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Je
mehr Gesetze und Beschränkungen, |
Dem
Volk, das unter einem König ist, |
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20 Frühformen der Anarchie
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Von Anarchismus im Altertum zu reden, ist ein wenig so, als sprächen wir von ›vorchristlichem Christentum‹. Ein bißchen paradox also. "Anarchismus" als einigermaßen stimmiges Gedankengebäude, als soziale Bewegung gar, gibt es erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Ist es von daher überhaupt legitim, in der Antike, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nach Spuren von ›Anarchismus‹ zu suchen?
Wir tun gut daran, ›Anarchismus‹ nicht als eine Ideologie zu verstehen. Was uns interessiert, ist eine Tendenz, die sich durch ganz bestimmte Eckwerte auszeichnet: Freiheitlichkeit, Herrschaftsfeindlichkeit, Solidarität, gegenseitige Hilfe, Autonomie des Individuums, Vernetzung kleiner Einheiten, Selbstbestimmung und Rebellion gegen Fremdbestimmung. Die historischen Ausprägungsformen einer solchen Tendenz, die wir auf den folgenden Seiten kennenlernen werden, sind Produkte ihrer Zeit, ihrer jeweiligen Kultur und deren sozialen Problemen. Der moderne Anarchismus als Bewegung entstand in Europa und ist entsprechend geprägt: er ist ganz Kind seiner Epoche und reagierte auf die sozialen Probleme des 19. Jahrhunderts: die Industrialisierung, den Patriotismus, den Militarismus, die Kirche, das Bürgertum und den Gegensatz zwischen Arm und Reich.
Insofern kann es sich bei unserer Betrachtung grundsätzlich nie um den Anarchismus schlechthin handeln, sondern immer nur um eine ›Momentaufnahme‹. Es wäre ein törichter Fehler, wenn wir alles, was uns auf unserer Spurensuche begegnet, an unserer heutigen Ausprägungsform von ›Anarchismus‹ messen, bewerten und ausblenden wollten. Eine solche Unterlassung würde das Bild zugunsten einer dogmatischen und formalen Sichtweise verzerren, deren sich gerne die unkritische Ideologiegeschichte verschreibt.
Das ist in diesem Buch aber nicht beabsichtigt, und deshalb ist die Suche nach ›Anarchismen vor dem Anarchismus‹ legitim und notwendig.
Wie ein ›schwarzer Faden‹ durchzieht die Sehnsucht nach freiheitlichen Formen des sozialen Lebens die Geschichte der Menschheit. Dieser Faden ist nicht immer und überall gleich dick, denn Aufmüpfigkeit fand selten Eingang in offiziöse Geschichtsschreibung. Aber er war immer da. In den einzelnen Fasern dieses Fadens erkennen wir die anarchistischen Primärtugenden als Inhalte wieder, nicht als Etiketten, oft hinter bizarren Masken und meist in Zusammenhängen, in denen das Wort ›Anarchie‹ nicht vorkommt. Auch die globale Vision einer libertären Welt ist noch selten erkennbar. Spurensuche also — nicht im Sinne einer formalen und deshalb albernen Vereinnahmung, sondern um zu zeigen, daß der Drang nach Freiheit eine uralte Komponente der Menschheit ist, und der moderne Anarchismus keineswegs eine unerwartete Spontangeburt war.
Vor Französischer Revolution und Aufklärung gibt es keinen ›Anarchismus‹, aber es gibt ›An-archismen‹. Wenn wir diese Unterscheidung beherzigen, können wir uns unbefangen auf die Reise begeben...
Tao
Im sechsten vorchristlichen Jahrhundert finden wir in dem uns völlig fremden Kulturkreis des feudalen China erste Zeugen an-archischen Denkens, deren Spuren bis in unsere Zeit reichen: den Taoismus, eine bis heute in der chinesischen Gesellschaft präsente und wirkende Richtung — eine Mischung aus Philosophie, sozialer Bewegung, Lebensweisheit, praktischer Wissenschaft und kirchenloser Volksreligion. Er wird vielfach als eine Art ur-anarchische Weisheit angesehen. Der Historiker Peter Marshall bezeichnet ihn als den "ersten klaren Ausdruck anarchistischer Sensibilität" und sein Hauptwerk Tao te ching als "einen der größten anarchistischen Klassiker".
Fast wie in einem künstlichen Modell standen sich in der frühen chinesischen Hochkultur zwei ›philosophische Schulen‹ gegenüber, der Konfuzianismus und der Taoismus. Ersterer vertrat eine starr-hierarchische Ordnung mit Tugenden wie Pflichterfüllung, Disziplin und Gehorsam in einer Gesellschaft, in der jedes Individuum an seinen unverrückbaren Platz gestellt war. Es ist nicht schwer zu verstehen, daß der Konfuzianismus im Reich der Mitte, dessen Staatswesen im sechsten vorchristlichen Jahrhunden zunehmend an Bedeutung gewann, rasch zur offiziellen Staatsphilosophie wurde; Zentralismus und Bürokratie waren die Folge.
Die Taoisten hingegen lehnten Regierungen ab und glaubten an ein Leben in natürlicher und spontaner Harmonie, wobei der Einklang des Menschen mit der Natur eine bedeutende Rolle in ihrem Denken spielte. Im taoistischen Weltbild befindet sich alles im Fluß, nichts ist endgültig und konstant. Nicht zufällig bedeutet Tao "der Weg". Für den Taoisten entsteht ›Realität‹ immer aus dem Wechselspiel gegensätzlicher Kräfte, die sich aber auch brauchen und bedingen und zur Harmonie fähig sind: yin und yang. Ganz wie die moderne soziale Ökologie strebt der Taoismus Gleichgewicht innerhalb einer bunten Vielfalt an.
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Niemals jedoch verkommt der Taoismus zu einer bloßen Religion. Er zwingt seine Sichtweise keinem auf, entwickelt weder Kulte, Kirchen noch Klerus*. Stattdessen geht die Entwicklung in Richtung klarer Aussagen zu Gesellschaft und Politik: In seiner langen Entwicklung bringt der Taoismus ein regelrechtes System politischer Ethik hervor, dessen Parallelen zu heutigen sozialen Bewegungen offensichtlich sind. Das taoistische Prinzip des wu-wei, fälschlich oft als "Nicht-Eingreifen" verstanden, ist eine Synthese aus dem, was wir heute "zivilen Ungehorsam", "anti-autoritär" oder "sanfte Technologie" nennen würden: Wu-wei bedeutet die Abwesenheit von wei.
Unter wei ist auf gezwungenes, künstliches, hektisches, autoritäres Handeln zu verstehen, das einer natürlichen und harmonischen Entwicklung entgegensteht. Politisch gesehen entspricht wei dem Prinzip Autorität. Salopp ausgedrückt sind Taoisten der Meinung: je mehr der Mensch sich einmischt, je komplizierter er steuern will, desto schlimmer wird alles — was sich wiederum verblüffend mit den Erkenntnissen moderner Ökologie deckt. Folgerichtig postuliert die taoistische Schule, daß die beste Regierung diejenige sei, die am wenigsten regiere — ein Standpunkt, wie wir ihn beispielsweise bei ›Frühlibertären‹ wie Wilhelm von Humboldt, John Stuart Mill oder Henry David Thoreau finden. Und wenn gar der Taoist Lao Tzu über das bürokratische, kriegerische und kommerzielle Wesen seiner Zeit herzieht und Eigentum als eine Art von Diebstahl darstellt, so meint man, den alten Proudhon schimpfen zu hören — allerdings in der sanften Form kunstvoll-metaphorischer* Gedichte, in der die taoistische Weisheit zumeist auf uns gekommen ist.
Noch klarer kommen an-archische Tendenzen in den Schriften des Philosophen Chuang Tzu (369-286 v. Chr.) zum Tragen, der jede Form der Regierung ablehnt, um ihr die freie Existenz selbstbestimmter Individuen entgegenzusetzen. Grundgedanke einer solchen taoistischen Idealgesellschaft wäre es, die Menschen selbstregulierend sich selbst zu überlassen. Dieser frühe chinesische Vorläufer eines laisser-faire* setzt ein großes Maß an Vertrauen in die sozialen Fähigkeiten des Menschen voraus — eine Problematik, mit der sich auch der moderne Anarchismus kontrovers auseinandersetzt.
In der Schrift Huai Nan Tzu wird diese Frage auf eine, man möchte fast sagen, ›Kropotkinsche‹ Weise gelöst: das persönliche Wohlergehen eines jeden Einzelnen wachse in dem Maße, wie es der Allgemeinheit wohl ergehe. Menschen seien sowohl Individuen als auch soziale Wesen. Wer etwas für die Allgemeinheit tue, tue also auch etwas für sich. Das erinnen sehr an jenen ›sozialen Egoismus‹ der Anarchisten, den wir bereits kennengelernt haben. Der Bogen der Parallelen schließt sich vollends, wenn darauf verwiesen wird, daß eine solche Gesellschaft keineswegs konfliktfrei wäre, aber alle Chancen böte, in einer Art freiem Spiel gegensätzlicher Kräfte und Interessen zu neuen Gleichgewichten zu finden, sprich: zu neuen Zusammenschlüssen aufgrund gemeinsamer Interessen. Das klingt fast wie bolo'bolo à la yin und yang...
Taoistische Tendenzen machten im Laufe der Geschichte verschiedene Entwicklungen durch und wirken ungebrochen bis heute fön; es ist dabei kaum möglich, klare Grenzen
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zwischen Weisheit und Rebellion, zwischen Mystizismus und klarer Sachlichkeit, zwischen Religion und sozialer Tendenz zu ziehen. Vermutlich muß das so sein, denn es entspricht vollkommen dem taoistischen Wesen. Praktische Auswirkungen dieser Philosophie gehen weit über das Soziale hinaus und sind entsprechend mannigfaltig: von geistiger Sammlung über Ernährung, Körpertraining, psychische Techniken, Sexualität, Gesprächstherapie bis hin zur Heilkunde gibt der Taoismus für vieles praktische Nutzanwendungen. Also eher eine abgeklärte Lebensweisheit für den Einzelnen ohne gesellschaftliche Mobilisierung?
Fest steht, daß der Taoismus, der mit entwaffnender Güte auf die Harmoniefähigkeit des Menschen setzt, in den vergangenen 2500 Jahren nie eine ›soziale Bewegung‹ in unserem Sinne hervorgebracht hat. Vom klassischen Anarchismus unterscheidet er sich daher nicht so sehr in der Radikalität des Denkens, als im Stellenwert des Handelns. Dem Primat der direkten Aktion setzt Tao eher eine aufgeklärte Passivität entgegen. So wird der Taoismus wohl das bleiben, was er seit jeher war: eine Quelle praktischer Weisheit für Menschen, die die volle Harmonie ihres Seins erreichen möchten.
Buddhismus
Weniger augenfällig ist der libertäre Geist, den Kenner im Buddhismus ausfindig machen, was nicht erstaunt, wenn man sich klar macht, daß er im Gegensatz zum Taoismus sehr wohl eine Kirche und einen staatstragenden Klerus hervorgebracht hat.
Der Buddhismus ist ursprünglich eine indische Religion, im 5. vorchristlichen Jahrhundert von Siddharta Gautama gegründet, der sich Buddha nannte, "der Erleuchtete". Seine recht komplizierte Lehre einer menschlichen Vervollkommnung lebt vom Widerspruch zwischen materiellem Besitz, der als negative Fessel gedeutet wird, und Selbstfindung, die in der höchsten Stufe der Erleuchtung endet, dem Nirvana. Nirvana ist das "Nichts" oder die "völlige Befreiung". Anfänglich war der Buddhismus eine rein ethischmeditative Bewegung, die in Indien rasch zurückgedrängt wurde, sich in Sri Lanka, Thailand und Tibet hingegen etablieren konnte. Früh kam es zu einer Aufspaltung in einen machtpolitisch interessierten und institutionalisierten Zweig, die Theravada, und die Richtung der Mahayama, die weiterhin und ausschließlich die Selbstbefreiung des Individuums durch das Streben nach Vollkommenheit verfolgte.
Ab dem 6. Jahrhundert beginnt unter dem Namen Ch'an in China eine Entwicklung, die Buddha anders interpretiert: als den ersten Rebellen, den "Sprenger der Ketten", die den Menschen an Unwissenheit und Unfreiheit fesseln. Wir haben es hier mit einer regelrechten Häresie* zu tun, wie wir sie ähnlich aus der Kirchengeschichte des europäischen Mittelalters kennen. Ch'an erreicht Japan im 12. Jahrhundert, wo es sich unter dem Namen Zen zu einer eigenständigen Richtung entwickelt.
Zen ist weder Kirche noch staatstragende Religion. Anders als unsere mächtigen mittelalterlichen Abteien ist ein Zen-Kloster kein Hort von Macht, Besitz und Wissen, sondern ein Ort der Gleichheit und Armut. Ein Zen-Mönch versteht sich nicht als Mittler zwischen ›Gott‹ und den Menschen, sondern als eine Art Lehrer, ein Vorbild, das auf dem Weg zur
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Selbsterkenntnis helfen kann. Zen erkennt keine höhere Autorität der Wahrheit an als die Intuition* des Individuums, über dem nicht einmal Buddha steht. Mehr als eine Sekte ist es ein Experiment durch Erfahrung, und dabei ausgesprochen egalitär*: Zen kennt keine Eliten, verlacht Autoritätspersonen und propagiert ein autonomes, selbstbestimmtes Leben. Sein Ziel ist die Befreiung des Individuums von vorgegebener Moral, Gesetzlichkeit und Autorität in Harmonie mit der Umwelt. In der natürlichen Ordnung vermag Zen keinen Grund für Herrschaft und Hierarchie zu entdecken.
Von daher kann man dem Zen-Buddhismus einen gewissen libertären Geist ebensowenig absprechen wie dem Taoismus. Beide lehnen Hierarchie und Herrschaft ab, beide suchen individuelle Befreiung durch Selbsterkenntnis in voller Harmonie mit sich selbst. Beide aber bleiben die Antwort auf die Frage schuldig, ob das in den Gesellschaften des Zwanzigsten Jahrhunderts außerhalb der eigenen Hirnschale möglich ist. Wie eine Gesellschaft entstehen könnte, die von solchen Idealen geprägt ist, ist nicht ihr Thema. Genau hier liegt ein gravierender Unterschied zum klassischen Anarchismus, für den Freiheit nicht nur ein individuelles, sondern auch ein soziales Phänomen ist.
Zweifellos wäre die Ethik des Tao oder des Zen ein fruchtbarerer Boden für eine an-archische Gesellschaft als etwa Katholizismus oder Islam. Ebenso fraglos aber stecken in einer Religionsauffassung wie dem Buddhismus, der auf dem Glauben an eine Seelenwanderung beruht, und in dem das schicksalhafte Karma wie eine Hypothek der Vergangenheit auf der Gegenwart lastet, neue Fesseln. Soziale und geistige Freiheit finden hier ebenfalls ihre Grenzen. Entweder ist die Welt und mit ihr der Mensch determiniert*, dann aber gibt es keine wahre Freiheit. Oder aber, sie ist es nicht. Dann jedoch gibt es auch kein buddhistisches Karma.
Die alten Griechen
Das antike Griechenland, seit jeher Lieblingstopos* gerade des deutschen Bildungsbürgers, gilt uns zuallererst als die "Wiege der Demokratie". Es stimmt ja auch: Da gab es im Stadtstaat Athen gut 500 Jahre vor der Zeitenwende 30.000 Bürger, von denen bis zu 6.000 an den regelmäßigen Versammlungen des Parlamentes teilnahmen. Von solcher Dichte politischer Partizipation können heutige Demokraten nur träumen.
Verwaltungs- und Regierungsaufgaben lagen in den Händen des "Rates der 500", deren Mitgliedschaft dem Rotationsprinzip unterlag. Richter wurden gewählt, Streitfälle öffentlich verhandelt, und eine Bürokratie gab es nur in Ansätzen, die uns heute als niedlich erscheinen müssen. Rundherum also Elemente einer direkten Demokratie in kleinen, überschaubaren Einheiten. Politische Strukturen, deren tragende Elemente Autarkie und Autonomie waren, und in denen das Recht auf freie Meinung, freies Wort und freies Handeln Begriffe darstellten, mit denen die Menschen umgingen, theoretisch wie praktisch. All das zu einer Zeit, als man in unseren Breiten noch kaum etwas anderes kannte als den ungebremsten Despotismus des Mächtigen, und als einzelner Mensch genau genommen nicht einmal ein Recht aufs eigene Leben hatte — geschweige denn auf eine eigene Meinung.
Gut zweitausend Jahre bevor bei uns so etwas wie die Magna Charta, die Habeas-Corpus-Akte*, Menschenrechte oder gar allgemeine Wahlen auf die Tagesordnung kamen.
* (d-2005:) Habeas-Corpus-Akte, engl. Gesetz von 1679, nach dem kein Gefangener ohne richterliche Untersuchung länger in Haft bleiben kann.
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Eine Insel humanitärer Hoffnung also, inmitten einer finsteren, barbarischen Welt? Man ist leicht versucht, der antiken griechischen Demokratie ein libertäres Etikett anzuhängen, aber die soziale Wirklichkeit sah anders aus.
Zunächst mal gab es im alten Griechenland nicht nur demokratische Stadtrepubliken wie Athen, sondern auch jede Menge Minidiktaturen und Kleindespotien; es gab die Spartaner mit ihrer sprichwörtlichen militärischen Härte ebenso wie den Makedonier Alexander, der aufbrach, sich ein Weltreich zu unterwerfen und mit Demokratie nichts am Helm hatte.
Aber selbst an Orten, wo die klassische Demokratie à la Athen wirkte, entsprach sie alles andere als libertären Idealen. Sie galt nur für Männer, Frauen hatten keine Rechte. Sklaven natürlich auch nicht. Ebensowenig die Masse zugewanderter Bewohner, die in der Polis* wohnten, ohne jedoch Bürger der Stadt zu sein. Allesamt machten sie natürlich die große Mehrheit aus, hatten aber nichts zu sagen. Und auch mit der demokratischen Partizipation war es nicht allzuweit her: Die Versammlungen glichen oftmals eher einer Show als einem Ort ernsthafter politischer Entscheidung. Schöne Rhetorik an sich war ein ästhetischer Wert, der den Parlamentsbesuch zu einem Genuß machte in einer Zeit, die noch vergleichsweise wenig Massenunterhaltung zu bieten hatte. Die realen Entscheidungen aber fielen zumeist innerhalb politischer Eliten, die die Massen gut an der langen Leine hielten. Nicht zufällig war das demokratische Athen nie frei von Expansions- und Machtgelüsten und stürzte sich, etwa unter dem geschickt agierenden Perikles, in immer neue kriegerische Abenteuer.
Das alles kommt uns heute nicht unbekannt vor: Diskriminierung, Manipulation, Showeinlagen im Parlament und die Illusion der eigenen Entscheidung beim Wahlvolk entsprechen durchaus dem Erscheinungsbild unserer ›modernen Demokratien in den letzten 150 Jahren: Daß Ausländer bei uns nicht wählen dürfen, gilt ebenso selbstverständlich, wie dies noch zu Beginn des Jahrhunderts für Frauen galt.
Für wie demokratisch wir das alte Athen auch immer halten mögen — all das hat mit ›Anarchie‹ wenig zu tun. So liegt denn auch der Wert der griechischen Antike für den Anarchismus weniger in ihrer sozialen Realität, als in ihrer philosophischen Bedeutung. Zweifellos gaben die relativ großen Freiheiten, die eine demokratische Polis bot, einen guten Rahmen für die Entwicklung freien Denkens und ungewöhnlicher Utopien ab, die mit Fug und Recht als Vorläufer des modernen Anarchismus angesehen werden können. Die grandiosen Denkentwürfe mancher griechischer Philosophen waren zwar in eine weniger grandiose soziale Wirklichkeit eingebettet, sollten aber während der folgenden langen, düsteren Perioden der Ignoranz und des Despotismus immer wieder als Quelle der Inspiration dienen. Aus ihnen schöpfen bis in unsere Tage Denker und Philosophen, Revolutionäre und Erneuerer. Max Nettlau, der große und unermüdliche Historiker der Anarchie, vergleicht sie etwas pathetisch* aber treffend mit den "Adern der Freiheit", durch die der oft schwache Puls an-archischen Denkens auch die schlimmsten Jahrhunderte überdauerte.
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Nicht, daß der Begriff Anarchie bei den alten Griechen etwa einen guten Klang gehabt hätte. Homer und Herodot (ca. 490-430 v.Chr.) bezeichnen damit den für sie bedauerlichen Zustand der Abwesenheit eines An- oder Heerführers. Für Aischylos (ca. 525-465 v.Chr.) führt Anarchie stets zur Zersetzung des Gemeinwesens. Sokrates (470-399 v.Chr.), der mit seiner Forderung, selbst zu denken und Autorität stets zu hinterfragen, einen so sympathisch-antiautoritären Eindruck hinterläßt, bleibt bei alldem doch Elitist*. Ein Gemeinwesen ohne Herrschaft kann er sich einfach nicht vorstellen. Immerhin ebnet er den Weg für die Einsicht, daß es keine absoluten Wahrheiten gibt und die relative Wahrheit am besten aus kontroverser Diskussion zu gewinnen sei. Zweifellos ein Fortschritt. Auch für Heraklit (ca. 550-480 v.Chr.) ist, ähnlich wie für die Taoisten, die Wirklichkeit ständiger Veränderung unterworfen, die aus Antagonismen* entsteht. Alles freilich innerhalb einer "natürlichen Ordnung", in der für Anarchie kein Platz ist. Ebensowenig ist Heraklit ein Demokrat: Am besten wäre es, die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen.
Richtig bunt wird's erst nach Sokrates' Tod im Jahre 399 vor Christus, als seine zahlreichen Schüler das philosophische Denken tüchtig aufzumischen beginnen.
Auf der einen Seite Platon, brillanter Kopf, der von der antiautoritären Essenz seines Meisters jedoch nichts mitbekommen zu haben scheint. Mit seinem Bestseller "Der Staat" wird er für alle Zeiten quasi zum Designer des autoritären, zentralistischen, alles beherrschenden Staates. Als einer der ersten gibt er dem Begriff ›Anarchie‹ eine politische Definition und stellt ihn gleichberechtigt neben ›Demokratie‹, Freilich ist für Plato beides gleich verwerflich. Anarchie beschreibt er als bunt, ungebunden und zuchtlos — also schädlich. Platons berühmter Schüler Aristoteles siedelt Anarchisten als außerhalb des Staates stehend an und verdammt sie konsequenterweise als gesetzlose, gefährliche Bestien. Solche Definitionen sollten Schule machen und lange Zeit gültig bleiben.
Auf der anderen Seite aber bilden sich im Humus von Sokrates' geistigem Erbe verschiedene philosophische Schulen heraus, die in den folgenden Jahrhunderten zu den wichtigsten Strömungen des Querdenkertums werden sollen: Die Epikuräer, die Kyniker und die Stoiker. Sie alle sind auf die eine oder andere Weise individualistisch, ohne jedoch in platten Egoismus abzugleiten. Und sie alle pfeifen mehr oder weniger auf Staat, Obrigkeit und Gesetze. Das autonome Individuum rückt in den Mittelpunkt des Denkens.
Die von Aristippos im dritten vorchristlichen Jahrhundert begründete Schule des Hedonismus, die später nach dem Philosophen Epikur das Adjektiv epikuräisch verpaßt bekommt, stellt zum ersten Mal die Legitimität des Genusses ins Blickfeld der Philosophie und lockert die sklavische Abhängigkeit des Individuums vom Terror der Götter. Epikur, der in seinem "Garten", in dem er lehrte, kostenlos Frauen und Männer aller sozialer Schichten empfing, machte sich ebenso schnell unbeliebt, wie seine Anhängerschaft im ganzen Mittelmeerraum wuchs. Sein Credo besagt, daß Gesellschaften, die auf Zuneigung und Freundschaft gegründet sind, menschlicher seien als solche, die auf theoretischer Gleichheit und Gerechtigkeit fußen.
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Die Epikuräer, weit von dem ihnen anhängenden Vorurteil blinder Genußsucht und Wollust entfernt, entsprechen am ehesten dem Teil des modernen Anarchismus, der zwischen bewußtem Leben, dem Recht auf eigenen Lebensstil, der Legitimität des irdischen Genusses und einem kämpferischen Individualismus angesiedelt ist. Ihrem Vorläufer Aristippos, der im Gegensatz zum ›asketischen Genießen Epikur ein regelrechter Snob gewesen sein muß, wird der Ausspruch zugeschrieben, der Weise solle seine Freiheit nicht dem Staate opfern.
Auch die Kyniker waren nicht unbedingt das, was wir heute einen Zyniker nennen — jemand, der mit klugem aber ätzendem Spott die Gefühle anderer Menschen verhöhnt. Scharfzüngig zwar, und berüchtigt für ihre entlarvenden Paradoxa*, können wir diese philosophische Schule am ehesten als die Speerspitze einer anarchoiden Spaßguerilla der Antike ansehen, die keine etablierten Autoritäten anerkannte.
Einer ihrer prominentesten Schüler, Diogenes von Sinope, war der exzentrische Zivilisationsspötter par excellence. Er geiselte die Sklaverei, proklamierte seine Brüderschaft mit allen Lebewesen und sich selbst zum ersten ›Weltbürger‹ der Geschichte. Er wollte nicht besser leben als ein Hund. Seine hündische — griechisch kynische — Lebensweise bescherte ihm als Behausung ein ›Faß‹, vor dem eines Tages der mächtige Feldherr Alexander auftauchte, der dem berühmten Philosophen anbot, sich zu wünschen, was immer er wolle. Diogenes' Wunsch, Alexander möge ihm bitte aus dem Licht gehen, war der autoritätsverachtenden Philosophie eines Kynikers würdig und wurde entsprechend berühmt.
Die Ideenwelt der Kyniker konzentriert sich auf die Begriffe physis (Natur) und nomos (Konvention), die die Philosophie bisher in Einklang zu bringen versuchte. Die kynische Schule hingegen lehnte die menschlichen Konventionen ab, die sie als künstlich, zufällig und aufgesetzt empfand. Stattdessen machte sie sich auf die Suche nach ›Naturgesetzen‹ — Physis triumphiert über Nomos. So predigte beispielsweise der Gründervater Antisthenes, der seiner aristokratischen Klasse den Rücken gekehrt hatte, auf Massenmeetings unter freiem Himmel der arbeitenden Bevölkerung einen Weg ›zurück zur Natur‹, in der Regierung, Privateigentum, etablierte Religion oder Ehe keinen Platz mehr hätten, denn in einer natürlichen Ordnung‹ würden sie überflüssig sein.
Für einen Kyniker sind konventionelle Regeln ebenso ›un-natürlich‹ wie lästig. Gesetz, Hierarchie und Gebräuche seien bei verschiedenen Völkern und zu verschieden Zeiten unterschiedlich, sie hätten also keine Universalität und daher auch keine moralische Autorität. Besonders in der Person des Diogenes, der das Geld verachtete, passiven Widerstand leistete und einen subversiven Alltag vorlebte, zeigt sich das an-archische Element der kynischen Schule.
Noch näher am Anarchismus werden die Stoiker angesiedelt. Für Kropotkin war Zeno von Citium (3. und 2. vorchristliches Jahrhundert) "der beste Exponent anarchistischer Philosophie im alten Griechenland". Kein Wunder, setzt er doch gegen Platons Staatskommunismus das Ideal einer freien Kommune ohne Regierung. Zeno erkennt — ganz wie sein russischer Bewunderer — in der Menschheit sowohl den Instinkt der Selbsterhaltung, der sich in Egoismus äußere, als auch den sozialen Instinkt, der zu Kooperation führe. Beide Tendenzen befänden sich im freien Spiel der Kräfte, wobei die der sozialen Kooperation in dem Maße wachse, wie sich der Mensch an seinen "natürlichen Bedürfnissen" orientiere. Zwangsinstitutionen würden dann überflüssig.
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Die Stoiker knüpfen also am Begriff des ›Naturrechts‹ der Kyniker an, lehnen aber im Gegensatz zu ihnen die Vorteile der Zivilisation nicht ab. Sie sind eher Realisten als Provokateure, und von den Epikuräern bringen sie die Fähigkeit zum Genuß mit ein. Eine hübsche Mischung, die starke Elemente dessen in sich trägt, was wir heute Individualismus, Rationalismus, Gleichheit und Weltoffenheit nennen würden.
Die Idee des ›Naturrechts‹ setzt ›Gott‹ mit ›Natur‹ gleich und ›Natur‹ mit ›Vernunft‹. Ein philosophischer Trick mit tiefreichenden Folgen für lange Zeit: Göttliches Recht entspräche demnach natürlichem Recht, die Grenzen des Menschen gegenüber den Göttern wären genau die, die auch die Natur setzt. Sich gegen die Natur (= Gott) aufzulehnen, ist unvernünftig. Also ist es vernünftig, das Naturrecht (= göttliche Ordnung) zu respektieren. Naturwissenschaft wäre folglich die Erforschung dieser Ordnung. Es leuchtet ein, daß ein solches Gottesbild sich immer mehr von mystischer Religion entfernt. Rationalität bekommt einen göttlichen Charakter, das religiöse Element verkümmert. In all dem ähnelt die Stoa stark den Idealen der Aufklärung, ebenso, wie in dem schier grenzenlosen Glauben an die Güte des Menschen, sofern er sich nur ›natürlich‹ entwickeln kann — ein Glaube übrigens, der seit Rousseau viel an Überzeugungskraft verloren hat und im Anarchismus heute eher kritisch gesehen wird. Vor 2200 Jahren jedoch war eine solche Denkweise bahnbrechend, denn sie setzte erstmals ein Gegengewicht gegen das lokale, autoritäre, gotthörige Machtdenken in der griechischen Mainstream-Philosophie mit ihren personifiziertem Gottheiten. So konnte ein geschlossenes politisches Weltbild entstehen:
Ein weiser Mensch, so die Stoiker, beteilige sich am politischen Leben, wenn er nicht daran gehindert wird, der Staat aber verhindere solches Engagement von Natur aus. Alle Staaten seien daher in gleicher Weise von Übel. Stoiker erweisen sich außerdem als wahre Kosmopoliten. Im Gegensatz zu Platon und Aristoteles halten sie alle Menschen für gleichwertig und wenden sich folgerichtig gegen die Sklaverei in der Polis. In Zenos "Republik" gibt es keine Rassen- oder Rangunterschiede, weder Gerichtshöfe noch Polizei, Armeen, Tempel, Geld, Ehe noch Schulen. In einer solchen ›natürlichen Ordnung‹ "arbeitet ein jeder nach seinen Fähigkeiten und konsumiert nach seinen Bedürfnissen". Erst gut 2000 Jahre später wird die Tradition solch radikaler Gedankengänge zaghaft wieder aufgegriffen: von Lessing und Fichte, vehementer dann von Godwin, Kropotkin und Landauer.
Vergessen wir aber eines nicht: Zenos "Republik" war kein real existierendes Territorium, sondern Philosophie. Ideen, die als schriftliche Fragmente oder Berichte auf uns gekommen sind. Epikuräer, Kyniker und Stoiker waren Randgruppen der Gesellschaft, die im Gegensatz zur herrschenden Moral und Philosophie standen. ›Spinner‹ vermutlich in den Augen der meisten Menschen, die überhaupt von ihnen Kenntnis nahmen. Über konkrete Versuche, solche Ideen in die Tat umzusetzen, ist wenig bekannt.
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Sofern es dazu Ansätze gab, die über die Privathäuser der Philosophen hinausgingen, sind sie nicht erfolgreich gewesen — sonst hätten wir sehr wahrscheinlich davon erfahren. Philosophie war im alten Griechenland ein Steckenpferd privilegierter Menschen.
Dennoch darf die Wirkung solcher philosophischer Schulen nicht unterschätzt werden. Zum einen sind sie Trendsetter. Ohne Zweifel haben sie einen Einfluß auf den Geist der Zeit und wirken auf das soziale Leben einer Epoche. So fand die Stoa im gesamten Mittelmeerraum Anhänger, besonders in Kleinasien und in Rom, wo sie nachhaltigen Einfluß auf die Rechtsprechung ausübte — die Idee des Naturrechts verdrängte die des Formalrechts. Zum anderen wurden sie Teil der menschlichen Kulturgeschichte und wirkten wie Samenkörner der Freiheit, die Jahrhunderte überdauerten, um irgendwann auf fruchtbaren Boden zu fallen und Keime in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu treiben. Die wenigen hellen Denker des Mittelalters schöpften ebenso aus diesem Saatgut wie die Philosophen der Renaissance, die Aufklärer der Neuzeit und die frühen Anarchisten.
Düstere Zeiten im Schatten der Kirche
Die nun folgenden Jahrhunderte sind arm an solchen freiheitlichen ›Samenkörnern‹, und auch die ›Adern der Freiheit pulsieren für lange Zeit nurmehr ganz schwach. Das Römische Reich ist nicht nur der machtpolitische Triumph des Staates an sich, sondern gipfelt in schärfster Konsequenz in einem bis dahin nie gekannten Imperialismus. Fast die gesamte abendländische Welt ist einer einzigen, mächtigen, zentralen Staatsdoktrin unterworfen und dient Rom. Schlechte Zeiten für die Liebe zur Freiheit.
Danach kommt das sogenannte ›finstere Mittelalten, das zwar in vielem so finster nicht war wie gemeinhin angenommen, in der Frage globaler Freiheit aber eben doch. Im Gefolge der neuen christlichen Religion und ihrem einen, gestrengen, neurotisch-autoritären Gott folgt — mit etwas zeitlichem Abstand — ein neuer, religiöser Imperialismus: Kirche, Klerus und Klöster überziehen Europa mit einer ebenso dumpfen wie intoleranten Einheitsdoktrin. Sie ist auf Angst aufgebaut und verfilzt sich vortrefflich mit der weltlichen Staatsmacht. Ein Denken außerhalb religiöser Kategorien ist für anderthalb Jahrtausende schier unmöglich geworden.
Darum ist das meiste, was uns aus diesen Zeiten an freiheitlichen Impulsen überliefert ist, entweder direkte Rebellion gegen Unterdrückung oder aber Abweichung von der kirchlichen Lehre. Sklaven und Ketzer*, Bauern und Häretiker* sind die Protagonisten* dieses Widerstandes. Die Quellenlage aus heutiger Sicht ist dabei schier zum Verzweifeln. Die reinen Aufstandsbewegungen haben kaum Schriften oder Theorien hervorgebracht; sie sind uns nur aus den Berichten der Sieger bekannt, und entsprechend schlecht kommen sie dabei weg. Bei den Häretikern gibt es schon eher schriftliche Dokumente, da ihre Denker meist selbst der Kirche entstammten und fleißige Schreiber waren. Vieles aber wurde vernichtet, und den Rest muß man sich mühsam aus den Akten der Inquisitoren zusammenreimen. Das ist etwa so authentisch*, wie wenn man die Weltanschauungen der Widerständler gegen Hitler aus den Verhörprotokollen der Gestapo rekonstruieren wollte.
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Seit der Zeitenwende gibt es kein Jahrhundert ohne Aufstand und Häresie. Eine ununterbrochene Kette der Aufmüpfigkeit begleitet die ›offizielle‹ Entwicklung der Gesellschaft. Plebejer, Gracchen, die von Spartakus angeführten Sklaven, Kimbern, Teutonen und Donatisten erhoben sich gegen das Römische Reich. Allein in unserer näheren Umgebung setzten sich Bataver, Sachsen, Slawen, Friesen, Lutizen und immer wieder die geknechteten Bauern gegen Unterdrückung und Entrechtung zur Wehr. Köln, Magdeburg, Straßburg, Mainz, Würzburg oder Braunschweig erlebten Erhebungen gegen die Obrigkeit ebenso wie Bayern, das Elsaß, Thüringen, Pommern, Dithmarschen oder der Sundgau. Sie alle können weder aufgezählt noch untersucht werden.
Haben solche Rebellionen an-archische Züge gehabt? In einem strengen Sinne sicher nicht, denn in der Regel fehlte die Gesamtheit einer herrschaftsfreien Vision. So kommt denn auch Max Nettlau in seiner "Geschichte der Anarchie" zu dem Urteil, daß die Aufstände im alten Rom ebenso autoritäre Formen aufwiesen wie die urchristlichen Gemeinschaften, die trotz ihrer kommunistisch-demokratischen Anfangsphase rasch in der neuen Staatsreligion aufgesogen wurden. Für die Sache der Freiheit, so Nettlau, "kamen alle diese nicht in Betracht", und er läßt nur wenige Ausnahmen gelten. Im Sinne unserer unbefangenen Suche nach Essentials jenseits des modernen Anarchismusbegriffs aber lohnt sich ein etwas näheres Hinsehen.
"O Ihr Dummköpfe! Jeder kann in ein Buch schreiben, was er will; und der das Evangelium schrieb, konnte auch schreiben, was er wollte." Solch respektlose Sätze aus dem Munde überzeugter Christen klingen ungewohnt. Und doch sind sie typisch für jenen egalitären und antiautoritären Strang, der sich als Opposition durch die Geschichte des Christentums zieht und bis heute nicht zum Schweigen gebracht wurde.
Das Zitat stammt aus der Endphase der Katharer, einer ungemein populären christlichen Protestbewegung, die im 12. und 13. Jahrhunden große Teile Südeuropas erfaßte. Diese Menschen verstanden sich nach dem griechischen katharos als ›die Reinen‹ — ein Wort, aus dem das deutsche ›Ketzer‹ entstand. Sie wandten sich gegen die allgemeine Armut und die Privilegien des Adels, verspotteten die Amtskirche mitsamt ihren Dogmen und ihrem Pomp, predigten ein einfaches Leben und betrachteten alle Menschen als gleich.
Das galt auch für Frauen, was in der patriarchalen Welt des Mittelalters eine unglaubliche Provokation war. Offenbar trafen aber solche Ideen die Bedürfnisse und den Geschmack breitester Kreise und wurden zu einer ernsten Bedrohung der Kirche. Da Ketzer überdies den nötigen Respekt vor der Heiligen Schrift und der Heiligen Römischen Kirche vermissen ließen, saß Papst Gregor IX. schließlich derart in der Klemme, daß er 1232 die ›Heilige Inquisition‹ erfand, ein Glaubensgericht, das mittels Tribunal, Folter und Todesstrafe alle Arten von ›Irrglauben‹ bekämpfen sollte. Es folgten, Hand in Hand mit staatlicher Macht, regelrechte Ausrottungskriege — etwa gegen die Albigenser in der Provence oder die Waldenser in Frankreich und Norditalien.
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Trotz aller Brutalität sollte es über siebzig Jahre dauern, bis die Katharer endlich vernichtet waren — nur, um neuen Protestbewegungen Platz zu machen, die dann ebenfalls verfolgt wurden. Die Inquisition — sie besteht bis heute, darf aber keine weltlichen Strafen mehr verhängen — blieb in ihrer beinahe 800-jährigen Geschichte nie ohne Beschäftigung.
Kirchliche Rebellen — gleich ob in Wort, Schrift oder Tat — hießen seit den Tagen der Katharer allgemein ›Ketzer‹. Und Ketzer wurden, sofern sie nicht reuig waren und von der Mutter Kirche Pardon erhielten, bis ins 18. Jahrhundert hinein verbrannt, gehängt, gevierteilt oder gerädert. Oft genug reichte es hierfür aus, von der offiziellen Meinung abzuweichen und selbst nachzudenken. Treffender ist deshalb das Wort Häretiker. Es kommt von dem griechischen Wort für ›Wahl‹, häresis, und bezeichnet Menschen, die "selbsterwählten Anschauungen oder Lebensarten anhängen". Schon im zweiten nachchristlichen Jahrhundert wird das Wort von der Kirche für das Verbrechen "willkürlicher Menschenmeinung" verwendet und bezeichnet fortan einen ›Abweichler‹ von der göttlichen Wahrheit, die natürlich von der Kirche festgelegt wurde. Und Abweichung galt als eine arge Sünde, die durchaus todeswürdig war.
Dabei gab es ›Häresie‹ schon vor der Kirche — genau genommen schon vor der historischen Gestalt des Jesus' von Nazareth. Dieser war nämlich nur einer von zahlreichen utopischen Spinnern‹, die seinerzeit mit ihren Provokationen und prophetischen Visionen im jüdischen Stammland umherschweiften und den braven Bürgern damit vermutlich ziemlich auf die Nerven gingen. Ähnlich wie bei uns während der Hippie-Ära waren damals in Palästina Andersartigkeit, universelle Liebe, Herausforderung der Autoritäten, neue Lebensformen, Visionen von Gleichheit und natürlich Widerstand gegen die Staatsgewalt schwer in Mode. Und bevor jener belächelte Provo-Prophet Jesus gekreuzigt wurde, zum Mythos avancierte und unter dem Spitznamen ›der Gesalbte‹ (Christus) zum Stifter einer neuen Religion ward, hatte er sehr wahrscheinlich in Verbindung mit einer radikalen religiösen Sekte gestanden, den Essenern. Diese wohnten in einer Art Dorfkommune an den Ufern des Toten Meeres und praktizierten einen ›vorchristlichen‹ Liebeskommunismus in Gleichheit, Armut, Führerlosigkeit und religiöser Sinnsuche im Einklang mit der Natur und ihren Gesetzen. Ohne Zweifel ist vieles von dem, was der wandernde Prophet Jesus in Wort und Tat von sich gab, hier entlehnt.
Erst Jahrzehnte und Jahrhunderte später schrieben irgendwelche Leute, die nicht dabei waren, all die Anekdoten und Legenden auf, die über Jesus vom Hörensagen kursierten. So entstanden die ›Evangelien‹ — Teil jener zweifelhaften Textsammlung namens Bibel, die als ›Buch der Bücher‹ bis heute nicht angezweifelt werden darf. Aus ihm wurde dann sehr schnell ein Paket von ›Wahrheiten‹ geschnürt, die einer machtbesessenen, dogmatischen und intoleranten Kirche dienten, die sich christlich nannte. Vermutlich wäre der historische Jesus von Nazareth in ihr der erste Rebell gewesen.
Das heißt nichts weniger, als daß Häresie in ihrem eigentlichen Sinn nicht eine Abweichung, sondern geradezu etwas Typisches des Christentums ist — ganz einfach deshalb, weil Jesus von Nazareth als freier Sucher abweichender Anschauungen und Lebensarten selbst ein typischer Häretiker war. Insofern wäre die christliche Kirche die wirkliche Degenerierung* der Ethik Jesu.
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So jedenfalls sehen es mehr oder weniger stark alle häretischen Bewegungen: sie streben stets nach einem ›wahren‹ Christentum, wollen zurück zu den unverfälschten Ursprüngen. Dabei suchen sie den Sinn der Botschaft weniger in der peniblen Auslegung kirchlicher Texte als vielmehr in dem Geist, den sie beispielhaft im Leben Jesu meinen gefunden zu haben.
Diese Tendenz ist nicht auf das Mittelalter beschränkt. Sie zieht sich lückenlos hin, von den Essenern bis zu Tolstoi. Jesus als Rebell — das inspiriert bis heute! Etwa die ›Theologie der Befreiung‹ Lateinamerikas, das katholische Arbeiterpriestertum oder das Werk des religiös-pazifistischen Sozialisten Leonhard Ragaz. Gruppen wie die ›Catholic Workers‹ aus den USA gehen noch einen Schritt weiter. Ihnen macht es offenbar keine Schwierigkeiten, Christus und Anarchie unter einen Hut zu bringen. Ihre Aktivisten Dorothy Day, Ammon Hennacy und Peter Maurin vertraten eine Art religiösen Anarchismus, ähnlich wie der russische Denker Nikolai Berdjajew dies auf philosophischer Ebene tat. Der religiöse, ja ausdrücklich auch der "christliche Anarchismus", bildet seit langem einen kleinen aber interessanten Seitenstrang im ›schwarzen Faden‹ der libertären Bewegung. Religiöse Ansichten sind im Anarchismus ja auch nicht verboten, und Atheismus ist keinesfalls eine automatische Pflichtübung. Trotzdem können die meisten Anarchisten hier nicht mehr folgen. In unserem Zeitalter, so argumentieren sie, seien ›Religion‹ und maturharmonisches Weltbild‹ klar getrennt, wodurch auch der "philosophische Trick" mit dem Naturrecht überflüssig werde. Um so unverständlicher sei es, wie jemand Herrschaftsfreiheit mit der Unterwerfung unter göttliche Autorität und Allmacht in Einklang bringen will.
"Nichts ist uns fremder als der Staat" — diese Äußerung von Tertullian, einem der ältesten lateinischen Kirchenväter, zeigt, wie stark und selbstverständlich christlich-antiautoritäre Tugend noch im 2. Jahrhundert vertreten wurde. Das sollte sich bald ändern. Die Sekte der Christen baut noch in der Verfolgung durch das Römische Imperium ihren eigenen hierarchischen Apparat auf und wird am Ende Staatsreligion. Das Christentum vollzieht eine radikale Wende von seinen kommunitären Wurzeln hin zur Verfolgung der utopischchristlichen Visionen. Ab sofort werden alle, die die Kungelei mit Macht und Reichtum ablehnen und stattdessen in dem egalitären Liebesbeispiel die eigentliche Botschaft Jesu sehen, zu Verfolgten. Auch Tertullian bricht noch zu Lebzeiten mit der Bischofskirche.
Der Gnostiker* Karpokrates von Alexandrien fordert in seinem Buch "Über Gerechtigkeit" in der Mitte des 2. Jahrhunderts einen seiner Meinung nach gottgewollten Kommunismus ein, der auch in der Natur überall erkennbar sei: Alle sollen an allen Gütern gleich teilhaben, niemand solle mehr besitzen als ein anderer. Lust und Begierde dürften nicht unterdrückt werden, da sie ebenfalls natürlich und daher gottgefällig seien. Auf diese Gleichsetzung von Naturgesetz und Gotteswille beruft sich auch Bischof Ambrosius von Mailand (540-397), der verkündete: "Die Natur hat das Gemeinschaftsrecht hervorbracht. Die Anmaßung hat das Privateigentum erzeugt." Im syrischen Antiochia vertrat Johannes Chrysostomus (354-407) Ähnliches und predigte später, als er Bischof in Konstantinopel geworden war, den unter römischer Steuerknechtschaft ächzenden Untertanen ein kommunitäres Sozialwesen mit Gemeineigentum. Er starb in Verbannung.
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Augustinus, ein Schüler des Ambrosius, verschenkte seinen gesamten Besitz, um fortan in Afrika zu wirken. Ein scharfer Gegner der Verquickung von Kirche und Staat, schuf er mit seinem Buch "De civitate Dei" die erste christlich inspirierte politische Utopie, in der das Goldene Zeitalter der Menschheit nicht im verlorenen Paradies, sondern in der irdischen Zukunft liegen sollte. Diese Vision von Gottes Reich gipfelt in dem Satz "Liebe und tu was Du willst", die sich 1534 fast wörtlich in den utopischen Schriften des französischen ›Frühlibertären‹ Rabelais wiederfindet. Augustinus wird damit zum Begründer des Millenarismus, jener Hoffnung auf ein tausendjähriges Reich Gottes auf Erden, geprägt von Gleichheit, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Liebe. Aus dieser Quelle sollten später noch viele kirchliche Rebellenbewegungen schöpfen.
Nun blieben Ideen wie die von Karpokrates, Ambrosius, Chrysostomus, Augustinus und anderer fast immer ohne praktische Konsequenzen. Die christlichen Gemeinden lebten anfänglich ohnehin in einer Art Urkommunismus, und das Gros der Bevölkerung erreichte diese Lehren kaum. Allenfalls kleinere Gruppen nahmen sich derartige Predigten zu Herzen und folgten Männern wie Basilius, der um 370 die Vision einer Stadt der Nächstenliebe und Fürsorge propagierte. Herausgekommen ist dabei eine Reihe von Klöstern. Überdies wurden die frühen kirchenkritischen Denker in der Regel entweder entmachtet oder aber korrumpiert.
Eine Ausnahme bildet die Staats- und kirchenkritische Bewegung der Donatisten, die im 4. und 5. Jahrhundert in der nordafrikanischen Provinz Numidien die soziale Rebellion der verarmten Pachtbauern gegen die Großgrundbesitzer inspirierte und in vielem wie eine Vorwegnahme der deutschen Bauernkriege erscheint. Es kam zu Steuerstreiks, Landbesetzungen, und schließlich zu bewaffneten Konflikten mit dem Römischen Imperium. Bischof Donatus, im Jahre 314 als ›Basiskandidat‹ gegen den Favoriten Roms gewählt, versorgte die Aufmüpfigen im Kampf um ihre Rechte mit biblischer Munition. Für ihn, dem der Satz "Was hat der Kaiser mit der Kirche zu tun?" zugeschrieben wird, galt das Naturrecht des Menschen mehr als das Interesse des Staates. Als der Aufstand der Donatisten und ihres militanten Flügels, der Circumellionen, auch auf andere römische Provinzen überzugreifen droht, greift Rom hart durch. Donatus wird nach Gallien verbannt und die Bewegung geächtet, verfolgt, ausgehungert und verleumdet.
Im 9. Jahrhunden brechen erneut aufrührerische Ideen hervor und werden zu einer breiten sozialen Bewegung: Auf dem Balkan lehren die Bogumilen den Ungehorsam gegen die Obrigkeit, verlachen die Kirche und verweigern dem Adel den Dienst. Ungemein populär in der bäuerlichen Bevölkerung, schickt die Bewegung Missionare ins westliche Europa, wo ihr Beispiel auf fruchtbaren Boden fällt. Im Laufe der Jahrhunderte entsteht aus diesen Wurzeln die Bewegung der Katharer, der wir bereits begegnet sind. Auch sie folgen dem Ideal freiwilliger Armut und lehnen Herrschaft ab. Ihr Leben fassen sie als radikalen Ausstieg aus üblicher Norm und Ordnung auf: Staat, Ehe, weltliche Gerichtsbarkeit, Kriegsdienst und Eid sind ebenso verpönt wie das Töten von Menschen und Tieren.
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Viele Katharer wählen ein Wanderleben, und so breitet sich die Idee epidemisch aus: in Belgien, Italien, Deutschland und vor allem Frankreich ergreift die Bewegung überwiegend die städtische Bevölkerung. Verfolgt, unterdrückt und geschlagen, findet ›die Ketzerei‹ jedoch nie ein Ende. Sie verbindet sich mit neuen Bewegungen, verändert sich, und bald lassen sich kaum mehr feste Grenzen zwischen den einzelnen Häresien feststellen. Trotz aller Verfolgung überleben sie, wie etwa die im 12. Jahrhundert entstandenen Waldenser, in Untergrund, Exil und Partisanenkrieg bis zur Deutschen und Schweizer Reformation und konnten so bis in unsere Tage überdauern.
Als Ende des 12. Jahrhunderts Joachim von Fiore den Anbruch des ›dritten Zeitalters des Heiligen Geistes‹ verkündet, in dem alle Herren verschwänden, und das Leben pure Freude und Lust sein sollte, ziehen Zigtausende ekstatischer Menschen tanzend durch die Lande und verunsichern rechtschaffene Bürger und Kirchenobrigkeit gleichermaßen.
Ähnliche Erschütterungen wie diese millenaristische Welle ruft der kompromißlose Pazifist Franz von Assisi hervor, dessen Radikalismus die Kirche allerdings in einem klösterlichen Orden kanalisieren kann.
Im 13. Jahrhundert tauchen die Brüder und Schwestern des freien Geistes auf, die einem radikalen Pantheismus* anhängen und die Einheit von Gott und Natur über das weltliche Gesetz erheben. Sie berufen sich dabei auf die Worte Paulus' im Brief an die Galater: "Regiert euch aber der Geist, so seid ihr nicht unter dem Gesetz." Mit ihrem freien Kommunismus stellen sie sich bewußt außerhalb der Gesellschaft, ihrer Sitten und Gebräuche.
Eng verquickt und kaum auseinanderzuhalten waren sie mit den Beginen und Begarden, die sich ebenfalls in Wohn- und Arbeitsgemeinschaften praktisch organisierten. Mit den Beginen begegnen wir einer sehr frühen und außerordentlich aktiven Frauenbewegung des Mittelalters. Es gelang ihnen zunehmend, in eigenen Klöstern Freiräume für ihre feminine, pantheistische und mystische Religiosität zu erkämpfen. Die praktischen Zielvorstellungen dieser meist der Oberschicht entstammenden Frauen zielten auf wirtschaftliche Unabhängigkeit durch Arbeit in einem herrschaftsfreien Raum hin, dem Frauenkloster. Die Schweifenden Beginen wiederum waren nicht ans Kloster gebunden und zogen frei durchs Land. Es wird berichtet, daß sie gelegentlich unter Slogans wie "Tod der Kirche" die saturierten* Mönche aus ihren Klöstern verjagten. Die Beginen verstießen gegen die kirchlichen Auffassungen von Eigentum, Arbeit, Keuschheit und den Sakramenten. Frauen wie Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Margarets von Porete oder die dem ketzerischen Mystiker Meister Eckhart nahestehende Schwester Katrei wurden von der Kirchenhierarchie zunehmend als Bedrohung empfunden. Nachdem zunächst den Schweifenden Beginen der Garaus gemacht wurde, zwang Rom auch die Frauenklöster in den Gehorsam oder vernichtete ihre Bewegung durch Feuer und Schwert. Margarete von Porete wurde 1310 in Paris öffentlich verbrannt.
In England erheben sich 1381 die Bauern in einer Revolte gegen Adel und drückende Steuern, in deren Spitze sich der Priester John Ball stellt. Er verlieh dem Protest in einem berühmt gewordenen Zweizeiler Ausdruck: "Als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann?" Obwohl die Bewegung nach anfänglichen Erfolgen mit 100.000 Bewaffneten — in London einmarschiert, wird sie vom König mit Versprechungen hingehalten und schließlich plump übertölpelt.
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Dennoch sollten die radikalen Predigten des John Ball, in denen er zur Abschaffung von Adel, Richtern, Anwälten und allen Mächtigen aufruft, um die kommunitäre Gleichheit der kommenden Gesellschaft zu sichern, über Jahrhunderte unvergessen bleiben.
1419 löst die Hinrichtung des moderaten Kirchenkritikers Jan Hus in Böhmen einen Aufstand aus. Waren die Hussiten eher autoritär-nationalistisch eingestellt, so versuchten sich im Gefolge dieser Bewegung die Taboriten mit der Gründung eines Gemeinwesens, das spätere Historiker als "anarcho-kommunistisches Experiment" eingestuft haben: In einem Städtchen auf einem Berg nahe Prag, nach biblischem Vorbild Tabor getauft, gründen sie eine Kommune ohne Eigentum und Steuern, in der keine Autorität außer der Bibel gilt. Sie teilen Besitz und Produktion und glauben in typisch millenaristischer Verklärung, daß das verheißene Reich, in dem alle Gesetze abgeschafft und die Erwählten unsterblich seien, nun angebrochen wäre.
Singend, tanzend und oftmals auch unbekleidet ziehen sie durch die Wälder. Angesichts solcher Verzückung kümmern sie sich nur wenig um so weltliche Dinge wie effektive Produktion und Güterverteilung, so daß das Experiment nach wenigen Jahren wirtschaftlich zusammenbricht. Einige Taboriten verlegen sich nun auf Bettelei und Diebstahl, andere gefallen sich in der Rolle des bewaffneten Armes gegen den Antichrist und rufen dazu auf, alle Adligen zu schlachten. Von dieser Wende zur Gewalt distanziert sich ein Teil der Taboriten und zieht unter Peter Chelsicky ins ländliche Böhmen, wo sie eine pazifistische Gemeinschaft gründen, aus der später die ›Mährischen Brüder‹ hervorgehen. In seinem Buch "Netz des Glaubens" interpretiert Chelsicky Staat und politische Macht als Strafe für die Erbsünde, die, wenngleich derzeit notwendige Übel, in der Gemeinschaft wahrer Christen überflüssig seien. Kropotkin zählt ihn deshalb zu den Vorläufern des Anarchismus, und Rudolf Rocker sieht in ihm gar einen frühen Tolstoi.
Vor dem Hintergrund solch bewegter Ketzerideen nimmt sich der Reformansatz eines Martin Luther eher zahm aus. Tatsächlich war die Luthersche Kritik an der Katholischen Kirche und den Zuständen im Deutschen Reich alles andere als radikal. In erster Linie war sie als ein Änderungsvorschlag für verkrustete Institutionen geplant, und Luther war zunächst nicht mehr als ein Ketzer unter vielen, der nur etwas mehr Glück hatte als andere.
Daß seine Thesen dennoch so viel Wirbel machten und über verheerende Kriege schließlich zur Geburt einer neuen Kirche führten, lag denn auch weniger an der Originalität des Dr. Luther, als vielmehr an der päpstlichen Halsstarrigkeit und den machtpolitischen Konstellationen jener Zeit: Der Zusammenbruch des Feudalismus zeichnete sich immer klarer ab. Neue gesellschaftliche Schichten waren aufgestiegen, alte kämpften gegen ihren Untergang, und die ewig Rechtlosen forderten ihre Rechte ein. Die gesellschaftlichen Strukturen aber waren uralt und taugten nicht mehr für die neue Zeit. Der Ruf nach einer ›Reichsreform‹ wurde laut, aber nicht verwirklicht. Seit über 100 Jahren lehnten sich die Bauern im gesamten deutschsprachigen Raum gegen Armut und Rechtlosigkeit auf und griffen nun vermehrt zu den Waffen.
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Kaiser, Kaufleute und Kirche, Patrizier, Reichsritter und Humanisten mischten ihre jeweiligen Interessen in den Sauerteig dieses bewegten 16. Jahrhunderts. Die Reformation entfesselte in diesen widersprüchlichen Interessen Kräfte, die nicht mehr zu kontrollieren waren und auch das Ausland auf den Plan riefen. Wo immer aber der Wunsch nach wirklicher Befreiung und radikaler Veränderung der Zustände durchschimmerte, wurden die ›großen Reformatoren wie Luther, Calvin oder Zwingli zu entschiedenen Verteidigern von Ruhe und Ordnung. Herrschaft, Unterwerfung und Hierarchie stellten sie nie in Frage.
Das turbulente Jahrhunden der Reformations- und Bauernkriege bringt aber auch andere Namen hervor, die typisch für jene bizarre, aus den Fugen geratene Welt sind.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts steht fast der gesamte süddeutsche Raum in Aufruhr. Die Bauern stellen regelrechte Heere auf und bedrängen die Obrigkeit mit einer Mischung aus Forderung, Kampf und Verhandlungstaktik. Einer dieser legendären Bauernbünde war der Bundschuh; seine Struktur würden wir heute ›basisdemokratisch‹ nennen. Die zwölf Artikel ihrer Statuten beklagen Unrecht und fordern Rechte, postulieren Gleichheit und Gemeineigentum, schmähen die Privilegien von Adel und Klerus — all das begründet mit dem Geist des Evangeliums.
Die geistigen, geistlichen und militärischen Anführer dieser verschiedenen ›Bauernhaufen‹ wie Florian Geyer, Ulrich von Hütten, Götz von Berlichingen, Wendel Hipler, Thomas Müntzer oder Joß Fritz waren keine Bauern, sondern Pfarrer, Reichsritter oder Notare, die sich der Bewegung aus durchaus unterschiedlichen Motiven anschlössen: von tief empfundenem Humanismus über Gerechtigkeitsgefühl, religiöse Überzeugung, politische Reformvisionen bis hin zu berechnendem Eigennutz war alles vertreten.
Auch aus den Reihen der Bauern sind einige — wenige — Namen überliefert, die aus den Quellen aber meist als zwielichtige Gestalten hervorgehen. Desperados, wie wir heute sagen würden, die es nicht selten auf Beute und persönliche Rache abgesehen hatten. Sie sorgten mit ihrem wortradikalen Haß auf Pfaffen und Adlige zwar reichlich für den Stoff, aus dem jene Legenden sind, die später bei den Linken so beliebt wurden. Allerdings trugen ihre oft kopf- und sinnlosen Exzesse* nicht wenig dazu bei, daß aus diesem Kampf kaum Neues erwuchs. Ihr Zorn war berechtigt und ist leicht zu verstehen — und die Grausamkeiten waren auf Seiten der fürstlichen Truppen eher noch schlimmer —, er führte aber immer öfter zu Niederlagen und Diskreditierung dieser mächtigen, ruhelosen Bewegung.
So konnten kaum Visionen für eine neue Ordnung gedeihen, und Pläne reichten meist nicht über den Augenblick hinaus. Der Protest machte sich an Einzelheiten fest und war, wie die Historikerin Christa Dericum schreibt, eher eine Zusammenballung revoltierender Potenzen als eine Revolution. Weder die geistige Elite noch ihre radikalisierte Basis erreichte je die visionäre Höhe etwa der alten Griechen; ihr Begriff von Freiheit kommt nicht über die Bibel hinaus. Im dritten Artikel des Bundschuh liest sich das so: "Es findet sich in der Schrift, daß wir frei sind, und wir wollen frei sein. Freilich nicht so, daß wir ganz frei und keine Obrigkeiten haben wollen. Das lehrt uns Gott nicht."
Ein Denken jenseits von Gott war schlicht tabu. Das gilt selbst für die mit kaum gekannter Radikalität auftretenden interessanten ›Randerscheinungen‹ der Bauernkriege wie die Wiedertäufer, die Kommunen von Münster und Mühlhausen oder gut hundert Jahre später die Diggers und Ranters, mit denen in England die religiös inspirierten Revolten ausklingen.
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Im Gefolge all dieser Unruhen flutete eine Welle der Heilserwartung durch Europa: Das ersehnte Reich von Gottes Gerechtigkeit sei angebrochen, hier und heute müsse es gelebt werden! Wiedertäufer zogen durch die Lande, zitierten millenaristische Prophezeiungen und verkündeten den Auserwählten die neue Zeit. Wie überall kamen die Ideen von radikaler Gleichheit und dem Ende wirtschaftlicher Knechtschaft bei den einfachen Leuten gut an. Im thüringischen Mühlhausen gelang dem bewaffneten Geheimbund Thomas Müntzers die Eroberung der Stadt, und mit Hilfe der Bauernschaft etablierte sich eine Kommune, die das praktische Experiment einer Gütergemeinschaft versuchte. 1525 wurde Müntzers Bauernarmee in Frankenhausen geschlagen. Einer der Überlebenden, der Buchdrucker Hans Hut, begann daraufhin, den generalisierten militanten Aufstand zu predigen. Sein Programm kam einer sozialen Revolution gleich: Christus werde das Schwert führen, um alle Sünden zu bestrafen, alle Regierungen zu vernichten und allen Besitz zu teilen. Auch nach der Hinrichtung Huts breiteten sich die Wiedertäufergemeinden weiter aus. Sie lebten in kommunitären Gruppen und lehnten die kirchlichen Riten und Sakramente ab.
Erst nach der Niederschlagung der Wiedertäuferkommune von Münster im Jahre 1535 verebbte diese Bewegung. Jan Bockelson (Johann von Leyden) hatte 1534 die Einwohnerschaft für seine millenaristischen Visionen gewonnen und in der westfälischen Stadt das ›neue Jerusalem‹ ausgerufen. Ein Jahr lang wurde hier ein weitreichender Güterkommunismus gelebt, der sowohl die Produktion als auch den Konsum einschloß. Geld wurde abgeschafft, und allen stand alles zur Verfügung. Triebkraft dieses Experiments war indes nicht Bockelsons Liebe zur Freiheit, sondern der religiöse Wahn der ›Auserwählten‹.
Das Regime der Wiedertäufer war, allen Legenden zum Trotz, durch und durch autoritär und führte zu einem neuen, tyrannischen Gesetzbuch, das den Männern die Polygamie* erlaubte und den Kindern Widerworte gegen ihre Eltern bei Todesstrafe verbot. Es gipfelte in der Krönung des Jan Bockelson zum "König der Gotteskinder und Regenten des neuen Zion". Die aufständischen Bürger und Bauern von Münster hatten zwar bewiesen, daß sie sich von der Obrigkeit befreien und auch wirtschaftlich erfolgreich selbst organisieren konnten, aber nur um den Preis einer neuen Herrschaft, die kaum weniger tyrannisch war als die alte. Nach langer Belagerung und Hungersnot wurde Münster schließlich von bischöflichen Truppen genommen. Die Sieger hielten blutige Rache.
Nach dieser Erfahrung wurden die Wiedertäufer zu strikten Pazifisten. Besonders in Mitteleuropa gründeten sie zahlreiche Kommunen und Gemeinwesen. Der kommunitär-pazifistische Millenarist Jakob Hutter wurde zum Begründer einer wirtschaftlich blühenden Siedlungsbewegung in Böhmen, Mähren, Süddeutschland und Österreich. Obwohl die Hutterer kein Privateigentum kannten und ein relativ bescheidenes Leben führten, verhalf die Solidarökonomie ihren Gemeinden zu blühendem Wohlstand. So war neben religiöser Intoleranz wirtschaftlicher Neid ein Hauptgrund, der 1622 zu ihrer Vertreibung führte. Nicht wenige emigrierten in die Neue Welt, wo ihre Kolonien in den USA und Kanada bis heute bestehen.
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All das klingt nun nicht gerade sehr ermutigend und schon gar nicht nach "Frühformen der Anarchie". Vergessen wir aber nicht, daß wir uns auf die Suche nach Essentials begeben hatten.
Versuchen wir deshalb ein Resümee:
Fast alle Aufstandsbewegungen haben auffällige Übereinstimmungen. Es geht stets um die Wiedererlangung oder Verteidigung von ›Freiheit‹. Freiheit bedeutet dabei zunächst immer das Abschütteln konkreter Herrschaft. Sofern sich Zielvorstellungen abzeichnen, gehen diese fast ausnahmslos in Richtung Gleichheit, Gemeinschaftlichkeit und Gerechtigkeit. Oft werden, wie bei den meisten Bauernrevolten, alte Rechte eingefordert, die sich auf Kollektivität gründeten: Genossenschaften, Autonomie oder Gemeineigentum wie etwa die Allmende*.
Bei den religiösen Häretikern das gleiche Bild: Leitmotiv ist hier stets das (Wiederherstellen eines als ›wahr‹ empfundenen Christentums. Und ›wahr‹ bedeutet dabei interessanterweise immer: Leben in Gemeinschaft, solidarisches Handeln, Ächtung von Reichtum, gemeinsamer Besitz, Ablehnung von Knechtschaft, kirchlicher Hierarchie und Macht, Achtung vor dem Leben, Liebe zu den Menschen und — in den Grenzen einer intuitiv empfundenen göttlichen Ethik — die Freiheit des Geistes und meist auch des einzelnen Menschen. Das liest sich fast wie ein anarchistischer Forderungskatalog aus dem 19. Jahrhundert, wenn — ja, wenn der Liebe Gott nicht ständig zwischen den Zeilen hervorgucken würde.
Der Gottesbegriff ist daher der Schlüssel zum Verständnis all dieser Rebellionen.
Vermutlich können wir die einfache Tatsache heute nicht mehr nachvollziehen, daß das Mittelalter eine Ära war, in der ein Denken außerhalb des Rahmens ›Gott‹ gar nicht stattfand. Gottloses Denken war buchstäblich nicht denk-bar. "Gott" stand hierbei nicht in erster Linie für ein religiöses Objekt, er war vor allem anderen das einzig vorhandene Erkenntnissystem. Jenseits dieses Bildes gab es einfach nichts, und basta. "Gott" war gleichbedeutend mit "Weltbild".
Heute ist Religion Privatsache. Nicht jeder Gottgläubige ist religiös. Nicht jeder Religionsfeind ist Atheist. Atheisten können den unterschiedlichsten Philosophien anhängen. Aber versuchen wir doch einmal, uns heute irgendeine soziale oder politische Bewegung außerhalb unseres modernen Weltbildes vorzustellen! Zweifeln Sozialdemokraten, islamische Fundamentalisten, Faschisten, Christen, Anarchisten, Woodo-Anhänger, Kommunistcn, Buddhisten, Liberale, Existentialisten, Esoteriker oder Materialisten daran, daß ein Flugzeug deshalb fliegt, weil die Kräfte gemäß dem Newton'schen Gesetz wirken? Oder, daß sich die Erde um die Sonne dreht? Oder, daß der Mond Ebbe und Flut bewirkt? Daran glaubt sogar der Papst.
Die Rolle aber, die in unserem Weltbild heute die Naturwissenschaften spielen, spielte früher Gott. Gewiß zweifeln viele moderne Menschen an wissenschaftlichen Erkenntnissen, vielleicht hat Newton ja gar nicht recht, und wer versteht schon Einstein!
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Wissenschaftskritik gibt es en masse und zum Teil mit Recht, aber dennoch — und darauf kommt es an — denken wir alle im Rahmen unseres heutigen Erkenntnissystems. Natürlich auch Einstein, auch jeder fromme Katholik und sogar die Esoteriker, die mehr als alle anderen so gerne mit logischen Analogieschlüssen überzeugen möchten.
Gerade darum ist die Idee des ›Naturrechts‹ so wichtig, jener "Trick mit Folgen", der bei den Kynikern und der Stoa auftauchte: Gott ist Natur und Natur ist Vernunft! Jemand konnte im Mittelalter von genau den gleichen Idealen, Gefühlen und Gedanken befallen sein wie ein Anarchist des 20. Jahrhunderts — er wäre dennoch kaum in der Lage gewesen, zu einem "Weltbild ohne Gott" zu gelangen, selbst wenn derselbe Mensch heute vermutlich Atheist wäre.
Ebensowenig, wie heute ein Anarchist zu einem "Weltbild ohne Natur" gelangen kann. Gewiß kann er die Naturwissenschaften kritisieren, aber trotzdem bleibt er im Rahmen unserer heutigen positiven Erkenntnis. Genauso hätte er vor tausend Jahren die Religion kritisieren können, nicht aber die Idee "Gott" leugnen — denn das hätte geheißen, alles zu negieren, was vorstellbar war. Max Nettlaus Vermutung, die Angst vor Verfolgung hätte viele Denker des Mittelalters daran gehindert, ihre Kritik schärfer zu formulieren, muß wohl relativiert werden.
Klare Geister und mutige Visionäre wie Meister Eckhart, Giordano Bruno, Margarete von Porete, Erasmus von Rotterdam, Galileo Galilei, Kopernikus und ungezählte andere scheuten sich nicht, das aufzuschreiben, was sie dachten. Für viel weniger kam man damals ohnehin auf den Scheiterhaufen. Deshalb dürfen wir, selbst wenn sie waschechte Vorläufer moderner Naturwissenschaft waren, den Bezug vieler Denker auf eine göttliche Ordnung kaum als taktische Tarnung verstehen, um sich vor Verfolgung zu schützen. Es finden sich im Mittelalter nicht deshalb keine ›Atheisten‹, weil es keine gegeben hätte, sondern weil sie selbst sich gedanklich unmöglich so hätten definieren können.
Wir tun deshalb gut daran, an vielen Stellen, an denen bei kritischen Denkern des Mittelalters der Begriff ›göttlich‹ auftaucht, diesen als ein Axiom* zu verstehen, gerade so, wie wenn heute jemand ›natürlich‹ sagt. So manche merkwürdige Einschränkung des Freiheitsbegriffes erscheint dann in einem anderen Licht. Lesen wir in alten Quellen, daß die Freiheit des Menschen dort ihre Grenzen findet, wo sie gegen göttliche Ordnung verstößt, so müssen wir ›übersetzen‹, daß unsere Freiheit an den Grenzen der Natur endet. Das klingt dann auf einmal nicht nur verständlich, sondern sogar sehr vernünftig. Über diese Grenzen der Natur und ihr Wesen können wir trefflich streiten, ebenso wie die Menschen des Altertums über das Wesen Gottes und dessen Grenzen streiten konnten. Darüber zu streiten, ob es Gott gab, müssen wir uns aber so abwegig vorstellen wie heute ein Streit darüber, ob es Natur gibt.
Unter diesem Aspekt müßten wir also unsere kritische Wertung jener Bewegungen wiederholen, und nun wird es wirklich interessant. Die Frage, an der die libertäre Trennungslinie dann verliefe, wäre dann nämlich die, ob Gott jeweils als religiöse Figur oder als ordnendes Prinzip verstanden wurde. War er Tyrann oder Natur, das angsteinflößende Übermonster mit Rauschebart oder die Tatsache, daß das Jahr vier Jahreszeiten hat?
Dieser Prüfstein sollte auf jede einzelne der Bewegungen und Philosophien angewandt werden, die wir kennengelernt haben, wenn wir ihren Gehalt an ›Anarchismen‹ beurteilen wollen. Je stärker dabei ›gottgewollte Ordnung‹ als Synonym für natürliche Harmonie‹ verstanden wurde, desto näher stand der Geist solcher Bewegungen den Positionen des heutigen Anarchismus. Je kritischer sie sich dabei von der Bibel entfernten, desto mehr ähnelten sie heutigen Libertären, die einen wissenschaftskritischen Ansatz vertreten. Nur sehr wenige große Geister besaßen seinerzeit die Bildung und den Willen, die Welt zu verstehen und dabei die Bibel gegen den Strich zu lesen. Von rebellischen Bauern, von denen kaum einer lesen konnte, dürfen wir zu einer Zeit, als die ersten Bibelübersetzungen noch druckfrisch waren, solche intellektuellen Leistungen nicht erwarten. Ihnen entsprang der Geist von Empörung und Revolte.
Interessant ist letztlich, daß das, was sich beide — kritische Denker und empörte Rebellen — als ideale Ziele vorstellten, in wesentlichen Teilen dem nahekommt, was auch Quintessenz des modernen Anarchismus ist: Freiheit, Gemeinschaft, gegenseitige Hilfe, wirtschaftliche Gleichheit und Abscheu gegen Tyrannei. Das zeigt zum mindesten eines: daß es offenbar zu allen Zeiten einen Drang in diese Richtung gab und libertäre Ideen wohl kaum als eine ›überspannte Erfindung der Moderne‹ abgetan werden können.
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Literatur:
Max Nettlau: Der Vorfrühling der Anarchie in: Geschichte der Anarchie, Bd. I (überarbeitete und kommentierte Neuausgabe, hrsg. v. Heiner Becker), Aßlar-Werdorf 1993 (Berlin 1925), Bibliothek Theleme, 252 S., ill.
Peter Marshall: Demanding the Impossible — A History of Anarchism London 1995, Harper & Collins, 776 S.
Luciano De Crescenzo: Geschichte der griechischen Philosophie 2 Bde, Zürich 1985, Diogenes, 234 u. 244 S.
Hellmut G. Haasis; Freiheitsbewegungen von den Germanenkämpfen bis zu den Bauernaufständen des Dreißigjährigen Krieges (= Bd. I von: Spuren der Besiegten, 3 Bde.) Reinbek 1984, Rowohlt, 404 S.
Dietrich Schirmer (Hrsg.): Kirchenkritische Bewegungen Bd. I: Antike und Mittelalter, Stuttgart 1985, Kohlhammer, 160 S., ill. / Jens Harms (Hrsg.): Christentum und Anarchismus Frankfurt/M. 1988, Athenäum, 288 S.
Heiner Köchlin: Christentum, Kirche und Anarchismus Karlsruhe o.J., Laubfrosch, 15 S. / Christa Dericum: Des Geyers schwarze Haufen: Florian Geyer und der deutsche Bauernkrieg Berlin 1987, Karin Kramer, 163 S., ill.
Eileen Power: Als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann? Das Leben der Frau im Mittelalter vgl. Kap. 9! / Gustav Landauer (Hrsg.): Meister Eckharts mystische Schriften Wetzlar 1978, Büchse der Pandora, 152 S.
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