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4.  Die Waldorfschulen

    Die Seele des Schülers langsam enträtseln

 

 

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Kein lebendes Wesen erregte in Elternversammlungen von Waldorfschulen solch ein Ärgernis wie "E.T.", der kosmische Gnom aus Hollywood. Die Pädagogen eines anthroposophischen «Elternbriefes» aus Freiburg im Breisgau reflektieren dieses Mißbehagen. 

Der «Extra-Terrestrische», fürchten sie, diese «Mißgeburt aus Gummi und Plastik», diene einem «Generalstab des Teufels» dazu, den Menschen «jedes sinnvolle und ernsthafte Erlebnis des Überirdischen auszutreiben». Anthroposophie macht sich anheischig, ihren Anhängern, also auch dem wahren Waldorf-Lehrer, zu diesem Erlebnis zu verhelfen.

Eltern brauchen sich damit eigentlich kaum zu quälen. Sie sollen eben versprechen, ihre Kinder vor der Begegnung mit E.T. und derlei Kunstfiguren zu bewahren, selbst so harmlosen wie Donald Duck, der Mickymaus, Asterix oder denen aus der Sesamstraße. Rudolf Steiner hat anno 1906 sogar vor vollkommenen, vor zu schönen Puppen gewarnt, weil sie im Kind die «schöpferische Kraft ertöten». 

Aber die meisten Eltern nehmen es nicht so genau. Ihre von E.T. entzückten Kinder verwirren dann in der Waldorfschule die Kinder der Einsichtigen. Das entfacht Streit, mitunter unerbittlichen und grundsätzlichen. Manchen dämmert erst bei solchen Gelegenheiten, wie in die von ihnen teuer erkaufte Pädagogik Rudolf Steiners Kosmisches hereinspielt und die Idee der Wiedergeburt.

Nicht E.T., sondern der Mensch selber kommt, ein in mancher Hinsicht extraterrestrisches Wesen, von da draußen herein, sagt Doktor Steiners Anthroposophie. 

Wiedergeborenes, sagt sie, richte sich ein in einer noch neuen Physis. Und binnen dreier Entwicklungsstufen von jeweils sieben Jahren soll es sich darin unter erzieherischer Obhut entfalten; Farbe und Form von Spielzimmern und Klassenzimmern, selbst noch von Klassenzimmer-Türen haben dabei tiefere Bedeutung. Ätherische und astrale (aus dem Pflanzen- und Tiererbe im Menschen heraufsteigende) Kräfte und das keimende Ich gilt es im richtigen Stadium zu fördern, und dabei auch sonst Nebensächlichem Bedeutung beizumessen. Rudolf Steiner hat sehr detaillierte okkulte Einsichten darüber hinterlassen. Wenn niemand sonst - die Steiner-Pädagogen in Waldorfkindergärten und Waldorfschulen haben dies entschieden ins Kalkül zu ziehen.

Aber was sollen die Eltern damit? An Kosmisches und Karmisches haben sie bei ihrer Schulsuche bestimmt nicht gedacht. Waldorf-Pädagogik, das hieß für sie: Keine Noten, kein Sitzenbleiben, keine sture Paukerei, keinen Ärger mit Hausaufgaben und lebensfernen Lehrbüchern.

Knaben lernen das Stricken wie Mädchen, und Mädchen hobeln an der Werkbank wie Knaben. Koedukation ereignet sich, musisch und sozial eingestimmt, in einer Einheit von Grundschule und höherer Schule. In wochenlangen «Epochen» konzentriert sich der Unterricht auf einen Stoff, gemeinschaftsfordernde Feste fesseln die Energien, Euryth-mie-Aufführungen, Basare, dazu der biodynamische Kräutergarten. Dafür sind finanzielle Opfer zu bringen. Aber auch mitreden und mitgestalten können Eltern dabei.

«Angstfrei lernen», das vor allem sollen ihre Kinder dürfen. So verhieß es eingängig der Titel eines Bestsellers, mit dem der Freiburger Waldorf-Pädagoge Christoph Lindenberg einem Mitte der siebziger Jahre stürmisch auflebenden Interesse an diesem subtil freien Modell von Gesamtschule entgegenkam (Waldorfschulen: angstfrei lernen, selbstbewußt handeln, Rowohlt Taschenbuch Verlag). Ähnliche Faszination war ein Jahrzehnt zuvor von der antiautoritäten Schule in Summerhill ausgegangen, deren Elemente viele zu Unrecht in den Waldorfschulen wieder suchen.

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Beim Streit über E.T. kommen manchmal auch solche Mißverständnisse zutage. Da wird klar: Es ist oft mehr die Antipathie wider das seelenlose öffentliche Schulsystem als die Übereinstimmung mit Rudolf Steiners Ideen gewesen, was die Eltern von derzeit 37.000 deutschen Waldorfschülern bestimmte.

Den Methoden gilt der Beifall. Der Geist bleibt hinter dem Vorhang. Mit ihm haben die meisten Mütter und Väter, doch auch verblüffend viele der 2700 deutschen Waldorf-Lehrer nur äußerst flüchtig Bekanntschaft gemacht. Ausdrücken kann sich das unter anderem in kräftigen Ohrfeigen, zu denen sie sich hinreißen lassen.

Der Vorgang ist paradox: Aus Sorge vor dem vermeintlichen Streß der Regelschule stürzen sich Eltern mit ihren Kindern in das keineswegs streßfreie Abenteuer der Anmeldung bei einer Waldorf-Institution. Bei den rund 170 deutschen Waldorfkindergärten fängt das an. Deren Zöglingen nämlich steht es zu, von der nächsten Waldorfschule einigermaßen automatisch übernommen zu werden.

Diese Kindergärten sind oft überfüllt. Es herrscht Mangel an dafür ausgebildeten Fachkräften. Und die Waldorf-Bewegung kann nicht einmal darauf erpicht sein, immer neue Kindergärten zu gründen. Mangelt es ihr doch weiterhin an Schulraum für den wünschenswerten, ja seelen-notwendigen Anschluß. Den zu bauen müssen heute oft erst einmal genügend enttäuschte Eltern sich zusammentun.

Das Erlebnis des Mangels wird zum Generator der Bewegung. Wie eine soziale Animation schildern Eltern die erfahrene Zurückweisung. Eine Waldorf-Kindergärtnerin hat abgewinkt, weil sie ihr Kind schon fernsehen haben lassen. Eine andere hat ein anderes Kind nicht nehmen wollen, weil dessen Mutter die den Anthroposophen zu trieborientierte Psychoanalyse Sigmund Freuds praktiziert. Einem jungen Unternehmer wurde eingeprägt, er möge sich nicht einfallen lassen, zu den fälligen ehrenamtlichen Anstreich-Arbeiten im Kindergarten einen seiner Angestellten abzuordnen.

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In der Waldorfschule geht es dann erst richtig los. Prüfend nimmt ein Komitee sich Kind und Eltern vor. Es setzt sich zusammen aus dem anthroposophischen Schularzt, einer auf des Kindes Körperausdruck konzentrierten Eurythmi-stin und dem Lehrer, der für seine künftige Klasse die rechte Mischung von Temperamenten anstrebt. Darüber hinaus wird hier, des Platzmangels wegen, souverän auch nach Kriterien entschieden, die Rudolf Steiners Ideen von der Würde und Entwicklungsmöglichkeit jedweden Menschenkindes schmerzlich zuwiderlaufen.

So, unter anderem, war es in den vergangenen Jahren in München. Hunderte von Müttern und Vätern wurden bereits in telefonischen Vorgesprächen planmäßig abgewimmelt. Von den danach noch angemeldeten Kindern ist vielleicht jedes zehnte in das überfüllte Schwabinger Haus der Münchner Rudolf-Steiner-Schule aufgenommen worden.

Erst nachdem der Schulverein 1983 im Osten der Stadt ein weiteres Haus für 600 Schüler eröffnete, wurde es ein wenig leichter. Die Baupläne für ein drittes, im Westen Münchens, hat eine Eltern-Initiative mittlerweile dem widerstrebenden Bayerischen Kultusministerium eingereicht. Und diese Eltern kämpfen um ihre Schule wie um eine Quelle des Heils.

Angefangen hat das 1980 mit der geschilderten Ablehnung durch das Aufnahme-Komitee. Zwei Dutzend Familien schlössen sich zusammen, ihren Kindern auf eigene Faust einen Waldorf-Lehrer samt Schulzimmer anzumieten, und konnten weder das eine noch das andere finden. Um die öffentliche Schule kamen sie nicht herum.

Dennoch begann der Kreis, gemeinsam wenigstens etwas von Steiner zu lesen. Manchen dämmerte, wie weit diese Pädagogik von ihren antiautoritären Idealen entfernt ist, und sie empfahlen sich wieder. Dafür tauchten neue auf, sogar solche, deren Kinder noch in den Windeln lagen. An eine Steiner-Schule kann man nicht früh genug denken.

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Wie aber sollte den bereits schulpflichtigen Kindern geholfen werden? Konnte denen nicht wenigstens nach dem Unterricht in der Staatsschule eine kleine, heilsame Sonderschicht in der Waldorfschule gewidmet werden? Es konnte. Das überlastete Kollegium der Münchner Waldorf-Pädagogen erteilte ihnen einmal in der Woche in Schwabing drei Nachmittagsstunden lang etwas, was sie Freizeit-Unterricht nennen und was auch in anderen Städten mittlerweile regelrecht als Zweitschule für die armen Abgewiesenen gedeiht.

Indessen waren die Eltern des nächsten Jahrgangs bereits wieder auf der Suche nach einem eigenen Waldorf-Lehrer. Wie die Aufkäufer von Raritäten reisten sie zu den Ausbildungsstätten der Waldorf-Bewegung: Nach Stuttgart, nach Mannheim, nach Witten-Annen, nach Nürnberg. Aus Dornach, von Rudolf Steiners Schweizer Gralshügel, endlich lief ihnen so ein begehrter Neulehrer zu. Unter der Obhut erfahrener Kollegen durfte man den ans Werk gehen lassen.

Das bedeutete: erneutes Flehen bei der Münchner Waldorfschule, die, um Unterrichtsraum zu gewinnen, bereits ihren Hausmeister ausquartiert hat. Wieder gab die Schule nach, richtete außer Plan eine Klasse mit dem Neuen ein, und im Jahr darauf wiederholte sich das Spiel mit einem erneut von den Eltern direkt besorgten Lehrer.

Dafür hatte der Elternkreis versprochen, binnen weniger Jahre sein eigenes Schulhaus zu bauen. «Förderverein Rudolf-Steiner-Schule im Westen Münchens» nannte er sich nun, war, 300 Mitglieder stark, eine von derzeit 75 Schulbau-Initiativen der deutschen Waldorf-Bewegung geworden. Einige der Mitglieder sind selber Lehrer in staatlichen Schulen. Der Abneigung gegen die von ihnen mitverkörperte staatliche Erziehungsbürokratie stimmen sie zu.

Was sich hier vereint und Opfer bringt, gehört vorwiegend zur mäßig verdienenden Intelligenz von liberal bis links. Junge Anwälte, Staatsanwälte, Ingenieure, Studienräte, Architekten, Programmierer, Betriebswirte, Bankangestellte, Mediziner, aber auch Studierende beiderlei Geschlechts geben den Ton an, Arbeiter gibt es kaum, und am allerwenigsten richtige Anthroposophen. Nur sechs aus dem Kreis sind von der Rudolf-Steiner-Gesellschaft München.

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10.000 Mark für ihren Schulbau zu spenden, das überstiege den finanziellen Spielraum aller. Aber Geld, das ist es, was sie brauchen, viel Geld. In der Gegend, die für ihr Bauvorhaben in Frage kommt, kostet der Quadratmeter Grund um die 500 Mark. Also sammeln sie brüderlich Bares auf selbstinszenierten Basaren, zweigen von ihrer Gratifikation etwas ab oder läuten die Aktion «Ringeltaube» aus, einen allgemeinen Verkaufs- und Tauschring mit entsprechendem Gebühren-Abschlag für die Schulbaukasse.

Darüber hinaus entfaltet der Verein naturnotwendig ein geistiges Programm, das ihm die Note einer anthroposophischen Volkshochschule verleiht. Vom Wissen höher Eingeweihter läßt sich da zwar nichts abzweigen, aber über die von Rudolf Steiner inspirierte, «organisch» und «plastisch» angelegte Art von funktionaler Architektur wird referiert - und diskutiert, über seine Reform-Ideen für Geld und Boden und Zusammenarbeit, über chemiefreie Nahrung fürs Schulkind, die vom Fernsehen drohende Bewußtseinsverschmutzung und die heilsamste Art, Kinder zu kleiden. Synthetisches, warnt der anthroposophische Experte, der sich natürlich auch dafür findet, nehme keine Feuchtigkeit auf. Richtig seien Leinen, Seide, Baumwolle und Wolle.

Die wahrhaft gemeinsame Thematik kreist ums Bauen und ums Zahlen. Grundstückssuche, Geldbeschaffung, Staatszuschüsse, Kostenminderung, so geht das um und um, bis ein Stück Land wirklich in Sicht kommt: Der von der meist ziemlich erhabenen Schularchitektur deutscher Anthroposophen angerührte Gemeinderat von Gröbenzell bei München vermittelt dem Verein einen kleinen Acker zum Spottpreis von 700.000 Mark. Das Vereinskonto weist aber nur ein Haben von 20 000 Mark aus.

Jetzt vollends wird aus dem Verein eine Bürgerinitiative. Postsparbücher werden geplündert, Mittel in der Verwandtschaft zusammengetrommelt. Etwa die Hälfte der Mitglieder geht gruppenweise, in kleinen Leihgemeinschaften, die Verpflichtung ein, binnen fünf Jahren vom eigenen Einkommen einen gemeinsamen Bankkredit von 200.000 Mark

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zu tilgen; die entsprechende monatliche Rate von 4000 Mark teilt man sich, je nach Zahlungskraft. Noch einmal 200.000 getraut sich, nach sorgsamer Hochrechnung der weiter zu erwartenden Belastungen und Einnahmen, der Verein aufzunehmen. Für den Fall, daß er sich verrechnet hat, müssen besser situierte Eltern wiederum anteilig bürgen.

Das Kapital kommt von der Bochumer Anthroposophen-Bank, der GLS. Die besteht ja, im Unterschied zu üblichen Banken, nicht auf «dinglicher Sicherung». Was sie ihrem Programm gemäß beleiht, sind ideelle Werte, nämlich überzeugend gemeinschaftliche Initiativen und Alternativen.

Das beläßt das Grundstück unbelastet. So kann es notfalls für den nun in verkraftbaren Abschnitten anzugehenden Schulaufbau beliehen werden. Auf mindestens vier Millionen wird das alles veranschlagt. Billiger läßt sich den staatlichen Richtlinien für Schulräume nicht entsprechen, ungeachtet aller elterlichen Mitarbeit am Bau.

Dabei reicht die übers Anstreichen weit hinaus: Ingenieure aus dem Verein zeichnen und berechnen abnahmefertig etwa die gesamte Heizungsinstallation. Daß der Verein mit dem versierten Waldorf-Architekten Winfried Reindl plastizierend dessen Entwürfe mitbeeinflußt hat, versteht sich ohnehin als ideelle Anteilnahme.

Alle wissen: Der eigentliche Aderlaß steht erst bevor. Dabei zahlt jeder schon heute, neben den Kreditraten, einen monatlichen Schulbeitrag, wie er ihn nach allerdings eigener Einschätzung - so ist das bei Steiner-Schulen - eben aufbringen kann. Ein Beamter mit rund 6000 Mark Bruttogehalt mutet sich für zwei Kinder monatlich 400 Mark zu, eine alleinlebende junge Mutter für ein Kind 15 Mark. Ihrer solidarischen Gefühle wegen würde sie statt dessen lieber am gemeinsamen Kredit mit monatlich 20 Mark Rückzahlung mittragen. Der Vereinsvorstand sieht das sofort ein und erläßt ihr dafür die 15 Mark Schulgeld.

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Das System des Bürgens bringt es mit sich, daß für jeden, der arbeitslos wird, sofort die anderen mitzahlen müssen. Grund genug für eine umgehend allgemeine Bemühung, so einen wieder in Arbeit zu bringen. Eine Solidargemein-schaft sind sie geworden. Zwangsläufig? Gefühlsbedingt? Wer will das noch unterscheiden? Und unter solchem Blickwinkel muten sie fast schon an wie überzeugte Anthoposo-phen, die, Steiner im Kopf, aufbrechen zu unaufgefordert sittlichem Handeln.

Was aber, wenn der Freistaat Bayern ihnen einen Strich durch die Rechnung macht? Wenn er, wider Gesetz und Brauch, die Zuschüsse zum Bau (50 Prozent) und die Kostenbeteiligung pro Schüler (60 Prozent) einfach schuldig bleibt? Es sieht aus, als lege es Bayerns Kultusministerium darauf an. Es schickt jeden neuen Ableger der Freien Waldorfschule auf die Durststrecke eines langen Rechtsweges, welcher den Eltern womöglich noch vor dem Sieg in letzter Instanz den Atem nimmt.

Die Baupläne und Anträge der Leute von München-West verschwanden erst einmal im unerforschlich verzögerten Umlauf der Kultusbürokratie. Wissen hat man sie lassen, wie die Erweiterung dieses privaten Schulmodells dem Freistaat wider den Strich geht. Daß es billiger, humaner, harmonischer arbeitet als die Regelschule, zählt dabei wenig.

Zweifellos bestünde ja die Möglichkeit, sich umzusehen. Es gibt jetzt 300 Waldorfschulen in der Welt, davon 46 allein in Holland, 24 in der Schweiz, 43 in den USA. Von den 80 bundesdeutschen sind 51 in den letzten 15 Jahren entstanden. Bayerns Schulräte könnten allein in Baden-Württemberg, dem ebenfalls konservativ regierten Nachbarland, zwei Dutzend Beispiele dieses pädagogischen Musters studieren, von dem generell zu lernen Professor Hellmuth Becker als Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung die öffentliche Schule einmal öffentlich aufgefordert hat. Den unter dem Geburtenschwund im Gegensatz zu ihr leidenden öffentlichen Schulen entzieht die Waldorf-Bewegung trotz ihrer sprunghaften Expansion nicht einmal ein halbes Prozent der Schüler.

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Subventionskürzungen drohen ihr trotzdem überall. Für Bayern jedoch scheint mit seinem halben Dutzend Waldorfschulen bereits endgültig eine administrative Abwehrschwelle erreicht. Jede neue Gymnasialstufe, die da jetzt aufgebaut wird, so dachten sich die Ministerialen, solle die Mittel vom Staat erst bekommen, nachdem sie zwei Jahrgänge durchs Abitur gebracht habe. Das hieße ein Jahrzehnt Aufbau ganz aus der Tasche der Eltern.

Die neuen Waldorfschulen im Chiemgau, in Augsburg und Würzburg haben um ihre Zuschüsse bereits geklagt und folgenlos in erster Instanz gewonnen. So gesehen haben die Waldorf-Eltern von München-West sich vielleicht auf eine Schulwanderung ans Jahrtausendende gemacht.

Da wirkt es wie Ermutigung, daß ein Lehrerehepaar aus dem bayerischen Staatsdienst jetzt schon herübergewechselt ist, an ihren Kindern für weniger Geld Steiners Pädagogik zu praktizieren. Diese Lehrerin und dieser Lehrer haben mit Erfolg beantragt, der Waldorfschule München ihre Beamtenbezüge gutzuschreiben. Nur vier Fünftel davon wollen sie für ihre Arbeit von der Schule herausbekommen. Sie sind freilich nicht die ersten Überläufer vom Staatsdienst zu Steiner, die sich auf solche Weise gleich zur anthroposophischen Soziallehre bekennen.

 

Seele des Unternehmens ist der Klassenlehrer. Acht Jahre hindurch begleitet er seine Schüler durch ihren «Hauptunterricht» und soll ihnen eine universale Kostprobe menschlichen Wissens einfüttern. Seine Fächer verlangen den rundum Gebildeten: Schreiben, Deutsch, Grammatik, Geschichte, Mythologie muß er geben, Sachkunde, Heimat-, Erd-, Menschen-, Tier-, Pflanzen- und Gesteinskunde, Rechnen, Geometrie, Astronomie, Physik, Chemie, Ernährungslehre. Ein Experte kann er da nicht werden.

Der Zukunftsforscher Robert Jungk erzählt mit Vergnügen, wie sein Sohn in einer Berliner Waldorfschule mit dem Lehrer hitzig um den Planeten Pluto stritt, welcher in dessen Kosmos noch fehlte. Er war erst fünf Jahre nach Rudolf Steiners Tod entdeckt worden.

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Kleinkram. Den Kulturträgern der Waldorfschule steht der Sinn weniger nach Wissensperfektion als nach einer Verfeinerung ihrer pädagogischen Eingebung. Fortzuschreibende, immer subtilere Kenntnis soll sich ein Klassenlehrer vor allem über die Wesen aneignen, die vor ihm sitzen, die Schüler. Ihr Phänotypus muß ihn interessieren, ihr Temperament, das Gesetz ihrer Entwicklung oder ihrer Lernbehinderung. Er kommt ins Elternhaus, schätzt das Milieu ein. Familiäre Hintergründe, Konsumgewohnheiten, Krankheiten, Verstimmungen eines Schülers sollte er zu würdigen wissen, sich geistiger Nachzügler über Jahre hin fördernd annehmen.

Der Waldorf-Lehrer Christoph Lindenberg berichtet von einem Abc-Schützen, welcher allen Angeboten und Hilfestellungen des Unterrichts zum Trotz weder lesen noch schreiben gelernt habe: Nach landläufiger Einschätzung ein Fall für die Sonderschule. Lindenberg lud, im Einvernehmen mit den Eltern, den Knaben zwei Wochen lang zu sich nach Hause ein und versuchte dort spielend, grübelnd, all seine Intuition aufbietend, dem Kind jeden Buchstaben in jeder nur erdenklichen Form und Verbindung von Lauten und Bildern näherzubringen. Nichts half.

Dennoch behielt er den analphabetischen Knaben weiter in der Klasse. Im vierten Schuljahr plötzlich habe das Kind «wie von selbst» normal gelesen und geschrieben und danach ohne weitere Behinderung die Hochschulreife erlangt.

Derart für einen langen Atem belohnt, besinnen sich anthroposophische Lehrer unwillkürlich des frühesten erzieherischen Erfolges ihres hellsichtigen Rudolf Steiner. Der war in seinen Studentenjahren als Hauslehrer an einen wasserköpfigen Neunjährigen geraten, den ein bedeutender Psychiater definitiv für schuluntauglich erklärt hatte. In diesem deformierten Körper die «aus früheren Erdenleben wiederkehrende Seele zu aktivieren», das, sagte Steiner später, sei sein pädagogischer Ansatz gewesen. In winzigen Schritten die Seele auszubilden, habe er sich «nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes» bemüht. Dabei jedenfalls gedieh der Behandelte binnen 18 Monaten zum normalen Schüler. Die Deformation des Kopfes bildete sich zurück. Steiners Schüler wurde später Arzt und fiel im Ersten Weltkrieg.

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Um geistige Antennen für allerfeinste Wahrnehmungen aus dem Wesen des Schülers bemüht sich die Waldorfpädagogik nach wie vor. Unscheinbares und Unsichtbares will sie empfangen und wichtig nehmen. Fragt sich bloß, ob ein Lehrer dahin kommt, und wie.

Täglich meditieren soll er, soll üben, abends zu Hause vor sein inneres Auge den Schüler ganz und gar herzurufen. So legt er sich darüber Rechen­schaft ab, was mit dem oder jenem in jüngster Zeit vorgegangen sein mag, nimmt sich um einen, den er innerlich vielleicht nicht präsent hat, künftig im Unterricht besonders an.

Begabte und weniger Begabte verbandelt er zu Lerngemeinschaften, ein, in Ermangelung des in Staatsschulen herrschenden Konkurrenzdrucks, eher spielerisches Unterfangen. Jedem stellt er, gemeinsam mit den paar außer ihm an der Klasse arbeitenden Fachlehrern, jedes Jahr ein Zeugnis aus. Nicht Quersummen aus einem Notenbüchlein fließen zusammen, sondern Einsichten eines über die Jahre hin beobachtenden und dabei vielleicht auch beharrlich irrenden Denkens.

Ernst Michael Kranich, eine der pädagogischen Leitfiguren aus dem «Bund der Freien Waldorfschulen» meint, Waldorf-Lehrer werde einer erst, indem er lerne, «das Wesen seiner Schüler langsam zu enträtseln». Also verlangt er bereits von jungen Lehrern «hingebungsvolle konkrete Seelenforschung» und hofft, sie werden dabei das Höchste erreichen: «Einsicht in jene Tiefen, in denen sich die gegenwärtige Seelen-, Geistes- und Lebensgestaltung eines Menschen als Ergebnis früherer Daseinsformen erweist.»

Staatsschulmeister schlagen sich mit portioniertem Schulbuchwissen, Zensuren pflückend, durch den Dschungel eines voll bürokratisierten Erziehungswesens. Der Klassenlehrer Steinerscher Prägung orientiert sich am Künstlerischen. Frei gestalten darf er seinen Unterricht, den Künstler in sich respektieren. 

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«Kunsten» heißt in der Pädagogik Steiners die höchste Verbindung von Wahrnehmung und erzieherischem Handeln: Der Lehrer fördert des Schülers «wahre Gestalt» zutage; oder das, was er dafür erklärt. Dieses künstlerische Element der Pädagogik gewinnt noch an Bedeutung, wenn in der Klasse Behinderte sitzen.

Abgesehen von den 15 anthroposophischen «Sonderschulen» für mental behinderte Kinder, und 20 heilpädagogischen Heimschulen, in denen Erziehung und «Seelenpflege» Steinerscher Art zusammenfließen, nimmt die übliche Waldorfschule ja auch soweit als möglich Behinderte auf.

Ganz generell wird jede «kunstende» Lehrkraft vom «Bund der Freien Waldorfschulen» zur Heilkraft ernannt. Die Krankheit, gegen die sie helfen soll, ist eine Zeiterscheinung, eine Mangelerscheinung: Alle Dinge, sagt Herr Kränich, würden nur noch abstrakt und materialistisch erklärt, so, als wäre das schon alles. Da veröde des Schülers Seele und werde kaputt. «Waldorf-Pädagogik», sagt Kranich, «ist der Kampf gegen diesen Seelenverfall.» Daß Waldorfschulen über eine Kfz-Werkstatt verfügen und viele Schüler ihrer Oberklassen bereits voll motorisiert sind, verträgt sich mit diesem Pathos durchaus.

In Wahrheit haben die Schulvereine der Waldorf-Bewegung seit 1970 immer anspruchsloser zugreifen müssen, um die für ihre Neugründungen erforderliche Zahl von Klassenlehrern und Fachlehrern zusammenzubekommen. «Erziehungskünstler» und die von Rudolf Steiner gleichfalls gewünschten «Weltmänner» waren gar nicht zu haben.

Schulgründungsinitiativen mußten froh sein um den Beschäftigung suchenden Überschuß der staatlichen Lehrerbildung. Wissensvermittler, deren Persönlichkeit sich in den Leistungsmühlen des öffentlichen Ausbildungssystems verengt haben mußte, traten an als Garanten einer erzieherischen Geistesfreiheit, von der sie oft nicht einmal gelesen hatten. Von gelernten Noten-Buchhaltern wurde pädagogisches Charisma erhofft.

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Der jährliche Bedarf der deutschen Waldorf-Bewegung beläuft sich auf 300 zusätzliche Lehrer. Noch 1981 konnten davon nur 80 aus den vom «Bund der Freien Waldorfschulen» geförderten Ausbildungsstätten bezogen werden. Der Rest wurde irgendwie zusammengeheuert.

Schon im folgenden Jahr verließen 140 im anthroposophischen Sinne Ausgebildete oder Umgeschulte diese von den Schulvereinen und aus Stiftungen subventionierten Seminare. Wenigstens seine kommenden Hauptakteure, die Klassenlehrer, bringt das System allmählich wieder selber hervor.

Gleich von der Penne an geprägte Voll-Anthroposophen sind zwar dabei noch immer die Ausnahme. Ältere Anwärter aber stehen jetzt Schlange. Das erlaubt eine harte Vorlese. Erwerbslose Gymnasial-Kandidaten und beruflich anderweitig bereits Erfahrene müssen zur Probe in Doktor Steiners Geheimwissenschaft einsteigen, sich eurythmisch offenbaren, einen Teil des neuen Studiums bezahlen. Ungeachtet solcher Vorbedingungen erweist sich später jeder Zehnte der Angenommenen als unbrauchbar.

Der «Bund», ist eine Art Mutter-Institution, bestehend aus einer Handvoll tonangebender Repräsentanten der Lehrer- wie der Elternschaft. Vertreter aller Schulen haben sie erkoren. Diese von der Libanonstrasse auf Stuttgarts Uhlandshöhe aus wegweisende Geistes-Holding ist 1933 gegründet, 1941 liquidiert, 1946 wiedergegründet worden. Ihre Maßstäbe geboten es ihr, nach 25 in allzu rascher Folge von Steiner-Pädagogen gewagten Schulneugründungen (im Deutschen Reich hatte es neun Waldorfschulen gegeben) eine Konsolidierungspause zu verordnen.

Doch ab Mitte der sechziger Jahre war so ein Gründungsstopp gegen die fortan hauptsächlich treibenden Eltern-Gemeinschaften nicht mehr durchzusetzen. Die Auguren auf der Uhlandshöhe konnten gerade noch darüber wachen, daß die weiteren 55 neuen Schulen und all die anrennenden Gründungs-Initiativen wenigstens ihren Minimalvorstellungen von Steinerscher Pädagogik Rechnung trugen. 

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25 von ihr ausgewählte «Gründungsberater» passen auf. Der mit Recht gefürchteten Auslese nach der Zahlungskraft der Eltern müßten die ebenso wehren wie einem Verzicht auf Eurythmie.

Wo sie zweifeln, könnte die Vollversammlung des Bundes einer Neugründung die noch immer unentbehrliche Anerkennung versagen. Denkbar wäre, daß unbotmäßige Gründer sich den jetzt begehrten Privatschul-Titel trotzdem aneignen. Deshalb sind die Namen «Rudolf Steiner» und «Waldorf» für derlei Zwecke neuerdings gesetzlich geschützt.

 

Der Gründungseifer ist eine Huldigung und eine Bedrohung für Steiners Konzept. Ihn zu drosseln setzen sich die von der Uhlandshöhe mitunter bewußt aufs hohe Roß. Eine schwäbische Elterngruppe, die schon vor dem von ihr beabsichtigten Informationsbesuch in Stuttgart die Abrechnung ihrer Reisekosten ankündigt, erfährt in strengem Ton, es würden hier grundsätzlich nicht Spesen gemacht, sondern Spenden erwartet. Darauf verstummt sie erst einmal. Das amüsiert die Herren vom Bund.

Nur wenige lassen sich so spielend verscheuchen. Die jedes Jahr in Stuttgart, Hamburg und Herne anberaumten einwöchigen «öffentlichen Pädagogischen Sommertagungen» des Bundes der Waldorfschulen sind ausgebucht gleich einem Theaterfestival. Manche Wißbegierige erschrecken noch, wenn sie erfahren: 40 Schüler in einer Klasse, das kommt in Waldorfschulen häufig vor. Die Experten versichern ihnen, ein tüchtiger Lehrkünstler fürchte eher eine zu kleine Klasse, in welcher die ihm vorschwebende Philharmonie kindlicher Individualitäten sich mangels Masse nicht entwickle.

Falls es nun aber einer Schule überhaupt an der lebenswichtigen Kunst gebricht? Geht sie dann geistig in Konkurs? Einer frühen Gründung, der Waldorfschule Pforzheim, haben Ende der fünfziger Jahre empörte Eltern wie in Panik die Kinder und damit natürlich auch die finanzielle Basis entzogen. Binnen 18 Monaten verlor sie 528 ihrer 840 Schüler.

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Die Lehrer, pädagogisch korrumpiert durch einen, wie es nachher hieß «unerträglichen Machtmenschen» in ihrem Kollegium, rangen um Besserung und Auslese, das heißt, auch miteinander. In einer Anstalt, die wie die Waldorfschule grundsätzlich ohne Direktor auskommt, kann das Gewürge subtilste Formen annehmen. Die Erzieher, im Vergleich zum Staatsdienst ohnehin meist unterbezahlt, leisteten notgedrungen Gehaltsverzicht. Heute versorgt das geläuterte Pforzheimer Haus wieder 900 Schüler.

Es ist zweifelhaft, ob bei der existenziellen Verflechtung heutiger Gründungsvereine mit den von ihnen weithin selber hingestellten Schulen ähnliche Ausleseprozesse noch ablaufen könnten. Hannovers zweite Waldorfschule etwa, die in Bothfeld, ein auf Weiterwachsen angelegtes Dorf aus Holzhäuschen mit grasbewachsenen Dächern und zusätzlicher, erzieherisch wertvoller Ofenheizung, wurde von Eltern, Kindern und Lehrern sogar eigenhändig zusammengefügt. Sie haben die Wasserversorgung, einen Pumpbrunnen, auf dem Schulhof gebohrt, Urlaub und die letzte Sparmark geopfert. In 400 «Patenschaften» teilen sie sich die Kosten für das Erbbau-Grundstück. Eine Siedlung mit 80 ähnlich schlichten Häusern möchten sie nahebei zimmern.

Durch Fortbleiben ließen sich da pädagogische Mängel wohl kaum beantworten. Konflikte zwischen Eltern und Lehrern müssen folglich ausgefochten werden. Aber wie vollzieht sich das, da doch die Schule Steiners von Anfang an ohne Verfassung und Satzung lebt? Wie wird der Ausschluß von Unfähigen oder Unzuträglichen aus einem im Erzieherischen souveränen Kollegium gleichberechtigter Lehrer bewerkstelligt? Sie werden, sagt Stefan Leber, einer der Tonangebenden von der Uhlandshöhe, «herausgeeitert». Eine, er gibt es zu, qualvolle Prozedur. Noch schlimmer wird es, wenn im unregulierten Hin und Her zwischen Lehrerkollegium und den Eltern vom Schulvorstand ein unerziehbarer Schüler herausbefördert werden muß.

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So will es die Liebe zu organischen, sich wandelnden Prozessen. Demokratische Mehrheitsentscheidungen gehören sich in dieser freien Schulbewegung nicht. Das reicht vom Lehrerzimmer bis in die Vollversammlung des Bundes. Um Konsens wird gerungen. Lediglich zur Probe darauf, ob er schon erreicht ist, heben sich die Hände. Wortmächtige Patriarchen wissen da ihren Vorteil zu nutzen.

In den mitwachsenden Schichtungen dieses Lebewesens Schule wollen die anthroposophischen Praktiker dennoch die ersehnte, die rettende soziale Dreigliederung Steiners wiederentdecken: Die Freiheit des Geisteslebens in der Pädagogik, welche sich allerdings auf einen seit sechs Jahrzehnten unveränderlichen Lehrplan stützt; die Gleichheit des Rechtslebens im Gemenge von Konferenzen, Kollegien, Schulvereinsgremien; die Brüderlichkeit des Wirtschaftens in den zweifellos sehr verbindenden Geldangelegenheiten.

In diesem Zusammenhang warnt Manfred Leist, Justitiar des Bundes der Freien Waldorfschulen, die Lehrer davor, ihre monatliche Vergütung entgegenzunehmen mit einem «klaren Arbeitnehmeranspruch». Die Lehrer sollen nämlich auch das Wirtschaften nicht einfach einer tüchtigen Elternschaft überlassen. «Das Wesen einer solchen Schule», glaubt Leist, wäre dann «in tragischer Weise auseinandergefallen». Für ihn wäre das gleichbedeutend mit einem «sozialen Krankheitsprozeß».

 

Hibernia ist der Name einer Bergwerksgesellschaft im Ruhrrevier und die lateinische Bezeichnung für Irland, die «Grüne Insel». Einer Lehrlingswerkstatt der Firma entwuchs eine Steiner-Schule, die sich inmitten der bedrückenden Industrielandschaft zwischen Herne und Wanne-Eickel wie eine grüne Insel ausnimmt und diese Bezeichnung besonders in pädagogischer Hinsicht verdient.

Ihre Unterrichtshäuser, Werkhallen und Lehrer-Unterkünfte umgeben einen Park mit Teich, Acker und Bauerngarten. Aus einem Backofen im Freien holen Kinder das Brot, zu dem sie das Korn selber gesät und geerntet haben. In einem Laden wird Kleidung verkauft. Schüler und Schülerinnen der unteren Klassen haben sie genäht. Schüler der Mittelklassen reparieren Fenster, Wände und Installationen. Sie tun es mit dem Geschick des gelernten Handwerkers. Die Schule hat ihnen das beschert.

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In einer Cafeteria nehmen Schüler der Oberklassen ihre Mahlzeit ein. Sie, die auf die Fachhochschulreife oder das Abitur zustreben, verbringen in der Schule bis zu 54 Stunden pro Woche. Trotzdem müssen sie zu Hause noch lernen und überdies - anders als die Oberstufe anderer Waldorf-Häuser - ein 14. Schuljahr auf sich nehmen. Streß könnte man dies nennen.

In jeder höheren Lehranstalt des Staates kämen sie bei 20 Wochenstunden weniger ebenfalls ein Jahr früher zur Matura. In einer solchen Schule möchten sie aber aus leicht ersichtlichen Gründen nicht sein. Denn auf der Grünen Insel werden den Menschen berufliche Fertigkeiten und Entscheidungs-Freiheiten eingeübt, die sie nirgendwo sonst in einer Schulzeit erwerben könnten, schon gar nicht als Kinder der Arbeiterklasse. Jeder vierte Hibernia-Schüler hat einen Arbeiter zum Vater. Daran gemessen sind alle übrigen Steiner-Schulen reine Bürger-Institute.

Rudolf Steiners erzieherische Sympathie fürs Lebenspraktische ging nicht ganz soweit wie das Hibernia-Programm. Spielerischer Umgang mit der Stofflichkeit wechselt hier hinüber zur Perfektion und Produktion. Eine Reihe großer Firmen bezieht aus den Schulwerkstätten ein Ersatzteil-Programm, dessen Stückzahlen in die Millionen gehen.

An 90 Angehörigen eines Jahrgangs sind die Ergebnisse des Weges sechs Jahre lang staatlich beobachtet worden. 82 dieser Schülerinnen und Schüler haben neben mittlerer Reife einen Gesellenbrief mitgenommen, zwölf dann noch die Fachhochschulreife und 38 das Abitur. Zum Vergleich: In den deutschen Waldorfschulen generell erreichen rund 35 Prozent der Schüler die Hochschulreife, im öffentlichen Schulsystem nur 19 Prozent.

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Die Hibernia-Schule braucht ihre eigene Vertriebsgesellschaft, die Fülle handelstauglicher Produkte zu vermarkten, die von ihren 1100 Zöglingen im Ablauf des Unterrichts geschmiedet, geschreinert, gewoben oder getöpfert werden. Daraus und aus einem zwischen 40 und 200 Mark pro Schüler schwankenden Monatsbeitrag der Eltern erlöst sie, was nach dem üblichen Staatszuschuß in ihrem Haushalt noch fehlt. Wie jeder anerkannten Privatschule vergütet ihr das Land Nordrhein-Westfalen 80 Prozent ihrer Kosten. Für die Lehrer, von denen viele im Schulbereich wohnen, kommt es fast völlig auf.

Es sind ihrer 80. Jeder fünfte kommt zur Pädagogik als bereits erfahrener Meister oder Ingenieur statt auf dem akademischen Weg. Daß alle wie Beamte besoldet werden, schlägt sich natürlich ein bißchen mit der Waldorf-Tradition, nach der sich die Höhe des Lehrer-Entgelts, Steiners Sozialem Hauptgesetz gemäß, aus der Lage jedes einzelnen ergeben sollte.

Hibernia-Schüler lernen Englisch und Russisch. Mit zwei Musikinstrumenten ihrer Wahl werden sie vertraut, viele, wie das Schulorchester vor Ohren führt, bis zu einer Art mittlerer Konzertreife. Ferner verstehen sie sich, eine wieder allgemeine Waldorf-Fertigkeit, aufs Feldvermessen und Bücherbinden und haben, entsprechend von Tüllmäntelchen umweht, ihren Körper eine Schulzeit lang zum Instrument von Eurythmie emporzuquälen, ihre vielleicht einzige Begegnung mit schierer Anthroposophie.

Den Schulplan durchwebt sie natürlich. Er zielt auf die gepriesene Polarität: handwerkliches und geistiges Angebot stimmen zueinander. Wenn in der Schlosserei die Bedeutung und Begrenztheit von «Toleranzen» faßbar erlernt worden sei, sagt Peter Schneider, der Sprecher des Lehrer-Kollegiums, so erlange «die Behandlung des Toleranzbegriffes im Deutsch- oder Philosophie-Unterricht eine andere Erfahrungs-Dimension».

Einerseits führt diese Pädagogik zum Erwerb besiegelter Fertigkeiten, die in der befremdlich anderen Außenwelt Ansehen bringen. Das wirkt gut gegen das Waldorfschülern wohlbekannte Mißbehagen an der ihnen vom Kindergarten an verpaßten Sonderlichkeit.

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Beruflich ausgeübt werden die Fertigkeiten gerade noch von jedem Zehnten. Denn andererseits bildet diese Pädagogik Haltungen heraus, die eine Anwendung des Erlernten in der Berufspraxis ungewöhnlich erschweren.

Die Hibernia-Schule erzieht, Peter Schneider bestreitet das gar nicht, eine neue Spezies von «Überqualifizierten». Das in der Schule erübte «Selber-Denken», meint er, bringe die Absolventen später in Konflikt mit «einer starren Betriebshierarchie», mit «unserem traditionellen Arbeitssystem», worin Denken und Handeln getrennt bleiben.

Damit mündet die derzeit effektivste Spielart von Rudolf Steiners Menschenausbildung in einer sämtlichen deutschen Waldorfschulen unangenehm vertrauten Zone zwischen gegebener und angestrebter Gesellschaftsordnung. Letztlich, sagt der Waldorf-Lehrer Schneider, sei das alles hingedacht «auf eine radikale und grundlegende Gesellschaftsreform».

Eine Umgestaltung der Arbeitswelt und der Gesellschaft «nach dem Bilde des Menschen», die sollten seine Schüler erstens wollen, zweitens sachkundig mitvollziehen können.

Wie Finanzmagie mutet es an, daß diese Schulen so viel hermachen und so wenig brauchen. «Wir haben etwas Palastähnliches gebaut», sagt der im Schwäbischen lebende Anthroposoph und Architekt Rex Raab, «und das für 40 Prozent dessen, was Staatsschulen kosten, die wie Kisten aussehen.» Die zu dieser Feststellung führende Erfahrung sammelte Raab zwischen 1950 und 1980 als Erbauer von zehn, meist in Stufen heranwachsenden deutschen Waldorfschulen. Eine der letzten in dieser Reihe, in Engelberg bei Stuttgart an einen Hang geschmiegt, verursachte beispielsweise in der Endphase pro Kubikmeter 263 Mark Gesamtkosten. Das erregte beim Oberschulamt in Stuttgart ein reserviertes Staunen. Nach Kalkulation der Bauräte hätte der Kubikmeter Schule bereits 550 bis 600 Mark kosten müssen. Raab nimmt sie in Schutz: «Ich geniere mich bei solchen Vergleichen, weil ich die Menschen kenne und sehe, unter welchen Zwängen sie arbeiten.»

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Die Kostendifferenz beschreibt den Unterschied zwischen der bürokratischen Abwicklung von Architektur und der durch eine Gemeinschaft, die mitplant, mitspart, mitzahlt und am Ende noch selber mit anfaßt. Doch sperren sich solche Gemeinschaften gegen solche Vergleiche. Sie scheuen den Unwillen der Bürokratien, bei denen letztlich der von jeder Schulbau-Initiative dringlich erwartete Staatszuschuß entspringen muß.

Größenordnungen: 1981 betrugen die laufenden Aufwendungen für die deutschen Waldorfschulen 170 Millionen Mark. Der Staat, sprich die Bundesländer, trug davon 115 Millionen. 50 Millionen wurden im gleichen Jahr in neue Schulprojekte investiert. Davon sind nur 18 Millionen staatlich wieder vergütet worden. Das heißt: 87 Millionen Mark hat in diesem einen Jahr die Waldorf-Bewegung selber aufgebracht, sei es aus der Tasche der Eltern (57 Millionen), aus den Einnahmen von Werkstätten (10 Millionen) oder durch Kredite (20 Millionen).

Nach dem abgeschlossenen Aufbau von Schulen im Buchwert von 350 Millionen Mark sind dafür jetzt noch 130 Millionen Mark Schulden zu tilgen. Mindestens drei Dutzend Waldorfschulen werden in den nächsten Jahren in der Bundesrepublik noch entstehen. Das summiert sich zu einer Bauinvestition von mehr als einer halben Milliarde.

Der Staat würde - nach einer Hochrechnung des Weinheimer Finanzexperten und Anthroposophen Benediktus Hardorp - mit etwa einem Drittel davon belastet. Allein in den Jahren zwischen 1977 und 1980 haben die bauenden Schul-Initiativen von sich aus 230 Millionen investiert. «Gibt es», fragt Hardorp, «bessere Partner für die Öffentliche Hand auf diesem Sektor?»

Es ist das alte Elend der Anthroposophen: Sie ersehnen die Freiheit von der Staatsbürokratie. Und sie müssen doch immerzu um deren Einsehen werben.

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Opfer mißlungener Steiner-Pädagogik sind mir begegnet. Auf manche hat die Schule wie eine Glasglocke gewirkt, und sie brauchen nach dem Auftauchen in der feindlich fremden Realität von Massen-Universitäten und Firmen-Hierarchien den Psychotherapeuten. Manche mußten außergewöhnlicher Begabung wegen die Schule verlassen, die den «Überflieger» nicht besonders schätzt. Manche auch sehen zurück mit Widerwillen.

Langsam nur verblaßt im Gedächtnis der Münchner Musikstudentin Franziska L. die Erinnerung an einen Klassenlehrer, der in ihr, mutmaßlich ihres lichtblonden Schopfes wegen, ein edel-sanftes Wesen gesichtet hatte und ihr die lebhafte Abweichung von diesem durch ihn gewonnenen Bild mit cholerischen Maßnahmen vergalt. Gegen einen Heizkörper wurde sie von ihm gestoßen. «Zigeunerkind» hat er sie gescholten. Die beschwerdeführende Mutter fühlte sich von dem Mann überfahren. Sonor und wolkig habe sich der auf Okkultes von Rudolf Steiner berufen, wovon sie keine Ahnung hatte.

Ein junger Buchhändler aus Lemgo, Sohn anthroposophischer Eltern, hat der Waldorf-Pädagogik ihre Handgreiflichkeiten verziehen. Nur muß er sich daran erinnern, wenn er die Verzückung heutiger Waldorf-Fans erlebt. Gleich mehrere aus dem Lehrerkollegium haben ihn und andere geohrfeigt. «Manche sind fast Amok gelaufen», sagt er, «sie haben gebrüllt, sich den nächsten besten gegriffen und drauf geschlagen.»

Ein Schüler ist der zweifellos möglichen Fehleinschätzung durch einen mangelhaft belichteten Waldorf-Lehrer auf lange Zeit ausgeliefert. Auch Leistungsdruck läßt sich durch entsprechende Bemerkungen im notenlosen Zeugnis und andere Botschaften an die Eltern sehr wohl herstellen, ganz abgesehen von der für Waldorfschüler ausgeprägten und dann auf einmal doch nach staatlichen Maßgaben benoteten Schinderei der letzten Jahre vor dem Abitur. Schwer, eine Pein sogar, wäre das Aussteigen, falls einer das System schlecht verträgt. «Wahl hast du da eigentlich keine», sagte eine enttäuschte Mutter, «bei einer Umtopfung wäre das Kind in der Regelschule auf Jahre der Außenseiter.»

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Die Faszination ihrer schicksalsbildenden Rolle zieht viele Waldorf-Lehrer in einen verzehrenden Kreislauf: Ihr Privatleben verschwindet im Beruf, in dem sie sich dafür vollends entschädigen. Falls sie dabei sich selber mehr als ihren Schülern dienen, können sie sich notfalls auf eine Maxime Steiners berufen: «Ich prüfe nicht, ob meine Handlung gut oder böse ist, ich vollziehe sie, weil ich in sie verliebt bin.»

Ernst Schuberth, Spiritus rector des Waldorf-Lehrer ausbildenden «Freien Pädagogischen Zentrums» von Mannheim, beobachtet eine Tendenz zu feierlicher Selbstvernarrtheit zunehmend schon unter seinen Studenten. «Einem übersteigerten Egoismus» wendet er sich deshalb entgegen, «bei dem vor lauter Interesse für die eigene Seele und deren Wohlbefinden die Mitmenschen nur noch so weit von Interesse sind, wie sie das fördern». Ihm verursacht es Unbehagen, daß die Lehrer «Steiner zitieren wie einen Chefideologen und die Eltern auf den Kopf hauen, die sich mit Recht beklagen, weil Englisch oder Mathe im argen liegen».

Beides, die Lücken im Wissensstoff und ihre weltanschauliche Beschönigung, sind Begleiterscheinungen des Konzeptes. Selbst Hibernia-Absolventen beklagen ja ihren nach dem Antreten in der Leistungsgesellschaft offenbar werdenden Rückstand an naturwissen­schaftlichen und mathematischen Kenntnissen. Schuld daran geben sie der Technologie-Feindlichkeit tonangebender Lehrer.

Die abgehenden Jahrgänge selbst dieser zweifellos besonders industrienahen Waldorfschule haben sich bisher fast geschlossen sozialen und musischen Berufen zugewendet. Zur humanen Fermentierung des Wirtschaftslebens, das zu reformieren sie doch mit bestimmt war, konnte die Freie Waldorfschule somit bisher kaum beitragen.

Der in der Nürnberger Bleistift-Fabrik Staedtler geschäftsführende Anthroposoph Kurt Ebert hat unter seinen 3200 Mitarbeitern kaum Waldorf-Absolventen. Eine romantische Mißweisung macht er dafür verantwortlich: «Bei der alten Generation der Anthroposophen durfte man Priester werden, Arzt, Lehrer, vielleicht noch Landwirt, aber Wirtschaft war verpönt.»

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Der Sozialforschung ist es weitgehend mißlungen, wissenschaftlich gründliche Antworten auf die Frage zu finden, welche Art Mitbürger und welchen Grad von Bereitschaft zur Leistung diese heute expansivste Form von Privatschule in Wahrheit ausbildet. Auf Kosten des Bundesbildungsministeriums wurden 1460 Waldorfschüler der Geburtsjahrgänge 1946 und 1947 Mitte der siebziger Jahre per Fragebogen konsultiert, um zu statistisch brauchbaren Ergebnissen zu kommen. Die Studie bescheinigte ihnen «schulisch überdurchschnittliches Niveau». 41 Prozent hatten mittlerweile einen akademischen Beruf erlernt, 43 Prozent bereits eine zweite Berufsausbildung beendet. Bei der Wahl der Berufe hatten erstens Neigung, Fähigkeiten und das Bedürfnis nach Selbständigkeit, in zweiter Hinsicht caritative und soziale Aspekte den Ausschlag gegeben. 

Nur in behutsamen, langen Gesprächen mit Ehemaligen kommen die besonderen pädagogischen Prägungen ans Licht. Das Ergebnis mutet ebenso verschwommen wie positiv an: Waldorf-Absolventen sind überwiegend kommunikative Individualisten, kleben weder am Stuhl noch am Geld, wechseln spielerischer als der strebsame Durchschnitt ihrer Altersgenossen Berufe, Aufenthaltsorte, Perspektiven. Am ehesten läßt sich festhalten, was alles sie in der Regel offenbar nicht sind: keine Karrieristen, Anpasser, Duckmäuser, Raffer, Raser, Spekulanten, Freaks.

Eine Neigung zu ungewöhnlicher, mitunter monomaner Beharrlichkeit ist mir an solchen Ehemaligen aufgefallen. «Man traut sich, alles anzupacken», meint der Münchner Waldorf-Absolvent Mathias Schüler, der nach dem Abitur Buchhändler gelernt, eine Buchhandlung geführt und verkauft hat und vom Erlös nun, in einer Wohngemeinschaft beherbergt, seiner inneren Stimme folgt und Philosophie studiert. Rudolf Steiner hält er für einen schlechten Philosophen.

Der Bundesbahningenieur Karl-Dieter Bodack war in der Hibernia-Schule Klassensprecher. Auseinandersetzungen mit seinem autokratischen Lehrer sind ihm anregend gegenwärtig. In vergleichbarer Zähigkeit nähert sich Bodack mit jedem ihn überzeugenden Vorschlag den Oberen der Bundesbahn. Selbst innerhalb so eines Apparates, meint er, ließen sich die Vorzüge eines vom Staate abgenabelten Wirtschaftens beweisen, wie es Steiners Spätwerk «Kernpunkte der Sozialen Frage» verlange. Er ist Anthroposoph geworden. Steiner hält er für einen enormen Philosophen.

Tatsächlich hat die Frankfurter Bundesbahnleitung den Dezernenten Bodack schon einmal beurlaubt, damit er dem privaten Reiseunternehmen TUI beim Bau eines eigenen Expreßzuges an die Hand gehen konnte. Dieser entwickelte sich zum beliebtesten Ferien-Zug Europas. In seiner Bemalung entdeckt der Eingeweihte die Formensprache der Anthroposophie. Auch einer neuen Elektrolok der Bundesbahn ist anzusehen, daß bei ihrem Design Bodack mitgewirkt hat. Die Linien ihres Blechgewandes erinnern an die Dächer anthroposophischer Bauten.

Natürlich schickt der Beamte Bodack seine zwei Kinder in eine Waldorfschule. Weil es dort so eng hergeht, fachte er die Gründung eines weiteren Schulbauvereins mit an. Dafür vor allem verbraucht er seine Freizeit.

Nicht weit entfernt von dem Platz, auf dem die neue Schule einmal stehen wird, hat er sich ein Haus gebaut. Er selbst hat es entworfen, die Hand­werker mit all den ungewohnten Details erst geplagt und am Ende stolz gemacht. Das Haus ist das bei weitem sehenswerteste in einer Kolonie der stumpfsinnigen Rechtwinkeligkeit. 

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