21. Die Zeit wird reif - William Godwin
Kommunikation ist das Wesen der Freiheit.
Zwang kann nicht überzeugen.
Macht die Menschen weise, und ihr macht sie frei.
(William Godwin)
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Das Buch hatte einen furchtbar langen Titel und bereitete dem britischen Premierminister William Pitt Kopfzerbrechen. Nicht wegen der umständlichen Überschrift – so etwas war damals Mode –, sondern wegen des Inhalts. Der war brisant wie eine Ladung Schwarzpulver. Pitt erwog, den Autor verhaften zu lassen, nahm aber schließlich Abstand davon und tröstete sich mit dem Gedanken, daß "ein Buch zum Preis von drei Guineen unter Leuten, die keine drei Shilling übrig haben, nicht viel Unheil anrichten kann".
Inzwischen aber wurde es schon zum halben Preis feilgeboten, und Arbeiter taten sich zu Subskriptionsgemeinschaften zusammen, um das Werk zu erwerben. In Schottland und Irland zirkulierten erste Raubdrucke. Die Rede ist von William Godwins Schrift <Eine Untersuchung über das Wesen politischer Gerechtigkeit und ihr Einfluß auf allgemeine Tugend und Glück>.
Das Manuskript mit dem betulichen Titel hatte neun Jahre in der Schublade gelegen. 1793, vier Jahre nach der Französischen Revolution, war es endlich erschienen und löste sogleich beträchtlichen Wirbel aus. Dabei war es alles andere als eine Rechtfertigung der blutigen Umwälzung in Frankreich und hob sich wohltuend von der Masse demagogischer Alltagspamphlete ab, die Europa in jenen Jahren überschwemmten. Es war ein philosophisches Grundsatzwerk mit unerhört radikalen Schlußfolgerungen für das soziale Leben; streng logisch aufgebaut und inhaltlich nahezu allumfassend.
An der Schwelle zum Anarchismus:
William GoodwinIn der Tat hatte der 37jährige Godwin, der sich als als hack-writer in London mit literarischer Lohnarbeit durchs Leben schlug, ohne es zu ahnen den ersten ›anarchistischen Klassiker‹ geschrieben. In vielem kann er bis heute als Grundlagenwerk angesehen werden. Leider, so muß man sagen, haben die meisten seiner Kritiken kaum an Aktualität verloren.
Bezeichnenderweise entstammt Godwin einer alten Familie religiöser Dissidenten und genoß eine streng calvinistische Erziehung, die jedoch ebenso egalitär wie kritisch und rationalistisch war. Nach einer kurzen theologischen Karriere entwickelte er sich unter dem Einfluß von Rousseau und Swift schrittweise zu einem aufgeklärten, radikalen Atheisten, der sich wie kaum ein anderer Intellektueller seiner Zeit daranmachte, die Gesellschaft frei von religiösen oder nationalistischen Vorurteilen zu analysieren. Seine "Politische Gerechtigkeit" betrachtet nicht, wie die Werke früherer anarchoider Vorläufer, lediglich den einen oder anderen Aspekt des libertären Gedankengebäudes, sondern handelt praktisch dessen gesamte Bandbreite in einem komplett durchdachten System ab. Bei Godwin finden wir eine erste globale und in sich geschlossene Vision anarchistischer Kritik und Utopie.
Mit unerschütterlicher Sturheit geht er der Frage nach, wie der Mensch das größtmögliche Maß an Glück erreichen könne. Auf seinem Weg verwirft er Patriotismus, positives Recht und materiellen Reichtum, aber auch Religion, Unterdrückung und Unterwürfigkeit. Am Ende kommt er ganz sachlich zu der Erkenntnis, daß dies nur unter einer Bedingung zu erreichen sei: in einer Gesellschaft ohne Regierung. Dabei befaßt er sich mit Problemen der Philosophie, des Menschenbildes und der Ethik ebenso wie mit Ökonomie, Erziehung, Verwaltung, Recht, Strafe, Gewalt, Sexualität und sogar der Ökologie. Und natürlich stellt er die Frage, mit welchen Mitteln die neue Gesellschaft anzustreben und durchzusetzen sei, und nach welchen Strukturen die Menschen in ihr leben könnten. Seine Vorgehensweise ist dabei, ganz im Sinne der Aufklärung, streng rationalistisch: Godwin setzt hohe Hoffnungen in die Vernunft des Menschen; die Fähigkeit zur geistigen und sittlichen Entfaltung wachse mit der Freiheit ihrer Rahmenbedingungen.
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In genau diesem Maße würde Herrschaft und damit staatliche Struktur überflüssig. Noch zu Lebzeiten hat Godwin einiges von diesem ungetrübt-sachlichen Glauben an das Gute zugunsten der irrationalen Seite des menschlichen Charakters zurücknehmen müssen, womit er wiederum dem modernen Anarchismus vorgriff, der heute ebenfalls nicht mehr auf der Vernunfterwartung gründet.
Pädagogik war zeitlebens Godwins liebstes Steckenpferd. Folgerichtig sieht er diese Entwicklung als einen langen Prozeß der Reife, der sich nicht durch einen plötzlichen, gewalttätigen Umsturz der Gesellschaft erreichen lasse. Revolution ist bei Godwin eine Aneinanderreihung von Schritten. Von gängigen Reformisten unterscheidet er sich aber darin, daß er schon vor 200 Jahren Parteien als völlig untauglich betrachtet, eine Gesellschaft wirklich zu verändern. Ähnlich wie später Landauer sieht er innerhalb staatlicher Strukturen keine Zukunft. Stattdessen empfiehlt er ein Geflecht kleiner, unabhängiger Zirkel, die ihre Umgebung beispielhaft anregen sollen — eine Vorstellung, die modernen libertären Organisationstheorien mit ihren katalysatorischen Affinitätsgruppen sehr nahe kommt. Obwohl Godwin eine gewaltfreie Strategie vertritt und ein erklärter Gegner des jakobinischen Revolutionsterrors war, ist er kein absoluter Pazifist: Gewalt könne in bestimmten Situationen unumgänglich werden oder nötig sein, um Schlimmeres zu verhindern.
Anstelle der existierenden Tyrannei entwirft Godwin das Bild einer dezentralen und vereinfachten Gesellschaft, die auf dem freiwilligen Zusammenschluß freier und gleicher Individuen gründet. Für komplexere Zusammenhänge entwickelt er bereits die Idee von koordinierenden Körperschaften und Distriktföderationen; für Konflikte schwebt ihm die Einrichtung von Schlichtungsausschüssen vor, und warnend weist er auf die Gefahren von Bürokratie und Hierarchie hin — es finden sich Ideen von Rotation und Ehrenamtlichkeit aller politischen Funktionen, ebenso Minderheitenschutz und Konsensprinzip. Mit Recht werden Godwins jurys als Vorläufer eines libertären Rätesystems angesehen.
Als Ökonom erkennt Godwin als einer der ersten den Zusammenhang zwischen Eigentum und Regierung in aller Klarheit: "Die Reichen sind die direkten oder indirekten Gesetzgeber des Staates". Ganz wie später Proudhon unterscheidet er zwischen Eigentum und Besitz und skizziert einen freiwilligen Kommunismus für Produktion und Verteilung, in dem reichlich Platz für Genuß, Vergnügen und Muße sein sollte. Er erkennt die ambivalente Rolle des Geldes und analysiert die Widersprüche zwischen Bedürfnissen, Produktion und Kapital. Schonungslos kritisiert er die Zustände in der britischen Arbeitswelt. Geradezu visionär mutet seine Aussage an, daß sich in einer optimal organisierten freien Gesellschaft die Arbeitszeit drastisch reduzieren ließe – auf eine halbe Stunde täglich, wie er schätzt...
Dabei war Godwin weniger als Utopist denn als Kritiker gefürchtet. Tatsächlich widmete er den größten Teil seines Werkes den Zuständen seiner Zeit, die er allerdings nicht wie viele modisch-reformistische Zeitgenossen bloß anprangerte, sondern durchleuchtete und als Ganzes in Frage stellte. Er war ohne Zweifel ein galliger Rhetoriker.
"Peitschen, Beile und Galgen - Kerker, Ketten und Folterbänke sind die beliebtesten und gebräuchlichsten Mittel, den Menschen zum Gehorsam anzuhalten",
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schreibt er in seinen Überlegungen zum Strafsystem, das er als gleichermaßen unmoralisch und nutzlos darstellt: "Wer aus Gefängnissen nicht schlechter herauskommt, als er hineinging, muß entweder ungewöhnlich geübt in der Praxis der Ungerechtigkeit oder ein Mann von erhabener Tugend sein."
In seinem Roman <Die Abenteuer des Caleb Williams>, den Godwin ein Jahr später seinem ersten Bestseller folgen ließ, entlarvt er die britische Justiz in der Manier eines frühen Psychokrimis. Eine freie Gesellschaft, so Godwins Überzeugung, sollte Kriminelle nicht vernichten oder einsperren, sondern sich ihrer "mit Freundlichkeit und Sanftmut" annehmen.
Ein anderes rotes Tuch war ihm das Erziehungssystem. "Nationale Erziehung hat die Tendenz, Fehler zu perpetuieren* und jedes Bewußtsein nach demselben Modell zu formen. (...) Sie lehrt ihre Schüler die Kunst, jene Lehrsätze zu rechtfertigen, die zufällig zum etablierteten Wissen zählen." Sein Lernziel ist ein anderes: Kinder zu befähigen, eine freie Gesellschaft zu erschaffen und zu genießen. Dabei stellt er den gesamten traditionellen Erziehungsansatz, der immer etwas Despotisches habe, in Frage und plädiert für Lernen aus eigenem Antrieb, wobei die Lehrenden als gleichberechtigte Partner zu verstehen seien.
"Hat man einmal angefangen, Gesetze zu geben, so findet man leicht kein Ende. Die menschlichen Handlungen sind verschieden und verschieden ist auch ihre Nützlichkeit und Schädlichkeit. Wenn neue Fälle auftreten, erweist sich das Gesetz immer als ungenügend, und man muß ständig neue Gesetze machen." Auch die Ehe ist für Godwin "ein Gesetz und das schlechteste aller Gesetze. (...) Es wäre unsinnig, wollte man sich der Erwartung hingeben, daß zwei Menschen lange Zeit vollständig miteinander übereinstimmen könnten. (...) Das Institut der Ehe ist ein system des Betrugs. Solange ich danach trachte, eine Frau für mich allein in Anspruch zu nehmen, mache ich mich der abscheulichsten Alleinherrschaft schuldig." Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß Godwin und seine Gefährtin Mary Wollstonecraft entgegen ihrer gemeinsamen Überzeugung durch tragische Umstände gezwungen waren, dem Druck der Gesellschaft nachzugeben und schließlich doch heirateten. Den hämischen Kritikern, die ihm vorhielten, er sei ein "Hitzkopf mit kalten Füßen", nahmen die beiden jedoch den Wind aus den Segeln, denn sie faßten ihre Ehe als eine unfreiwillige Formsache auf und gestanden sich gegenseitig die gleichen Freiheiten zu wie zuvor. Das Glück der beiden dauerte indes nicht lange. Mary Wollstonecraft, eine der ersten großen Feministinnen der Geschichte, die 1792 ihre brillante "Verteidigung der Frauenrechte" geschrieben hatte, starb 1797 bei der Geburt ihrer Tochter Mary.
Das neue Jahrhundert begann düster. England, das fast ständig mit Frankreich im Krieg lag, durchlebte eine langanhaltende, dumpfe Periode reaktionärsten Patriotismus'. Die Französische Revolution, inhaltlich längst gescheitert, war politisch zur Despotie Napoleons verkommen, der den von ihm begonnenen Krieg verlor. Auf Seiten der Sieger schwelgte England im Triumph und ebnete sich den Weg zur künftigen Weltmacht. Imperialismus, Industrie und Ignoranz triumphierten. Männer wie Godwin gerieten in Vergessenheit, und Reformer aller Couleur besorgten das politische Tagesgeschäft. Es entstanden Parteien, Gewerkschaften und Genossenschaften, deren führende Köpfe sich bisweilen sogar auf Godwin beriefen, ohne jedoch jemals seine gedankliche Tiefe und radikale Globalität zu erreichen.
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In bedrückenden wirtschaftlichen Verhältnissen lebte er weiterhin in London und veröffentlichte noch zahlreiche Schriften, die aber kein großes Echo mehr hervorriefen - mit einer Ausnahme: 1812 besuchte ihn der junge Poet Percy Bysshe Shelley, ein glühender Verehrer Godwins, der allerdings geglaubt hatte, sein Idol sei längst verstorben. Eine ebenso turbulente wie folgenreiche Begegnung, an deren Ende der revolutionär-romantische Adelssprößling Godwins Schwiegersohn wurde und diesem auch finanziell unter die Arme griff. Shelley avancierte bald zu einem der gefeiertsten britischen Dichter. Er blieb bis zu seinem frühen Tod 1822 nicht nur ein überzeugter Anhänger von Godwins Lebensphilosophie, sondern verewigte sie auch in einer Reihe unvergessener Werke. "The Mask of Anarchy" ist eine der ersten Allegorien*, in denen das Wort eine positive Bewertung erhält.
Als William Godwin 1836 im Alter von 80 Jahren als armer Pensionär friedlich in seinem Bett starb, waren die Männer, die später die ›Väter des Anarchismus‹ genannt wurden, noch junge Burschen in Rußland und Frankreich. Zwischen ihnen und Godwin gab es keine Verbindung - weder persönlich noch durch soziale Bewegungen. Nicht einmal sein Buch war außerhalb Englands sonderlich bekannt geworden. So begann die ganze Ideenfindung einige Jahre später praktisch noch einmal von vorne. Es sollte lange dauern, bis die anarchistische Philosophie wieder den Erkenntnisstand jenes glücklosen Schriftstellers Godwin hatte, der am Ende des 18. Jahrhunderts schon zu der schlichten Erkenntnis kam: "Kommunikation ist das Wesen der Freiheit. Zwang kann nicht überzeugen."
Wo kam so ein Geist im Jahre 1793 her? Noch im vorigen Kapitel standen wir tief in düsteren Zeiten, wo die kühnsten Geister sich gerade mal die eine oder andere Teilfreiheit vorstellen konnten, und jede Rebellion im Rahmen göttlicher Ordnung blieb. Und nur zwei Jahrhunderte später ist das anarchistische Grundrezept plötzlich fix und fertig angerührt!? Nun, Godwin ist kein Genie, das plötzlich vom Himmel fiel. Auch er hat seine Vorgeschichte; die Zeit war einfach reif für einen wie ihn.
Schauen wir uns also an, was zwischen Reformation und Französischer Revolution passiert war: wie soziale Bewegungen sich zuspitzten, und wie sich eine diffuse libertäre Ideengeschichte langsam zu einer veritablen anarchistischen Vision verdichten konnte, die nur noch ›geboren‹ werden mußte.
Es klart auf
Im Denken des Mittelalters gab es keinen Platz für das Individuum. Im Guten wie im Schlechten war es eine Zeit kollektiver Vereinnahmung: Menschen wurden durch Gruppen definiert, zugeordnet und benutzt. Die Welt war fest gefügt und klar geordnet, es gab Gott, Kaiser, Papst, König, Edelleute, Pfaffen, Bürger und Bauern; es gab oben und unten, richtig und falsch. Das gilt grosso modo auch für Bereiche, in denen es weniger hierarchisch zuging, die freien Städte etwa mit ihrer Autonomie oder die Gilden, die auf gegenseitiger Hilfe aufbauten: alles blieb doch immer auf die jeweilige Gruppe zugeschnitten, zu der man gehörte oder nicht. Freiheiten galten nur innerhalb der Stadtmauer.
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Wer nicht in der Gilde war, kam nur schwer hinein, wer keinen Herren hatte, hatte auch keinen Schutz. Und wer kein Christ war, gehörte verbrannt.
(d-2014:) grosso modo: im großen Ganzen, grob gesehen
Erst mit der Renaissance - der "Wiedergeburt" der Klassischen Antike im europäischen Geistesleben - beginnt sich das zu ändern: Griechische Philosophen werden übersetzt, humanistische Ideale wiederentdeckt, selbst Mode und Architektur werden nachgeahmt: Antik ist schick! Der einzelne Mensch wird nun wieder gesehen, Althergebrachtes wird hinterfragt - das regt die Phantasie an. 1516 veröffentlicht Thomas Morus in England sein "Utopia", in dem er eine skandalös andere Phantasiegesellschaft beschreibt, die natürlich (das läßt er durchblicken) besser ist als die Despotie seines Königs und Dienstherrn Heinrich VIII. (der ihn aus anderem Anlaß später enthaupten läßt). ›Utopie‹ wird nicht nur eine neue politische Vokabel, sondern löst auch eine literarische Mode aus, die bis heute anhält. Ein Jahr später provoziert ein Theologe namens Luther in Wittenberg eine Diskussionslawine, an deren Ende ein "freier Christenmensch" stehen sollte, der die Bibel endlich auch einmal selbst lesen durfte. Das Zeitalter, in der die Religion den Menschen und alles andere definierte, geht zu Ende.
Denker fangen plötzlich an zu denken, ganz und gar von vorne wie der systematische Zweifler Descartes, frei und ungebunden an heilige Dogmen. Dabei entdecken sie etwas Interessantes: der Mensch ist nicht statisch, also wandelbar, also auch verbesserungsfähig. Wissenschaftler betrachten die Natur, wagen ihren Augen zu trauen und ziehen ihre Schlüsse. Galilei, Kopernikus, Kepler und Newton erschüttern Lehre und Weltbild der Kirche. Das neue Stichwort heißt ›Vernunft‹. Das Ergebnis ist Aufklärung, und dieses Wort will wörtlich verstanden sein: es wird hell.
Europa entdeckt neue Kontinente, Menschen reisen, wandern aus, neue Waren gelangen ins Land, der Horizont weitet sich. Landwirtschaft und Handwerk sind nicht länger Mittelpunkt der Wirtschaft. Handel und Manufaktur gewinnen an Bedeutung, und Industrien entstehen, deren Konsequenzen alle Aspekte der kommenden Jahrhunderte prägen sollten. Nach Bürgerkrieg und Revolution ist England seit 1688 eine parlamentarische Demokratie. 1765 wird die Dampfmaschine erfunden. Wenig später besiegt zum ersten Male eine Kolonie ihr ›Mutterland‹: Die Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika leben nun unter einer Verfassung, in der von ›Menschenrechten‹ die Rede ist. Und ausgerechnet in Frankreich, dem klassischen Land des Zentralismus und der absoluten Monarchie, kippen die Verhältnisse leidenschaftlich, gewaltsam und chaotisch um: die Französische Revolution von 1789 bringt unter der hoffnungsvollen Losung "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" eine Republik hervor, die zwar den humanistischen Idealen der Aufklärung letztlich nicht gerecht wird, gleichwohl aber ihr hundertprozentiges Kind ist. Revolutionäre schneiden dem König den Kopf ab. Das ist ebenso neu wie die Tatsache, daß sie sich bald gegenseitig enthaupten sowie alle, die zu protestieren wagen: Terror im Namen der Vernunft. Das folgende Jahrhundert erlebt nach Napoleons Untergang zunächst den Versuch einer konservativen Restauration, aber die Geschichte läßt sich nicht mehr zurückdrehen. Die Saat der Aufklärung ist aufgegangen, und mit der Industrie ist eine neue Klasse entstanden. Freiheit – was immer auch darunter verstanden wird – ist ein Thema der Massen geworden.
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So hat sich in diesen drei Jahrhunderten mehr bewegt als in anderthalb Jahrtausenden zuvor.
Der an-archische Faden, den wir verfolgen, wird stetig dicker und nimmt in der Geistesgeschichte immer klarere Gestalt an: zunächst aufklärerisch, dann liberal, dann libertär und schließlich anarchistisch, mit jeweils fließenden Grenzen. Auf diesem Weg stoßen wir auf Menschen, die wir mit Fug und Recht ›Frühlibertäre‹ nennen können. Ihr Denken nähert sich mehr und mehr einer Position, die sich schon bald als "anarchistisch" definieren wird. Insofern sind sie Vorläufer und nehmen wichtige Thesen mit zunehmender Schärfe vorweg. Godwin steht mit ihnen in einer Reihe. Als erster Anarchist, weil bei ihm die Globalität gegeben ist, als letzter Frühlibertärer, weil er sich noch nicht als Anarchist bezeichnete und vor allem keiner anarchistischen Bewegung angehörte, die es erst Jahre später gibt. Er steht buchstäblich an der Schwelle.
Frühlibertäre finden wir in diesen Jahrhunderten im Dutzend. Nur die interessantesten von ihnen können wir hier streifen.
Die Frühlibertären
Der bedeutendste Strang aufklärerischen Denkens kommt aus Frankreich. Francois Rabelais, ein ehemaliger Mönch, der in seiner satirischen Abrechnung mit den Institutionen seiner Zeit kein Blatt vor den Mund nimmt, schildert in seiner 1534 erschienenen Utopie "Gargantua und Pantagruel" ein herrschaftsfreies Leben in der imaginären Abtei von Thélème. Dort geht es antiautoritär, derb und genußvoll zu - allerdings nur für die privilegierten Mitglieder. Das Motto dieser anarchischen Vision lautet: "Tu, was du willst!".
Deutlich libertärer ausgeprägt stellt sich Rabelais' Zeitgenosse Étienne de La Boetie dar. In seinem philosophischen Werk "Diskurs über die freiwillige Sklaverei" (1571-1573), stellt er Regierungen an sich in Frage. Menschen, so La Boetie, unterwerfen sich freiwillig der Herrschaft, für die es keinen vernünftigen Grund gebe, die aber überwunden werden könne. Seine Analyse der politischen Macht bildet eine frühe Grundlage für die Idee des ›Zivilen Ungehorsams‹ und steht somit in bester pazifistischer Tradition.
Auch im Werk Michel de Montaignes, einem engen Freund La Boeties, finden sich beredte Spuren libertären Denkens, allerdings besser getarnt. Seine warme Schilderung einer staatenlosen Gesellschaft der Indianer baut Shakespeare fast wörtlich in sein Drama "Sturm" ein. In dem Essay "Über Kindererziehung" hält Montaigne ein überzeugend antiautoritäres Plädoyer für einen Unterricht "in Güte und Freiheit, ohne Härte und Zwang", das in der völlig unzeitgemäßen Forderung nach Blumen statt Ruten im Schulzimmer gipfelt.
Eine stark anarchisch eingefärbte Utopie liefert uns 1676 Gabriel de Foigny. In den "Abenteuern des Jacques Sadeur bei der Entdeckung des Südlandes" schildert er in lebendigen Bildern das Sozialwesen der terre australe, in der Kirche, Staat, Eigentum und Herrschaft unbekannt sind.
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Die Einwohner, übrigens von zweigeschlechtlichem Wesen, stimmen sich auf einer allmorgendlichen Versammlung miteinander ab. Foigny, der sich im protestantischen Genf niederließ, verstand es, die Vorzüge dieser Gesellschaft so überzeugend zu schildern, daß die Behörden sein Buch als subversiv ansahen und ihn vorübergehend einsperrten. 1704 erschien die "Südlandreise" in deutscher Übersetzung und gilt als der Urahn der deutschsprachigen libertären Literatur. Zur beliebten Form der Utopie griff ebenfalls Francois de Fénélon, Erzbischof und Erzieher des jungen Herzogs von Burgund. In seinem didaktischen Roman "Télemaque" (1699) vergleicht er das Land La Bétique mit der Stadt Salente. Beide tragen starke Züge eines friedlichen libertären Kommunismus, sind im Vergleich zu Thélème aber stark puritanisch, denn Glück entstehe durch Verzicht. Ludwig XIV. fand das gar nicht lustig und schickte Fénélon in Verbannung.
Wenig wissen wir von Jean Meslier, einem zornigen Dorfpfarrer, dessen um 1720 geschriebenes "Testament" erst nach seinem Tode veröffentlicht wurde. In scharfen Worten fällt er ein vernichtendes Urteil über Religion und Kirche, das in der Feststellung gipfelt, daß Gott einfach nicht existiert. Der antiklerikale Teil des "Testaments", in dem der ehemalige Gottesmann am liebsten alle adligen Blutsauger mit den Därmen der Priester erwürgen würde, wurde später von Voltaire veröffentlicht. Wenn man weiß, daß Meslier überdies verkündet, die Befreiung der einfachen Menschen liege in ihren eigenen Händen, und dies könne nur durch eine gewalttätige soziale Revolution geschehen, wird verständlich, warum der vollständige Text erst 1865 gedruckt wurde.
Auch die beiden großen Namen der Aufklärung, Diderot und Rousseau, verdienen einen Platz unter den Ahnen freiheitlichen Denkens. Bei dem berühmten Enzyklopädisten Denis Diderot blühte die Liebe zum Libertären, offenbar aus Gründen der Vorsicht, eher im Verborgenen. Im privaten Kreise vertrat er, der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Öffentlichkeit für eine aufgeklärte Monarchie plädierte, die Meinung, daß die Natur keinem Menschen das Recht gegeben habe, über andere zu herrschen. Auch er verfaßte eine Utopie, die natürlich in der Südsee angesiedelt war und ebenfalls ein harmonisches Leben ohne Regierung und Gesetze beschrieb. Allerdings wagte er nicht, diese "Ergänzung zur Reise Bougainvilles" auch zu veröffentlichen. Dessen ungeachtet wurde seine Encyclopédie für lange Zeit Anregung und Quelle für radikales und subversives Denken.
Jean-Jacques Rousseau, dem der nicht ganz treffende Satz "Zurück zur Natur" in den Mund gelegt wird, ist sicherlich kein in der Wolle gefärbter Anarchist. Staat und Herrschaft hat er nie wirklich in Frage gestellt; Regierung jedoch ist für ihn eine künstliche Einrichtung, erschaffen von freien Menschen in der Hoffnung, das Leben zu erleichtern. Die Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten regele eine freie, vertragliche Vereinbarung, der contrat social. Den Widerspruch allerdings, wie sich Freisein und Beherrschtsein vertragen, löst er nicht. Dennoch ist seine Wirkung auf den späteren Anarchismus und viele seiner großen Theoretiker enorm gewesen. Vor allem seine Analyse des Zusammenhangs zwischen Eigentum und Herrschaft sowie seine Ansichten über Erziehung wirkten anregend. Rousseau orientiert sich an den ›Gesetzen der Natur‹, die er mit den realen
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Zuständen vergleicht, was ihn zu einem harschen Kritiker der modernen Zivilisation werden läßt. Mit einer Serie von ›Diskursen‹, die ab 1750 erscheinen und 1752 mit "Émile" ihren Höhepunkt finden, setzt er eine regelrechte Mode in Gang, die eine kollektive Sehnsucht nach dem "edlen Wilden" auslöst. Seine Wirkung auf die Herausbildung einer libertären Bewegung liegt daher weniger in der Konsequenz seiner Ideen, als vielmehr in der Breitenwirkung, die auf seiner unglaublichen Popularität beruhte.
Ein Name, der in dieser Aufzählung wohl kaum erwartet wurde, ist schließlich der des Marquis de Sade, von dem die meisten Menschen wohl nur den schlechten Ruf kennen, ohne ihn je gelesen zu haben. In Frankreich blieben seine Schriften bis 1957 verboten. Es ist ein Irrtum zu glauben, die Botschaft der Schriften des Marquis bestünde in "Sadismus", worunter gemeinhin die Lust am Quälen anderer Menschen verstanden wird. Das, was er in einigen seiner Novellen an sexuellen Exzessen schildert, ist literarische Fiktion und nicht das Leben der realen Person de Sade. Insofern er aber die Bedeutung der Sexualität überhaupt erkennt, und die Folgen sexueller Unterdrückung untersucht, ist er ein Vorläufer moderner Sexualpsychologen, wie etwa Wilhelm Reich, sowie der sexuellen Revolution des 20. Jahrhunderts. Triebunterdrückung wird als eine der Wurzeln von Tyrannei erkannt. De Sade, ein antireligiöser aber sehr moralisierender Mann, forderte nicht nur die sexuelle Befreiung der Frau, er vertritt in dem 1794 geschriebenen Roman "Juliette" auch die Meinung, daß ein anarchischer Naturzustand allen Gesetzen und Regierungen vorzuziehen sei.
Den französischen Aufklärern haftet der Flair einer gewissen philosophischen Heiligkeit an; zumindest die Großen unter ihnen stehen in höchster Reputation*. Ihre Ideen haben die Geistesgeschichte jener Jahrhunderte tief geprägt und sind bis heute ein Begriff geblieben. Ganz so berühmt sind die Namen der britischen Frühlibertären nicht; vielleicht auch deshalb, weil sich unter ihnen etliche Männer befanden, die weniger schrieben und mehr handelten.
In den Wirren des englischen Bürgerkrieges entstehen unter den Oppositionskräften von Cromwells Revolutionsarmee radikale Bewegungen, in deren Visionen millenaristische Vorstellungen des Mittelalters ein spätes Revival* erfahren: die Diggers und die Ranters. Obwohl religiös inspiriert, gebärden sich diese masterless men and husbandless women* äußerst radikal. In der Diggers-Kolonie, die 1649 in Surrey an der Themse entsteht, wird ohne Privateigentum genossenschaftlich gewirtschaftet. Gerrard Winstanley, ihr wortgewaltiger Prediger, vertrat in jenen Jahren die Meinung, daß mit Abschaffung des Eigentums auch Staat, Kirche und Armee überflüssig würden. Nach dem Ende des Experiments entwickelten die Ranters als radikalere Variante ein reges Eigenleben, das wilder, individualistischer und ungebundener war als das der strenggläubigen Diggers. In den Augen braverer Zeitgenossen galten sie schlicht als unmoralisch und ausgeflippt. Sexuell ungezwungen, ohne feste Strukturen, umherziehend und von einem individualistischen Freiheitssinn beseelt, stieß diese frühe pazifistische Subkultur auf ebensowenig Verständnis wie
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die gemäßigteren aber unanarchischen Quakers, mit denen sie oft verwechselt werden. Ihre Treffen glichen surrealistischen Happenings, und ihre wenigen Schriften waren äußerst bissige Pamphlete. Die Cromwell'sche Diktatur jedenfalls empfand sie als Bedrohung; Wortführer wie Abiezer Coppe und Lawrence Clarkson wurden unnachsichtig verfolgt.
Gesitteter benahm sich da schon Jonathan Swift, ein wohlhabender, blitzgescheiter Zyniker, der nur literarisch provozierte. In seinem Leben gewiß mehr ein etablierter, zeitkritischer Publizist als ein ›Anarchist‹, waren ihm libertäre Gedankengänge aber durchaus nicht fremd. Im vierten Band seiner berühmten utopischen Erzählungen von Gullivers Reisen (1726) stellt er die Houyhnhnms vor, die in einem etwas asketischen und primitiven anarcho-kommunistischen Land leben. Dem Reisenden Gulliver erklären sie ihr regierungsloses System, in dem alle vier Jahre eine große Versammlung für den nötigen Konsens sorgt. Godwin war von den Houyhnhnms geradezu entzückt. Geschickt verbarg Swift darin seine Kritik an den europäischen Staaten, ihren Regierungen und Gesetzen, ihrem Handelssystem und ihren endlosen Kriegen. Kein Geringerer als George Orwell hat Swift einen tory-anarchist* genannt, und seine ebenso geistreiche wie inkonsequente Haltung damit wohl treffend charakterisiert.
Der junge Edmund Burke, der sich nach der Französischen Revolution zum Gegner jeder Erneuerung wandelte, schrieb mit seiner "Verteidigung der Naturgesellschaft" 1756 ein derart starkes Plädoyer für eine an-archische Gesellschaft, daß der Text gut 100 Jahre später in den USA von George Holyoake als anarchistische Kampfschrift erneut herausgegeben wurde. Burke vertritt eine natürliche Ordnung der Dinge und wendet sich gegen politische Herrschaft; jede Form der Regierung ist für ihn "Anmaßung". Auch Godwins berühmter Zeitgenosse Thomas Payne gehörte zu jenen Radikal-Liberalen, die am Rande an-archischer Ideen wandelten; für ihn blieb jedoch die Frage des Eigentums zeitlebens unantastbar. Mit "Common sense"*, das 1776 erschien, wurde er zu einem Ghostwriter der Amerikanischen Revolution. Für Payne steht die Idee von ›Gesellschaft‹ gegen die von ›Regierung‹, die er als Ursache vielen Übels ansieht. Schärfer noch als der große Liberale John Locke kommt er zu der Forderung einer ›minimalen Regierung‹ und begründet damit eine Tendenz, die in den USA eine lange und tiefe Tradition entwickelt hat. Auf diese Richtung berufen sich heute etwa die ultraliberale Libertarian Party, die trotz ihrer Staatskritik eigene Präsidentschaftskandidaten nominiert, oder der als ›Rechter Anarchist‹ bezeichnete Ökonom Murray Rothbart.
Als letzter britischer Frühlibertärer aus Godwins Zeit sei William Blake genannt, dessen bissige Prosa damals sehr populär war. "Jeder Mensch haßt Könige", schrieb er, oder "Gefängnisse sind aus den Steinen des Gesetzes gebaut, Bordelle aus den Steinen der Religion". Dabei war der Kirchenkritiker ein überzeugter Christ, für den Jesus ein aufrechter Rebell war, der "aus eigenem Impuls und nicht nach Gesetzen" handelte. Autorität war für Blake die größte Ursache für Ungerechtigkeit. Die repressive Struktur des Staates fördere nicht das Glück der Menschen, sondern hindere sie an der Entfaltung ihres ›göttlichen Potentials‹ freier Brüderlichkeit.
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Deutschland steht in diesem bunten Reigen libertären Denkens übrigens nicht völlig abseits. Die Namen dürften allerdings für einige überraschend sein. Neben dem unfreiwillig als bürgerlicher Benimm-Apostel bekannt gewordenen Freiherr von Knigge, der sich bei näherem Hinsehen als veritabler Libertärer entpuppt, ist hier vor allem Wilhelm von Humboldt zu nennen, nachmaliger preußischer Erziehungsminister und Gründer der Universität zu Berlin. 1772 veröffentlichte er eine Denkschrift mit dem Titel "Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen". Der Mensch ist für ihn kein dumpfer Untenan, sondern ein kreatives Individuum, das zu seiner Entfaltung der Freiheit bedarf. Freiheit muß daher oberstes Prinzip eines politischen Systems sein. Die Rolle des Staates achtet Humboldt hierbei gering. Er behandle seine Untertanen wie Kinder und bremse ihre Initiative. Allenfalls käme ihm noch die Rolle eines "Nachtwächters" zu, der darüber wacht, daß keine schlimmen Exzesse geschehen. In Humboldts Ansichten spiegelt sich das Weltbild der Aufklärung wider, insbesondere Leibniz' Lehre von der Verbesserungsfähigkeit des Menschen. Trotz seines Ausflugs in libertäre Höhen blieb er auf Dauer im liberalen Lager. Max Nettlau beurteilte seine Arbeit über die Grenzen des Staates als "eine kuriose Mischung aus essentiell anarchistischen Ideen und autoritären Vorurteilen".
Immanuel Kant schließlich gebührt das Verdienst, eine erste ernstzunehmende politische Einordnung des Wortes ›Anarchie‹ geleistet zu haben. Der belesene Professor, der seine Heimatstadt Königsberg zeitlebens nicht verließ, versuchte eine theoretische Bestimmung der politischen Zustände ›Anarchie‹, ›Despotismus‹, ›Barbarei‹ und ›Republik‹ anhand ihres Verhältnisses zu den Prinzipien ›Freiheit‹, ›Gesetz‹ und ›Gewalt‹, auf denen jede organisierte Gesellschaft beruhe. Wenn wir verstehen, daß Kant unter ›Gewalt‹ die Autorität versteht, die nötig ist, etwas durchzusetzen, und unter ›Gesetz‹ regelnde Ordnung, so erstaunt seine Definition von ›Anarchie‹ nicht: "Anarchie ist Gesetz und Freiheit ohne Gewalt". Das klingt erstaunlich positiv, aber zweierlei darf hierbei nicht vergessen werden: Das Wort Anarchie bedeutet für Kant noch keineswegs eine politische Theorie oder soziale Utopie, sondern steht, ganz wie seinerzeit gebräuchlich, für einen Zustand der Unordnung im Staate. Insofern dürfen wir darin keine Wertung einer Weltanschauung sehen, die es damals noch gar nicht gab. Vor allem aber war Kant kein Anhänger solcher Art "Anarchie", sondern zählte sie zu den drei "falschen Staatsformen". Die für ihn richtige Staatsform ist die, in der alle drei Elemente - Gesetz, Freiheit und Gewalt - vertreten wären: die Republik.
Ein Wort wandelt sich
Freilich war das schon eine sehr aufgeklärte Sichtweise des Begriffes Anarchie, der, wie wir uns erinnern, seit den alten Griechen negativ überliefen war, und dessen weitere Entwicklung wir nicht näher verfolgt hatten.
An dem negativen Beigeschmack hatte sich auch im christlich geprägten Sprachgebrauch der folgenden Epochen nichts geändert. Zur Zeit der Kirchenväter wird das Wort kaum gebraucht, und wenn, dann wie bei Theodoretus Cyrrhensis als "niemand unterworfene Macht". Im Mittelalter wird der Begriff wiederholt biblisch benutzt.
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Er steht für "Anfang" und umschreibt sinnbildlich den Urzustand vor der Schöpfung, in anderen Fällen auch für "Gottlosigkeit". Einzig Nicolaus von Oresme, der Aristoteles ins Französische übersetzt, liefert 1571 eine politische Definition als "Freilassung von Sklaven" und führt "Anarchie" als Fremdwort in die europäischen Nationalsprachen ein. Seit dem 16. Jahrhundert wird das Wort zum philosophisch-politischen Begriff, der einen Zustand ohnmächtiger Unordnung durch fehlende Autorität bezeichnet. Also durchweg negativ und nur insofern an soziale Bewegungen gebunden, als man diese mit dem Begriff verbindet und beschimpft. So bei Erasmus von Rotterdam und Calvin, die mit diesem Wort die Wiedertäufer diffamieren wollen. Vor der Gefährlichkeit der "Anarchie" warnt Stephan Gardiner, der Legat Heinrichs VIII., seinen Herrn. Er hat sie bei jenen entdeckt, die behaupten, der Mensch sei nur Gottes Gesetz und der Natur untertan - womit er ja durchaus richtig lag. Anfang des 17. Jahrhunderts wird der Begriff zunehmend akademisch verwendet, erweitert sich - wie schon zeitweise in der griechischen Antike - um die Bedeutung der "Zügellosigkeit", und wird munter in alle möglichen polemischen Debatten geworfen. Er bezieht sich nun auf Atheismus, Barbarei und Wiedertäufertum, die allesamt zum Ziel hätten, die Monarchie in "Demokratie und Anarchie" zu stürzen - zwei Begriffe, die hier wohlgemerkt als Schreckenswörter gemeint sind und zusammen benutzt werden!
Der Bischof von Winchester, Thomas Cooper, nannte seine Gegner ohne Zögern "pestilente Anarchisten Satans". Mit der Aufklärung wird der Begriff der Anarchie als Ohnmacht des Staates zwar weiterhin negativ benutzt (auch von den Frühlibertären, deren Ideen dem modernen Anarchismus ja durchaus nahe stehen!), aber je staatskritischer die Haltung des betreffenden Autoren, desto differenzierter fällt die Beurteilung eines solchen ›anarchischen Zustandes‹ aus. Diderot, Rousseau und Mirabeau zögen selbst eine solche An von "Anarchie" dem Zustand der Despotie vor. Das gleiche gilt für Godwin, der paradoxerweise der erste Anarchist war, sich aber nie so genannt hätte.
Erst bei seinem Schwiegersohn Shelley erfährt das Wort anarchy eine positive Wendung, indem sie die Unterdrückten zum Triumph der Befreiung führt. Mit der Französischen Revolution kommt der Begriff so richtig in Mode: er wird gegen alle Arten von ›Radikalen‹ benutzt - linke Jakobiner, die Anhänger Babeufs und Hebens und alle ›unkontrollierbaren Elemente‹. 1797 enthält der Eid, den die Mitglieder des "Rats der 50" schwören müssen, den Passus "Haß den Königstreuen und der Anarchie!". Zur gleichen Zeit führt Wieland das Wort ›Anarchisten‹ in Deutschland ein, um damit "Freiheitsschwärmer" zu bezeichnen. Josef Görres dürfte der erste im deutschen Sprachraum gewesen sein, der "Anarchie" positiv verwendete und in seine religiös-soziale Herrschaftstypologie einbaute. 1796 verteidigt der junge Friedrich Schlegel das Recht der Rebellion gegen eine Despotie, da er die Tyrannei für ein "ungleich größeres politisches Übel als selbst die Anarchie" hält. Im Jahre 1801 sieht er das schon differenzierter: Die Anarchie, das heißt, die "absolute Freiheit", ist für ihn nun der Endzweck des Menschen, wenn auch nur als ein anzustrebendes Ideal, das "durch Annäherung erreicht werden kann".
Diese Wandlung des jungen Schlegel ist geradezu symbolisch für den Paradigmenwechsel in jenen Jahren: Einerseits verdichtet sich offenbar ein ›libertäres Klimas das anarchistische
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Inhalte vorwegnimmt, ohne dafür den Namen "Anarchie" zu verwenden: immer mehr Leute kommen auf immer libertärere Gedanken. Andererseits erfährt das nach wie vor negative Wort eine sprachliche Differenzierung, die sich auf diese positiven libertären Inhalte zubewegt. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis jemand diese beiden Begriffe zusammenbringen würde.
Die Frühsozialisten
Die Unmenge angehäufter philosophischer Ideen, durch die wir uns nun gefressen haben, könnte zu dem Irrtum führen, Anarchismus sei nichts weiter als ein schönes Gedankenspiel. Zur anarchistischen Idee aber gehören soziale Bewegung und politische Aktion. Bisher haben wir davon wenig gesehen, was vor allem daran lag, daß solche Verschmelzungen von Philosophie, Revolte und Experiment in der Frühgeschichte selten waren. Natürlich aber auch daran, daß wir zuletzt bewußt nur die Ideengeschichte untersucht haben.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es jedoch vermehrt zu Ansätzen praktischer Experimente, bei denen die Nutzanwendung einer Idee im Vordergrund stand. Etwas willkürlich wurden diese Bewegungen später unter dem Begriff "Frühsozialismus" zusammengefaßt; Marx und Engels sprachen in durchaus verächtlichem Ton auch von "utopischem Sozialismus". Triebkraft des Handelns wurden zunehmend soziale Probleme, die sich mit der voranschreitenden Industrialisierung verschärften. Die Ideen und Erfahrungen dieser Bewegungen dienten später der Sozialdemokratie, dem Kommunismus und dem Anarchismus gleichermaßen als Quelle, denn damals waren die Elemente dieser drei Richtungen noch munter miteinander verquirlt. Für alle drei sind sie das Bindeglied zwischen Ideengeschichte und Bewegung. Wir hätten sie deshalb ebensogut in der Abteilung "Frühlibertäre" abhandeln können, denn an-archische Elemente lassen sich natürlich auch bei den "Frühsozialisten" nachweisen. Sie unterschieden sich von den "Frühlibertären" aber klar durch den Schwerpunkt, der auf eine praktische Umsetzung gelegt wurde - ein Aspekt, der beim theoretisch ausgereifteren Godwin beispielsweise noch völlig fehlte.
Der französische Gesellschaftskritiker Claude Henry de Saint Simon, ein verarmter Graf, der mit Washington im Amerikanischen Befreiungskrieg kämpfte, erkannte wie viele seiner Zeitgenossen die verheerenden sozialen Auswirkungen der Industrialisierung. Seihe Kritik konzentrierte sich auf die Frage des Eigentums: das Erbrecht sollte abgeschafft und Produktionsmittel müßten Gemeineigentum werden. Wissenschaft und Industrie wären die Pfeiler einer künftigen, klassenlosen Gesellschaft, die von einer Hierarchie der Fähigsten verwaltet würde. Unschwer läßt sich hier eine Wurzel des Marx'schen Kommunismus erkennen. Saint Simon sieht die Triebkraft der Bewegung allerdings in Volksaufklärung und dem Wirken des aufgeklärten Bürgertums; die Arbeiterschaft ist für ihn eher eine zu beglückende Zielgruppe. Deshalb versammelte er einen Kreis bedeutender Persönlichkeiten um sich und inszenierte eine großartige Unterwanderung der Institutionen Frankreichs.
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›Saint-Simonisten‹ gelangten auch nach dem Tod ihres Meisters in einflußreiche Positionen und spielten um 1830 eine gewisse Rolle in der Politik. Nicht wenige der Reformer aber wurden auf ihren bequemen Posten korrumpiert oder zerstritten sich untereinander. Am Leben der Arbeiter änderte das natürlich wenig – eine negative aber wichtige Erfahrung, die man im aufkommenden Anarchismus nie vergaß: spätestens seit Bakunin wurden Anarchisten zu entschiedenen Gegnern jeglicher ›Pöstchenschacherei‹ und noch 1970 warnten beispielsweise die deutschen Anarchisten die APO1 eindringlich vor dem "Langen Marsch durch die Institutionen". Das Gros der enttäuschten Anhänger Saint-Simons wandte sich in der Folge den Ideen Fouriers zu.
Charles Fourier kam durch seinen Kaufmannsberuf zu einer tiefempfundenen Abneigung gegen die "Schmarotzerrolle" seines Gewerbes und wurde zu einem profunden Systemkritiker. Seine Ansichten, besonders in jüngeren Jahren, sind deutlich libertärer als die Saint-Simons und haben Anarchisten von Kropotkin bis Bookchin beeinflußt. Fouriers Weltbild ist ebenso umfassend wie phantasievoll und widersprüchlich. Ihm schweben gänzlich neue Formen des Zusammenlebens und -arbeitens vor, mit einer dem Menschen angemessenen Ethik der Arbeit und des Genusses. Soziale Freiheit sei ohne wirtschaftliche Gleichheit nichts wert: "Wir brauchen Luxus für alle, nicht Gleichheit des Elends!" Lange vor Marx mißt er den Grad der Freiheit einer Gesellschaft an der sozialen Lage und der Befreiung der Frau. Auch zu Themen der Erziehung, Sexualität und Ökologie nimmt er Stellung und setzt sich sogar für die Rechte der Tiere ein.
Das Originelle an Fourier aber ist, daß er alle diese Ideen in dem konkreten Plan der Phalansteres zusammenfließen läßt. In diesen "Kolonien der Harmonie" sollen bis zu tausend Menschen gemeinsam leben, arbeiten und das Land bestellen. Basis der Arbeit sollen Kooperativen sein, in denen jedes Mitglied ein Recht auf Bildung, Arbeit und ein garantiertes "soziales Minimum" habe; höhere Leistung werde durch höhere "Dividenden" belohnt. Wichtiger ist für Fourier jedoch der Genuß: Nicht umsonst soll die Phalanstere in einer Art Palast untergebracht sein, einem Ort, wo auch Leidenschaft, Vergnügen, Überfluß und Liebe zu Hause sind. Das klingt sympathisch, aber Fouriers Vorstellungen verraten im Detail sehr oft seine Sehnsucht nach einem hedonistischen*, männlichen Aristokratentum. Zwar ist er für die Gleichstellung der Frau und erkennt richtig, daß sexuelle Befriedigung zur sozialen Harmonie beiträgt, gleichzeitig aber reglementiert er das Sexualleben in einer Art Hierarchie, die seine männliche Beschränktheit verrät. Auch seine Vorstellungen zur Erziehung sind dogmatisch und naiv. Überhaupt liegt ihm das Reglementieren sehr. Sogar den Tagesablauf in der Phalanstere beschreibt er so minutiös, daß kaum noch Platz für Eigeninitiative übrig bleibt. Das Leben der Kommune erscheint so durchorganisiert, daß es streckenweise mehr an ein sanftes Gefängnis als an ein irdisches Paradies erinnert.
Erst nach Fouriers Tod gewannen seine Ideen größeren Einfluß. Zwar erlebte er noch 1833 in Frankreich die Gründung und das Scheitern der ersten Siedlung, der "Fourierismus" aber wurde erst nach 1848 zu einer bedeutenden Bewegung. Zahlreiche Anhänger entwickelten und propagierten seine Lehre und versuchten, seine Utopien umzusetzen.
1) Siehe Kapitel 37!
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Versuche wurden in der Schweiz, in England, Deutschland und vor allem in den USA unternommen, wo es zeitweise drei Dutzend Fourierscher Kommunen gab. Keine lebte indes länger als ein paar Jahre, die meisten zerbrachen an innerem Streit. Das mangelnde Vertrauen Fouriers in die Freiheit der Menschen, sein Hang zu Vorschriften und seine versteckten Hierarchien waren daran nicht schuldlos. Entscheidend aber blieb, daß in diesen frühen Kommunen Erfahrungen gesammelt wurden, die für die Zukunft wertvoll waren. Godwin kannte nur die Überzeugung durch Diskussion und blieb deshalb steril. Fourier fügte die Macht des praktischen Beispiels hinzu. Das blieb selbst nach dem Scheitern nicht ohne Folgen: der Einfluß Fourierscher Ideen von freier Assoziation und Kooperation auf die Genossenschaftsbewegung, insbesondere in Großbritannien, war enorm; sogar in Rußland fand er ein Echo. Selbst Jahrzehnte später beeinflußte Fourier noch die einschlägige Szene. Etwa die 1892 gegründete südbrasilianische Aussteigersiedlung La Cecilia mit ihrem idyllischen Dörfchen namens "Anarchie", die Surrealisten der Zwischenkriegszeit oder die Subkulturbewegung der 60er und 70er Jahre.
Ein Mann, der sich auf William Godwin als seinen "philosophischen Lehrmeister" berief, war Robert Owen, der "Vater des britischen Sozialismus". Tatsächlich führten die Ideen und Experimente dieses radikalen Reformers zur Geburt einer florierenden Genossenschaftsbewegung und zur Gründung der ersten Gewerkschaften des Landes. Als wohlhabender Mann erlebte er das soziale Elend in der britischen Industrieproduktion aus der Perspektive eines Direktors in der Fabrik seines Schwiegervaters. Er bricht jedoch mit seiner Klasse und gelangt zu der Einsicht, daß die bestehende Gesellschaftsordnung falsch sei: Das Individuum trage keine Schuld an Armut, Laster und Verbrechen, denn der Charakter des Menschen werde vom Milieu bestimmt. Wirtschaftliche Gleichheit sei die Voraussetzung für positive Entfaltung ; Fortschritt beruhe auf der Erziehung zur wahren Erkenntnis.
Sein erstes praktisches Experiment ist daher auch die Einrichtung einer Schule für Arbeiterkinder, die er gegen den Widerstand der Kirche durchsetzt, die dem antireligiösen Unternehmer mißtraut. In den folgenden Jahren schickt er massenweise Denkschriften an Regierungen, Ministerien und Universitäten in der Hoffnung, Verbündete für seine Vorschläge zur Reform der Arbeitszeit, der Erziehung, des Armenrechts oder zur Abschaffung der Kinderarbeit zu gewinnen. Vergebens — überall stößt er auf eine Mauer des Schweigens. 1819 zieht er die Konsequenzen und stellt sich mit seiner "Botschaft an die arbeitenden Klassen" auf die Seite der Arbeiterschaft. Von ›oben‹ sei keine Hilfe zu erwarten, also müsse man >von unten< durch Selbsthilfe agieren. Konsumvereine, Gewerkschaften und vor allem Genossenschaftsdörfer werden propagiert. Owens Vorstellungen solcher Siedlungen sind weit praktischer und weniger extravagant als die Fouriers, und ähneln denen von Gustav Landauers "Sozialistischem Bund": 500 bis 3000 Menschen sollen sich durch eine selbstverwaltete Wirtschaftsform und eigene Erziehungseinrichtungen der kapitalistischen Produktionsweise entziehen. Privateigentum beschränkt sich auf den persönlichen Lebensbereich. Für die innere Demokratie werden Räte vorgeschlagen, die sich über Delegierte und Ausschüsse mit ähnlichen Gemeinden verbinden sollen.
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Da er in England wenig Echo findet, geht er in die USA, wo er mit seinen Anhängern 1825 die Kommune New Harmony gründet. Nach drei Jahren scheitert das Experiment, und Owen kehrt enttäuscht in seine Heimat zurück. Hier sind aber inzwischen seine Ideen auf fruchtbaren Boden gefallen, und viele der neuen Gewerkschaften, die allenthalben entstehen, folgen seinen Gedanken zur Selbstorganisation. Auch Owen wird nun zeitweise gewerkschaftlich aktiv. Die Idee, gegen die Industriegesellschaft modellhafte Gegengesellschaften aufzubauen, findet allerdings wenig Anhänger. Nachdem auch die von Owen gegründete kommunistische Siedlung Queenswood wieder aufgelöst werden muß, zieht sich der 65 jährige resigniert zurück. Einen Tag vor seinem Tod im Jahre 1858 sagte Owen "Ich bin meiner Zeit voraus". Die Erfahrungen unseres Jahrhunderts – etwa die israelischen Kibuzzim, die spanischen Kollektive oder die heutige Selbstverwaltungswirtschaft – gaben ihm darin Recht.
Anarchistisch oder libertär?
Wir sind nun in die Zeit vorgedrungen, in der sich die Theorie eines modernen Anarchismus herausbildet und bald zu einer neuen, sozialen Bewegung wird. Die Voraussetzungen hierzu waren erfüllt: geistesgeschichtlich war der Gedanke der Herrschaftsfreiheit weit verbreitet, wirtschaftliches Elend führte in der Arbeiterschaft zu wachsendem Selbstbewußtsein und auch erste praktische Erfahrungen waren schon gemacht.
Natürlich ist es naiv zu glauben, daß ab dem Moment, wo Menschen sich offen zum Anarchismus bekannten, eine klare Trennung in Anarchisten und Nichtanarchisten möglich wäre. Nicht alle Menschen, die libertär dachten und handelten, schlössen sich der neuen Bewegung an, und - leider - dachten und handelten auch nicht alle Menschen, die sich fortan Anarchisten nannten, libertär. Schon die Uneinigkeit und Widersprüchlichkeit der neuen Bewegung sorgte dafür, daß auch nach Proudhons ›anarchistischem Outing‹ viele große libertäre Geister es vorzogen, sich am Rande der Bewegung zu halten, obwohl sie deren Inhalten oder Zielen sehr verbunden waren. Die Reihe der "Frühlibertären" läßt sich deshalb auch im 19. Jahrhunden nahtlos fortsetzen.
So standen in England etwa der Künstler William Morris oder der Schriftsteller Oscar Wilde, in den USA Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman dem Anarchismus nicht nur nahe, sondern waren zum Teil direkt an anarchistischen Projekten beteiligt. Die englischen Sozialphilosophen John Stuart Mill, Herbert Spencer und Edward Carpenter, die genauso libertär wie liberal zu nennen sind, verteidigten alle das Recht des Individuums gegenüber dem Staat und traten für eine minimalisierte Form des Regierens ein.
Auch Henry David Thoreau, der 1854 mit seinem Buch "Über die Pflicht des Ungehorsams gegen den Staat" einen Grundlagentext für alle späteren Formen des ›zivilen Ungehorsams‹ schrieb, gehört in diese Reihe libertärer Aufmüpfiger, die in Amerika eine tiefe Tradition begründen konnten.
Und sicher ist hier der oft verkannte deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche zu nennen, dessen zweifelhafter Ruf zu einem großen Teil darauf beruht, daß seine Schwester den schriftlichen Nachlaß scheibchenweise im Sinne der Nazis verwurstete.
Tatsächlich aber hat kaum ein anderer härtere Worte über Staat, Nation und Religion gefunden als Nietzsche. Seine stark individualistische Philosophie des "Übermenschen" steht gewiß in einer geistigen Verwandtschaft mit Max Stirner. Anarchisten wie Benjamin Tucker, Emma Goldman, Rudolf Rocker und Herbert Read haben sich von dem sächsischen Philosophen inspirieren lassen, während er von vielen anderen Libertären rundheraus abgelehnt wurde. Nietzsche hat übrigens selbst den entscheidenden Hinweis darauf gegeben, warum er sich nicht als "Anarchist" fühlte. Trotz geistiger Nähe hielt er den Anarchismus seiner Tage für die Einmündung in einen falschen Weg, weil seine "Klagen über Andere und die Gesellschaft aus Schwäche und enggeistigem Rachegefühl" geboren seien. Für die anarchistische Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts ist das eine durchaus treffende Kritik. In gewissem Sinne gilt sie noch heute für so manche liebgewonnene Wehleidigkeit vieler Anarchisten.
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Literatur:
/ William Godwin: Über die politische Gerechtigkeit (Auszüge) Berlin 1978, Libertad, 33 S.
/ ders.: Enquiry Concerning Political Justice Oxford 1971, Clarendon Press
/ ders.: Die Abenteuer des Caleb Williams München 1978, Goldmann
/ Pierre Ramus: William Godwin, der Theoretiker des kommunistischen Anarchismus Westbevern o.J. (1975?), Büchse der Pandora, 85 S.
/ John P. Clark: The Philosophical Anarchism of William Godwin Princeton, N.Y. 1977, Princeton Univ. Press, 343 S.
/ Ulrich Dierse: Anarchie, Anarchismus (15 S.) in: J. Ritter (Hrsg.): Histor. Wörterbuch d. Philosophie Basel u. Stuttgart 1971, Schwabe & Co, [Spalte 167-294]
/ Peter Christian Ludz: Anarchie - Anarchismus -Anarchist (S. 44-50 u. S. 55-109) sowie Christian Meier: "Anarchie' in der Antike (S. 50-55) in: Brunner, Conze, Koseliek (Hrsg.): Histor. Lexikon z. politisch-sozialen Sprache in Deutschland (Bd I), Stuttgart 1972, Klett
/ Peter Marshall: Demanding The Impossible, vgl. Kap. 20!
/ Thomas Morus: Utopia Frankfurt/M. 1987, Büchergilde Gutenberg, 189 ill.
/ Michael Vester (Hrsg.): Die Frühsozialisten (Bd. I, 1789-1848) Hamburg 1970, Rowohlt, 247 S.
/ Charles Fourier: Aus der neuen Liebeswelt Berlin 1977, Wagenbach, 205 S.
/ Andre Breton: Ode an Charles Fourier Berlin 1982, Karin Kramer, 167 S.
/ Giovanni Rossi: Utopie und Experiment Berlin 1979, Karin Kramer, 322 S.
/ Henry David Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat Zürich 1973, Diogenes, 86 S.
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