nach kurzem Ausflug in die finanzielle Ellenbogenfreiheit schloß er sich dem «Club» der Alten dann doch an.
Bürgerlichen Anstrich hat das zweifellos, von der Motivation bis zum Stil des Verzichts und der Zuversicht in Geldfragen. Die Älteren in der Gemeinschaft — Frau Diederich ist dafür Beispiel — verfügen über Immobilienbesitz und haben begonnen, sich von ihm zugunsten der Jüngeren zu trennen. Sie möchten damit ein Muster für die Erfüllung des anerkannt leeren Artikels 14 Grundgesetz schaffen, wonach «Eigentum verpflichtet». Die Jungen, insbesondere die Anwälte, kneten dazu immer neue, übereinander hinausführende Vertrags- und Grundbuch-Versionen.
Sehr viel schneller als Rudolf Steiners geheimnisträchtiges Werk in ihre Köpfe und Gemüter Eingang zu finden vermag, reift darin sein organischer Eigentumsbegriff, den zu praktizieren es sie drängt. Die älteren Teilnehmer des Wandlungsversuchs haben längst alle aus privatem Vermögen zugeschossen. Alle zusammen haben sie dann zur Übung ein Mietshaus gekauft.
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Damit wähnen sie sich ein Schrittchen weiter in ihrem Wandel des Privaten: Erstens können die Erwerber alle mit gleichem Anspruch ins Grundbuch, egal, wieviel sie beigesteuert haben. Zweitens sollen diejenigen von ihnen, die mit ihren Frauen und Kindern als Bewohner von dem Haus Besitz ergreifen durften, nämlich Wilhelm Ernst Barkhoffs drei junge Anwaltspartner, auf die Wahrnehmung aller althergebrachten Eigentümerrechte verzichten — folglich auch auf ihre Eintragung im Grundbuch.
Das entspräche der Wunschvorstellung dieser bürgerlichen Utopisten von einem entgifteten Eigentumsrecht: Gesplittet soll es werden zwischen Nutzern und Haltern. Grund und Häuser sind für sie keine willkürlich häufbare Vermögensmasse. Bei ihrem Entwurf haben die Nutzer das Haus für sich wie Besitz, solange sie es bewohnen, und müssen es entsprechend pflegen. Verkaufen, beleihen oder vererben dürften es nur die Halter, doch einzig im Sinne einer Gemeinnützigkeit, die jeden Gedanken an Spekulationen oder sonstigen Mißbrauch ausschließt. Das nennen die Bochumer «individuelles Gesamteigentum». Die Nutzer leisten eine Nutzungsentschädigung, wenn sie können. Sie mündet in einen Fonds, der alsbald ähnliches Wohnungseigentum für andere finanziert. Tatsächlich zahlen die drei Anwälte jetzt, was der ortsüblichen Miete entspricht. Theoretisch könnten sie sich mit einer Mark im Monat aus der Affäre ziehen. Ihre Verträge, immer am Rande des geltenden Rechts, sind noch immer Spielmaterial. Ausgenommen Anthroposophen, könnten die keinen Zeitgenossen zuverlässig festlegen. Anthroposophen hingegen brauchten vielleicht gar keine Verträge, ginge es nicht um dieses Fahnden nach neuen, höheren Formen: nach der Eigentums-Metamorphose. «Noch tappen wir im Dunkeln», scherzt einer, «wie jemand, der nach einer vielleicht gar nicht vorhandenen Katze sucht und ruft: ich habe sie!»
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Einige aus der Kontogemeinschaft wollten deswegen bloß finanziell, nicht im Grundbuch dabei sein. Nach gewissenhaftem Zaudern haben sich zwölf von 22 da eintragen lassen, darunter kurioserweise allerdings die Bewohner, die doch bloß Nutzungsrecht beanspruchen wollen: jene jungen Anwälte also, aus deren Köpfen das alles entsprungen war. So widersprüchlich reagieren in Fragen des alten Habens vermeintliche Repräsentanten eines neuen Seins, wenn es zum Schwur kommt.
Bisher ist es keinem geglückt, bis ins letzte trennscharf und rechtswirksam ihren voraneilenden Eigentumsbegriff in Paragraphen zu kleiden. Selbst die bloße Beschreibung dessen, worauf sie hinauswollen, leidet unter dem Mangel an verwendbaren Begriffen. Das alte, im römischen Recht verwurzelte Eigentumsdenken hat auch die Sprache besetzt. «Es muß», sagt der Alternativ-Manager Albert Fink, «eine Art Vertrauensrecht gefunden werden ..... ein bewegliches Recht.»
Dem einzelnen wollen sie das Zusammenraffen von Immobilien unmöglich machen. Undurchsichtigen Institutionen wie dem Staat oder anonymen Kollektiven trauen sie als Steiner-Leser natürlich ebensowenig. Dem einzelnen das Gehäuse für seine eigene angstfreie Entfaltung zu sichern - nicht weniger, nicht mehr -, erscheint ihnen ein System aufeinander bezogener Teilhaber und Treuhänder am ehesten tauglich.
Mit Immobilien möchten sie es genau so halten wie mit ihrem Verdienst. Die Einbahnstraße der Selbstversorgung wünschen sie zu verlassen — und fahren dann darauf doch voller Unbehagen weiter. «Es ist ja doch die paradoxe Situation», sagt Albert Fink, «daß wir erst verstehen, was wir tun, wenn wir es tun.» Um Tun wie Verstehen gleichermaßen bemüht, hat die Kontogemeinschaft ihre Sachwalterin Ingeborg Diederich angewiesen, nun auch noch fünf Prozent aller in ihre Buchführung mündenden Haben-Beträge automatisch auf den neuen gemeinsamen Wohnbau-Fonds zu übertragen.
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Mit dem, was damit gebaut werden kann, möchten sie auf die nächsthöhere Stufe kommen. Da sind sie auf ihre noch ungeborenen Ideen gespannt. «Nimmt man alte Leute rein?» fangen sie jetzt an nachzudenken, «oder vielleicht Behinderte?» Albert Fink hat eine maßlose Perspektive: «Alles, was staatliche Sozialarbeit ist, muß zurück in den privaten Bereich.» So ein verbal mächtiger Anlauf tut immer wieder not, wenn am Ende wenigstens kleine Veränderungssprünge gelingen sollen. Mitunter ermuntert einer von ihnen ferne Gesinnungsfreunde zu experimentellen Wagnissen, bei welchen sie selber in ihrer reformerischen Springprozession noch nicht so recht gelandet sind.
Sie sind keine Umstürzler. Noch weniger sind sie Heilige oder Helden. Samariter ist auch nicht das richtige Wort. Wohltat ist ihr Handeln zu allererst für sie selber - weil es sich mit ihrem Denken befriedigend deckt; weil es ihr Ich aufwärts läutert für künftige Inkarnationen. Auf die hin orientieren sie sich. Sie denken ähnlich über den Besitz von Haus und Leib: alles ist vorübergehend. Doch einen Umzug ins Nichts, den fürchten sie weder von da noch von dort.
Erst muß der Bewerber begreifen: viel, vielleicht sogar Enormes wird von seiner Mitarbeit erwartet. Dann soll er die mit seinem Leben und dem der Seinen verbundenen Kosten nennen. Daraus ergibt sich, was man ihm wird zahlen müssen. So werden unter Anthroposophen Gehälter heute ausgehandelt.
Ähnlich gilt das für Stipendien aus Stiftungen, von denen rund 150 Studierende an den pädagogischen Seminaren der deutschen Waldorf-Bewegung, an der anthroposophischen «Alanus»-Kunsthochschule bei Bonn oder den Lehrstätten für Eurythmie, nicht selten unter der Ebene von Bafög, geschwisterlich auskommen. Mit gewählten Vertrauensleuten wird der Monatswechsel vereinbart. Wer gejobt oder geerbt hat, erstattet freien Willens Geld zurück. Die Unterrichtsstätten werden oft von ihren Studenten gratis geputzt und instandgehalten.
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Menschliche Leistung, da sind sie alle bereit, Rudolf Steiner zu folgen, ist keine Ware, sondern eigentlich unbezahlbar. Für andere wird sie vollbracht. Einer vom anderen sollen die Leute leben, sonst, hat Steiner prophezeit, würden auf Dauer nur «Elend und Not» erzeugt. Geld gibt es zur Befriedigung der Bedürfnisse, nicht als Arbeitsentgelt.
Wieder sind wir beim Sozialen Hauptgesetz. «Für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen zu erzielen», das sind danach «zwei voneinander ganz getrennte Dinge». Daraus erwuchs das Ritual einer Bedürfnisbestimmung außerhalb jeglicher Tarifordnung, das sich ausbreitet, wo die wachsende Gefolgschaft Steiners ihre Kräfte vereint.
Nichts weist darauf hin, daß diese Besoldungsreform den Arbeitswillen herabsetzt. In Waldorfschulen, anthroposophischen Krankenhäusern oder den neuerdings eigenen Geldinstituten der Bewegung, in Forschungslaboratorien oder in biodynamischen Gärtnereien begegnen wir einem entsprechend ausgeprägten Typus von edel Überarbeiteten, die sich zu ihren kargen Einkünften in fast schon masochistischer Offenheit bekennen.
Aber das Soziale Hauptgesetz ist kein Dogma. Annahmepflicht verbindet sich in Wahrheit nur mit einem der anthroposophischen Leitmotive: eigener Einsicht zu folgen sei des freien Menschen einziger Imperativ.
Das öffnet ein weites Feld für Deutungen und Dissonanzen, insbesondere in der Einkommensfrage. «Info 3», eine anthroposophische Zeitschrift für kritische Alternative und Grüne in Frankfurt, erschrickt ein bißchen über die neuerlichen Sprungversuche einer von Steiner abgeleiteten Geldumwertung. Auszuhalten sei eine Kontogemeinschaft Bochumer Machart auf die Dauer bloß bei uneingeschränkter Nächstenliebe, mahnt das Blatt. «Den anderen in seinem ganzen Wunsch- und Triebleben in sich auferstehen zu lassen» , heiße es da, «sich so mit ihm zu identifizieren, daß man seinen Handlungen genauso tolerant gegenübersteht... wie den eigenen.» Fazit: Das ist was für Heilige oder Scheinheilige.
Manche lassen vorsorglich von sich hören, daß sie das nicht bringen würden.
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Szene aus dem Rudolf-Steiner-Haus in Stuttgart, Uhlandshöhe, wo 1919 die erste Waldorfschule in einem Cafehaus entstand: Frank Teichmann, der Leiter eines anthroposophischen Studienseminars, und Heten Wilkens, der Geschäftsführer der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, räsonieren über dieses schleichende Ansin-nen. ein rechter Anthroposoph hätte seinen Geldbedarf zu definieren. Wilkens ist ein Nachfahre Bremer Großbürger, und sein Weg zu Steiner hat mit einer Verwundung im Krieg begonnen, bei der er das vorübergehende Abheben seiner Seele aus dem Leib wegweisend erfahren haben will. Der Geldfrage entzieht er sich wie einem Knebelungsversuch. «Frage mich niemand nach meinen Bedürfnissen», entrüstet -er sich, «sonst sage ich nämlich: 30000 Mark im Monat!» (Mit einem knappen Siebtel davon begnügt er sich in Wahrheit.) Teichmann stimmt zu. Er, der noch ein bißchen weniger bezieht, fabuliert: Sein Bedarf bewege sich sogar um die 50 000 im Monat. Zwei, drei Weltreisen pro Jahr, die habe er eigentlich «für Forschungszwecke» nötig.
An der Fähigkeit zu gelassenem Zurückstecken, an einem Maß für Bescheidung mangelt es den beiden nicht. Was sie verteidigen, ist der nach ihrer Meinung mit dem eigenen Einkommen vorerst noch untrennbar verbundene Vorzug abgeschirmter Selbstverwaltung. Unter gar keinen Umständen, schwört Wilkens, würde er sich einem Topf wie dem Bochumer anschließen. Ihm kommt das um Jahrhunderte zu früh. «Die Bedürfnisfrage», das ist seine derzeitige Quintessenz aus Steiner, «mündet in Heuchelei und Unfrieden. »Dafür sprechen nach seiner Meinung okkulte Zusammenhänge, wie sie sich dem geistig weiterschweifenden An-throposophen auch durch Meditation erschließen: «Noch leben wir im Zeitalter des Egoismus! Vorverlegte Brüderlichkeit enthält Sprengstoff!»
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Den Beobachter anthroposophischer Sozialreformen darf es nicht verwirren, wenn ein in Steiners Geistes- wie Sozialwissenschaft höher Klimmender einen Zusammenhang zwischen Lohntüte und Weltenplan in Erwägung zieht. Diese Lehre beabsichtigt, anders als die von Marx, eine Umwälzung mit Transzendenz. In ihr existiert nichts vordergründig Vollziehbares, wozu es nicht auch Perspektiven ins Unerfaßliche gäbe.
Kalendersprüche für ungetrübten Geldgenuß sind da zwar keinesfalls herauszupicken. Trotzdem verstehen Senioren der Anthroposophie mit Steinerscher Geistigkeit ein vor allem standesgemäßes Leben völlig zu vereinbaren: Bio-Bauern, die sich bei ihrer Bodenbehandlung demütig allen von Steiner erdachten Mühen unterwerfen, ziehen häufig Steiners Eigentumsidealen unerschüttert das Erbhof-Denken vor. Der Elektro-Magnat Peter von Siemens hat bei seiner Unternehmer-Praxis auch nicht das Soziale Hauptgesetz im Auge behalten. Statt dessen, das bescheinigt ihm «Info 3», hat er «wie ein Nikolaus mit einem Sack voller Geschenke», mit «Geldspenden, Rabatten oder abgeschriebenen Büromöbeln» zahlreiche anthroposophische Einrichtungen bedacht.
Der Münchner Anthroposoph Walter Beck, einer der wenigen noch vitalen Kursanten Steiners aus dessen letzten Lebensjahren, mehrte sein Vermögen mit dem Bau von Waldorfschulen und anderer an Steiner orientierter Architektur. Seinen Beitrag für die Sache sieht er darin, mitunter günstig Grundstücke für die Steiner-Gesellschaft besorgt und, ungeachtet der normfremden Details, «Anthroposophisches» gegen normales Honorar gebaut zu haben.
Als Beispiel für eine seinen Idealen entsprechende Vermögensumschichtung erwähnt er lobend die von ihm geschaffenen Eigentumswohnungen in besten Gegenden Münchens. Fürst Johannes von Thurn und Taxis, sagt er, habe davon eine für sich genommen.
Mag sein, daß anthroposophische Praxis dieser Güte die studentischen Rebellen der sechziger Jahre dazu anregte, an entsprechende Hauswände zu schmieren: «Steiner — das ist auch so einer.»
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Später näherte sich sogar einer wie Rudi Dutschke einem auf dem Bodensee-Hügel von Achberg tagenden anthroposophisch rot-grünen Kreis. «Am Ende seines Lebens», behauptet der Anthroposoph und Grüne Joseph Beuys, «stand Dutschke in den Zusammenhängen unserer Arbeit.» Auf ihrer weiteren Suche nach Sinn und Lebensordnung wechselten viele aus der damaligen Studentenbewegung von Marx zu Steiner über, willens, sich bei ihm Anleitungen zum Handeln herauszuschreiben - speziell wo es ums Geld ging.
Was linken Kommunen beim Umgang mit ihren Kassen überhaupt nicht gelingen wollte, entwickelt sich in großen Lebensgemeinschaften anthroposophischer Sozialarbeiter mittlerweile weitgehend fieberfrei zu einem geregelten Dauerzustand: Aller Einkommen dient aller Auskommen. So nördlich vom Bodensee in Lehenhof, Hermannsberg oder Brachenreuthe, Dorfgründungen der anthroposophi-schen Camphill-Bewegung, in denen an die zweihundert geistig Behinderte mit etwa halb so vielen Gesunden in Familiengemeinschaften leben. Zwar verfügen hier die Behinderten noch alle über eigenes Geld. So erzwingen es die Gesetzes-Automatik ihrer Entmündigung und der dazugehörige Taschengeld-Tarif der öffentlichen Hand. Die sogenannten Unversehrten überantworten sich freiwillig mehr und mehr dem Sozialen Hauptgesetz und seinen vorerst kaum übersehbaren Folgen.
Niemals dürfe einer, steht es dort, «die Früchte seiner eigenen Arbeit für sich selber in Anspruch nehmen». Die müßten «möglichst ohne Rest der Gesamtheit zugute kommen». Denn, so Steiner, «wenn ein Mensch für einen anderen arbeitet, dann muß er in diesem anderen den Grund zu seiner Arbeit finden, und wenn jemand für die Gesamtheit arbeiten soll, dann muß er den Wert, die Wesenheit und Bedeutung dieser Gesamtheit empfinden und fühlen.»
Die Räte der Dorfgemeinschaften haben das in ihre Satzung genommen, der sich in diesem Punkte keiner unbedingt beugen muß. Heilpädagogen, Lehrer, Landwirte, Handwerker, selbst Arzte überweisen ihr laufendes Einkommen auf ein Gemeinschaftskonto.
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In Lehenhof verfügt jeder, der dem zustimmt, bei einer nahegelegenen Sparkasse über ein eigenes Unterkonto mit jährlichem Kredit-Limit und enthält fortan nur Auszüge, die ihm Soll-Beträge melden: die eigenen Abhebungen. So mag er sich selbst zu diszipliniertem Ausgeben erziehen.
Der Begriff «Haben» ist verschwunden. Alle Einkünfte, ausgenommen die aus eigenem Vermögen, fließen dem Sammelkonto zu, das die Sparkasse nicht verzinst. Abgerechnet wird alles am Jahresende. Dann werden die auf den Unterkonten aufgelaufenen Soll-Beträge aus dem gemeinsamen Plus gedeckt. Drei von der Wirtschaftsgemeinschaft gewählte Vertrauenspersonen haben freilich bis dahin die Ausgaben unter Kontrolle zu halten und kommentieren die oft sprunghaften Unregelmäßigkeiten bei der Sollerzeugung in regelmäßigen Gemeinschaftssitzungen mit kernigen Ermahnungen. Sogar zu Kreditrestriktionen sind sie von Fall zu Fall durchaus fähig.
Schon 30 Kilometer weiter, in Brachenreuthe, läuft die Prozedur völlig anders ab: Da gibt es überhaupt keine mit Personen verknüpfte Buchführung mehr. Die erst einmal vereinigten Einkünfte werden aufgeteilt auf wieder gemeinsame «Sonderkonten» für «persönliche Bedürfnisse», die «Ausbildung der Kinder» oder für «Ausgaben im Zusammenhang mit der Anthroposophie». Von denen zehren alle namenlos. Allerdings, nach dem Urbild der von emigrierten deutschen Anthroposophen 1939 in Schottland gegründeten ersten Camphill-Dörfer hütet ein von der Gesamtheit bestellter <Steward> die Konto-Balance. Wer größere Summen braucht, teilt ihm das vorher mit und erfährt durch ihn, was möglich ist.
Verdrießliche Geld-Debatten sind nicht auszuschließen. Umstritten ist dann etwa, ob der Besuch eines anthroposophischen Kultur-Ereignisses samt den dazugehörenden Reisespesen einem «persönlichen Bedürfnis» oder dem Vereinsziel entsprach.
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Nur jeder zehnte von 30 Mitarbeitern Brachenreuthes spielte vorläufig nicht mit. Im viel größeren Lehenhof leben sämtliche 36 festen Mitarbeiter (mit 43 Kindern) von Soll-Konten der Wirtschaftsgemeinschaft. Noch einmal so viele, und das sind vor allem die jüngeren Helfer, bleiben draußen. Für sie ist das Dorf in der Regel nur Durchgangs- und Ausbildungsstation. Von Zeit zu Zeit richtet die Wirtschafts-Gemeinschaft für frisch angesiedelte Dauerbewohner eine separate Übungskasse ein. Keiner wird unvorbereitet oder unter Zwang einem ungewohnten Umgang mit dem Einkommen unterworfen.
Ist es schon kein Armutsgelöbnis, was hier angestrebt wird, so kostet es doch Überwindung - und Nerven. Zermürbende Grundsatzdebatten allerdings wie unter Linken oder auch Grünen entzünden sich nicht. Dafür gäbe es keine - kollektive Richtschnur. Das Ich ist letzte Instanz. Und falls einen plötzlich wieder nach völlig eigenem Lohn verlangt - auch gut.
«Es ist manchmal wichtig, den eigenen Egoismus zu erfahren», sagte mir ein alter Werkmeister. Gerade hatte er am eigenen Sohn beobachtet, wie das jählings wieder aufbricht. Der ist ein Kunstschmied aus Lehenhof und wurde dort erwachsen. Nun hatte er geheiratet; eine Töpferin aus dem Dorf. Mit ihr wünschte er anders zu leben. «Ganz privatistisch» nannte es sein Vater und meinte, das werde sich geben. Der Junge müsse sich wohl bloß beweisen, «daß er mit seiner Arbeit eine Familie ernähren kann».
Gereiftere Familienväter, darunter einer mit sechs Kindern, haben dieses Verlangen in der Wirtschafts-Gemeinschaft vergessen. Benötigt eins der Kinder zur Entfaltung seines musikalischen Talents eine Klarinette für 10000 Mark, dann hat sich mit diesem Problem die Gesamtheit zu befassen - und abzufinden. In einer Gemeinde, die sich kein einziges Fernsehgerät genehmigt, war für derartige kulturelle Erfordernisse allemal Geld und Einsicht vorhanden. Später freilich wird der geförderte Klarinettist der Gemeinschaft sein Instrument wohl abstottern müssen. Nach verwöhnenden Wohltaten steht den Anthroposophen nicht der Sinn.
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Anders als bei den Freunden in Bochum minimiert sich im Dorf der Abstand vom Nächsten und seinen Anschaffungen. Das schließt aus, daß individuelle Eigenarten sich erst über Kontozahlen offenbaren. Geredet wird schon zuvor. Trotzdem kommt es immer wieder zu verdrießlich sprunghaftem Anstieg der roten Zahlen. Von einer bereits ausreichend verinnerlichten Selbstregulierung kann noch lange nicht die Rede sein.
Im Grunde verlangt es das Menschenbild dieser Anthroposophen, sich auch in ihren Bedürfnissen ein bißchen voneinander zu unterscheiden. Der eine fährt Audi 100, der andere R 4. So weit dürfen die Spielräume schon sein. Wo brüderlich entnommen wird, verlieren Gegenstände ihren Statuswert. Außerdem wird für jedes neue Auto gleich eine Fahrgemeinschaft rekrutiert.
Das sind Experimente, wie sie sonst keiner durchhält: Verteilungsmodelle eines Mikrokosmos, der sich von der Besessenheit des großen Ganzen absondert - handelnd und ziemlich schweigsam. Auch einige von links kommende Steiner-Leser winken da ärgerlich ab. Das, sagen sie, sei der falsche Kurs. Sie beanstanden an solchen Übungen nicht den Zeitpunkt; ihnen mißfällt deren an Noahs Arche erinnernde Begrenztheit.
Energisch behauptet Wilfried Heidt, ein steinerisch angewandelter Soziologe aus dem Berliner Otto-Suhr-Institut, dem Verfasser des Sozialen Hauptgesetzes hätten nicht Versuche in der Nußschale vorgeschwebt. Der müsse einfach größere Zusammenhänge im Sinn gehabt haben. «Heute würden wir sagen», so dreht das Heidt, «ordnungspolitisch hat er's gemeint, gesamtgesellschaftlich, und nicht einfach so als Anweisung zum Gutsein.»
Gemeinsam mit dem Kunst-Prediger Joseph Beuys, einem Freundeskreis Hamburger Computertechniker und anderen aus dem sogenannten «Achberger Kreis» hat er deshalb etwas eingefädelt, was angeblich ein bißchen höher ansetzt: den Verbund von zwei Dutzend sehr unterschiedlichen Winzig-Unternehmen zur gemeinnützigen Stiftung «Dritter Weg».
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Nein, sie haben sich dem Sozialen Hauptgesetz nicht buchstäblich gebeugt. Im weiteren Sinne Steiners wollen sie vielmehr der Freiheit des Geisteslebens dienen. Mit ihren Mitteln leisten sie den Grünen Forschungshilfe. So haben sie ein Rechtsgutachten über die Aussicht finanziert, die Bundesrepublik per Volksentscheid zu kurieren.
In den fünf Jahren seines Bestehen, heißt es, habe der Verbund solchen Zwecken insgesamt 600 000 Mark gewidmet. Abgemacht wurde das jeweils in den regelmäßigen Konferenzen von drei Dutzend dabei Gleichheit übenden Firmendelegierten. Denn aus den Überschüssen der ange--schlossenen Firmen stammt das Geld.
Die erwähnten Software-Macher, ein aufblühender Garnhandel, alternative Teestuben oder das von den Grünen bevorzugte ehemalige Yoga-Hotel «Humboldt-Haus» in Achberg erwirtschaften das vorwiegend. Ein paar For-schungs-Grüppchen, ein Alternativ-Verlag oder die Freie Universität des Joseph Beuys steuern eher Verbales bei. Alles in allem erwarten sie voneinander Brüderlichkeit.
Damit glauben sie, der wahren Zielrichtung jener Dreigliederung gerecht zu werden, die Rudolf Steiner der gesamten Industriegesellschaft zur Rettung empfohlen hatte, eben dieser vielzitierten, vielgedeuteten: Freiheit im Geistesleben, Gleichheit vor Staat und Recht, Brüderlichkeit in der Wirtschaft.
Zur Brüderlichkeit, finden sie, gehöre völliges Vertrauen. Nur mündlich werden deshalb voreinander Geschäftsberichte erstattet. Alle halten sie auch so für wahr. Kontogemeinschaft mögen sie nicht sein, weder als Unternehmer noch als Gehaltsempfänger. Die Einkünfte bleiben privat, was auch immer darüber bei Steiner stehen mag. Allerdings: Bescheidene Einkünfte müssen es sein. Im bundesdeutschen Brutto-Durchschnittsgehalt sehen die vom Dritten Weg eine Grenze nach oben. So gebiete das, sagt der Soziologe Wilfried Heidt, «unsere Einsicht in die Probleme der übrigen Welt».
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Überzeugte Steiner-Leser wissen, welche Art Bewegung heilsam wäre für ihr Geld. Sie ihm zu verordnen fällt ihnen trotzdem schwer. Blindlings, wie die Fütterung eines Opferstocks, kann das sich nicht vollziehen. Einen eigenen Weg gilt es für Geld wie Geist zu verfolgen.
In Bochum widmet sich die Gemeinnützige Treuhandstelle dem Vollzug entsprechender Schenkungen. Manche zahlen dort langsam eine Schenkung an, für die sie einen Zweck erst ausmachen müssen. Einer schenkte 20.000 Mark und verlangte, davon müsse erst einmal sein eigener Sohn ein Darlehen zum Studieren kriegen. Zurückzahlen muß der das nicht dem Vater. Die Treuhandstelle erwartet das Geld. Sie kann es später immer wieder anderen Studenten geben.
Einer schenkt ein Haus. Das Haus ist vermietet. Die Miete will er weiter für sich. Nach einer Weile gesteht er sich ein, wie wenig er sie nötig hat. Soll er nun einfach darauf verzichten? Nein, er macht aus der Miete eine neue Schenkung. Deren anthroposophischen Zweck möchte er selbst regelmäßig angeben: Jahr für Jahr vielleicht einen anderen.
Es gibt Fabrikanten, die übersenden der Treuhandstelle plötzlich einen siebenstelligen Schuldschein. Das versperrt ihnen den Rückweg in den vertrauten Egoismus. Die auf dem Schein garantierten Schuld-Zinsen widmen sie, solange sie nur können, selber einer ihnen gerade am meisten zusagenden Gemeinnützlichkeit.
Hundert solcher Posten haben sich in Bochum angesammelt, daneben Geld und Revenuen Dutzender anthroposophischer Vereinigungen, die diese Teuhandstelle vor zwei Jahrzehnten gemeinsam begründet haben. Hier liegt ein Hort anthroposophischer Vermögenspolitik: 60 Millionen Mark. Die Hälfte davon besteht aus Schenkungen Alfred Rexroths, eines Hydraulik-Herstellers aus Lohr am Main, der mit so einem Millionen-Schuldschein angefangen hatte. Als er, wie die Anthroposophen sagen, «über die Schwelle ging», vererbte er ihnen seine sämtlichen Industriebeteiligungen.
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Nur an Vereinigungen von verbürgter Gemeinnützigkeit darf das den Bochumer Treuhändern anvertraute Geld verliehen werden. Solche Vereine heißt es oft erst einmal zu gründen.
Den Treuhändern liegt besonders am Erwerb oder, wie sie es nennen, am «Freikauf» von Bauerngütern. Damit sich die erwünschte Gemeinnützigkeit da einstellt, muß sich zur anthroposophischen Agrikultur fast unausweichlich ein pädagogisches oder therapeutisches Vorhaben gesellen.
So entstehen vom Bodensee bis nach Holstein Landbau-Lehrstätten und Lebensgemeinschaften mit geistig Behinderten. Das füllt verlassene Höfe mit stadtflüchtigen Sinnsuchern, jungen Bio-Bauern, seelisch Kranken und clean gewordenen Junkies.
Kaum ist so ein Millionen-Darlehen heraus, da trommeln die von der Treuhandstelle schon wieder Geldgeber zusammen. Eine Gemeinschaft zahlungswilliger Sympathisanten sollen die bilden und, jeder zu kleinen Teilen, die Last eines vollzogenen Freikaufs auf sich nehmen. Es wird ferner angeregt, daß jeder auf die Zinsen für seine paar tausend Mark einem weiteren guten Zwecke zuliebe verzichtet. Mit dem dann zurückfließenden Geld kann die Treuhandstelle weiter Land freikaufen.
Nur, es ist nicht getan mit den Millionen für Höfe und Land. Ehe dort die Arbeit überhaupt anfangen kann, muß noch Geld her für den Einkauf von Vieh, Saatgut, Maschinen. Und das wiederholt sich alsbald. Für die Bochumer Geld-Verwalter - sie sind uns in diesem Kapitel bereits als Kontogemeinschaft begegnet - war das ein Ansporn, neben der schwerbeweglichen Treuhandstelle eigene Banken zu gründen.
Die erste hieß «Gemeinnützige Kredit-Garantie-Genossenschaft» (GKG). Die zweite nannten sie «GLS-Gemeinschaftsbank» oder «Gemeinschaft für Leihen und Schenken».
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Die führt sogar Sparguthaben mit, auf Wunsch, marktgerechter Verzinsung. Unter ihren 3500 Einlegern schätzt sie besonders jene, denen es wichtig ist, daß ihr Geld gleich samt Zinsen für «sozial erwünschte» Vorhaben arbeitet. Die Bank selber ist ja so ein Vorhaben, an dem sich 4144 Mitglieder mit 2,5 Millionen Mark in kleinen Tranchen beteiligen, notfalls zum Nachschießen verpflichtet. Also winken viele Kunden bei der Frage nach der von ihnen erwarteten Rendite selbstlos ab, während die Banker ihrerseits einen Ehrgeiz darein setzen, Geld möglichst nur gegen eine Verwaltungsgebühr zu verleihen.
Leihen und Schenken gehen ineinander über. Dabei expandiert das Geschäft. 1983 beispielsweise haben die Bochumer Anthroposophen ein Geschäftsvolumen von 86 Millionen Mark erzielt (1982: 73 Millionen), zu ihrer Genugtuung ohne Gewinn oder Verlust.
Mit üblichen Banken läßt sich hier kaum etwas vergleichen. Nicht nur, daß es unter den 20 Mitarbeitern der GLS welche gibt, die von der Firma kein Salär nehmen, da sie über etwas Vermögen verfügen. Diese Bank verlangt von ihren Kreditnehmern meist keinerlei «dingliche Sicherheit». Sie kann das, solange die Kreditnehmer überwiegend Anthroposophen sind. Unter anderen stehen 175 Waldorf-Schulvereine, Kindergarten- und Jugend-Initiativen, 59 Landbau-Gruppen, 83 Heilstätten und 31 alternative Handelsorganisationen bei der GLS in der Kreide.
Sie zieht dem Alleinschuldner «Leihgemeinschaften» vor. Im Kreditgeschäft, ausnahmsweise, vertrauen selbst Anthroposophen eher einem Kollektiv (von allerdings namentlich Haftenden). Das gilt fürs Geldnehmen wie fürs Geldgeben. Bochumer Rezept ist es, um ein kreditwürdiges Projekt eilends eine «Darlehens-Gemeinschaft» zu flechten und den einzelnen Darlehensgeber möglichst gleich noch zur Mitsprache zu berechtigen.
Das Wirtschaften in «Demeter»-Betrieben, speziell auf «freigekauften» Höfen wird so kreditiert - von Leuten aus der Stadt meist, die sich plötzlich, Aug' in Aug' mit Bio-Bauern, für Anbau wie Vermarktung zu interessieren haben. Was da durchschlägt, ist ein Rezept: Geld wird rundum Heil- und Bindemittel; es darf sich nur nirgendwo festsetzen.
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Darlehens-Gemeinschaften, mal etliche Hundertschaften stark, dann wieder bloß ein Grüppchen, finanzieren Werkstätten und Fuhrunternehmen, doch ebensogut Vorhaben, die einzig geistigen Nutzen versprechen. Sie ermöglichen die Überbrückung der oft schwindelerregenden Finanzierungslücken beim Bau neuer Waldorfschulen, für den weithin die Regel gilt, daß ein Schulverein sein gerade nicht benötigtes Guthaben einem anderen zur Verfügung stellt, der gerade nach Geld jappt. Jeder borgt jedem. Darauf kann jeder bauen.
Und können sie nicht borgen, so können sie immer noch ~ bürgen. Die GLS bündelt die Bürgschaften. So, indem sie viele sind, können Rudolf Steiners Leser mit ihren verbürgten Tausendern, die sie nur notfalls drangeben müssen, Millionenkredite bewegen. «Geld», schwärmt Albert Fink, «ist etwas ungeheuer Flüssiges, das alles durchdringt.» Die heute herrschenden Vorstellungen davon hinkten nur verhängnisvoll weit hinter den heilsamen Möglichkeiten her.
Der Anthroposoph Joseph Beuys genießt die erwähnte Flüssigkeit auf seine Weise: 7000 Eichen und 7000 Stelen aus Basalt werden in seinem Namen und von gespendetem Geld bis zur Dokumenta 1987 in Kassel gepflanzt. Die dafür nötigen 3,5 Millionen Mark kommen aus der ganzen Welt und bei weitem nicht nur von Anthroposophen. Andererseits wurde von ihm bei dem Versuch, selbständig nach Bochumer Art für vielversprechend Alternatives zu bürgen, gelegentlich zu großzügig quergeschrieben. Reichlich 40000 Mark gingen ihm dadurch verloren, und mit seiner Frau hat er Verdruß bekommen. Drum will Joseph Beuys in Zukunft «nur noch schenken». Weniger natürlich.
Steiners philosophische Maximierung des «Ich» trifft sich günstig mit den bedeutend naiveren Sonntags-Eingebungen sinnsuchender Kapitalisten. Manche lassen sich dabei ihren patriarchalischen Egoismus durchsonnen. Sie verwenden sich und ihr Geld für seine Reformideen. Nur in ihren Firmen kommen sie damit nicht weiter.
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Steiner ergebene Unternehmens-Patriarchen wie der Turbinen-Bauer Hanns Voith aus Heidenheim an der Brenz oder der Nürnberger Bleistift-Fabrikant Rudolf Kreutzer (Staedtler Mars) konnten zwar Erben und enge Mitarbeiter für die Anthroposophie gewinnen. Sie konnten entsprechenden Stiftungen ihre Gewinne oder sogar ihre Geschäftsanteile widmen. Doch außer einer Beimengung von Waldorf-Pädagogik in der Lehrlingsausbildung und gewissen Verzierungen des Betriebsklimas findet sich heute in der Praxis so großer Firmen nichts, worin sich wahrer Steiner niederschlüge.
Zu «seelischem Austausch» werden in Nürnberg regelmäßig Abteilungsleiter und Meister der Firma «Staedtler Mars GmbH» eingeladen; zu einem Gespräch über «Lebenskri-sen und Lebenschancen» die Programmierer. Eine Weile erfuhren Arbeiter und Angestellte des Schreibwaren-Riesen auf Wunsch eine Anleitung zum Malen oder zu ersten Übungen in Eurythmie. Vertreter müssen sich darin trainieren, ans Wohl des Abnehmers etwas inniger zu denken als an die Rendite des Erzeugers. Der Bleistift, mit dem sie sich das aufschreiben, trägt die Inschrift: «Konsequent aufs Positive reagieren.»
Dem Betriebsrat zeigt der Geschäftsführer und Anthroposoph Kurt Ebert freien Willens, was die Firma Staedtler Mars und er verdienen. Er spricht von «gläsernen Taschen» und von seiner «offenen Tür» und macht kein Hehl daraus, daß Arbeiter sich scheuen, durch letztere hereinzutreten. Eher schon schließen die sich feierabends einem für alle Fragen offenen Gesprächskreis des Hauses an. Dort reden sie allerdings viel lieber über Frühverrentung als über Rudolf Steiner.
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Firmenrechtlich ist das ehemalige Familienunternehmen mit seinen 3200 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 360 Millionen Mark längst unlösbar mit der Anthroposophie verwoben, Generator einer Stiftung, die deren Zielen dient. Das ändert nichts an Eberts Fazit: «Aus meiner Sicht gibt es keinen einzigen anthroposophischen Betrieb.»
Das ist wahr. Und die berühmte «Weleda AG» macht keine Ausnahme, obwohl sie ihre Heil- und Pflegemittel nach Steiners Natur-Einsichten gewinnt und ihre Aktien den Auguren der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach gehören. Weitab vom Sozialen Hauptgesetz zahlt die unter dem Namen einer germanischen Heilspriesterin international florierende Firma ihren Mitarbeitern 13 Gehälter und - bei 80 Millionen Mark Gesamtumsatz im Jahr - sogar Gewinnbeteiligung. Die staffelt sich nach einer Gehaltshierarchie, welche Geschäftsführern höchstens das Siebenfache des Mindestlohns zuweist.
Steiner in homöopathischer Dosierung. Das macht einen netten Arbeitgeber mehr, nichts weiter. Dem Beschäftigten steht für seine Mittagspause ein eigener Liegestuhl zu und fürs Büro eine Farbe nach Wahl. Vorgesetzte gibt es, keine Vorzimmer; einen Mitarbeiterrat, keinen Betriebsrat; eine gewisse Mitsprache, aber gewiß keine Mitbestimmung. Und die Preise werden gestaltet wie anderswo auch.
Brüderliches Wirtschaften, verflochten gar mit einem «freien Geistesleben» und einem, wie Steiner doch meinte, die «Gesamtheit» erfüllenden Geist, das hat sich in den Bereichen der Industrie einfach nicht ausbreiten wollen. Die von Rudolf Steiner selber unter solcher Zielsetzung 1920 mitbegründete Stuttgarter Aktiengesellschaft «Der Kommende Tag» ist der bislang einzige Versuch einer solchen Konstruktion geblieben.
Steiner, der zwanzig Jahre zuvor in der «Arbeiterbildungsschule» doziert hatte, erreichte, im Gegensatz zu allen seinen Anhängern seither, immerhin das Ohr des Proletariats. Dennoch: «Der Kommende Tag» ging unter, und kein Arbeiter weinte ihm nach.
Die Urzelle der Weleda hatte dazugehört und vorübergehend die Stuttgarter Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, deren Direktor Emil Molt für die Kinder seiner 1500 Mitarbeiter eine Schule nach Steiners Intentionen finanziert hat: die erste Waldorfschule.
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Zu jenem an der Inflation und seinen Unternehmern gescheiterten Verbund eine neue Variante zu knüpfen, juckt es die Bochumer Gemeinschafts-Banker offenbar in den Fingern. Eine dazu verwendbare Holding zu schaffen, hatte ihnen der Spender Alfred Rexroth geholfen und ihr den Namen «Neuguß» gegeben. Damit verwalten sie sein industrielles Erbe sowie die ihnen von noch lebenden Anthropo-sophen überantwortete gutgehende kleine Kaltenkirchener Wachsfabrik «Stockmar»; die wiederum beliefert anthropo-sophische Einrichtungen in aller Welt.
Insbesondere aber hält die Neuguß einen 50-Prozent-Anteil an der hessischen Glashütte «Süssmuth», der ersten und einzigen von ihren Arbeitern in Selbstverwaltung genommenen Fabrik der Bundesrepublik.
Die 1970 errichtete Arbeiter-Gesellschaft geriet in hoffnungslose Geldnot. Allein die Anthroposophen waren bereit, da einzusteigen - mit einer halben Million zunächst und der vagen Hoffnung, der Geist des «Kommenden Tags» werde vielleicht wiederkehren.
Von 250 auf 125 Arbeitsplätze ist das Unternehmen abgemagert. Aber auch die seien auf Dauer nur dann zu erhalten, so predigt nun Albert Fink im Namen der Neuguß, wenn die Einstellung zur Arbeit und zum Lohn sich völlig wandle. Die Neuguß wolle einfach nicht weiter zuschießen.
In den Glasbläsern soll die Bereitschaft für ein alternatives Modell wachgeredet werden. Eines zum Überleben, eines, bei dem sich das Einkommen und die Arbeit, siehe Steiner, voneinander lösen. Fink spricht von dem Plan, die Glashütte krisensicher und heilend mit einer biodynamischen Landwirtschaft zu verbinden sowie mit Werkstätten für Autoreparatur und Kunsthandwerk.
Er, der selber in einer Einkommensgemeinschaft zufrieden lebt, empfiehlt sie nun dringend den Arbeitern. So ließen sich die unvermeidlichen Lohnunterschiede zwischen Bauernarbeit und Fabrikarbeit familiär ausgleichen, findet er. Es wäre dann leichter, von der eingefahrenen Arbeitszeit herunterzukommen und Arbeit wie Geld vernünftig unter alle aufzuteilen.
Die Glasarbeiter haben sich gerade noch dazu verstanden, in der Nähe die Tochterfirma «Wilhelmsthal» zu eröffnen, wo nun Glaskunst und Teppichweberei gepflegt werden - eine Art Handwerkshof. 15 Arbeitsplätze hat das gebracht. Vom Tariflohn wird nicht abgewichen. Das wären Visionen einer Brüderlichkeit, für die, sagt vorsichtig der Arbeiter-Chef Ulrich Oskar Kriwet, «in der Glashütte erst noch viel Bildungsarbeit geleistet werden müßte». Durch die Brille der zuständigen Industriegewerkschaft liest sich das ohnehin alles anders, nämlich politisch. Die kennt zur Zeit allenfalls ein soziales Hauptgesetz, das nicht von Steiner stammt. Das lautet: Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich.
Zu guter Letzt jedenfalls haben die Anthroposophen von der Neuguß noch einmal fast eine halbe Million zubuttern müssen, ohne damit auch nur das Geringste im Sinne Steiners zu bewirken. Die Glasbläser haben schon gemerkt: So einen Betrieb einfach fallen zu lassen, das vertrüge sich schlecht mit den Idealen der Rechner aus Bochum.
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