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16. Anarchismus und Organisation

  17 Räte    18 Avant   

  

Der Grundirrtum der Anarchisten, die Gegner aller Organisation sind,
   ist die Annahme, Organisation sei ohne Autorität nicht möglich.

Errico Malatesta 

 

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Es wird Anarchisten geben, die alles, was ich bisher gesagt habe, rundheraus als baren Unsinn ablehnen und etwas anderes vertreten. Das sollte uns an dieser Stelle nicht mehr verwundern. Anarchismus muß in seiner Vielfältigkeit auch mit Dissens leben können.

Ein geradezu klassischer Dissens in der anarchistischen Bewegung ist die Frage der Organisation. Ich habe dieses Thema bisher elegant vermieden, indem ich den allgemeinen Begriff Strukturen verwendet habe. Wie aber halten es Anarchisten mit der Organisation?

Die meisten von ihnen sehen Strukturen als die logische Konsequenz von Ordnung an, die dann zu einer An von Organisation führen. In seiner Geschichte hat der Anarchismus daher neben einer ganz heftigen und nie endenden Organisationsdebatte auch eine ganze Reihe mehr oder weniger typischer Organisationsformen hervorgebracht. Die meisten von ihnen waren nach dem gleichen Prinzip aufgebaut: 

Erstens sollten sie in ihren Formen weitgehend das Ziel widerspiegeln, sie durften also beispielsweise nicht hierarchisch, bürokratisch, autoritär oder zentralistisch sein. Zweitens sollten sie in der Lage sein, sich von einer vor-revolutionären in eine nach-revolutionäre Organisationsform zu verwandeln, sei es im Verlauf eines raschen Umsturzes oder auch einer längeren Transformation*. Drittens sollten sie in der Lage sein, sich veränderten Gegebenheiten anzupassen. Hierzu müßten sie transparent und zugänglich sein, ohne jedoch starr und dogmatisch zu werden.

 

    Die Gegner der Organisation   

 

Diese Ansichten werden nicht von allen Anarchisten geteilt. Unter den Gegnern lassen sich zwei Gruppen unterscheiden. Die einen lehnen jede Art von Organisation strikt ab. Für sie besteht der Anarchismus geradezu darin, sich nicht zu organisieren. Sie fassen Anarchie zumeist als einen individuellen Lebensentwurf auf, der sich im persönlichen Verhalten ausdrückt.

Manchen genügt es, wenn sie durch das gelebte Beispiel auf ihre Mitmenschen wirken, anderen ist auch dies gleichgültig, weil sie mit ihrer anarchistischen Lebensauffassung keinen Plan zur Veränderung der Gesellschaft verbinden. Solche Standpunkte widersprechen nicht dem libertären Ideal und sind durchaus legitim. Inwieweit sie uns einer anarchistischen Gesellschaft näherbringen, ist eine andere Frage, die solche Anarchisten aber kaum interessiert. Derartige Auffassungen finden sich häufig bei Anhängern des individualistischen Anarchismus.

Den anderen Pol bilden diejenigen Anarchisten, die auf die Anwesenheit des Ziels in den Mittel pfeifen, und ihre Organisationsformen nur auf den jeweiligen Zweck ausrichten. Der Zweck heiligt dann die Mittel.

Für das "Pfeifen" hat es sicherlich auch gute Gründe gegeben. Es ist ohne weiteres einsichtig, daß eine Anarchistengruppe zur Zarenzeit, bei den Nazis, in Korea oder unter der Francodiktatur weder transparent noch zugänglich sein konnte. Daß Anarchisten sich da in kleinen, straff organisierten und konspirativ arbeitenden Zellen organisierten, ist naheliegend. Solange das nur eine notwendige, zeitlich begrenzte und pragmatische Anpassung an eine Situation der Unterdrückung war, war das auch nicht bedenklich. Das Beispiel der spanischen CNT, die zwischen 1939 und 1976 fast vierzig Jahre im spanischen Untergrund aktiv war, zeigt, daß eine Organisation auch dann nicht militaristisch oder autoritär werden muß: trotz strikter Konspiration blieb innerhalb der einzelnen Gruppen und in der Basis des französischen Exils die antiautoritär-anarchistische Struktur intakt.

 

Bedenklich wird es jedoch, wenn aus der Not geborene Organisationsformen zur Tugend werden. Im 19. Jahr­hundert, als vereinzelte und schwache anarchistische Gruppen sich überwiegend damit beschäftigten, ›die Ideen‹ zu verbreiten und sich gegen die Angriffe des Staates zur Wehr setzten, entstanden neben offen agierenden Organisationen wie etwa den Anarchistischen Föderationen oder der Internationalen Arbeiter-Assoziation auch eine Reihe verschwörerischer Zirkel: Geheimbünde, internationale ›Brüderschaften‹ und abgekapselte revolutionäre Gruppen, die teils parallel zu den ›offenen‹ Strukturen arbeiteten, teils auf eigene Faust agierten. 

Bakunin beispielsweise spielte in beiden eine Rolle: Er war eine treibende Kraft in der ›Internationale‹ und gleichzeitig eifriger Gründer und Teilnehmer an geheimen Gesellschaften, vor allem mit Blick auf Rußland und die slawischen Länder. Das ist bei einem Mann wie Bakunin, der verfolgt, zum Tode verurteilt, in Ketten gelegt und nach Sibirien verbannt worden war, gewiß verständlich. Das heißt jedoch nicht, daß dies eine im Sinne des Anarchismus richtige Organisations­form sein muß. Geheimbündelei unkontrollierter Gruppen neigt zu Despotismus*, Selbstgerechtigkeit und einer fatalen* Glorifizierung von Kampf und Heldentum. Außerdem sind sie leichte Beute von Spitzeln und Provokateuren, sobald diese Zugang in ihre Reihen gefunden haben. Bakunin selbst wurde Opfer dieser Tendenz.

Geheimbünde, verschwörerische Zirkel und illegale Zellen können manchmal eine Notwendigkeit sein, eine ideale anarchistische Organisationsform sind sie mit Sicherheit nicht. Die Geheimbündelei der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts bereitete den Boden für zwei Entwicklungen, die um die Jahrhundertwende unheilvolle Früchte tragen sollten: Einerseits die Phase terroristischer Attentäter, die die Anarchie "mit Bombe, Dolch und Dynamit" erzwingen zu können glaubten, und andererseits die Entstehung einer streng hierarchischen, in Zellen gegliederten Partei von Berufsrevolutionären wie Lenin sie entwickelte, und die uns mit den Bolschewiki eines der politischen Monster dieses Jahrhunderts bescherte.

Da den verschwörerischen Berufsrevolutionär die dunkel-romantische Aura des Heldenhaften umgibt, hat es immer wieder Menschen gegeben, die sich von solchen Mythen angezogen fühlten und zu entsprechenden Organisations- und Aktionsformen neigten. Zuletzt erlebte die deutsche Öffentlichkeit ein solches Drama Netschajewscher* Prägung, als die von anarchistischen Ideen inspirierte ›Bewegung 2. Juni‹ 1974 den "Verräter" Ulrich Schmücker zum Tode verurteilte und im Berliner Grunewald "hinrichtete". 

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Schmücker hatte sich vom Verfassungsschutz benutzen lassen, war aber in erster Linie ein idealistischer und unbedarft labiler Mensch, der glaubte, seinen Genossen treu bleiben und den Geheimdienst austricksen zu können. Ein typisches ›armes Würstchen‹, wie geschaffen, um als Täter und Opfer in die Organisations­form einer Guerillatruppe zu passen, die sich Menschlichkeit auf ihre Fahnen schrieb, deren Handeln jedoch menschenverachtend und deren Struktur despotisch war. Wenn man sich klarmacht, daß Menschen, die die Brutalität des Staates überwinden wollen, einen anderen Menschen "zum Tode verurteilen" und "hinrichten", wird deutlich, was passiert, wenn die Anwesenheit des Ziels in den Mitteln fehlt.

 

Von der Gruppe zur Föderation

Der organisationsfeindliche Individualismus und die straff-despotische Organisation von Verschwörer­zirkeln sind hier als Ausnahmen vorgestellt, sie bilden im Anarchismus nur Randerscheinungen. Wie aber organisierten sich die anarchistischen Hauptströmungen?

In den Anfängen der Bewegung waren es einfach Gruppen Gleichgesinnter, die Bücher lasen, diskutierten, und versuchten, das, was sie entdeckt und erdacht hatten, unter die Leute zu bringen. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Die ›Anarcho­gruppe‹ ist nach wie vor der beliebteste Baustein der anarchistischen Bewegung. Propaganda war seit jeher das, was in den meisten von ihnen betrieben wurde und noch immer wird. Deshalb gibt es auch so viele Gruppierungen, die sich um Zeitungen einer bestimmten Richtung scharen. Im anarchistischen Jargon* werden Gruppen, die eine bestimmte Richtung vertreten, Affinitätsgruppen genannt; frei übersetzt bedeutet dies Gesinnungsgemeinschaft.

Aus einzelnen Gruppen entstanden Strukturen, die sich entweder einer bestimmten Aufgabe verschrieben oder bestimmte Richtungen des Anarchismus verfochten, oftmals auch beides zugleich. Da gab es Arbeiterassoziationen, Bildungsvereine oder ›politische Clubs‹ sowie Gruppen, die auf Aufklärung, Gewerkschaftsstrategien, Pazifismus, Militanz oder libertäre Projekte setzten.

Sobald sich der Anarchismus von der Theorie in die Praxis begab, stand der Anlaß im Vordergrund, die konkrete Aufgabe, die es zu bewältigen galt. Da kam es dann nicht mehr so sehr auf die Übereinstimmungen in der Weltanschauung an, sondern darauf. Mitakteure für das Ziel zu finden, die zwar im anarchistischen Sinne mitwirken sollten, ohne jedoch unbedingt Anarchisten sein zu müssen. Solche Gruppen werden in der Sprache anarchistischer Organisation Konsensgruppen genannt. Wir können das als Interessengemeinschaft übersetzen. Libertäre Gewerkschaften, freie Schulen, Genossenschaften oder auch die "neuen sozialen Bewegungen", die in der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren entstanden, sind typische Konsensgruppen, in denen Anarchisten aktiv waren oder sind.

Die spezifische Organisationsform, die sich aus beiden Typen entwickelte, ist die Föderation, das heißt, ein freiwilliger, mehr oder weniger fester, dezentraler Zusammenschluß verschiedener Gruppen, die ein gemeinsames Interesse verbindet.

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Eine Föderation weitgehend autonomer Gruppen erfüllt im wesentlichen die Forderungen an anarchistische Organisationsformen, die wir kennengelernt haben. Da der Anarchismus in den ersten hundert Jahren überwiegend eine Arbeiterbewegung war, spielte der Anarcho­syndikalismus, mit dem wir uns noch ausführlich befassen werden, natürlich auch als Organisationsform eine besondere Rolle. Aber auch solch ein anarchistischer Gewerkschaftsverband war seiner Struktur nach nichts anderes als eine Föderation, allerdings sehr spezialisiert und hochgradig organisiert. Die libertären Syndikate* lösten dabei souverän die Forderungen ein, die Anarchisten an ein Transformationsmodell stellen, indem sie vor, während und nach der Revolution eine passende Organisations­struktur bieten konnten. Dabei wurde bewiesen, daß auch diese aus großen ›Industrieföderationen‹ bestehenden libertären Organisationen keinen bürokratischen Apparat hervorbringen müssen. Die spanische CNT kam 1936 bei knapp zwei Millionen Mitgliedern mit einem einzigen bezahlten Sekretär aus, und der begnügte sich mit einem Facharbeitergehalt...

 

Bewegung in Ratlosigkeit

Wenn wir einmal vereinfacht alle die Menschen, die sich als Anarchisten verstehen und die Gruppen, die in diesem Sinne wirken, als eine anarchistische Bewegung betrachten, so gibt es eine solche Bewegung heute in etwa vierzig Ländern der Erde mit beträchtlichen Unterschieden in Stärke und Qualität. In manchen existieren noch die klassischen anarchistischen Organisations­formen, die gelegentlich auch ironisch die "offiziellen" genannt werden. Das sind landesweite Föderationen einerseits von anarchistischen Gruppen, andererseits von Syndikalisten* beziehungsweise Gewerkschaften. Beide haben wiederum ihre internationale Dachföderation, der jeweils die meisten nationalen Föderationen angeschlossen sind. Für die Syndikalisten ist dies die AIT (Association Internationale des Travailleurs – deutsch: Internationale Arbeiter Assoziation, IAA), für die anarchistischen Föderationen die IFA (Internationale des Federations Anarchistes — deutsch: Internationale Anarchistischer Föderationen, IAF).

Es handelt sich dabei um verkable Organisationen mit allem was dazugehört: Statuten, Stempeln, Weltkongressen, Presseorganen, nationalen und internationalen Treffen, Kampagnen, Theoriediskussion und Koordination. Das hört sich beeindruckend an, sollte aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß diese Föderationen durchweg sehr schwach sind, und nur ein Bruchteil der Anarchisten in ihnen organisiert ist. In der Praxis kommt solchen Weltföderationen heute nur noch geringe Bedeutung zu. Ihre Funktion als Motor und kreative Stimulanz* in Praxis und Theorie der Bewegung haben die "offiziellen Organisationen" weitgehend eingebüßt.

Das hat damit zu tun, daß der Anarchismus nach 1968 einen völligen Neubeginn durchmachen mußte und seither auf der Suche nach neuen Formen ist. Die überkommenen Organisationen waren für viele kaum noch attraktiv oder paßten nicht mehr zu den neuen Aktionsfeldern. Selbst in einem Land wie Frankreich, das eine sehr aktive anarchistische Föderation hat, findet ein großer Teil libertärer Aktivitäten außerhalb von ihr statt. 

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Parallel zur Föderation Anarchiste existiert eine ganze Reihe weiterer Verbände, Föderationen und landesweiter Zusammenschlüsse, teils mit Konsens-, teils mit Affinitätscharakter. Trotzdem sind viele aktive Anarchisten überhaupt nicht organisiert. Überall dort, wo, wie in Frankreich, die "offizielle" Organisation dynamisch und aktiv ist, kommt es in der Regel auch zu einer guten Zusammenarbeit querbeet durch dieses Wirrwarr von Strukturen. In Deutschland gibt es keine klassische anarchistische Föderation, dafür aber eine recht rege libertäre Bewegung von auffälliger Vielfalt. Aus ihr sind mehrere landesweite Zusammenhänge hervorgegangen, von denen sich nur eine in die Tradition einer klassischen, offiziellen Organisations­form gestellt hat.

 

Der Anarchismus befindet sich in einer Situation des Umbruchs1), und mit ihm seine Organisationsformen. Alte Aktionsfelder und Inhalte haben sich überlebt und sind mitsamt ihren hergebrachten Strukturen in tiefe Sinnkrisen gestürzt. Früher stand beispielsweise der Anarcho­syndikalismus für real existente kämpferische Gewerkschaften, also für ein starkes Konsens-Modell. Heute gibt es nur noch in ganz wenigen Ländern tatsächliche anarchistische Gewerkschaften oder entsprechende Ansätze. Die anarchosyndikalistischen Organisationen sind daher in den meisten Fällen zu kleinen Propagandagruppen geworden, die die Idee des Anarchosyndikalismus verbreiten und sich ansonsten an irgendwelchen aktuellen Bewegungen beteiligen. So ist die AIT heute genau genommen die Dachorganisation eines historischen Konsens-Modells, die fast lauter Affinitätsgruppen vertritt – ein Paradox, in dem sich die Krise der klassischen anarchistischen Organisationen widerspiegelt.

Der neue Anarchismus hingegen hat noch überhaupt kein Organisationsmodell gefunden. Zwar gibt es auch hier national und international mannigfachen Austausch: Treffen, Camps, Kongresse, Seminare, Feste, Netzwerke und Kampagnen - aber all das ist meist zufällig und selten dauerhaft. Manche Anarchisten meinen, genau das sei die angemessene Struktur der neuen Bewegung: Nichts weiter als eine locker-leichte Vernetzung je nach Bedarf. Selbst wenn das richtig wäre – woran Zweifel erlaubt sind –, hat die Erfahrung der letzten zwanzig Jahre gezeigt, daß solche unverbindlichen Kontakte jedenfalls nicht ausreichen. Andere sind der Meinung, es genüge, die alten Föderationen mit neuem Leben und neuen Inhalten zu füllen. Wie dem auch sei: die neue libertäre Bewegung hat oft genug Reaktionsarmut, Initiativschwäche und einen erschreckenden Mangel an Kraft und Aufmerk­samkeit bewiesen, um zu zeigen, daß sie dringend neuer Organisationsformen bedarf.

Organisation wäre vermutlich kein Heilmittel, aber gewiß ein notwendiger Schritt zur Überwindung dieser Schwäche einer Bewegung, die im realen Leben längst nicht die Rolle einnimmt, die sie aufgrund ihrer Stärke spielen könnte.

 

1)  Vergleiche Kapitel  38 !

 

Literatur:
/ Errico Malatesta: Ein anarchistisches Programm vgl. Kap. 4!
/ Rudolf Rocker: Anarchismus und Organisation Berlin 1978, Libertad, 47 S.
/ ders.: Über das Wesen des Föderalismus im Gegensatz zum Zentralismus Frankfurt/M. 1979, Freie Gesellschaft, 318.
/ Berthold Cohn: Sollen sich Anarchisten organisieren? Berlin o.J. (1928?), Der Freie Arbeiter, 8 S,
/ Günter Bartsch: Der Internationale Anarchismus Hannover 1972, Nieders. Landeszentrale f. pol. Bildung, 67 S.
/ Horst Stowasser: Organisationspapier – Eine Denkschrift Wetzlar 1976, An-Archia, 12 S.
/ Gruppi Anarchici Federati: Ein anarchistisches Programm vgl. Kap. 4!
/ N.N. International Blacklist San Francisco 1983, 140 S., ill.
/ Peter Stipkovics (Hrsg.): Internationales Anarchistisches Adressbuch Wien 1982, Monte Verità, 18; S., ill.

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17.  Parteien, Räte, Selbstverwaltung  

 

"Parteien sind zum Schlafen da –
und zum schrecklichen Erwachen"
Zeitung ›883‹, 1971

"Verteilt die Macht, damit sie keinen mächtig macht!"
Losung in Paris, Mai 1968

IMMER WIEDER HAT DIE SPONTANE AKTION bedrängter Menschen die Theoretiker im Tiefschlaf überrascht. Bedrängte Menschen tun meist das Naheliegende. Naheliegendes geschieht spontan.

Was ist in einer außergewöhnlichen Situation naheliegender, als sich zusammenzuhocken und zu beratschlagen? Das anstehende Problem wird benannt, besprochen, man einigt sich auf eine Vorgehensweise, und wenn die Gruppe sehr groß ist, bestimmt man ein paar Personen des Vertrauens mit der Ausführung dessen, was beschlossen wurde. Und die Gruppe paßt auf, daß alles auch so gemacht wird, bis zum nächsten Treffen. So einfach ist das.

 

Räte

So einfach ist auch die Grundidee eines Rates. Räte bilden das Organisationsmuster, auf dem die Selbst­verwaltung aufbaut. Von allen bisher bekannten gesellschaftlichen Organisationsformen sind sie die demokratischsten. Sie wurden von keinem Theoretiker ersonnen, an keinem Schreibtisch erfunden. Viele hundert Mal an den verschiedensten Stellen der Erde sind sie immer wieder aufgetaucht. Erfinder solcher "Organe" waren stets Menschen, die sich gegen irgendetwas wehrten und begannen, ihre Angelegen­heiten in die eigenen Hände zu nehmen. Räte entstanden unabhängig voneinander und unter verschiedensten Namen immer wieder in einem Akt der Neuschöpfung. Sie waren überall etwas anders, paßten sich den unterschiedlichen Gegebenheiten an, funktionierten aber stets nach dem gleichen einfachen Prinzip.

Die ersten historisch belegten Räte finden wir im Umfeld der Revolutionsarmee Oliver Cromwells, die im 17. Jahrhundert in England König Karl I. besiegte. In der Französischen Revolution von 1789 tauchen sie wieder auf, ebenso in der Pariser Commune von 1871. In den Russischen Revolutionen von 1905 und 1917 sind sie zu einem festen Bestandteil des revolutionären Prozesses geworden. 1918 bewähren sie sich in der Novemberrevolution in Deutschland, 1920 in der ukrainischen Guerilla und den italienischen Fabrikbesetzungen, 1921 in der ›Kommune von Kronstadt‹ 1922 finden wir sie im fernen Patagonien, 1936 in der Spanischen Revolution. 1956 entstehen in Ungarn Räte beim Aufstand gegen die stalinistische Diktatur, ab 1968 erneut in der französischen und italienischen Industrie, 1971 in Polen, 1980 im Iran und so weiter ... Es gibt unzählige Beispiele mehr.

Immer waren sie zunächst eine spontan entstandene Ausdrucksform der Unterdrückten. Überall da, wo eine Revolution sich wirklich durchsetzen konnte, wurden sie dann zu

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Organen einer neuen Ordnung. Typisches Merkmal einer solchen neuen Ordnung ist die Selbstverwaltung, die sich zu einem allgemeinen gesellschaftlichen Normalzustand entwickeln soll. Räte entfalten dabei eine sehr große Beweglichkeit und können sich neuen Situationen viel schneller anpassen als die in festen Formen erstarrten Parteien.

Räte kommen, sowohl als geschichtliche Erfahrung wie als praktische Erscheinungsform, der anarchistischen Vorstellung von einer horizontalen Gliederung der Gesellschaft sehr nahe. Sie sind jedoch nicht per se anarchistisch, und Anarchie ist nicht mit Rätedemokratie gleichzusetzen. Räte sind eine Ordnungsstruktur, die in einem anarchistischen Umgestaltungsprozeß brauchbar wäre.

Daß sie nicht anarchistisch sein müssen, beweist die Pervertierung, die sie beispielsweise in Rußland erfuhren1, wo sich der Staat schon bald nach der Revolution den Namen Sowjetunion gab. "Sowjet" heißt Rat. Hier kam es zu einer verhängnisvollen Verquickung von Basisdemokratie, die sich in den entstandenen und gut funktionierenden Räten widerspiegelte, und dem Herrschaftsanspruch einer Partei, die die Sowjets Stück für Stück entmachtete und als rein formale Struktur ihrer Diktatur unterordnete. Jeder Widerstand der Räte hiergegen wurde – wie etwa im Kronstädter Aufstand von 1921 – blutig niedergeschlagen. Heraus kam ein Superstaat, in dem die Räte nur noch als Garnierung dienten. Solche ›Räte‹ üben keine reale Entscheidungsfunktion mehr aus. Sie haben ihre Macht an übergeordnete Interessen abgegeben, denen sie dienen und unterworfen sind. In der Regel sind das Parteiinteressen.

Partei und Räte aber sind Prinzipien, die sich ausschließen. Sobald der Rat sein wichtigstes Merkmal aufgibt, die Autonomie, hört er auf, befreiendes Instrument der allgemeinen Selbstverwaltung zu sein. In Ländern wie Kuba, Algerien oder Jugoslawien wurde in den sechziger und siebziger Jahren versucht, staatliche Selbstverwaltung in Teilbereichen der Gesellschaft zur Unterstützung des jeweiligen Systems zu installieren. Selbst in Jugoslawien, wo man sich ausdrücklich auf anarchistische Wurzeln bezog, scheiterten diese Ansätze im Sumpf der Bürokratie, obwohl die Idee bei Belegschaften und Stadtteilkomitees anfangs begeistert aufgriffen wurde.2 Räte und Selbstverwaltung genügen sich selbst. Als nackte Struktur zur Stärkung eines ihr widersprechenden staatlichen Gesamtkonzepts taugen sie nicht. Vom anarchistischen Standpunkt aus wäre es die richtige Struktur mit falscher Ethik.

In Kapitel 12 haben wir solche Strukturen "Vernetzung kleiner Einheiten" genannt, eine Umschreibung, die mir für eine anarchistische Gesellschaft passender scheint, weil ›Räte‹ nur eine denkbare Möglichkeit einer solchen Vernetzung sind, und die Zukunft möglicherweise andere, bessere hervorbringt. Aber sie haben konkret existiert und sind schon deshalb von Interesse.

Wie wir gesehen haben, wären Räte sowohl geografische als auch sachliche Organisationszusammenhänge, deren Wirkungsbereiche sich überschneiden können. Es gibt zum Beispiel den Rat eine Dorfes, einer Stadt, eines Stadtteils oder eines Landstriches.

 

1) Vergleiche Kapitel 29 - 31 !
2) Vergleiche Kapitel 36 !

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In diesen Gebieten wiederum organisieren sich Räte nach sachlichen Interessen: am Arbeitsplatz, in den Industrien, in der Landwirtschaft, im Transportwesen, an Universitäten, Schulen, ja sogar in Nachbarschaften und Wohngemeinschaften. Auch andere sachliche Zusammenhänge wie Frauen, Männer, Kinder, Alte, Behinderte, Verbraucher usw. sind denkbar.

Jeder Rat ist im Grunde nichts weiter als die Versammlung der Menschen, die unter den entsprechenden Bereich fallen und an ihm teilnehmen möchten. Teilnahme und Mitarbeit sind freiwillig, demzufolge auch die Unterwerfung unter die Beschlüsse des Rates. Natürlich kann der Rat umgekehrt beschließen, daß nur die Teilnehmer in den Genuß der Früchte seiner Arbeit kommen.

Die Räte versammeln sich in bestimmten Abständen und vor allem immer dann, wenn wichtige Probleme zur Lösung anstehen. Damit sie arbeitsfähig bleiben, sollten die Räte klein gehalten werden. Es wäre zum Beispiel unsinnig, einen Rat von Hamburg oder Deutschland zu bilden.

Jeder Rat ist grundsätzlich autonom. Bei größeren geografischen Zusammenhängen sowie zur Bewältigung von Problemen, die mehr Menschen angehen oder überregional organisiert werden müssen, wählt der Rat Delegierte, die sich wiederum zu Delegiertenräten zusammenschließen. Dies kann mehrmals wiederholt werden, so daß sich am Ende mehrere Ebenen von Räten bilden, die jeder für sich die erforderliche Größe haben, um handlungsfähig zu bleiben. Um zu praktikablen Entscheidungen in Bereichen zu kommen, an denen sehr viele Menschen beteiligt sind, können von Zeit zu Zeit auch große, kongreßartige und meinungsbildende Meetings einberufen werden, auf denen etwa alle Betroffenen oder die Abgesandten aller Basisräte die allgemeinen Richtlinien für die Arbeit der spezialisierten Delegiertenräte festlegen.

Grundsätzlich hat jedes Mitglied eines Rates aktives und passives Wahlrecht, das heißt, es kann wählen oder gewählt werden. Es handelt sich dabei aber im Gegensatz zu Parteikandidaten um ›Menschen zum Anfassen‹: Nachbarn, Kollegen, Freunde oder Bekannte aus überschaubaren Lebenszusammenhängen, die einander kennen. Zwischen diesen Menschen gibt es ungleich weniger Entfremdung als in unserem heutigen politischen Delegations- und Wahlsystem. So bleibt in aller Regel gewährleistet, daß diejenigen gewählt werden, die das meiste Vertrauen der Menschen genießen und sich mit dem jeweiligen Problem am besten auskennen. Dies ist eine klare Organisationsform von ›unten‹ nach ›oben‹. Am Ende geschieht das, was auf der ›untersten‹ Ebene beschlossen wurde. Die ›oberen‹ Ebenen sind Koordinations- und Ausführungsorgane. Delegiert wird also nicht Macht, sondern Ausführung. Der Vorgang der Wahl führt auf diese Weise immer weniger zum Verlust eigener Macht, und nimmt stattdessen zunehmend den Charakter einer technischen Angelegenheit an.

Damit dies aber auch eine rein technische Angelegenheit bleibt, und auf der Ebene der Delegierten nicht eine neue Hierarchie entsteht, sind im Rätesystem einige ›Tricks‹ eingebaut. Zunächst einmal werden Delegierte meist nur auf begrenzte Dauer gewählt; in der Regel ist das die Zeit, die die Erledigung der ihnen übertragenen Vorhaben braucht. Weiterhin sind mit der Delegierung keine Privilegien verbunden, ebensowenig Befugnisse,

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die über die Aufgabe hinausgehen. Delegierte dürfen auch nicht nach Gutdünken handeln und wichtige Entscheidungen ohne Rücksprache mit der Basis treffen. Sie erhalten ein sogenanntes imperatives Mandat, das heißt, sie bleiben dem Beschluß ihres jeweiligen Rates verpflichtet und werden von ihm auch kontrolliert.

Bei all dem könnten aber durchaus informelle Eliten von Menschen entstehen, die, aus welchen Gründen auch immer, stets aufs Neue zu Delegierten gewählt werden. Dann könnte sich trotz aller ›Tricks‹ im Laufe der Zeit eine Struktur von Beherrschten und Herrschenden herausbilden. Zu diesem Zweck gibt es ein sogenanntes Rotationsprinzip. Das bedeutet, daß Funktionsträger meist in regelmäßigen Abständen ausgewechselt werden. Nicht etwa, um besonders fähige und talentierte Menschen unterzubuttern, sondern um möglichst vielen Menschen die Chance zu geben, ebenfalls Talente zu entwickeln, Kenntnisse zu erlangen, Sachverhalte zu beurteilen und Probleme zu lösen. Diese Auswechslung erfolgt nicht chaotisch oder abrupt und auch nicht unbedingt nach dem Kalender. Die Nachfolger werden jeweils von den Vorgängern eingearbeitet, und die Aufgaben werden im gleitenden Wechsel übergeben.

Wie wir sehen, ist das nicht unbedingt ein ideales anarchistisches System. Es gibt nach wie vor ein ›oben‹ und ›unten‹, sei es auch nicht im Sinne einer Hierarchie, sondern von gleichberechtigten Ebenen, die nötig scheinen, um ein solches System in einer Massengesellschaft funktionsfähig zu halten. Nach wie vor gibt es eine ›Delegierung‹, wenn auch nicht von ›Macht‹, so doch von Ausführung. Auch andere Schwachpunkte liegen auf der Hand: Wieso sollte jemand sich delegieren lassen, wenn er davon keine Vorteile hat? Führt die Rotation nicht zu einem Schlamassel von inkompetenten Leuten und gehen Können und Kompetenz dabei nicht unter? Führt das imperative Mandat nicht gar zu kleinlicher Bespitzelung, die für jeden selbstbewußten Menschen ein Greuel sein muß? Wird unter diesen Bedingungen überhaupt jemand an Räten teilnehmen?

Natürlich kann all das geschehen. Über die Wahrscheinlichkeit, ob so etwas funktioniert, haben wir schon ausführlich spekuliert. Vergessen wir aber zwei wichtige Tatsachen nicht:

Erstens sind Räte nichts weiter als eine Struktur der Verwaltung, sie ersetzen keine Gesellschaft. Gerade diese andere gesellschaftliche Realität aber, ohne die ein Rätesystem sinnlos wäre, könnte die sozialen, politischen und ethischen Voraussetzungen schaffen, in denen diese Strukturen funktionieren und sich weiterentwickeln können. Am Beispiel des Anreizes, ein Mandat zu übernehmen, wird dies klar: In einer libertären Solidargesellschaft mit Bedürfnisproduktion wie Anarchisten sie anstreben, wäre niemand mehr auf materielle Privilegien angewiesen. Etwas für die Allgemeinheit zu tun, würde nach anarchistischer Auffassung ein allgemein übliches ›Prestige‹, das anstelle unserer heutigen Karriere- und Statussymbole treten könnte; diese wiederum würden zunehmend absurd. Auch kleinliches Mißtrauen, karrierebedingte Fraktionsbildung oder wirtschaftlicher Neid müßten in einer Solidargesellschaft mit hoher Identifikation immer mehr an Bedeutung verlieren und so das Funktionieren einer Rädedemokratie fördern. Wie sehr das Vorhandensein anderer gesellschaftlicher Umstände eine Voraussetzung für das Funktionieren basisdemokratischer Prin-

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zipien ist, zeigt übrigens die Erfahrung der Grünen, die in den Parlamenten damit gründlich auf den Bauch gefallen sind. Die von ihnen beschlossenen Elemente wie Rotation und imperatives Mandat mußten ausgerechnet in einer Partei, die inmitten eines autoritären Parlamentsapparates konkurrieren wollte, scheitern. Allein die formale Struktur änderte nichts an der gesellschaftlichen Realität von Konkurrenzdruck, Fraktionierung, Mißgunst, Karrierelust, Erfolgszwang und mangelnder Identifikation.

Zweitens betrachten wir Modelle. Modelle sind leicht zu kritisieren, solange sie nicht die Chance haben, sich zu bewähren und zu verändern. Kein Modell ist frei von Schwachstellen und keines ist ideal. Nach meinem Dafürhalten ist auch Anarchie nur ein Ideal, dem man sich vielleicht annähern kann, das aber wohl nie perfekt funktionieren wird. Deshalb sollten wir eine Rätestruktur nicht danach bewerten, ob sie Schwachstellen hat, sondern danach, wo ihre Vorteile im Vergleich zu dem System liegen, in dem wir leben. Und dieses System hat nach Meinung der Anarchisten nicht nur ›Schwachstellen‹, sondern ist eine einzige Aneinanderreihung von Widersprüchen, die das Leben zerstört - sinnbildlich wie tatsächlich.

Das ist eine pragmatische Sichtweise und deshalb dem Gegenstand angemessen, denn Räte sind eine pragmatische Erfindung des Augenblicks. Durch eine Rätestruktur verschwindet die Macht nicht, aber sie wird neutralisiert. Frei nach dem Motto "Verteilt die Macht, damit sie keinen mächtig macht!".

 

Konsens

Nun werden rätedemokratische Grundsätze ja nicht nur in großen Revolutionen gelebt oder in eine kommende Gesellschaft projiziert. Überall auf der Welt, in Tausenden von Projekten, Gruppen und Gemeinschaften, wird damit ständig experimentiert. Alle diese Experimente finden in einem feindlichen Umfeld statt, das nicht die Voraussetzungen einer solidarischen Gesellschaft erfüllt. Trotzdem funktionieren sie in zwischenmenschlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereichen. Mit ihnen werden Firmen gemanagt und Wohngemeinschaften strukturiert, Kulturvereine bedienen sich ihrer ebenso wie Kommunen, politische Zirkel, soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen, Gewerkschaften oder Stadtteilgruppen. Sie funktionieren mehr oder weniger gut, mit mehr oder weniger Erfolg, aber gewiß nicht schlechter als die herkömmlichen hierarchischen Strukturen von Firmen, Parteien oder Vereinen.

Hierbei werden Erfahrungen gemacht, die Antworten auf weitere kritische Fragen geben können, die sich aus der Räteidee ergeben. Zum Beispiel die Frage, wie denn die Entscheidungen in einem Rat überhaupt zustande kommen.

Ein Rat würde sich kaum von einem Parlament unterscheiden, wenn in ihm ein Problem vorgestellt und andiskutiert würde, um dann ruckzuck darüber abzustimmen. Mehrheitsentscheidungen sind zwar zeitsparend, neigen aber dazu, daß die Widersprüche nicht wirklich auf den Tisch kommen. Meist beharren die beteiligten Fraktionen auf ihrer vorgefaßten Meinung und suchen lieber hinter den Kulissen nach Mehrheiten. Bei solch einer Konstellation werden Alternativen kaum noch zur Kenntnis gebracht, und es gibt auch keine

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Gelegenheit, darüber wirklich nachzudenken. Jeder Parteitag, jeder Gewerkschaftstag und allem voran der Bundestag kennt mehr und mehr solch reine Abstimmungsorgien, in denen in Rekordzeit mit großer Teilnahmslosigkeit Unmengen wichtiger Beschlüsse durchgepeitscht werden. Die Meinung von Minderheiten fällt dabei unter den Tisch.

Daher neigen die meisten räteähnlichen Strukturen heute zum Konsensprinzip. Das bedeutet, daß nach Möglichkeit ein gemeinsamer Standpunkt gefunden wird, der von allen getragen werden kann, selbst wenn nicht alle restlos davon überzeugt sind. Das dauert natürlich länger, führt jedoch dazu, daß die Probleme wirklich ausführlich dargestellt werden und Für und Wider zur Sprache kommen. Das bewirkt in der Praxis überraschend oft, daß Menschen ihre vorgefaßte Meinung ändern, weil sie zuhören und nachdenken. Zuhören und Nachdenken sind Tugenden, die von der Abstimmungsroutine fester Fraktionen normalerweise erstickt werden. Ist ein Konsens gefunden, stellt sich oft ein Gefühl der Befriedigung bei allen Beteiligten ein, was die Identifikation mit dem Ergebnis erhöht. In vielen Rätegremien gibt es überdies die Regelung, daß bei bestimmten Fragen von großer Tragweite jedes Mitglied ein Vetorecht hat, das heißt, es kann Einspruch erheben, so daß grundsätzlich keine Minderheit unterdrückt werden kann. In diesem Falle müßte weiter nach einem anderen Konsens gesucht werden.

Soweit die Vorteile. Zu den Nachteilen gehört sicherlich, daß die Konsenssuche langwierig sein kann und manchmal den Apparat unbeweglich werden läßt. Und wenn überhaupt kein Kompromiß gefunden wird, ist alles blockiert. Dann gibt es nur drei Möglichkeiten: das Problem bleibt ungelöst, die Gruppe teilt sich, oder es wird am Ende doch abgestimmt. Keines der drei Ergebnisse wäre eine Katastrophe und keines würde ein Scheitern des Räteprinzips bedeuten, denn der Konsens ist ja kein Dogma. Es kommt drauf an, welche Regeln sich der Rat zuvor gegeben hat.

Im ersten Fall bliebe der Druck, das Problem später doch zu lösen, für alle Betroffenen bestehen. Die Erfahrung zeigt, daß die Konsensfähigkeit sich nach einer Denk- und Erfahrungspause oft einstellt. Im zweiten Fall hätte sich eben herausgestellt, daß die Einheit dieser Gruppe künstlich war, so daß sich zwei Gruppen auf zwei verschiedenen Grundlagen neu formieren könnten. Im Sinne einer an-archischen Gesellschaft von kleinen Einheiten gemeinsamer Interessen wäre das durchaus legitim. Im dritten Falle würde eine Abstimmung immerhin zu einer Entscheidung mit klaren Fronten führen, wobei alle wüßten, woran sie sind. Darum ist bei vielen Gruppen der Konsens kein Muß, sondern ein Soll, damit der Rat sich nicht selbst schachmatt setzt. Es gibt Situationen, in denen am Ende eine Abstimmung eine passable Lösung ist. Sie ist aber selbst dann eine ›bessere‹ Abstimmung, weil zuvor wirklich jede Meinung gehört und erwogen wurde. Die Minderheit müßte dann für sich entscheiden, ob ihr das Thema wichtig genug erscheint, die Gruppe zu verlassen, oder ob sie das Ergebnis toleriert.

Natürlich neigen Konsensentscheidungen tendenziell immer auch zu einer Nivellierung. So mancher Konsens wurde schon aus Frustration oder einfach aus Ermüdung gefunden... Kritiker behaupten, der Konsens führe zum grauen Mittelmaß, brillante Ideen hätten es

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schwer, und unterm Strich bliebe die ganze Gruppe deshalb konservativ. Das ist nicht von der Hand zu weisen, gilt aber für Mehrheitsentscheidungen genauso. Das ist kein Problem der Rätestruktur, sondern ein allgemeines Problem, wenn mehr als zwei Menschen etwas gemeinsam unternehmen wollen.

Hiermit sind wir wieder am Anfang angelangt: Die Antwort liegt letztendlich nicht in der Struktur, sondern im Menschen. Aber bessere Strukturen können ein Problem ganz wesentlich entschärfen. Etwa durch die Tendenz, daß sich in kleinen Gruppen vieles schon in den alltäglichen Beziehungen erledigte, ohne jemals eine Angelegenheit des Rates zu werden. Oder durch die Tatsache, daß jede Wohnung, jedes Büro, jede Werkstatt, jedes Atelier ja autonom wären, und das allermeiste dort schon frei zwischen ganz wenigen Menschen entschieden würde, die gleichfalls respektvoll und offen miteinander umgingen. Und natürlich durch die Übereinkunft, daß niemand sich in Dinge einzumischen hat, die ihn nichts angehen, was einen großen individuellen Freiraum schaffen würde. Letztendlich aber spielen, wenn all das gesellschaftlich funktionieren soll, subjektive Dinge wie Vertrauen, Toleranz, Identifizierung und Souveränität eine viel größere Rolle als noch so klug ausgetüftelte Strukturen. Die Frage, ob man ein Problem zu einer Grundsatzfrage macht und damit seinen sozialen Zusammenhalt gefährdet oder stattdessen souverän auch Entscheidungen tolerieren kann, die man selbst so nicht getroffen hätte, hängt sehr stark davon ab, wie wohl man sich ansonsten fühlt und wie sehr man mit der ganzen Gruppe verbunden ist.

Vielleicht sind deshalb Abstimmungen in rätedemokratischen Projekten so rar und ein Veto eine ganz seltene Erscheinung. Ich selbst verbringe mein Leben seit vielen Jahren mehr oder weniger intensiv in menschlichen und sachlichen Zusammenhängen, die nach solchen Überlegungen funktionieren. Mir persönlich liegt eine derartige Erfahrung näher als alles, was ich in Büchern über die Pariser Commune oder die Spanische Revolution lesen könnte. Meine Erfahrung lehrte mich zweierlei; Dieses System funktioniert in den wesentlichen Punkten besser und angenehmer als alles, was ich bisher in autoritären Strukturen erlebt habe. Und: ich habe mich fast immer als freier und schöpferischer Mensch, für den ich mich halte, verwirklichen können. Hingegen habe ich viele Menschen erlebt, die in dieser Umgebung überhaupt erst gelernt haben, selbstbewußt und souverän zu denken und zu handeln.

 

Historische Beispiele

Das Wort Räte wird heute nicht mehr gern verwendet. Das liegt überwiegend an geschichtlichen Vorbildern, die zum Teil keine positiven Erinnerungen wecken. An die Sowjets habe ich schon erinnert. Auch viele andere Rätebeispiele aus der Geschichte sind mit revolutionären oder kriegerischen Ereignissen verbunden und waren demzufolge fast immer blutig und selten ›lupenrein‹. Längere Phasen friedlicher Entwicklungen waren solchen revolutionären Räten fast nie vergönnt. Deshalb finden wir in den Alltagserfahrungen der letzten zwanzig Jahre, wo unter friedlichen Bedingungen räteähnliche Modelle entstanden, die diese Idee weiterentwickelten, auch andere Namen. Statt Rätedemokratie sprechen wir von Basisdemokratie, die in libertären Kreisen ebenso praktiziert wird wie etwa bei den kirchlichen Basisgemeinden Lateinamerikas.

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 Statt Rat hat sich in Deutschland das kaum schönere Wort Plenum durchgesetzt, und statt Rätesystem benutzt man lieber treffendere und weitergehende Begriffe wie Selbstverwaltung oder Basisdemokratie. In den 70erJahren kreierten Robert Jungk und Norbert R. Müllert im Rahmen der Bürgerinitiativen eine sehr erfolgreiche Weiter­entwicklung basisdemokratischen Zuschnitts, die sogenannten "Zukunftswerkstätten". Sie ergänzten das klassische "Räte"-Muster durch ein Instrument, das bei der Erschließung des kreativen Potentials helfen sollte. Tatsächlich machen sie bis heute vielen Menschen Mut, sich phantasievoll in die Gesellschaft einzumischen - Menschen, die sich sonst kaum getraut hätten, auch nur den Mund aufzumachen.

Die großen historischen Erfahrungen eignen sich trotz ihrer spektakulären Auftritte kaum zu Rückschlüssen auf die Tauglichkeit des Rätesystems in langen Zeiten der Normalität. Die Experimente dauerten von einer Woche bis zu wenigen Jahren, und in diesem Rahmen haben sie sich durchaus bewährt. Aber dieser Rahmen war das Unnormale. In vielen Fällen repräsentierten die Räte nur bestimmte Bereiche der Bevölkerung. So dominierten in der Deutschen Revolution die Arbeiter- und Soldatenräte; Bauern und Frauen etwa kamen nur am Rande vor. In Rußland, Italien und Frankreich waren es überwiegend Fabrikräte, von denen Initiativen ausgingen. Und vor allem gab es nur ganz selten reine Räteexperimente. Zumeist existierte neben den Räten noch eine andere Realität, auch dann, wenn sie (wie in der Münchner Räterepublik) formal abgegrenzt war oder sich (wie in Rußland) eigentlich den Räten unterordnete: die "bürgerliche Welt", Parteien, Interessengruppen, zum Teil sogar Regierungen oder feindliche Armeen im Kriegszustand. Entsprechend hektisch kam es zu Allianzen und faulen Kompromissen, die in der Hoffnung eingegangen wurden, mit diesen Gegnern fertig zu werden.

Fast alle frühen Räteexperimente beschränkten sich nur auf die Grundgedanken dieser Idee: Versammlung, Debatte, Delegation, imperatives Mandat. Entscheidungen fielen durchweg in mehrheitlicher Abstimmung. Für solch feinsinnige Betrachtungen wie Konsens, Identifikation oder Minderheitenschutz hatte man entweder keinen Sinn, keine Zeit oder keine Gelegenheit — vor allem aber fehlte es noch an einer umfassenden Rätetheorie. Die wurde erst in den zwanziger und dreißiger Jahren entwickelt, als die meisten praktischen Ansätze schon besiegt waren. 

Hier sind in Deutschland vor allem Namen wie Karl Korsch, Otto Rühle und Paul Mattick zu nennen, und in den Niederlanden Henriette Roland-Holst, Anton Pannekoek und Herman Gorter, die das Konzept des sogenannten Rätekommunismus entwickelten. Auf sie konnte wenig später direkt oder indirekt die Spanische Revolution zurückgreifen, ebenso wie in den siebziger Jahren die Selbstverwaltungsbewegung der italienischen und französischen Fabrikarbeiter. Schwachpunkt dieses ›Rätekommunismus‹ blieb jedoch, daß sich seine Theoretiker stark auf die Arbeitswelt bezogen und sich nie ganz von der Vorstellung einer Partei freimachen konnten, die in ihrer Vision von Rätedemokratie nach wie vor eine prägende Rolle spielen sollte. Das ist erstaunlich, denn nach der inneren Logik der Räteidee steht sie dem Parteiprinzip ganz und gar entgegen. Räte sind flexibel, Parteien starr.

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Räte garantieren die größtmögliche Nähe zur Basis, Parteien vertrauen ihrem Apparat. Räte minimieren Hierarchie, Parteien sind auf Hierarchie ausgelegt. Räte delegieren Funktionen, Parteien delegieren Macht. Räte leben von der Diskussion, Parteien von der Anordnung. Räte vernetzen sich dezentral, Parteien sind Zentralen.

Den Anarchismus kann man heute mit Fug und Recht als den Erben des Rätegedankens ansehen. Nicht in dem Sinne, daß sich Anarchie in der Rätedemokratie erschöpft, sondern daß seine historischen Erfahrungen und theoretischen Impulse aufgegriffen und kritisch weiterentwickelt wurden. Sie fließen so in weitaus vielschichtigere Modelle der Vernetzung ein, in denen es längst nicht mehr nur darum geht, wie Arbeiter eine Fabrik besetzen und verwalten könnten.

 

Literatur:
# Günter Hillmann (Hrsg.): Die Rätebewegung (2 Bd.) Reinbek 1972, Rowohlt, 250 u. 220 S.
# Gottfried Mergner (Hrsg.): Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands Reinbek 1971, Rowohlt, 220 S.
#  Otto Rühle: Perspektiven einer Revolution in hochindustrialisierten Ländern u.a. Schriften Reinbek 1971, Rowohlt, 220 S. 
# Karl Korsch: Schriften zur Sozialisierung Frankfurt/M. 1969, Europäische Verlagsanstalt, 126 S,
# Henriette Roland-Holst: Die revolutionäre Partei Berlin 1972, Kollektiv, 66 S. 
# Peter-Paul Zahl (Hrsg.): Räte (Textsammlung) Berlin o.J. (1972?), pp-Verlag, 76 S.
# F. Baruch, E. Gerlach, A Lehning, R. Rocker, H. Rüdiger: Arbeiterselbstverwaltung, Räte, Syndikalismus Berlin 1973, Karin Kramer, 96 S. 
# Paul Cardan: Arbeiterräte und selbstverwaltete Gesellschaft Hamburg o.J, (1975?), MaD, 143 S.
# M. Bookchin, E. Colombo, L. Lanza u.a.: Selbstverwaltung - die Basis einer befreiten Gesellschaft Reutlingen 1981, Trotzdem, 188 S.
# Robert Jungk, Norbert R. Müllert: Zukunftswerkstätten München 1990, Heyne, 160 S.

*  * * 

  

18.  Avantgarde oder Hefeteig ?

 

"Revolutionäre haben die Pflicht, anderen dabei zu helfen, ebenfalls Revolutionäre zu werden, 
aber nicht die Pflicht, ›Revolution zu machen‹. Und das ist nur dann möglich, 
wenn der Revolutionär oder die Revolutionärin zuerst 
bei sich selbst mit der Veränderung anfängt."
- Murray Bookchin -

SOBALD ANARCHISTEN DAMIT ANFANGEN, in diesem ganzen Szenario ihre eigene Rolle zu bestimmen, geraten sie in ein fürchterliches Dilemma*. Wir haben gesehen, wie zornig Anarchisten kritisieren können. Wir wurden Zeugen ihrer schönen Visionen. Wir hörten auch, was sie so treiben. Was wir aber noch nicht wissen, ist, wie sie sich selbst in jenem Prozeß der Umwälzung sehen, als der Anarchie letztlich verstanden werden muß.

Sie könnten es sich ganz einfach machen: "Erstens, wir sind Anarchisten. Zweitens, wir haben den Durchblick. Drittens, die meisten Menschen haben keinen Durchblick. Viertens, Unterdrücker haben auch den Durchblick, wollen aber Unterdrücker bleiben und sind deshalb unsere Feinde. Fünftens, wir kämpfen die Feinde nieder. Sechstens, damit das geht, bilden wir Durchblicker eine verschworene Gemeinschaft. Siebtens, die zeigt den Menschen ohne Durchblick, wo's lang geht. Achtens, wenn die nicht wollen, helfen wir ihnen auf die Sprünge.

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Neuntens, nach der Revolution schaffen wir dann alles Schlechte ab. Zehntens, wer das Gute nicht will, ist unser Feind." (Und so weiter, ab Punkt fünf...)

"Alles wird gut, wir wissen den Weg, folgt uns!" — kann das das Strickmuster anarchistischen Wirkens sein?

Ich hoffe, meine Leser haben die Ironie bemerkt und wissend geschmunzelt. Es wäre nicht nur zu einfach, sondern vor allem: nicht die Spur anarchistisch. Bei diesen ›zehn Geboten‹ fehlte nur noch das "Amen!". Warum aber dann dieses Denkmuster? Weil es Menschen gab und gibt, die allen Ernstes so denken und handeln, wenngleich sie das natürlich anders ausdrücken. Bei Jesuiten, US-Präsidenten, Fundamentalisten, Marxisten-Leninisten oder Faschisten kann uns so eine Auffassung nicht verwundern, aber es gab und gibt tatsächlich auch Anarchisten, die ähnliche Vorstellungen im Kopf haben.

"Am Anfang war der Zorn" – so lautete nicht zufällig der erste Satz dieses Buches. Zorn – Auflehnung – Umsturz, das mag zwar verständlich sein, aber zu kurz gedacht. In dieser gedanklichen Verkürzung lauern Gefahren, die das Ziel gefährden. Ein umstürzlerischer, von Zorn getriebener Empörer neigt dazu, seine eigene Rolle zu überhöhen. Indem er reagiert, nimmt er die Realität nur eingeschränkt wahr. Es ist, als ob jemand Scheuklappen trüge, unter geistiger Kurzatmigkeit litte und dabei einen sozialen Marathonlauf absolvieren müßte. Ist die Optik verzerrt und die Perspektive beengt, sieht man sich selbst groß, wichtig und verklärt: Ich bin Revolutionär. Ich mache die Revolution. Revolution ist, was ich vorgebe.

 

Zwangsbeglückung

Eine solche Vorstellung geht davon aus, daß eine kleine Gruppe von Durchblickern die moralische und politische Pflicht hat, den Rest der Menschheit zu führen und ihn - notfalls mit Zwang - zu beglücken. Die Rolle, die Revolutionäre hierbei spielen, nennen wir Avantgarde. Das ist ein militärischer Ausdruck, und er bedeutet "Vorhut".

Absolute Avantgarde-Gläubige waren die Marxisten-Leninisten, die in ihrem Parteikonzept diese Vorstellung bis zum Exzess vorangetrieben haben. Die Rolle des Revolutionärs als Führer ist in ihrer Theorie unumstritten. In ihrer Praxis wird dies an Extrembeispielen wie den Massakern der "Roten Khmer" in Kambodscha oder dem Anspruch der "Roten Armee Fraktion" in der Bundesrepublik deutlich, findet sich aber ebenso in der oberlehrerhaften Nettigkeit der mausgrauen Führungsopas der Ex-DDR wieder, wie in dem unduldsamen Herrschaftsanspruch des charismatischen Kuba-Diktators Fidel Castro, der sich selbst maximo lider nennen ließ: oberster Führer.

Dabei darf man ruhig unterstellen, daß die Avantgardisten reinsten Gewissens von sich glauben, sie täten etwas Gutes. Unrechtsbewußtsein findet man deshalb auch bei denjenigen ›Revolutionären‹ nicht, die die unaussprechlichsten Scheußlichkeiten auf dem Gewissen haben. Schließlich tun sie das Richtige für ein gutes Ziel, und wenn diejenigen, für die sie dieses Opfer bringen, ihre Segnungen nicht erkannt haben, so ist das deren Pech.

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Das Konzept einer Avantgarde bedingt notwendigerweise den Führungsanspruch einer Elite. Das führt in der Praxis zu einer neuen Herrschaft. Diese Herrschaft ist mit Privilegien verbunden. Nach diesem Muster hätten wir, selbst wenn der Umsturz glückt, nach kurzer Zeit wieder die alten Verhältnisse, nur mit neuen Gesichtern. Das wäre natürlich keine Revolution.

Es wäre selbst dann keine Revolution, wenn unter dem neuen Regime etwa soziale Verbesserungen einträten, der Reichtum gerechter verteilt, der Hunger besiegt oder das Analphabetentum bekämpft würde. Nicht, daß dies geringzuachten wäre. Nur ein Zyniker* wird ›übersehen‹, daß China heute seine Bevölkerung ernährt und die Menschen in Kuba lesen und schreiben können. Aber bitte: das alleine ist keine Revolution. Das bringt der Privatkapitalismus hier und da auch fertig. Solange es nach wie vor Ausbeutung, Herrschaft, Unterdrückung, Willkür, Privilegierte und Ungerechtigkeit gibt, sind die Verhältnisse eben nicht ›grundlegend umgewälzt‹ worden – und genau das heißt ›Revolution‹.

Überdies stellt sich die Frage, ob man überhaupt jemanden gegen seinen Willen beglücken kann. Wird die ›Revolution‹ von einer Avantgarde ›durchgesetzt‹, ist sie wie ein übergestülpter Hut. Sie ist nicht in den Menschen, sie kommt nicht aus ihnen heraus, fußt nicht auf ihren Erfahrungen, Erwartungen und Überzeugungen. Mit anderen Worten: sie ist schwach, und daran ändert auch die Begeisterung nichts, mit der die Menschen nach Umstürzen auf den Straßen tanzen und die mutigen Revolutionäre auf ihren Schultern zu tragen pflegen. Diese strukturelle Schwäche einer Revolution mißt sich daran, was nach vier, fünf Jahren von dieser Begeisterung noch übriggeblieben ist! Schwäche wird dann meist durch ›Sicherheitsorgane‹ kompensiert*. Es ist kein Zufall, daß, je kleiner die Elite der Avantgarde ist, desto größer der Apparat von Einrichtungen zum ›Schutze der Revolution ausfällt. Ob das nun Dscherschinskis Tscheka*, Mielkes Stasi, Ceaucescus Securitate oder Castros Volkstribunale waren – niemand nimmt ihnen ab, sie seien nur dazu da gewesen, feindliche Agenten, Spione und Saboteure zu verfolgen.

Es gibt also zwei gute Gründe, warum das Konzept der Avantgarde für eine anarchistische Revolution nicht taugt: Erstens ist es unfrei, und zweitens führt es nicht zu einer Revolution.
    Warum aber haben dann Anarchisten ein Dilemma?

 

In der Zwickmühle

Sie tun sich schwer, ein anderes Konzept für ihre Rolle in der Menschheit zu finden, und das ist zugegebenermaßen ja auch nicht leicht. Objektiv betrachtet erfüllen Anarchisten )a tatsächlich einige der Voraussetzungen, Avantgarde zu sein: Sie haben ein Konzept einer anderen, möglicherweise besseren Gesellschaft und stehen mit dieser Idee ziemlich alleine — wer wollte das bestreiten? Sie versuchen, diese Gesellschaft zu erreichen und heben sich dadurch von den meisten anderen Menschen ab. Sie treiben diese Entwicklung voran und werden dadurch zu einer Gruppe, die anders ist. Sie versuchen, andere Menschen zu überzeugen und zum Mitmachen zu bewegen, entwickeln Modelle, Strategien und Aktionen und werden damit zum Vorboten dessen, was sie als Zukunft ansehen.

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Vom Vorboten zur Avantgarde aber ist es nur noch ein kleiner Schritt. Auf diesen kleinen Unterschied kommt es jedoch an. Es ist der Unterschied in der eigenen Einschätzung. Er fußt auf der Vorstellung von dem, was eine ›Revolution‹ ist und folglich der Rolle, die ein ›Revolutionär‹ hierbei zu spielen hat. Die Frage also nach dem Selbstverständnis der Anarchisten.

Heute sehen die meisten Anarchisten die Revolution als einen Prozeß, der sich in stetigen Entwicklungen und plötzlichen Explosionen vollzieht. In der Vergangenheit war das Augenmerk fast gänzlich auf diese ›Explosionen‹ gerichtet, die man mit Revolution gleichzusetzen pflegte. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um Revolten, Umstürze, die manchmal unumgänglich werden, damit die Umwälzung einen Widerstand durchbricht, um ihren Weg fortzusetzen. Revolution aber ist nicht, wenn's knallt, sondern, wenn's sich wendet. Starrt man nur auf den Knall, dann mag die Idee der Avantgarde ganz tauglich sein, denn für den Knalleffekt ist sie allemal gut.

Früher hingen fast alle revolutionären Bewegungen dem ›Knalleffekt‹ an, auch die große Mehrheit der Anarchisten. Zwar kann man einem Bakunin nicht gerade vorwerfen, er hätte sich nicht ausgiebig Gedanken über die künftige Gesellschaft gemacht, aber entstehen sollte sie bei ihm doch überwiegend aus der Revolte heraus. Folglich sieht er anarchistische Revolutionäre durchaus in einer gewissen Avantgardefunktion. Immerhin tut er das kritisch und betrachtet dies als eine Art notwendiges Übel, dem Zügel anzulegen seien, wenn er schreibt: "Sie läßt der revolutionären Bewegung der Massen ihre volle Entwicklung und ihren Aufbau von unten nach oben durch freiwillige Föderationen und die unbedingte Freiheit, aber sie wacht stets darüber, daß hierbei nie Autoritäten, Regierungen und Staaten wieder gebildet werden können." Dagegen wäre nicht viel einzuwenden, außer der kritischen Frage, was denn die "revolutionäre Bewegung der Massen" sei und warum die Anarchisten nicht dazugehörten, sondern offenbar irgendwo daneben oder darüber stünden?

 

Eine andere Vorstellung von Revolution

Woher aber sollte ein solch gewaltiger Stimmungsumschwung "der Massen" kommen? Not und revolutionäre Drohgebärde alleine genügten dazu offenbar nicht. Und auch der ›Knall‹ bringt nicht unbedingt ›Wende‹.

Während Marx und seine Nachfolger emsig an einer Steigerung ihres Avantgarde-Modells arbeiteten, befielen die Anarchisten schon bald Zweifel an ihren bisherigen Konzepten. Bereits bei Kropotkin, Malatesta, Nettlau und dem spanischen Anarchisten Tarrida del Mármol finden wir differenziertere Vorstellungen von Revolution. Um die Jahrhundertwende schließlich fand der Anarchismus in Gustav Landauer einen der tiefsten Denker, der aus der Vielschichtigkeit revolutionärer Prozesse auch praktische Konsequenzen zog.

Nach seiner Meinung ist jeder Umsturz zum Scheitern verurteilt, der nicht auf der breiten Überzeugung derjenigen beruht, für die er gedacht sein soll. Folglich müßten die Bedingungen für eine Revolution vorher bereits geschaffen werden. Es gälte, die nötigen Tugenden praktisch zu erlernen, Erfahrungen zu sammeln, Gegenmodelle vorzubereiten und Vertrauen in die eigene Kraft zu gewinnen.

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Nicht bei einer Avantgarde, sondern in Form einer breiten, sozialen Bewegung. Diese wäre dann sowohl in der Lage, den ›Knall‹ wie die ›Wende‹ herbeizuführen und der Clou an der Sache sei, daß, je tiefer diese Bewegung reiche, desto kleiner und unblutiger am Ende der Knall ausfallen müsse. Wobei Landauer übrigens Wert darauf legt, die Tiefe der Bewegung nicht nur an ihrer Größe, sondern vor allem an ihren Qualitäten zu bemessen.

Das ist, vereinfacht gesagt, das ›Strickmuster‹ moderner anarchistischer Revolutionstheorie, auf das Landauer natürlich nicht als einziger gekommen ist. Interessanterweise entwickelten die klassenkämpferischen Anarchisten zur gleichen Zeit mit dem Anarcho­syndikalismus ein Gewerkschaftsmodell, das der gleichen Grundidee folgt; soziale Bewegung, Knall und Wende, und: je tiefer die Bewegung, desto gebremster der Knall.

Eine solche Bewegung kann, je nach Situation, in Opposition und Kampf gegen die bestehende Gesellschaft entstehen — wie der Syndikalismus —, oder sich parallel zu ihr entwickeln und weitgehend abkoppeln. Diese Idee des teilweisen Ausstiegs, in dem Freiräume für soziale Experimente als Urzellen einer künftigen Gesellschaft entstehen können, ist das Originelle an Landauers praktischen Konsequenzen, die er aus seiner Revolutionstheorie ableitete. Insofern ist er ebenso ein Inspirator der Kibuzzim in Palästina wie der colectividades libertarias in Spanien und sogar ein Urahn des heutigen ›Projektanarchismus‹, der sich vermehrt seit den achtziger Jahren ausbreitet.

Menschen mit so unterschiedlichen praktischen Ansätzen zur Befreiung wie Martin Buber, Max Nettlau, Rudolf Rocker, Augustin Souchy oder Erich Mühsam stehen in der Tradition der Landauerschen Revolutionsvorstellung. Diese ›Grammatik der Revolution‹ läßt sich bei Gandhis lautlosem Aufstand ebenso wiederentdecken wie in der Spanischen Revolution, bei der anarchopazifistischen Grassroot-Bewegung wie in Murray Bookchins Öko-Anarchismus oder bestimmten Bereichen der neuen sozialen Bewegungen bis hin zu bolo'bolo*. Erich Mühsam, der Dichter, faßte sie in den schönen Aphorismus "Wirklichkeit wächst aus Verwirklichung".

 

Abschied vom einsamen Helden

Ein solches Revolutionskonzept bietet auch denjenigen, die sich für Revolutionäre halten, die Chance zu einem anderen Selbstverständnis. Sie wären damit von der Schizophrenie entbunden, letztendlich "diktatorische Befreier" zu sein:

Nicht Revolutionäre ›machen‹ die Revolution, sondern die Menschen, die ihr Leben ändern wollen. Wenn die nicht mitmachen, wäre es keine Revolution, sondern ein Putsch, bestenfalls eine Revolte. Revolutionäre bewegen sich inmitten dieser Menschen und helfen dabei, Ansätze zu finden, aufzubauen und voranzutreiben. Diese Ansätze können die unterschiedlichsten Formen haben: von geistigem Wirken über Gegenmodelle, soziale Bewegungen, Widerstand, bis hin zur Organisation der Revolte, wenn sie notwendig wird. Wichtig ist, daß sich diese Ansätze nicht isolieren, daß sie an den realen Problemen und Bedürfnissen der Menschen ansetzen und Zugänge schaffen, damit sie wachsen.

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Hier wäre der Platz des Revolutionärs, hier könnte er wirken. Je mehr er inmitten solcher Menschen wirkte, desto weniger höbe er sich von ihnen ab. Er wäre Teil ihrer Bewegung, nicht ihr Lenker. In einem solchen Prozeß lernten die Menschen ebenso von ihm wie er von den Menschen lernen könnte – er veränderte sich.

Es klingt lächerlich, aber manchen Edelrevoluzzern muß es einfach mal gesagt werden: Revolutionäre sind auch bloß Menschen! Vor allem sind sie nichts Besseres, und ob das, was sie glauben zu wissen, so richtig und gut ist, muß sich erst noch heraus­stellen. Ihre Aufgabe ist es jedenfalls nicht, den Rest der Menschheit zu ›beglücken‹, sondern sich mit ihnen gemeinsam etwas zu erkämpfen, was man bei einem verzeihlichen Hang zur Romantik meinethalben ›Glück‹ nennen kann.

Dieses ›Glück‹ muß aber auch das Leben des Revolutionärs betreffen. Er tut das, was er tut, nicht in erster Linie für andere, sondern für sich. Selbstlose Helden sind unglaubwürdig, und wenn der Held selbst nichts mit den Zielen, für die er kämpft, anzufangen weiß, ist er auf dem Holzweg. Sein letztes Ziel muß es bleiben, sich als ›Revolutionär‹ selbst entbehrlich zu machen. Sobald eine Revolution wirklich stattgefunden hat, müssen ›Revolutionäre‹ verschwinden, weil sie überflüssig geworden sind. Geschieht das nicht, ist irgendwas faul. In dem Augenblick aber, wo Revolutionäre vorgeben, nichts für sich und alles nur ›für das Volk‹ zu tun, werden sie zu einer Avantgarde. Die Revolution wird unglaubwürdig und fängt an zu stinken.

 

Pilze in Sauerteig 

Anarchisten verstehen heute ihre Rolle im revolutionären Prozeß daher kaum noch als Avantgarde. Diejenigen, die es immer noch tun, sind entweder bei einem halbverstandenen Bakunin stehengeblieben oder begeistern sich an roten Mythen aus der Mottenkiste des Leninismus, die mit Anarchie nichts zu tun haben. Vielleicht nehmen sie sich auch nur ein bißchen zu wichtig.

Wenn Anarchisten heute ihr Wirken in modernen Revolutionsszenarien mit Worten beschreiben sollen, greifen sie interessanter­weise nicht mehr auf Metaphern aus dem Militärwesen zurück, sondern eher auf Analogien aus der Natur. So vergleichen sie sich heute gerne mit der Hefe in einem Teig, die sich mit dem Mehl vermischt, gärt, Anstoß gibt, ein Wachstum bewirkt und schließlich eine neue Qualität hervorbringt: aus dem Teig ist Brot geworden.

Die Freunde des wissenschaftlichen Vergleichs umschreiben das Wirken des Revolutionärs in der Gesellschaft lieber mit der Funktionsweise eines Katalysators – das ist ein Beschleuniger chemischer Prozesse, der durch seine Anwesenheit den Anstoß zu einer chemischen Reaktion gibt, zu einer Veränderung also. Wobei die Symbolik noch weiter geht: nicht der Katalysator ›macht‹ die Veränderung, sondern lediglich die beteiligten Substanzen sind am Prozeß beteiligt. Und das passende Bild zu einer revolutionären Organisation ist nicht länger der Verschwörerzirkel, sondern wahlweise das Mycel oder das Rhizom. Sowohl das "Pilzgeflecht" als auch das "Wurzelwerk" durchdringen das Erdreich, lockern es auf, sind extrem widerstandsfähig und schwer zu bekämpfen.

Um bei der Metapher mit dem Hefeteig zu bleiben: Anarchisten sind dazu übergegangen, lieber viele ›kleine Brötchen zu backen‹, anstatt theatralisch mit der Faust auf einen Sack Mehl zu hauen.

 

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Literatur:
/ Gustav Landauer: Revolution Berlin 1977, Karin Kramer, 160 S.
/ ders.: Erkenntnis und Befreiung Frankfurt/M. 1976, Suhrkamp, 106 S.
/ ders.: Zwang und Befreiung Köln 1968, Hegner, 274 S.
/ Siegbert Wolf: Gustav Landauer zur Einführung Hamburg 1988, Junius, 137 S.
/ Max Nettlau: Die Eugenik der Anarchie Wetzlar 1985, Büchse der Pandora, 207 S.
/ Rudolf Rocker: Gefahren der Revolution Hamburg 1980, Die Freie Gesellschaft, 34 S.
/ Helmut Rüdiger: Der Sozialismus wird frei sein Berlin 1991, Oppo, 93 S.
/ Harry Pross: Zwänge Berlin 1981, Karin Kramer, 184 S.

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