Stirner bei Detopia      T2-23

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23. Das große Ich — Max Stirner und der Individualanarchismus

 

Wer ein ganzer Mensch ist,
braucht keine Autorität zu sein.
Max Stirner

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Im Jahre 1844 erschien in Leipzig ein dickes, launiges und schwerverdauliches Buch, das von der Zensur unverzüglich verboten und beschlagnahmt wurde. Eine Woche später aber wird das Werk wieder freigegeben. 

Es sei, so die Zensoren, einfach zu absurd und deshalb ungefährlich. Sein "niedriger und beschränkter Standpunkt" werde überall "auf Abscheu stoßen". Mit dieser Einschätzung lagen die Gedankenwächter allerdings daneben; sie hatten soeben einen Te..xt lizenziert, der zu einem der meistgelesensten Klassiker moderner Philosophie werden sollte — allerdings auch zu einem der kontroversesten*. 

Sein glückloser Autor, der "Prophet des Egoismus", hat daraus paradoxerweise zeitlebens keinen persönlichen Vorteil ziehen können. Immerhin kam er, was die Zensur angeht, ungeschoren davon. Johann Caspar Schmidt hieß dieser Mann, 1806 in Bayreuth geboren und Lehrer an der privaten "Lehr- und Erziehungsanstalt für höhere Töchter" zu Berlin. 

Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Freizeitautor hatte in Erlangen und Berlin — unter anderem bei Hegel und Schleiermacher — Philosophie studiert. Obwohl er seine Lehrerprüfung bestand, wurde er nach der Probezeit nicht in den Staatsdienst übernommen. Die Anstellung bei der angesehenen Privatschule der Madame Gropius hielt ihn über Wasser, zwang ihn aber auch zu einem Doppelleben, denn dort durfte nicht ruchbar werden, was der Herr Schmidt in seiner Freizeit trieb.

 

Das unfreie Leben eines "Freien"

 

In den frühen vierziger Jahren verkehrten in einer Weinstube in der Berliner Friedrichstraße einige der umtriebigsten und radikalsten Intellektuellen jener Zeit. Zu ihnen zählten neben Bruno und Edgar Bauer auch Arnold Ruge, Friedrich Engels und Karl Marx. Der Name dieses Zirkels klang wie ein Programm, er nannte sich <Die Freien>; bekannt wurden seine Mitglieder später allerdings unter dem Begriff "Linkshegelianer", denn der Disput um die Lehren des großen Meisters Hegel war der gemeinsame Ausgangspunkt ihrer durchaus unterschiedlichen politischen Karrieren. 

Johann Caspar Schmidt gehörte diesem Kollegium an, räsonierte, disputierte und schrieb gelegentlich Aufsätze und Korrespondenzen. Sie erschienen in den Blättern der Opposition und waren mit Rücksicht auf sein delikates Arbeitsverhältnis entweder ungezeichnet oder mit dem Pseudonym <Max Stirner> versehen.

Sein Hauptwerk entstand in eben jenen kurzen Jahren beruflicher Sicherheit, intellektueller Herausforderung und privaten Glücks und trug den Titel <Der Einzige und sein Eigentum>. Es sollte der Gipfel seines geistigen Schaffens bleiben und den Höhepunkt seines Lebens markieren.

Noch vor der Drucklegung verliert er seinen Lehrerposten und ist gezwungen, sich mit Übersetzungen, Artikeln und Gelegenheitsschreiberei durchs Leben zu schlagen. Mit dem Versuch, einen Milchvertrieb aufzubauen, macht er bankrott. Seine junge Frau Marie Dähnhardt, die er bei den "Freien" kennengelernt hatte, verläßt ihn; zweimal landet er im Schuldgefängnis

Als 1852 seine farblose und wenig originelle <Geschichte der Reaktion> erscheint, wird der ehemalige <Prediger der Eigenheit> noch gelegentlich in bürgerlichen Salons als kurioser Radikaler vorgeführt. Einsam und vergessen stirbt er 1856 in Berlin.

 

    Philosoph der individuellen Autonomie  

 

Max Stirner hat keine Anhänger um sich geschart, keine Bewegung hervorgebracht, kaum Einfluß auf das reale Leben seiner Zeit genommen. Und doch polarisiert sein Denken bis heute die Gemüter. Was war an diesem glücklosen Philosophen und gescheiterten Milchhändler so interessant?

Stirner vertrat den radikalsten Individualismus, der sich nur denken läßt. Er legte sich mit der gesamten rationalistischen Tradition der abendländischen Philosophie an. 

"Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein." 

Den Standpunkt der eigenen, subjektiven Erfahrung vertritt er derart konsequent, daß er als größter Egoist ebenso verschrien ist wie als Erfinder des Nihilismus*, Wegbereiter des Faschismus oder als Ahnherr des Existentialismus*. Nichts von dem trifft zu. Eigentlich hat Max Stirner nichts anderes getan, als den Standpunkt des Individuums einzunehmen und dessen Rechte über die Interessen von Staat, Religion, Masse, Ideologie, Gesellschaft, Kollektivität und Moral zu stellen.

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Das freilich tat er so gründlich, daß er quer zu allen geistigen und politischen Strömungen seiner Zeit zu liegen kam und eine entsprechend schlechte Aufnahme fand.

Stirner propagiert einen ichbezogenen, absolut autonomen Denkansatz. "Wer außer mir und den Menschen, auf deren Meinung ich Wert lege, hat das Recht, über mich zu bestimmen?" fragt er rhetorisch und antwortet sich selbst: "Was Du zu sein die Macht hast, dazu hast Du das Recht". Natürlich gerät Stirner bei solcher Denkweise sofort und unweigerlich mit dem Staat aneinander, den er als fixe Idee und einen Feind der "Eigenheit" betrachtet: "Der Staat hat immer nur den Zweck, den Einzelnen zu beschränken, zu bändigen, zu subordinieren, ihn irgendeinem Allgemeinen Untertan zu machen. (...) Jeder Staat ist eine Despotie, sei nun Einer oder Viele der Despot, oder seien, wie man sich wohl von einer Republik vorstellt, Alle die Herren, denn das heißt nur: Einer despotiert den Anderen." 

Im Gegensatz zum Mainstream-Anarchismus aber sieht Stirner nun nicht etwa eine andere Form sozialer Gemeinschaft als Ausweg an, sondern eigentlich gar keine. Er liefert kein Modell. Sein Thema ist die Rehabilitierung des Individuums und dessen Schutz vor der Anmaßung der Gruppe, vor der Diktatur des Kollektiven. So kritisiert Stirner an Proudhon, den er gewiß zu Unrecht den "autoritären Kommunisten" zurechnet, die Neigung, "das Individuum in der Masse aufgehen zu lassen". Das kommunistische System, so Stirner, betreibe den "Niedergang der Persönlichkeit im Namen der Gesellschaft". Heraus komme dabei eine "mystische und anonyme Tyrannei", womit er tragisch recht behalten sollte.

Stirner ist kein konstruktiver Philosoph, sondern ein ungebremster Kritiker. Er hat keine Visionen einer besseren sozialen Gemeinschaft zu bieten, denn er glaubt nicht an die Gruppe. 

Schon gar nicht hatte er den Anspruch, mit einem praktischen politischen Programm aufzuwarten, das viele von ihm verlangten. 

Zwar läßt er sich auf Spekulationen ein, daß ein von allen Menschen befolgter, konsequenter Individualismus auch zu sozialer Vernetzung selbstbewußter und starker Individuen führen könne — einer Art freiwilliger Zusammenschlüsse von Egoisten, die gemeinsame Interessen wahrnähmen, und die Stirner "Vereine" nennt. 

Aber gerade dieser Teil des Stirnerschen Gedankengebäudes ist sein schwächster. Für die Annahme, gesellschaftliche Konflikte würden dann weniger gewalttätig sein, bleibt er den Beweis schuldig, und nirgendwo entkräftet er den naheliegenden Schluß, daß bei ungebremstem Egoismus niemand veranlaßt sei, irgendwelche Absprachen auch einzuhalten, sobald sie keinen persönlichen Vorteil mehr bringen. Zu erwarten wäre im Gegenteil das Faustrecht des Stärkeren.

Auf die Frage der Wechselbeziehungen zwischen den Rechten des Individuums und den Interessen sozialer Gruppen gibt Stirner keine praktikable Antwort. So blieb er in anarchistischen Kreisen lange ein belächelter Außenseiter, dem lediglich ein paar unverbesserliche Individualisten folgten. Er wurde als bizarrer Exzentriker angesehen, den man nicht ernst nehmen könne. Das stimmt — aber nur, wenn man ihn auf kollektive Gesellschaftsmodelle bezieht, die Stirner jedoch nie im Sinn hatte. Es versteht sich daher von selbst, daß er an der 48er Revolution in Berlin nicht den geringsten Anteil nahm. 

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Seine Wirkung liegt in seiner Botschaft, und die lautet: nimm dich selbst ernst, laß dich nicht vor ideologische Karren spannen, gehe nicht im Kollektiv unter und verliere nicht dein größtes Ziel aus den Augen: das Leben bewußt zu genießen. So etwas taugt nicht zum politischen Programm und ergibt für sich alleine auch keine soziale Lebensphilosophie. Stirners Bedeutung erschließt sich daher auch am ehesten aus seiner Zeit heraus; seine These wird dann als ein notwendiges Element zur Freiheit erkennbar — eines allerdings, das bis dahin völlig tabuisiert war. Insofern ist Stirners Beitrag auch ein geistesgeschichtliches Korrektiv.

Sein Buch erschien in einer Zeit, in der die Philosophen aller Richtungen von Kant bis Hegel, von Feuerbach bis Leibniz in irgendeiner Weise die Unterordnung des Individuums unter höhere Mächte predigten — seien es nun der Staat, das Gute, das Göttliche, das Vaterland oder die Vernunft: immer und überall zählt der Einzelne nichts, das Kollektiv alles. Entsprechend sahen die herrschende Moral und das soziale Leben aus. Nirgendwo war das Individuum ein sich selbst genügendes, für sich handelndes Subjekt, sondern stets Objekt erhabenerer Kräfte, Ziele und Interessen.

Gegen diese Tendenz setzt Stirner mit allem Starrsinn, zu der ein Denker überhaupt fähig sein kann, das Recht seiner Einzigartigkeit als Individuum. Dabei greift er mit gedanklicher Kühnheit Fragen auf, die erst hundert Jahre später Thema werden sollten: das Individuum in gesellschaftlicher Entfremdung und industrieller Versklavung, die Massenpsychologie der Gleichmacherei, die Verinnerlichung kollektiver Werte durch Ideologien und Meinungsmache, das Hinterfragen hergebrachter moralischer und sexueller Werte, das Lügenmärchen des Altruismus* als Antrieb sozialen Handelns und die Selbstverleugnung des Einzelmenschen in der Massengesellschaft — fast die ganze Bandbreite der modernen sozialen Theorien und psychologischen Schulen wird bei Stirner bereits aufgegriffen. 

Seine Therapie ist die Selbstbefreiung des Einzelnen — ein damals mehr als ungewöhnlicher Gedanke. Kein Wunder, daß man ihn zu Lebzeiten kaum verstand, wortreich zu widerlegen versuchte, und erst in unserem Jahrhundert in seiner ganzen Tiefe zu würdigen wußte. Camus und Sartre haben sich ihm ebenso gestellt wie Emma Goldman, Gustav Landauer, Ricarda Huch oder Max Nettlau. Letzterer stellte ihm folgendes Zeugnis aus: 

"Für mich gehört er keineswegs dem engen Individualismus an, der nur Individualist sein will und dadurch vom Bourgeois oder Tyrannen nicht zu scheiden ist, sondern er begründete jenen breiten, echten Individualismus, der die Grundlage jedes freiheitlichen Sozialismus ist: die Selbstbestimmung eines jeden über die Beziehungen, in die er mit anderen zu treten wünscht."

 

   Von der Philosophie zum "Individualanarchismus"  

 

Nun hat Stirner keineswegs den Individualismus erfunden. Vor ihm gab es ausgeprägte Individualisten, ebenso wie nach ihm. Sein historisches Verdienst liegt vor allem darin, daß er genau zum richtigen Zeitpunkt seinen einseitigen Standpunkt in die Debatte warf — in dem Moment nämlich, als sich der moderne Anarchismus herausbildete. Stirner, der sich selbst nicht als Anarchist bezeichnete, ist mit seinem Lobgesang auf die Einzigartigkeit des Individuums sozusagen das zeitgleiche Gegengewicht zu Proudhon, der das Hohelied auf die Gemeinschaft anstimmte.

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Schon bei Bakunin, der in den folgenden Jahrzehnten die anarchistische Position entscheidend prägen sollte, sind beide Einflüsse deutlich zu erkennen: Er, der als Vater des "kollektivistischen Anarchismus" gilt, war nicht weniger entschieden auch Individualist. Er versucht, beide Interessen unter einen Hut zu bringen und definiert, daß ein Eigeninteresse am persönlichen Glück nur dann vollkommen sein kann, wenn auch das gesellschaftliche Umfeld für die Mitmenschen Freiheit und Gerechtigkeit beinhalte. Er bemüht also eine eher ›egoistische‹ als eine ›altruistische‹ Triebkraft. Dabei besteht er energisch darauf, daß ein Individuum Pflichten gegenüber der Gesellschaft nur in dem Maße übernehmen kann, als es diese Bindung freiwillig und bewußt eingeht; jederzeit müsse es sich von der Gesellschaft auch wieder lossagen können. Im Anarchismus unserer Tage spielt zunehmend die Überlegung eine Rolle, daß die Motivation zur Gesellschaftsveränderung nicht aus abstrakten Ideologien kommen sollte, sondern aus wohlverstandenem Eigeninteresse der Betroffenen. Der hierbei gebrauchte Begriff des ›sozialen Egoismus‹ verrät eine Stirnersche Handschrift und hat nichts mit dem gewöhnlichen ›parasitären Egoismus‹ gemein.

Zwar gibt es, seitdem 1844 das folgenreiche Buch vom "Einzigen" erschien, auch einen eigenständigen Strang innerhalb der anarchistischen Bewegung, der sich auf Stirner beruft und sich das Etikett "Individualanarchismus" gegeben hat. Diese wahrhaftigen "Stirnerianer" bewegen sich je nach politischer Großwetterlage und persönlichen Präferenzen zwischen stolzer Lebensattitüde, kurioser Sekte und erfrischend anregender Geistesbewegung. 

Besonders in den USA waren es Männer wie Lysander Spooner, Benjamin R. Tucker und Josiah Warren, die Stirnersches Gedankengut aufgriffen und auch sozial Stellung bezogen. In Frankreich wurden die Literaten Zo d'Axa, Han Ryner und E. Armand zu vielbeachteten Propagandisten des libertären Individualismus im Widerstand gegen die Industriegesellschaft. Seit der Jahrhundertwende machte sich der deutsch-schottische Schriftsteller John-Henry Mackay um die Herausgabe der Schriften Stirners verdient und produzierte selbst große Mengen individualanarchistischer Erbauungsliteratur.

Interessanter aber als alle "Stirnerianer" (ein Ausdruck übrigens, der Johann Caspar Schmidt eigentlich große Schmerzen hätte verursachen müssen!) scheint mir die Wirkung zu sein, die Stirners Ideen im Anarchismus zeitigten. Interessanterweise ergab eine Umfrage, die Augustin Hamon schon gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in Anarchistenkreisen durchführte, daß sich kein Anarchist finden ließ, der sich nicht auch als Individualist verstanden hätte. Daniel Guérin macht denn auch als die für den Anarchismus typischen Quellen der revolutionären Energie die beiden scheinbaren Gegensätze aus: Das Individuum und die Massen.

Stirners "Individualismus" ist kein Sozialsystem, sondern ein Standpunkt. Sein "Egoismus" ist eine Geisteshaltung und keine Anleitung zum Schmarotzer­tum. Stirners Philosophie als Faustrecht auszulegen, würde nicht nur seinem Impuls freiheitlicher Rebellion widersprechen, es wäre schlicht nicht lebbar. Ein entsprechendes Sozialsystem bliebe unerträglich und entspräche auch kaum menschlichen Bedürfnissen.

Deshalb sollte man den Individualanarchismus nicht als das nehmen, was er nie sein wollte: eine Anleitung zum sozialen Leben. Zwar gibt es bisweilen auch überspannte Stirnerianer, die sich mit einer gewissen ultra-individualistischen Borniertheit gerne konsequent egoistisch geben wollen, aber solche Versuche erschöpfen sich meist in der provokanten Geste und führen durchweg zu rascher sozialer Isolation. 

In Wirklichkeit sind auch Individualanarchisten meist nichts weiter als nette und durchaus sozial verantwortungsvolle Leute mit hohen Ansprüchen an ihre eigene Ethik. Selbst Max Stirner, der vielgeschmähte Prophet des eiskalten Egoismus und angebliche Menschenfeind, schien im realen Leben nicht frei von romantischen Regungen gewesen zu sein. Die possierliche Widmung, die er seinem "Einzigen" voranstellte, lautete: "Meinem Liebchen Marie Dähnhardt"...

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