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22  "Eigentum ist Diebstahl!"   Proudhon und die Anfänge des Anarchismus

 

  Was sind Sie also? –  Ich bin Anarchist. –
  Ich verstehe. Sie wollen sich auf Kosten der Regierung lustig machen? –
Keineswegs.   Ich habe Ihnen nur meine wohl abgewogene und ernsthafte Überzeugung genannt.
Obwohl ich überzeugter Anhänger der Ordnung bin, bin ich im vollsten Sinne des Wortes ein Anarchist.
          Pierre Joseph Proudhon

 

 

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Die trostlosen Winter der späten vierziger Jahre brachten in Paris die größten politischen Schwärmer des neunzehnten Jahrhunderts zusammen. Stundenlang, ganze Nächte hindurch, saßen sie in ihren Spelunken und Stammcafes im Marrais und disputierten über die leuchtende Zukunft der Menschheit.

In ihren Taschen war kaum ein sou, ihre Anzüge waren fadenscheinig und ihre Absteigen ungeheizt. Feuer glühte allein in ihren Herzen — der Wunsch nach Revolution. Aus fast allen Ländern Europas hatte es Legionen politischer Emigranten in die französische Hauptstadt verschlagen: Aus Preußen und dem Deutschen Reich, aus dem untergegangenen Polen, aus Italien und vor allem aus Rußland.

Zwar hatte auch Frankreich ein reaktionäres Regime - den "Bürgerkönig" Louis-Philippe -, aber in Paris gab es noch einen guten Rest von Liberalität: Nischen der Freiheit, in denen man atmen konnte. Ganz Europa dämmerte inzwischen unter einer brutalen und spießigen Reaktion. Das Bürgertum war zu Geld und Macht gekommen und sonnte sich in seinem Glanz und seiner Stärke. Und überall gab es Menschen, die litten und ächzten, weil sie all das bezahlen mußten. Diejenigen, die in den Fabriken für lächerliche Löhne 12, 14 Stunden täglich arbeiteten und doch nicht davon leben konnten. Männer, Frauen, Kinder - die Arbeiterklasse oder, wie sie neuerdings genannt wurden, das "Proletariat".

Zu den politischen Asylanten der 40er Jahre gehörte ein gewisser Herr Karl Marx, abgebrochener Jurist und promovierter Philosoph aus Deutschland, der als Beruf ›politischer Journalist‹ angab. Ein Monsieur Alexander Herzen aus Moskau war hinzugestoßen, halb Russe und halb Deutscher, Naturwissenschaftler und Literat und soeben der Verbannung entflohen. Und ein ehemaliger Offizier aus niederem Adel namens Michail Bakunin, der Philosophie studierte, steckbrieflich gesucht ruhelos durch Europa reiste und noch nicht ahnte, daß er schon in Kürze auch aus Frankreich ausgewiesen werden würde. Leidenschaftlich diskutierten sie die Hegelsche Dialektik und erörterten Fragen revolutionärer Strategie.

Alle drei hatten unterschiedliche Ansichten, aber einen gemeinsamen Bekannten, dessen skandalöses Buch "Was ist das Eigentum?" in aller Munde war: Pierre-Joseph Proudhon. Ein Mann von einfacher Herkunft, Wandergeselle, Handwerker, Autodidakt*, ein Hinterwäldler aus der finstersten Provinz, der in kürzester Zeit mit seinen provozierenden Gedanken zum Bestsellerautor geworden war. "Eigentum ist Diebstahl", "Anarchie ist Ordnung", "Gott ist ein Übel" — das waren griffige Zitate Proudhons, herausgerissen aus seinen Büchern und zu geflügelten Worten gemacht.

In jenen vierziger Jahren wurde in Paris die Ursuppe des Sozialismus zusammengebraut. Marx, Herzen und Bakunin, die Proudhon natürlich gelesen hatten, machten sich mit seinen Ideen vertraut und ihn mit der deutschen Philosophie. Mit Proudhonschem Geld eröffnete der mittellose Marx ein "Büro für internationale sozialistische Korrespondenz" - Vorläufer der "Ersten Internationale". Bakunin und Herzen wurden zu Proudhons Freunden. Die Frage, die alle gleichermaßen interessierte: Wie könnten Elend und Unzufriedenheit des Proletariats zum Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft werden? Was waren die Ziele und welches der richtige Weg?

Es gärte und roch nach Veränderung. Im Februar 1848 entlud sich der Druck in einer ersten Revolution, vielleicht zu früh: Louis-Philippe wurde von seinem Thron geblasen — nur, um im Dezember Louis-Napoleon emporzubringen, der 1851 gegen das Parlament putschte und bald als Napoleon III. neuer Kaiser wurde...

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Ein Rückschlag, keine Frage, aber dennoch - nach der Februarrevolution war nichts mehr so wie vorher: Eine Bewegung war geboren, die nicht wieder verschwand. Die vier Männer zerstreuten sich in alle Richtungen. Herzen führte Proudhons Gedanken in den russischen Populismus* ein, Bakunin entwickelte seine Ideen weiter und machte sie international populär. In den nächsten Jahrzehnten beriefen sich immer mehr soziale Strömungen auf Proudhon: Gewerkschaften, Arbeiterbörsen, Genossenschaften, politische Clubs und vor allem der antiautoritäre Flügel der Ersten Internationalen Arbeiter-Assoziation. Als sich 1871, sechs Jahre nach Proudhons Tod, die Arbeiterschaft von Paris in der Commune erhob, stellten seine Anhänger die größte Fraktion. Einzig Karl Marx war inzwischen zu seinem erbitterten Gegner geworden.

Wer war dieser Proudhon, und was hatte er der Welt zu sagen?

 

  Denker und Dickschädel  

Proudhon entstammt einer jener typischen Familien armer, bodenständiger und dickschädliger Bergbauern des französischen Jura. 1809 in Besancon geboren, muß der junge Pierre-Joseph schon mit zwölf Jahren im Gewerbe seines Vaters mitarbeiten, der eine Kneipe mit Küferei betreibt. Nebenher besucht der auffallend gescheite Junge das angesehene College de Besancon. Damit ist Schluß, als der Vater 1827 bankrott macht. Proudhon erlernt das Buchdruckerhandwerk und frönt, wann immer er kann, seinem unstillbaren Bildungshunger. Er besucht sozialistische Zirkel, lernt Charles Fourier kennen und kommt auf seiner mehrjährigen Wanderschaft mit ersten Arbeiterkooperativen in Verbindung. 

Zurück in der Heimat, gründet er eine Druckerei und wird unter dem Eindruck der religiösen Traktate, die er für die Diözese druckt, zum überzeugten Atheisten. Mit einer preisgekrönten Arbeit über Moses, den er interessanterweise und völlig unkonventionell als Sozialwissenschaftler und weisen Entdecker von Naturgesetzen interpretiert, gewinnt er 1838 ein Stipendium an der örtlichen Akademie. Aus Dankbarkeit widmet er ihr auch sein aufsehenerregendes nächstes Werk, "Was ist das Eigentum?", das 1840 erscheint und zum Skandal wird. Entsetzt besteht die Akademie darauf, die Widmung zu streichen. Kein Wunder, denn die Denkschrift ist ein Frontalangriff auf die wichtigsten Säulen der bestehenden Ordnung: Eigentum und Regierung.

Ab nun wird Proudhon zu einem vielbeachteten Autor, ruhelosen politischen Organisator und originellen sozialen Querdenker. Den Rest seines Lebens bleibt er ein experimenteller Anarchist zwischen Philosophie und Versuch, Ruhm und Gefängnis, Hoffnung und Resignation. Hierbei sieht man ihn hinter Barrikaden ebenso wie als Abgeordneten im Parlament. Er gründet eine Bank, gibt Zeitungen mit Massenauflagen heraus, und wie ein Worcaholic schreibt er ein Buch nach dem anderen. Als er 1865 stirbt, hinterläßt er mehr als vierzig Titel, vierzehn Bände Korrespondenz und elf Bände Notizen, Mehrere tausend Trauernde begleiten den Sarg des Mannes, der sich zu Lebzeiten selbst als "den Exkommunizierten der Epoche" gesehen hatte, unverstanden und seinen Mitmenschen entfremdet.

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Damit lag er gar nicht so falsch, denn Proudhon war alles andere als ein Philosoph zum Liebhaben. In der Tat hatte er sich - auch im eigenen Lager - nicht nur Freunde gemacht. Er war zwar einer der kühnsten und bizarrsten Denker seines Jahrhunderts, aber zugleich auch von solcher Widersprüchlichkeit, polemischer Übertreibung und Wechselhaftigkeit der Ansichten, daß es bis heute selbst seinen Anhängern schwerfällt, ihm immer zu folgen. Innigste Freiheitsliebe stehen bei Proudhon unvermittelt neben tumben, reaktionären Anschauungen, scharfsinnige Analysen von bestechender Klarheit beißen sich mit vagen und unsystematischen Spekulationen.

Proudhon war kein Systematiker, sondern Spontaneist. Seine Methode glich mehr einem Brainstorming als dem Aufbau eines schlüssigen Modells. Es machte ihm nichts aus, für beide Seiten einer Frage gleich überzeugend Partei zu ergreifen, wenn er die Wahrheit irgendwo dazwischen vermutete. Kam er zu einer klaren Entscheidung, konnte es sein, daß er sie Jahre später recht unbekümmert wieder verwarf. Kein Wunder, daß ein ordentlicher Philosoph wie Karl Marx an solch einem chaotischen Autodidakten verzweifelte.

Proudhon hinterließ kein philosophisches System, sondern einen reichen Steinbruch an Ideen. Vor allem aber konnte er - trotz seines ruhelosen Bildungshungers - zeitlebens nie den begrenzten Horizont seiner provinziellen Herkunft überwinden. Recht treffend hat Trotzki ihn deshalb den "Robinson Crusoe des Sozialismus" genannt. Nirgends zeigt sich diese engstirnige, puritanische und rückständige Verwurzelung des schreibenden Handwerkers aus der Franche Comté so sehr, wie in seinem Bild der Frau oder seinen Ansichten zur Rasse. Der Mensch sei an den Boden gebunden, von dem er stamme, und die Liebe zur Erde, auf der man geboren ist, empfindet er als natürlich, gut und harmonisch. Eine Vermischung von Rassen sei daher unnatürlich. Von der Schlechtigkeit seiner jüdischen Mitmenschen schien er ebenso überzeugt zu sein wie von der Minderwertigkeit der Frau. 

Es ist kaum zu glauben, aber der glühend-globale Schrei nach Freiheit scheint für den "Vater des Anarchismus" nur für mitteleuropäische Männer zu gelten! Je älter er wurde, desto wunderlicher wurden seine Ansichten. Zehn Jahre nach seinem Tod wurden unter dem Titel "Pornokratie oder Frauen der modernen Zeit" Fragmente aus seinem Nachlaß veröffentlicht, in denen er der Frau den Platz zuweist, der ihr seiner Meinung nach gebührt: am Herd inmitten der Familie, dem Manne vollkommen untertan. Intellektuell traut er ihr nicht viel zu. Ein erschreckendes Pamphlet, das in schreiendem Gegensatz zu dem steht, was derselbe Mensch anderswo an bahnbrechenden Erkenntnissen über Unterdrückung, Herrschaft und das Recht auf Freiheit geschrieben hat...

Ist der Vater des Anarchismus also ein Blut-und-Boden-Rassist und reaktionärer Macho? Ein Wegbereiter des Faschismus gar? Wer das glauben möchte, müßte auch Martin Luther und die Bolschewiki, Nietzsche oder die Französische Revolution, Goethe, Wagner, Schopenhauer und die Brüder Grimm den frühen Nazis zurechnen, weil bei ihnen allen bezüglich Heimat, Frauen oder auch Juden Äußerungen zu finden sind, die wir heute mit Recht als reaktionär und teilweise abscheulich empfinden. Das Dilemma scheint im Falle Proudhons eher darin zu liegen, daß er am Beginn eines Denkens steht, aus dem sich der moderne Anarchismus erst noch entwickeln wird, an dem er aber gleichwohl gemessen wird.

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Einige anarchistische Essentials durchblickte er geradezu glasklar, andere hingegen verstand er nicht einmal ansatzweise.

Die anarchistische Bewegung ist über dieses Dilemma immer wieder gerne mit peinlichem Schweigen hinweggegangen — ein ebenso albernes wie bezeichnendes Verhalten. Es zeigt, wie schwer man sich darin tut, mit widersprüchlichem Verhalten umzugehen — einer Eigenschaft, die (angeblich mit Ausnahme der Heiligen) ja allen Menschen eigen ist. Da stellt sich doch die Frage, ob der Anarchismus Heilige braucht. Idole als Inkarnation von Tugend sind ein Mythos, der nötig ist, um Massen an eine Ideologie zu fesseln. Der Anarchismus sollte das nicht nötig haben. Vielleicht tun wir gut daran, am Beispiel Proudhon die bittere Erkenntnis zu schlucken, daß gute Ideen nicht automatisch in ihren Trägern zur ethischen Fleischwerdung gelangen müssen. Das macht uns frei dafür, auch die Ideen und Taten eines Menschen durchaus fesselnd, inspirierend und positiv finden zu können, der seiner eigenen Philosophie widersprach.

Für den Anarchismus ist insofern an Proudhon weniger die Person interessant, als vielmehr die Auswirkungen seiner zentralen Thesen.

 

     Soziale Gerechtigkeit als Grundlage der Freiheit   

In seinem Hauptwerk liefert Proudhon zunächst eine Bestandsaufnahme der bestehenden Gesellschaft, vor allem ihrer Ökonomie. Er erkennt die Entfremdung moderner Industriearbeit und brandmarkt, daß der Arbeiter mehr und mehr zu einem Automaten degradiert werde. Besitzverhältnisse, Arbeitsteilung und Geldsystem führten bei den Unternehmern zu wachsendem Wohlstand, bei der Arbeiterschaft zu materieller und seelischer Verelendung. Umfassend untersucht er sodann Entstehung, Wesen und Wirkung von Eigentum, da er in der ungerechten Verteilung des Wohlstandes die Wurzel vieler Übel sieht.

Seiner Beweisführung, daß auch die besitzlosen Klassen ein Anrecht auf den erwirtschafteten Reichtum hätten, läßt er aber nun nicht die Forderung nach einer gerechteren Verteilung des Eigentums folgen, sondern propagiert seine Abschaffung. Einesteils aus moralischen Gründen, weil Eigentum insofern Diebstahl sei, als es aus der Ausbeutung der Besitzlosen und Rechtlosen gewonnen wird, und diese um die Früchte ihrer Arbeit betrügt. Vor allem aber, weil im Eigentum das Fundament von Herrschaft und Unterdrückung zu sehen sei, die den Menschen an der freien Entfaltung von Initiative, Kreativität und Moral hindere. Eigentum habe fatale Folgen. Es sei eine angemaßte Verfügungsgewalt zur persönlichen Bereicherung, ein abstraktes Prinzip. Besitz hingegen sei segensreich. Er diene als Voraussetzung einer individuellen oder kollektiven Nutzung der Güter zum Wohle aller. Besitz ist demnach kein theoretischer und ewiger Rechtsanspruch, sondern besteht nur so lange, wie eine Nutzung auch tatsächlich erfolgt. Proudhon denkt hierbei nicht an den Besitz privater Dinge, sondern zielt auf die Verfügungsgewalt über Boden und Produktionsmittel. Entschieden wendet er sich gegen gewisse kommunistische Vorstellungen von der Kollektivierung des Privaten. Der Mensch, so Proudhon, brauche freie Entscheidung und die Wahl zwischen Alternativen - der Kommunismus gehe stattdessen davon aus, daß sich das Individuum vollständig den Interessen der Gesellschaft unterzuordnen habe.

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Von dieser radikalen Kritik war es nur noch ein kleiner Schritt zu radikalen Konsequenzen, die in der Forderung nach einer neuen Gesellschaft mündeten. In dieser Suche nach einer "dritten Gesellschaftsform" entsteht der erste grobe Entwurf eines anarchistischen Systems.

Die Grundlage der Freiheit müsse soziale Gerechtigkeit sein, in der unabhängige Produzenten und Konsumenten den Austausch gleichwertiger Waren, Produkte und Leistungen verwirklichen. Die Beziehungen zwischen Menschen und sozialen Gruppen regele die freie Vereinbarung, die autonome Individuen untereinander und mit der Gesellschaft eingehen. Das Interesse am Austausch beruhe dabei auf Gegenseitigkeit - französisch mutualite - ein Begriff, der bei Proudhon eine wesentliche Rolle spielt. Zwischen den Polen absoluter Freiheit und Tyrannei gesteht der späte Proudhon hierbei auch einer wohlverstandenen "Autorität" eine regulierende Rolle zu. Stark ausgeprägt ist der Genossenschaftsgedanke: handwerkliche, bäuerliche und industrielle Kooperation soll die Initiative einzelner Kapitalisten ersetzen. Anstelle der als unsozial empfundenen Bereicherung sieht Proudhon als Antrieb zum Handeln eine Art sozialen Wettbewerbs, der um so stärker greife, je freier der Mensch sei und je mehr er sich mit der Gesellschaft identifiziere. Als materieller Anreiz bleibt die Verfügungsgewalt über die Früchte der Arbeit, die die Produzenten behalten sollen. Das ganze System schließlich würde strikt dezentral sein; die notwendigen Strukturen der Koordination müßten sich föderalistisch aufbauen, das heißt, von ›unten‹ nach ›oben‹. So könne das Entstehen neuer Tyrannei verhindert werden.

Konsequenz einer solchen selbstverwalteten Gesellschaft wäre ein Verschwinden des Staates, ihr Ziel die "Anarchie". Originellerweise packt Proudhon die positive politische Definition dieses Begriffes eher beiläufig in eine Fußnote: Schon 1840, in "Was ist das Eigentum?", räumt er ein, daß das Wort "Anarchie" bisher als "Abwesenheit von Gesetzen" verstanden wurde und als Synonym für "Unordnung" stand. In Wahrheit aber seien der Staat und die ungleiche Verteilung des Wohlstandes die Quellen des Chaos'. Da Herrschaftslosigkeit diese Ursachen beseitige, sei es gerechtfertigt zu sagen: Anarchie ist Ordnung. Selten ist ein vermeintliches Paradox knapper und schlüssiger erklärt worden. Die Originalität dieses Gedankengangs, zusammen mit der vorausschauenden Skizze einer anarchistischen Gesellschaft in ihren wesentlichen Grundzügen, begründen den Ruf Proudhons als geistiger "Vater des modernen Anarchismus".

 

   "Vom Geist des Proudhonismus befallen"  

 

Der Wust neuer Ideen, den Proudhon auf den Markt der Meinungen seiner Zeit warf, hatte für viele Jahrzehnte enormen Einfluß auf das soziale Denken und Handeln, insbesondere auf die Arbeiterschaft. In Deutschland, England und den Vereinigten Staaten waren alle frühen sozialistischen Bewegungen durch die Bank vom "Geist des Proudhonismus befallen". Friedrich Engels nannte seine Schrift über das Eigentum "das tiefste philosophische Werk, das ... in französischer Sprache geschrieben wurde". 

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1895 spielten bei der Gründung der Confederation Generale du Travail, Frankreichs wichtigster Gewerkschaft, die erst nach dem Ersten Weltkrieg unter kommunistischen Einfluß geriet, Proudhons Ideen eine prägende Rolle. Fernand Pelloutier schuf mit der Föderation der "Arbeiterbörsen" ein Instrument zur Selbstorganisation und Fortbildung der Arbeiterschaft, das sich an Proudhons Mutualismus orientierte. Nach 1870 drangen seine Ideen nach Spanien, beeinflußten eine ganze Generation von Intellektuellen wie etwa den Philosophen Pi y Margall und legten ein wichtiges Fundament für eine starke anarchistische Arbeiterbewegung, die ab der Jahrhundertwende eine entscheidende Rolle auf der Iberischen Halbinsel spielte. 

Mexikanische Revolutionäre waren von ihm ebenso beeinflußt wie die russischen Narodniki oder Leo Tolstoi, der nicht nur das philosophische Leitmotiv, sondern auch den Titel zu seinem Roman "Krieg und Frieden" direkt bei Proudhon entlehnte. Bis in unsere Tage wird er immer wieder bemüht - die einen sehen ihn als geistigen Mentor des Anarchosyndikalismus, die anderen als einen Vorläufer der Soziologie; als Theoretiker des Föderalismus wird er ebenso in Anspruch genommen wie als Pate der Genossenschaftsbewegung oder Ahnherr der Selbstverwaltungsidee.

Zum ersten großen Wirbel kam es schon kurz nach seinem Tod innerhalb der 1864 gegründeten "Ersten Internationale", in deren französischer Sektion Proudhons Ideen sehr populär waren. Hier prallten freiheitlicher und autoritärer Sozialismus erstmals mit Wucht aufeinander, was schließlich zur Spaltung in Anarchismus und Kommunismus führte. Den libertären Part in diesem Konflikt spielte Bakunin, der seine ersten anarchistischen Kicks keinem anderen als Proudhon verdankte. Sein Gegenspieler, Karl Marx, hatte sich inzwischen schon längst mit dem Mann aus Besancon überworfen. Vorbei waren die Winterabende der vierziger Jahre, in denen man respektvoll miteinander verkehrte und gemeinsam Utopien schmiedete. 

Die Auseinandersetzung zwischen Marx und Bakunin war bereits 25 Jahre zuvor in einer symbolträchtigen Polemik zwischen Marx und Proudhon vorweggenommen worden. Als der deutsche Kommunist den französischen Anarchisten für die Mitarbeit an seinen Projekten gewinnen wollte, antwortete Proudhon: "Machen wir uns nicht zu Führern einer neuen Intoleranz. Posieren wir nicht als Apostel einer neuen Religion, und sei es auch die Religion der Logik und der Vernunft. (...) Lassen Sie uns, wenn Sie wollen, gemeinsam die Gesetze der Gesellschaft suchen, die Wege, auf denen sie verwirklicht werden und den Prozeß, nach dem es uns gelingt, sie zu entdecken. Hüten wir uns jedoch um Himmels Willen, den Leuten nach der Zertrümmerung aller vorgefaßten Dogmen unserseits eine neue Doktrin einzuimpfen. (...) Unter diesen Bedingungen trete ich mit Vergnügen in Ihre Assoziation ein; anderenfalls nicht." Mit gutem Gespür hatte Proudhon die Falle der marxistischen Dogmatik gewittert und den Finger auf den wunden Punkt gelegt: die Gefahr einer kommunistischen Diktatur. Marx hat ihm das nie verziehen. Auf Proudhons Buch "Die Philosophie des Elend" konterte er geschickt mit der Polemik "Das Elend der Philosophie", in der er Proudhon "Unwissenschaftlichkeit" vorwarf. Er ließ kein gutes Haar mehr an seinem ehemaligen Förderer und sprach ihm rundheraus seine Fähigkeiten als Ökonom und Philosoph ab. Proudhon reagierte lakonisch: "Der wirkliche Sinn dieses Werkes von Marx ist, daß er bedauert, daß ich überall gedacht habe wie er und es vor ihm gesagt habe."

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   Ein Leben als Experiment   

 

Ebenso wie seine Gedankenwelt war auch Proudhons politisches Leben eine Aneinanderreihung von Versuchen. Kurz nachdem er sich in Paris niedergelassen hat, bricht 1848 die Revolution gegen Louis-Philippe aus. Trotz seiner Skepsis gegenüber dieser "Revolution ohne Ideen" stellt sich Proudhon voll in ihren Dienst, hält Vorträge in politischen Clubs, druckt Flugschriften und fehlt im entscheidenden Augenblick auch nicht auf den Barrikaden der Pariser Aufständischen. Im Februar startet er seine Zeitung <Le representant du peuple>, die in kurzer Zeit eine Auflage von 40.000 Exemplaren erreicht - für die damalige Zeit ein wahres Massenblatt, das dreimal verboten wurde und seinen Namen wechseln mußte. 

Kurz nach der Revolution wagt Proudhon das Experiment, die Nationalversammlung für seine Ziele zu nutzen. Immer wieder hatte er darauf hingewiesen, daß eine neue Gesellschaft durch sozialen Kampf und wirtschaftliche Organisation, nicht aber durch Putsch oder Parteipolitik zu erreichen sei. Obwohl er sich als klarer Gegner des Parlamentarismus zu erkennen gibt, wird er auf Anhieb ins Parlament gewählt. Dort versucht er mit einer Mischung aus provozierendem Protest und ernsthaften Anträgen die Möglichkeit auszuloten, den bürgerlichen Apparat in den Dienst der proletarischen Subversion zu stellen. So lehnt er den Entwurf einer neuen, liberaleren Verfassung mit den Worten ab: "Ich stimme gegen die Verfassung, nicht weil sie Dinge enthält, die ich ablehne oder Dinge enthält, die ich billige, ich stimme gegen die Verfassung, weil sie eine Verfassung ist." Seinen eigenen Antrag auf Aussetzung aller Schulden und Kapitalgewinne würzt er mit der Drohung, daß das Proletariat dies andernfalls eben auf eigene Faust durchsetzen würde. Die verschreckten Abgeordneten kommentierten das mit dem Ausruf "Das ist der soziale Krieg!" und stimmen 691:2 dagegen. 

Schnell erkennt Proudhon, daß sich das Parlament weder als propagandistische Plattform eignet noch als Kulisse für entlarvende Spaße - schon gar nicht als Ort, um grundlegende Veränderungen durchzusetzen. Nach wenigen Monaten kehrt er der Nationalversammlung den Rücken und zieht eine ernüchternde Bilanz: "Kaum hatte ich den Fuß ins parlamentarische Sinai gesetzt, hörte ich auf, mit den Massen in Verbindung zu stehen. Die legislative Arbeit absorbierte mich dermaßen, daß ich den Blick für das aktuelle Geschehen vollständig verlor. (...) Man muß in diesem Isolator namens Nationalversammlung gelebt haben, um zu erkennen, daß die Männer, die absolut keine Ahnung vom Zustand des Landes haben, meist genau dieselben sind, die es vertreten. (...) Die Angst vor dem Volk ist die Krankheit all derer, die auf Seiten der Autorität stehen; das Volk ist der Feind der Mächtigen." Mit diesem frühen Parlamentarismustest machte Proudhon eine Erfahrung, die für den gesamten Anarchismus prägend werden sollte und zur Ablehnung des parlamentarischen Reformismus führte.

Dem Flirt mit dem Parlament folgte ein praktischer Versuch auf wirtschaftlichem Gebiet.

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Proudhon gründete eine Tauschbank die zinsfreie Kredite gewährte und einen praktischen, "mutualistischen" Weg zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft aufzeigen sollte. Die Bank, die keinen Eigengewinn anstrebte, stellte Anteilscheine aus, die unter allen Assoziierten wie Geld akzeptiert wurden. Ihr Gegenwert bestand in eingebrachten Waren, in deren Bewertung Arbeitszeit und Materialkosten eingingen. Die Bank sollte so einen Austausch von Leistungen frei von Spekulation und Profitinteresse ermöglichen. Vor allem sollte sie Darlehen gewähren, die in erster Linie Kleinproduzenten, Arbeitergenossenschaften und - wie wir heute sagen würden - selbstverwalteten Projekten zugute gekommen wären. Obwohl sich in kürzester Zeit 27000 Mitglieder an dem Versuch beteiligten, kam es nicht zur praktischen Verwirklichung. Im Dezember 1848 bringt ein coup d'etat* Louis-Napoleon an die Macht, im Januar wird Proudhon verhaftet, die Bank bricht wenig später zusammen. Es folgen drei Jahre Haft wegen Pressevergehens, in denen das autobiographische Werk "Bekenntnisse eines Revolutionärs" entsteht. Es sollte weder sein letztes Buch noch sein letzter Gefängnisaufenthalt bleiben...

In der Folgezeit zieht sich Proudhon vermehrt aus dem aktuellen politischen Geschehen zurück, produziert aber unermüdlich politische Literatur und sucht Geborgenheit im Privaten. Viel Zeit widmet er seinen drei Töchtern, die ihm "zur Freude des Lebens" werden. Es sind jene Jahre, in denen sich seine Ansichten über den Wert eines ›harmonischen Familienlebens‹ verfestigen, so wie er es sich in seiner patriarchalen Sicht und seinem traditionell geprägten Denken vorstellt und offenbar genießt. Die Idee einer punktuellen Kollaboration in Sachen Wirtschaftsreform mit Louis-Napoleon, der sich 1851 zum neuen Kaiser krönen läßt, wird schon 1852 ebenso rasch bereut wie sie geboren worden war. Das Kaiserreich bietet wenig Ansätze für neue Strategien. 

Die Vorstellungen des Kommunisten Etienne Gabet, der auf Wahlen setzt, des Sozialisten Louis Blanc, der einen Wohlfahrtsstaat favorisiert oder Auguste Blanquis Idee einer revolutionären Diktatur lehnt Proudhon sämtlich wegen ihrer autoritären Tendenzen ab. Gegen Ende seines Lebens verdichtet sich die Überzeugung, daß die Zukunft der libertären Utopie in der Entwicklung und Organisierung der Arbeiterschart liege. Sein letztes Buch "Von der politischen Fähigkeit der Arbeiterklasse" ist die schlüssige Vision einer autonomen Arbeiterbewegung und ihrer Chancen, sofern sie sich von der Vormundschaft politischer Parteien und reformistischer Gewerkschaftsbürokratie befreien könne. Für die revolutionären Syndikalisten, die 1906 in der Massengewerkschaft CGT mit der Charta von Amiens diese Unabhängigkeit durchsetzten, war, wie Daniel Guérin schreibt, dieses Buch "wie eine Bibel".

Proudhon, der nie ein guter Taktiker war, und in seinem Leben die unterschiedlichsten Strategien testete, erscheint in seinen Aktionen wie der Versuchsballon einer Bewegung, die noch hilflos nach gangbaren Wegen zu ihrer Utopie suchte. Trotz seiner Widersprüchlichkeit gelang es ihm, das Interesse riesiger sozialer Kreise auf die entscheidende Frage von Staat, Eigentum und Autorität zu lenken. Hierbei hatte er mehr Erfolg als andere Zeitgenossen. Zwei seiner Landsleute, der junge Arzt Ernest Caurderoi und der ehemalige Seemann Joseph Déjacque kamen unabhängig voneinander und etwa zur gleichen Zeit wie Proudhon zu ganz ähnlichen Ansichten, bezeichneten sich gar als Anarchisten, blieben aber zeitlebens isoliert und ohne Einfluß.

Als Proudhon 1840 bei der Akademie von Besancon seine Denkschrift einreichte, war nicht einmal das Wort Anarchismus bekannt. Als er 25 Jahre später starb, gab es eine Bewegung, die dieses Schimpfwort zu ihrem Namen machte.

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Literatur: 

 

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