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24. Empörung und Revolte – Bakunin und der kollektivistische Anarchismus

Seit Bakunin hat es in Europa
keinen radikalen Begriff  von
 Freiheit mehr gegeben.
Walter Benjamin

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1848 bekam Europa einen ausgewachsenen politischen Husten. Am 23. Februar niest Paris, am 24. ist Frankreich eine Republik. Der Virus scheint ansteckend zu sein. Im Laufe des Jahres springen Aufstände und Proteste, Revolutionen und Revolutiönchen kreuz und quer durch den alten Kontinent. 

In Wien flieht der Kaiser, in Berlin der König, Metternich, der Architekt der monarchistischen Restauration, muß abdanken. Meetings und Barrikaden, Pulverdampf und Parlamente sind der Anfang vom Ende der alten Fürstenordnung. Allenthalben weht ein frischer Wind in den konservativen Mief, der seit Napoleons Ende wie unter einer Käseglocke auf Europa lastete. 

Kaum ein Landstrich Mitteleuropas, der nicht vom diesem umstürzlerischen Fieber gepackt wird. Slawen mucken gegen Österreich und Rußland auf, Franzosen wollen Freiheit, Deutsche ein Parlament und Italiener eine demokratische Vereinigung.

Es war, als wenn ein brodelnder Kessel Dampf ablassen mußte. Zwar gelang es den alten Kräften, in monatelangem Ringen den Deckel wieder auf den Topf zu kriegen. Aber es kostete sie viel Mühe, und immer wieder hob sich der Deckel von neuem: in der Pfalz, im Badischen und in Sachsen, in Polen, Rußland und Italien, in Spanien und immer wieder in Paris, wo die Barrikade fast zu einer städtebaulichen Tradition wurde. Die Opposition bezahlte mit vielen Toten, Verfolgung und Exil, aber die Gesellschaft war nicht mehr die alte. Das ancien régime* war erschüttert, die Anhänger neuer Ideen hatten - trotz ihrer Niederlagen - die eigenen Kräfte gespürt. Eine neue Ära war angebrochen, in der der Ruf nach Freiheit nicht mehr verstummte, und an deren Ende das Verschwinden der monarchistischen Nationalstaaten stehen sollte.

Unter dem "Ruf nach Freiheit" verstanden die verschiedensten Menschen freilich die verschiedensten Dinge. Vordergründig waren die "Achtundvierziger" bürgerliche Revolutionen. Die sozialen Verhältnisse des Industriezeitalters hatten eine besitzende Klasse hervorgebracht, die zwar zunehmend wirtschaftliche Macht besaß, aber politisch nichts zu melden hatte. Sie strebte nach nationaler Einigung und einem parlamentarischen System, in dem sie ihre Interessen durchsetzen konnte - möglichst noch mit einem netten Monarchen als Galionsfigur. Der Bourgeois hatte kein Interesse an radikaler Änderung und globaler Befreiung der Menschheit, sondern an einer angemessenen Beteiligung seiner Klasse an der politischen Macht im Staate. Im besten Fall war er liberal gesinnt, in der Regel aber ging ihm eine Gesinnung völlig ab. Mit Freiheit hatte das nur begrenzt zu tun, mit sozialer Gerechtigkeit schon gar nichts.

Und dennoch wurden durch diese Erhebungen Kräfte entfesselt, die diesen engen Rahmen bürgerlicher Freisinnigkeit längst verlassen hatten. Denn auf den Barrikaden standen meist nicht die satten Bürger - die warteten lieber ab und versuchten, im Parlament die Ernte der Kämpfe einzubringen. Diejenigen, die auf die Straße gingen, waren ärmer an Geld, aber reicher an Phantasie. Und natürlich waren sie radikaler. Es waren freiheitstrunkene Studenten und zornige Fabrikarbeiter, philosophierende Weltverbesserer und abenteuerlustige Revoluzzer, hungrige Frauen und Kinder aus den Vorstädten, verarmte Handwerker, honorige Professoren und radikalisierte Wandergesellen. Und auch einige Aristokraten, die ihrer Klasse radikal den Rücken gekehrt und sich mit Haut und Haaren der freiheitlichen Revolte verschrieben hatten.
      Einer von ihnen hieß Michail Bakunin.

 

   Faszination einer maßlosen Legende  

Bakunin – für viele die Inkarnation des Anarchisten schlechthin, ein lebendes Klischee. Ein Mensch der Auflehnung, spontan und impulsiv, kühn in seiner Vision von Freiheit und ganz und gar der Aktion verschrieben. Zeitgenossen beschreiben ihn als in jeder Hinsicht "maßlos": in seinen Ideen und seinem Appetit, seiner Energie, seinem persönlichen Einsatz,

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seinem Konsum von Tabak, Tee und Briefpapier, vor allem aber in seinem Haß auf die Tyrannei, zugleich aber von einer geradezu kindlichen Güte. Sein Leben lang in Geldnot, nahm er bedenkenlos die Unterstützung seiner zahlreichen Freunde in Anspruch, um genauso unbekümmert die letzte Kopeke herzugeben, wenn sie gebraucht wurde. So langte es oft nur zum Darben bei Tee und Tabak, obwohl der Genußmensch Bakunin auch Austern und Sekt nicht abhold war. Revolution hatte für ihn nicht den Beigeschmack der Askese.

So wuchtig wie sein Impetus* war auch sein Äußeres. Diese von ruheloser Hektik durchs Leben getriebene Figur mit den Abmessungen eines aufrecht gehenden Bären könnte die Erfindung eines Drehbuchautors gewesen sein, und in der Tat inspirierte dieser ungezähmte Geist die Künstler nicht nur seiner Epoche. Turgenjew verewigte ihn in der Romanfigur des Rudin, sogleich von Tschernischwski dafür gescholten, der der Ansicht war, daß er dem Ansehen eines Mannes, "der in den Erzählungen des Volkes genannt wird", nicht gerecht werde: "Ein Löwe eignet sich nicht für eine Karikatur!"

Der Mann mit der Mähne übte auf Literaten wie Belinskij, George Sand, Arnold Rüge, Herwegh, Gogol, Dostojewski, Sacher-Masoch, Joseph Conrad, Ricarda Huch, 'Walter Benjamin, Horst Bienek oder Hans Magnus Enzensberger die unterschiedlichsten Arten der Faszination aus: von sanftem Gruseln bis zu unverhohlener Bewunderung. Für Richard Wagner, der mit ihm 1849 in Dresden auf den Barrikaden stand, war dieser "Alleszerstörer", im Grunde ein "liebenswürdiger und zartfühlender Mensch". Sein Biograph Fritz Brupbacher nannte ihn in einer treffenden Persiflage* auf die Sprache seiner Gegner einen "Satan der Revolte".

In seinem Nachruf schrieb Arnold Ruge 1876: "Seine Schicksale, sein Charakter, sein Geist und seine Liebenswürdigkeit mögen ihn in seinem Vaterlande noch zu einer mythischen Figur machen." Er sollte Recht behalten: 1921 setzten ihm avantgardistische Künstler in Moskau ein veritables Denkmal. Die Bolschewiki ließen es drei Jahre später wieder abreißen. Bakunin war eine Legende geworden - eine gefährliche Legende.

Freunde wie Gegner schildern ihn als mitreißenden Redner, der seine Zuhörer in den Bann schlug. An ihm schieden sich die Geister. Der russische Baron Wrangel, der im übrigen nichts von all dem hielt, was er zu hören bekam, beschreibt seine Erinnerungen an eine Rede, die Bakunin 1867 in Basel auf dem Kongreß der "Liga für Frieden und Freiheit" hielt: "Der Mann war ein geborener Redner, wie gemacht für die Revolution. Seine Rede machte einen kolossalen Eindruck. Hätte er seine Zuhörer aufgefordert, sich gegenseitig die Kehle durchzuschneiden, sie wären ihm freudig gefolgt." In all seinem Ungestüm war er zugleich eine ideale Zielscheibe für seine zahlreichen politischen Widersacher.

Bakunin redete oft und schrieb wenig. Er blieb in erster Linie Praktiker, Theorie war für ihn Mittel zum Zweck - sie sollte sich aus der Aktion entwickeln und der Aktion dienen. Zu Lebzeiten brachte er nur ein einziges Buch zu Ende, ansonsten kursierten von ihm massenweise Briefe, gedruckte Reden oder agitatorische Pamphlete des Augenblicks. Erst nach Bakunins Tod erschloß sich vollständig das faszinierende Mosaik einer umfassenden anarchistischen Theorie, von der noch heute vieles Gültigkeit hat.

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Sein ganzes ruheloses Leben ist eine einzige Aneinanderreihung von Reisen, Aufständen, Flucht, Agitation, Verschwörung und Gefängnis. Kaum eine Revolte, an der er nicht beteiligt ist, kaum ein Staat, der ihn nicht in seinen Fahndungslisten führt. Zweimal wird er zum Tode verurteilt, Jahre verbringt er angekettet in feuchten Verliesen und sibirischer Verbannung, nur, um bei der erstbesten Gelegenheit über Japan und die USA zu fliehen und sich in Europa sogleich wieder kopfüber in die Strudel revolutionärer Abenteuer zu stürzen.

 

    Polarisierung zur rechten Zeit  

Das ist die Wolle, aus der man Mythen strickt. Das ist vermutlich auch der Grund, warum Bakunin bis heute der bekannteste aller Anarchisten blieb, denn spannende Geschichten sind ungemein langlebig. Sie sind aber, auch wenn sie wahr sind, nicht immer wahrhaftig, denn sie verklären. Was aber war er jenseits des Mythos wirklich? Welche Rolle spielt er bei der Herausbildung des Anarchismus?

Bakunin war weder der ideale Revolutionär noch der Vater einer idealen Theorie. Dazu war er viel zu sehr Suchender und Experimentierer. Er kultivierte Spontaneität in einer geradezu messianischen* Form und war davon überzeugt, daß eine verrottete Gesellschaft nur verrottete Ideen hervorbringen könne. Regeln, Strukturen und Theorien würden in der Aktion entstehen und sich überdies ständig wandeln. Dieser der Rastlosigkeit entsprungene Glaube verhinderte, daß er der konstruktive Anarchist wurde, der er wohl gerne gewesen wäre - noch auf dem Sterbebett bedauerte er, niemals die nötige Zeit gefunden zu haben, eine anarchistische Ethik zu schreiben. Seine Verdienste um den Anarchismus liegen auf ganz anderem Gebiet.

Er war ein Mann, der polarisierend* wirkte in einer Zeit, als die Herausbildung einer eigenständigen anarchistischen Idee aus dem Gedankeneintopf von Aufklärung, Liberalismus, Französischer Revolution, bürgerlicher Reform, Sozialismus und Kommunismus dringend einer Polarisierung bedurfte. Bakunins Begriff von Freiheit war radikaler als bürgerliche Liberalität und großherziger als der der kleinkarierten Sozialisten. Seine Vorstellung von Aktion verabschiedete sich endgültig von parlamentarischen Illusionen und der Hoffnung auf die befreiende Allmacht einer sozialen Bürokratie.

In seinem exemplarischen Konflikt mit Karl Marx sah er mit fast prophetischer Pedanterie die Abscheulichkeiten einer kommunistischen Parteidiktatur voraus, die ein Menschenleben später schreckliche Wirklichkeit werden sollte. Er führte zur Abspaltung des antiautoritären Flügels der Arbeiterschaft und zur Bildung einer eigenständigen anarchistischen Bewegung. War der Anarchismus vorher noch immer mehr eine Angelegenheit schöner Ideen und radikaler Philosophie, so findet er in der Ära Bakunin endgültig den Weg in die Praxis. Das war nicht nur sein Verdienst, und er war beileibe nicht der einzige anarchistische Revolutionär seiner Zeit. Im Gegenteil: Bakunin fand erst relativ spät zu klaren anarchistischen Positionen, und dabei halfen ihm Leute, die schon längst praktische anarchistische Ansätze vorantrieben. Ihnen allen aber gab die lebende Legende Bakunin mit seinem Charisma und seinem Elan erst den nötigen Schwung. Mit seinen internationalen Beziehungen sorgte er überdies im richtigen Augenblick für die richtigen Kontakte.

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Die Anarchisten vor Bakunin waren grosso modo* allesamt Schreibtischrevolutionäre. Mit Bakunin geht der Anarchismus auf die Straße. Er klettert auf Barrikaden und hält Einzug in Fabriken. Als Bakunin 1876 stirbt, hinterläßt er eine organisierte anarchistische Arbeiterbewegung mit regen Sektionen in mehreren Ländern, die die Verbesserung ihrer sozialen Lage mit einer allumfassenden freiheitlichen Vision verknüpft. Bakunins Bedeutung liegt also in seiner Wirkung, und die erschließt sich nur aus seinem Handeln. Anders als bei anderen Anarchisten, liegt der Schlüssel zum Verständnis des ›Phänomens Bakunin‹ in seinem Leben. Das ist der Grund, weshalb wir nicht umhin können, seinen Spuren durch die Zeit zu folgen.

 

  Ein Leben in Aktion  

Daß uns der junge Bakunin in den bewegten achtundvierziger Jahren erstmals über den Weg läuft, ist kein Zufall. Diese Erhebungen ziehen ihn an wie ein Magnet. Als er in Brüssel von den Ereignissen in Paris hört, marschiert er zu Fuß in die französische Hauptstadt. Mit ganzem Einsatz nimmt er an fast allen Aufständen jener Jahre teil und erfährt in diesen unruhigen Zeiten seine charakteristische Prägung, die ihn bald zum meistgesuchten Revolutionär der Epoche macht. Dabei hatte alles so harmlos begonnen, als er 1840 nach Berlin gekommen war, um deutsche Philosophie zu studieren.

 

Michail Alexandrowitsch Bakunin wuchs privilegiert und behütet auf dem Landgut seiner Eltern im Gouvernement Twer auf, wo er 1814 im idyllischen Prjamuchino geboren wurde. Seine Familie gehörte zum alten russischen Provinzadel, zeigte aber deutliche aufklärerische und liberale Tendenzen. So verkehrte Bakunins Vater in einer oppositionellen Geheimgesellschaft und schaffte auf seinem Gut die Leibeigenschaft ab. Der kleine Michail entwickelt schon früh ein ausgeprägtes Interesse für Musik und Mathematik, gepaart mit phantasievoller Abenteuerlust und einem unbändigen Reisetrieb. Vor allem aber tut er sich mit metaphysischer Schwärmerei und einem frühreifen Interesse an philosophischen Fragen hervor.

Im Alter von vierzehn Jahren kommt er - gleichsam automatisch - als Kadett zum Offizierskorps. Der sensible Knabe leidet unsäglich unter Drill und Ungerechtigkeit und lehnt sich innerlich gegen das Militär auf. Mit achtzehn wird er zum Artillerieoffizier ernannt, kurz darauf aber wegen Unbotmäßigkeit in eine kleine litauische Garnison strafversetzt. Hier widmet er sich statt dem Exerzieren lieber dem Studium französischer, deutscher und polnischer Literatur und quittiert schließlich 1835 angewidert den Dienst. Zurück daheim muß er feststellen, daß die wirtschaftliche Situation der Familie nicht zum besten steht. So beschließt er, in Moskau Nachhilfelehrer und Studiosus zu werden.

Dort bleibt er fünf Jahre, widmet sich der Philosophie und stürzt sich in das gärende Brodeln der intellektuellen Kreise, Salons und Zirkel. Er lernt Dichterpersönlichkeiten kennen, liest deutsche Literatur und Philosophie, übersetzt ein bißchen Goethe, Fichte und Hegel, trägt sich mit dem Gedanken, "aus Leidenschaft zur Erkenntnis" Professor zu werden.

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 Es ist Alexander Herzen, der über die Schriften Saint-Simons sein Interesse für den Sozialismus weckt und ihm klar macht, daß er die vieldiskutierten deutschen Philosophen nirgends besser als in Deutschland studieren könne. Glücklicherweise ist Bakunins neuer Freund begütert genug, ihm auch die Reise zu finanzieren. So verläßt Michail Alexandrowitsch 1840 seine Heimat, um endgültig mit seiner Vergangenheit, seiner Familie und seiner adligen Herkunft zu brechen.

Zunächst genießt er das Leben in Preußens Hauptstadt, die damals im Ruf eines bedeutenden Horts modernen Geisteslebens stand. Er verkehrt in Cafes, Theatern, politischen Salons und den Kreisen der Linkshegelianer, lernt fließend Deutsch und hört die Vorlesungen von Werder und Schelling, die jedoch als reaktionär gelten. Mehr angetan ist Bakunin von den Schriften Feuerbachs, die ihn endgültig zum Atheisten machen. Intensiv beschäftigt er sich auch mit den sozialen Utopien der französischen Denker.

Der Salons und des Studierens überdrüssig, übersiedelt er 1842 nach Dresden, der Hauptstadt des Königreichs Sachsen. Seine Professorenpläne hat er aufgegeben. Er lernt Arnold Ruge kennen, den Herausgeber der Deutschen Jahrbücher, der bald zu einem engen Freund wird. Bei ihm veröffentlicht er unter Pseudonym seine erste größere Arbeit, "Über die Reaktion in Deutschland". In diesem, noch stark von Hegels Idealismus geprägten Aufsatz, liefert Bakunin gleichwohl schon einen kompletten Vorgriff auf seine gesamte spätere Philosophie. Sein Leitmotiv ist "die Realisierung der Freiheit", die "auf der Tagesordnung der Geschichte" stehe, und zwar als Revolution, die alles umwälzen und erneuern müsse. Dabei dürfe man nicht auf das Alte, das Unfreie, das Faule aufbauen, sondern müsse damit tabula rasa* machen. Das Traktat schließt mit jenen Sätzen des jungen Radikalen, die wohl am meisten von allen zitiert worden sind: "Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. - Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust."

Bakunin hatte sich endgültig der Revolution verschrieben.

In Dresden teilt er ein Zimmer mit dem aus Preußen ausgewiesenen politischen Lyriker Georg Herwegh. Beide schwärmen für die revoltierenden Polen, verkehren in den gleichen revolutionären Zirkeln, fühlen sich aber zunehmend von den philisterhaften deutschen Verhältnissen abgestoßen. Inzwischen wurden die "Jahrbücher" wegen Bakunins Aufsatz verboten, und auch die zaristische Geheimpolizei war auf den Dissidenten aufmerksam geworden. So reisten beide in die Schweiz.

Dort gab es den kommunistischen "Bund der Gerechten", dessen Programm der Schneidergeselle Wilhelm Weitling verfaßt hatte, den Bakunin 1843 in Zürich kennenlernt. Zwar respektieren sich der Arbeiter und der Intellektuelle und versuchen, voneinander zu lernen. Bakunin ist beeindruckt von dem schlichten proletarischen Charakter und gesteht gerne zu, daß "alle befreienden Revolutionen" nur vom Volk, nicht von intellektuellen Avantgarden ausgehen können. Gerade deshalb aber kritisiert er in einer Artikelserie des Schweizer Republikaner bereits das noch ganz vage skizzierte kommunistische Staatsideal: "Es wäre keine freie Gesellschaft, es wäre keine echte, lebendige Gemeinschaft freier Menschen, sondern durchaus ein Regime von unerträglicher Unterdrückung, eine Herde durch Zwang zusammengehaltener Tiere, die nur die materielle Befriedigung im Auge hätte."

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Eine Verhaftung Weitlings bringt die zaristischen Behörden wieder auf Bakunins Spur; seine Auslieferung wird verlangt. Bakunin verweigert die ›freiwillige Rückkehr‹, und wird nun offiziell zu dem, was er sein Leben lang bleiben sollte: politischer Emigrant. Er flieht über Brüssel nach Paris und wird daraufhin in Abwesenheit verurteilt: Verlust des Adelstitels sowie aller Bürgerrechte und Deportation nach Sibirien.

In Brüssel macht er die folgenreiche Bekanntschaft des polnischen Historikers und Revolutionärs Ignacy Lelewel. Dessen slawophile* Vision einer demokratischen Bauernrepublik beeindruckt ihn sehr, wobei er den engen Nationalismus der ganzen Sache in typisch Bakuninscher Begeisterung einfach ausblendet. Der Gedanke an eine generelle Erhebung der slawischen Völker, denen er die Kraft zutraut, als ungezähmter Motor einer generellen Revolution gegen jede Tyrannei zu wirken, nimmt Gestalt an und wird ihn für viele Jahre nicht mehr loslassen.

In Paris nimmt er sein Emigrantenleben wieder auf, lernt George Sand, Victor Hugo und Lamenais kennen, vor allem aber Proudhon. Beide Männer haben sich sehr viel zu geben. Oft treffen sie sich bei Adolf Reichel, einem gänzlich unpolitischen Musiker und lebenslangen Freund Bakunins aus Dresdner Tagen. Dort lauschen sie der Musik und tauschen sich in endlosen Gesprächen aus.

Zur gleichen Zeit lernt Bakunin auch Marx kennen, dessen Gelehrsamkeit er bewundert, dessen technokratische Kälte ihn jedoch abstößt. Ihr Umgang bleibt ebenso freundlich wie frostig. Obwohl es ja noch nicht um ideologische Differenzen oder verschiedene Etikettierungen ging - die Spaltung in ›Kommunisten‹ und ›Anarchisten‹ sollte erst achtzehn Jahre später erfolgen - tun sich deutliche Unterschiede auf. Sie scheinen zunächst eher charakterliche Ursachen zu haben. "Unsere Temperamente vertrugen sich nicht", schreibt Bakunin. "Er nannte mich einen sentimentalen Idealisten, und er hatte recht; ich nannte ihn einen perfiden und tückischen eitlen Menschen, und ich hatte auch recht." Hinter dieser Spannung zwischen zwei Männern, die eigentlich ›politische Freunde‹ waren und dies auch noch recht lange blieben, steckte natürlich eine tiefere Bedeutung, die mit den Jahren zunehmend klarer wurde. Ricarda Huch trifft in ihrer Bakunin-Biographie den Kern der Sache, wenn sie schreibt: "Dem einen kam es auf Organisation, Gütererzeugung, Betriebe an, dem anderen auf natürliches Menschenleben.".

Im November 1847 hält Bakunin auf Einladung polnischer Emigranten seine verhängnisvolle ›Polen-Rede‹. In ihr ruft er die unter russischer Besatzung lebenden Polen zum gemeinsamen Aufstand mit den russischen Regimegegnern auf, der alle Slawen mitreißen und alle Despoten hinwegfegen sollte. Als Ziel sieht er eine freie Föderation aller slawischen Völker. Man hat oft darüber gerätselt, ob Bakunin Panslawist* gewesen sei; Kritiker haben ihm das unumwunden vorgeworfen. Es trifft jedoch nicht den Kern seines Engagements, denn Bakunin glaubte nicht an die Überlegenheit einer slawischen Rasse, ebensowenig wie heute diejenigen, die Kämpfe in der Dritten Welt unterstützen, indianische, molukkische oder eritreische Rassisten sind.

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Natürlich verstand er als Russe das slawische Naturell besser als alles andere, aber das war nicht sein Antrieb. Im Grunde war Bakunin ein Revolutionär, der stets auf der Suche nach einem revolutionären Subjekt war, bei dem der Funke seiner Vision zünden könnte. Wie ein Spieler setzte er dabei mal auf dieses, mal auf jenes Pferd - wo immer er ein Potential für Revolte und Freiheit auszumachen glaubte - und die von Rußland und Österreich unterjochten slawischen Völker muckten ja in der Tat überall auf. Aber Bakunin hoffte ebenso wie auf Polen und Tschechen zu anderen Zeiten auch auf Deutsche, Italiener, Franzosen oder Spanier, auf das städtische Proletariat oder die Bauern, auf die deklassierte Jugend Rußlands oder das "Lumpenproletariat". Dabei ging es ihm immer um "das Volk", um die unterdrückten und arbeitenden Menschen - für den dünkelhaften, edelproletarischen "Klassenstandpunkt", insbesondere bei der deutschen Sozialdemokratie, hatte er nur Spott übrig. Bakunin seinerseits war bei der Beurteilung sozialer Bewegungen von einer geradezu naiven Großherzigkeit und wurde nur allzu leicht Opfer der eigenen Begeisterung.

Der ›Polen-Rede‹ folgte die sofortige Ausweisung aus Frankreich, die der russische Botschafter verlangt hatte. In geschickter Taktik ließ dieser auch noch das Gerücht ausstreuen, Bakunin sei ein in Rußland vorbestrafter Dieb und als agent provocateur im Dienste des Zaren unterwegs. Die Rechnung des Diplomaten ging auf, denn prompt kolportierte* Marxens Neue Rheinische Zeitung den Klatsch. Zwar gab es später Dementi und Entschuldigung, aber der Makel blieb und das Gerücht hielt sich lange frisch. Bakunins Gegner wärmten es bei günstigen Gelegenheiten immer mal wieder auf.

Der geächtete Revolutionär weicht nach Brüssel aus, aber kurz darauf wird der König, der ihn auswies, durch die Februarrevolution gestürzt. Frankreich ist Republik, Bakunin kehrt sofort zurück und tummelt sich im revolutionären Paris. Er ist in seinem Element, beehrt die Barrikaden mit seiner Anwesenheit, agitiert die Arbeiter und läßt sich von ihnen agitieren. Er will den revolutionären Funken nun auch nach Rußland und Polen überspringen lassen. Die republikanische Regierung unterstützt ihn hierbei mit Geld und Pässen - vielleicht, um ihn loszusein, denn die neue Administration war bedeutend moderater als dieser russische Emigrant. Der frischgebackene Polizeipräsident soll damals gesagt haben: "Ein solcher Mann ist unschätzbar am ersten Tag der Revolution, am zweiten muß man ihn aber erschießen."

 

   Bakunin bricht in Richtung Osten auf  

Sein Weg durch Deutschland führte ihn auch nach Frankfurt, wo die Demokraten in der Paulskirche versuchten, ein gesamtdeutsches Parlament auf die Beine zu stellen. In einem Empfehlungsschreiben hatte Herwegh seinen "treuesten Freund" Bakunin angekündigt: "Er bringt noch einen Sack Revolutionsluft mit sich, um Eure konstitutionelle Atmosphäre zu reinigen." Doch von dem professoralen Palaver enttäuscht schreibt Bakunin an seinen Freund: "Ich glaube nicht an Verfassungen noch an Gesetze. Die beste Verfassung kann mich nicht befriedigen. Wir brauchen etwas anderes: den Sturm und das Leben, eine neue Welt, in der das Fehlen von Gesetzen die Freiheit erschaffen wird."

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Die unter österreichischer Herrschaft lebenden Tschechen, Slowaken und Mähren hatten es abgelehnt, sich am Frankfurter Vorparlament zu beteiligen. Stattdessen luden sie alle Slawen für den Juli zu einem Kongreß nach Prag ein. Da der polnische Aufstand in Posen inzwischen gescheitert ist, reist Bakunin agitierend und konspirierend über Leipzig, Berlin und Breslau nach Prag, wo er erneut seine Idee einer demokratischen Konföderation der slawischen Völker aufleben läßt, in der alle Klassenprivilegien abgeschafft sein sollten.

Obwohl er in seinen radikalen Freiheitsforderungen zurücksteckt und eine Art Übergangs­diktatur vorschlägt, konnte er sich gegen die Haupttendenz des Kongresses, mit dem Habsburger Herrscherhaus zu paktieren, nicht durchsetzen. Ein dilettantisch inszenierter Aufstand der Prager Studentenschaft wird nach fünf Tagen niedergeworfen. Bakunin hatte vergeblich vor diesem Abenteuer gewarnt, sich dann aber doch helfend zur Verfügung gestellt. Am 16. Juni kam das Ende für Aufstand und Kongreß. Bakunin mußte aus Prag fliehen.

Obwohl inzwischen in Paris die sozialen Kräfte der Februarrevolution in blutigen Straßenkämpfen niedergerungen wurden, und Cavignac Tausende Arbeiter massakrieren läßt, treibt Bakunin die revolutionäre Konspiration weiter voran. Von Breslau aus knüpft er Fäden zu Gruppen im russischen Untergrund, gründet eine slawische ›Geheimgesellschaft‹, organisiert den Schmuggel von Waffen und Propagandaschriften. Kein geringerer als Brockhaus druckt ihm diese als Gebetbücher getarnten Traktate, die in mehreren slawischen Sprachen erscheinen. Aus Berlin, wo er Bettina von Arnim und Max Stirner kennenlernt, muß er erneut fliehen, denn wieder sind ihm die russischen Behörden auf den Fersen, und Preußen weist ihn aus. Im Herbst wurde auch der Deutschen Revolution überall der Garaus gemacht; die Fürsten sitzen fürs erste wieder fest im Sattel.

Bakunin verbringt den Winter schreibend im Provinznest Köthen und zieht im Frühjahr 1849 unter falschem Namen nach Dresden, wo er sich mit seinem Nachbarn, dem jungen Kapellmeister Richard Wagner anfreundet. Als ob er Revolutionen anzöge, erhebt sich am 3. Mai das Volk gegen den Sächsischen König, der zuvor das Parlament aufgelöst hatte und nun überstürzt flieht. Eine provisorische Regierung wird gebildet; sie überträgt Bakunin die militärische Führung des Aufstandes, der gegen die anrückenden preußischen Truppen allerdings keine Aussicht auf Erfolg hat. Dennoch organisiert der ehemalige Artillerieoffizier den Widerstand "mit Geschick und Kaltblütigkeit". Über eine Woche kann sich die Stadt halten. Mit 1800 Revolutionären, die sich bald darauf zerstreuen, gelingt der Ausbruch aus der Umzingelung. Am 10. Mai wird Bakunin in einem Chemnitzer Gasthof aus dem Tiefschlaf gerissen und verhaftet - er war eine Woche lang ruhelos auf den Beinen gewesen.

Der Russische Zar ist entzückt, aber er muß sich noch gedulden, denn zunächst wird der Gefangene in Preußen angeklagt und am 14. Januar 1850 zum Tode verurteilt. Gleichzeitig mit seiner Begnadigung zu lebenslänglicher Festungshaft erfährt er von Österreichs Auslieferungs­begehren, wohin er im Mai abgeschoben wird. Wegen des Prager Aufstandes erneut zum Galgen verurteilt, verbringt er über ein Jahr in schwerer Haft. In der Festung Olmütz wird er mit Ketten an die Wand geschmiedet und unternimmt einen Selbstmordversuch. Im Oktober 1851 wird Bakunin an Rußland ausgeliefert, wo er ohne Prozeß sechs

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Jahre unter harten Bedingungen in Haft bleibt. Diese Jahre ruinieren seine Gesundheit. In der Schlüsselburg befällt ihn Skorbut und Wassersucht, die Zähne fallen ihm aus. Unermüdlich interveniert seine Familie, um eine Begnadigung zu erreichen. Beim Tode des alten Zaren hoffte man auf eine Amnestie, aber der Nachfolger, Alexander II., streicht eigenhändig Bakunins Namen aus der ihm vorgelegten Liste. Endlich, 1857, begnadigt man ihn – zur Verbannung nach Sibirien.

Als 1917 die zaristischen Archive geöffnet wurden, fand sich ein Brief Bakunins, der als die sogenannte "Beichte" bekannt wurde. Der Zar hatte ihn bereits zu Beginn seiner Haft aufgefordert, sich ihm mit der Aussicht auf Milde "wie ein geistlicher Sohn" anzuvertrauen. Daraufhin verfaßte der Häftling ein ausführliches Dokument, angesiedelt "zwischen Dichtung und Wahrheit", ohne jedoch seine Freunde noch seine Ideen zu verraten. Stattdessen stellte er geschickt seine charakterlichen ›Schwächen‹ in den Vordergrund, und appellierte an die mildtätigen Gefühle des Zaren – ohne Erfolg, wie wir wissen. Als Jahre später seine Begnadigung erwogen wurde, kommentierte der Minister Gortschakow das Dokument mit folgenden Worten: "Aber ich sehe in diesem Brief nicht die geringste Reue". Trotzdem legen ihm bis heute seine Gegner die "Beichte" als Schwäche, Verrat, ja als Kollaboration aus. Dabei handelt es sich um das taktische Meisterstück eines lebendig Begrabenen, der zwar Zerknirschung heuchelt, gleichzeitig aber dem Zaren in fast belehrendem Ton unangenehme Wahrheiten zu sagen wagt.

In Sibirien verbringt er die nächsten vier Jahre in relativer Bequemlichkeit und wohlverdienter Ruhe, zunächst in Tomsk, später in Irkutsk. Er knüpft Kontakte, versucht, nicht ohne Erfolg, den Gouverneur für föderalistische Ideen zu gewinnen und gibt Französischunterricht. Dabei lernt er die junge Antonia Kwiatkowska kennen, und beide entwickeln eine starke Zuneigung zueinander. 1858 heiratet das ungleiche Paar und bleibt in sehr lockerer aber respektvoller Form bis zu Bakunins Tod miteinander verbunden. Die Tatsache, daß die drei Kinder, die Antonina bekam, nicht Bakunin zum Vater hatten, und dies vom Ehegatten offenbar gebilligt wurde, hat zu Spekulationen über angebliche Impotenz oder homoerotische Neigungen Bakunins geführt. Das ist ebensogut möglich wie die naheliegende Vermutung, daß das Ehepaar Bakunin bewußt eine sehr offene Beziehung lebte, was bei ihrem Altersunterschied, ihren Vorstellungen von Freiheit, den unterschiedlichen Temperamenten und jahrelangen Trennungen nicht verwundern würde.

Als frischgebackener Ehemann jedenfalls genoß Bakunin zunehmendes Vertrauen bei den Behörden und eine gewisse Freizügig­keit, die er 1861 zu seiner spektakulären Flucht um den halben Erdball nutzte. Auf einem amerikanischen Walfänger­schiff ging es via Japan in die USA, bei deren Durchquerung er - naturellement! - bei jeder Gelegenheit politische Kontakte knüpfte. Schließlich schiffte er sich wieder nach Europa ein, und Ende 1861 meldete er sich voll Ungestüm bei Herzen in London zurück. Dem Einreisebeamten antwortete er auf die Frage nach dem Beruf: "Revolutionär." Dieser glaubte wohl an einen Scherz, musterte die abgerissene Kleidung Bakunins und antwortete: "Genauso habe ich mir einen Revolutionär vorgestellt."

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     Aufstand, Organisation und die Lust an der Verschwörung   

Nahezu 12 Jahre war Bakunin von der politischen Bühne Europas verschwunden gewesen. Vieles hatte sich seither verändert. Zwar gab es immer noch Aufstände und Revolten, auch die Polen muckten erneut auf, aber der Elan der achtundvierziger Jahre war einer allgemeinen Ernüchterung gewichen. Revolution schien doch mehr zu sein als die Inszenierung eines erfolgreichen coup d'etat auf der Straße. Längerfristige Perspektiven waren gefragt. Welche Volksschichten könnten eine Revolution wünschen, durchführen und tragen? Wollten die Arbeiter wirklich Freiheit oder nur mehr Brot? Die ›Organisation des Proletariats‹ rückte auf die Tagesordnung.

Bakunin hatte Schwierigkeiten, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Nicht, weil er die Bedeutung der Arbeiterschaft verkannt hätte, sondern weil er den gängigen Organisationsformen mißtraute. Zu Recht witterte er die Gefahr eines lauwarmen Reformismus, der für eine wirkliche Befreiung der Gesellschaft keinen Platz ließe.

Man kann den Rest von Bakunins Leben als den Versuch interpretieren, eine theoretische und praktische Synthese zwischen Massenbewegung und Aufstand, zwischen kleinen Schritten und großer Revolution zu suchen. Sein Ziel war im Grunde einfach: den naheliegenden Wunsch nach alltäglichen Verbesserungen mit der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung unter einen Hut zu bringen - die Verschmelzung von Status quo* und Utopie in einer praktischen Strategie. Am Ende seines Lebens sind die Grundlagen für diese Synthese gelegt, und im neuen Jahrhundert wird sie die libertären Ideen in der Form des Anarchosyndikalismus zum ersten Mal zu einem durchschlagenden Erfolg verhelfen.

 

Bakunins weiterer Lebensweg beweist, wie schwer es ihm fiel, dieses einfache Ziel anzusteuern, gab es doch da so viele widersprüchliche Faktoren...!

Zum Beispiel seine Vorliebe für den Aufstand, den er als Initialzündung zur allgemeinen Erhebung für notwendig hielt. Entschlossene Revolutionäre sollten blitzschnell vollendete Tatsachen schaffen: wichtige Gebäude besetzen, Akten - insbesondere die Grundbücher! - vernichten, revolutionäre Körperschaften bilden, die Verteidigung organisieren und das Leben neu strukturieren. In einer Zeit, in der das Pferd das gängige Transportmittel war, und ein Regiment Soldaten zum Anrücken mehrere Tage brauchte, war eine solche Taktik noch nicht so aussichtslos, wie sie uns heute erscheinen mag. Auch gab es, zumindest qualitativ, eine Parität der Waffen.

Dagegen stand die Organisation, die bei Bakunin eine ebenso große Rolle spielt. Das war ein langfristiges Projekt, das Geduld, kleine Schritte und Augenmaß erforderte - nicht gerade Bakuninsche Tugenden. Trotzdem hat er die enorme Wichtigkeit erkannt, eine Organisation aufzubauen, die den elenden Massen der Arbeiter als Werkzeug zur Überwindung ihrer Lage dienen könnte. Sein Engagement in der Internationalen Arbeiter Assoziation war nicht nur stark, sondern auch prägend: Bakunin verschaffte in der ›Internationale‹ dem Primat von Freiheit, Autonomie und Spontaneität Gehör.

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Beides aber schien ihm nicht zu genügen. Aufstand war zu kurzatmig, Organisation zu langatmig. Die Barrikade brachte spontan unerfahrene Dilettanten auf die Beine, die im entscheidenden Augenblick versagten. Die Organisation brachte zwar gute Leute hervor, konnte sich aber nicht erlauben, militant und konspirativ aufzutreten, denn sie wirkte offen und legal. Die Lösung dieses Widerspruchs scheint Bakunin zeitlebens in dem Aufbau von Geheimgesellschaften gesucht zu haben - seinen berühmten und berüchtigten "Bruderschaften", "Ligen" und "Allianzen". Sie sind auch innerhalb des Anarchismus oft auf Unverständnis und kaum verhohlenes Entsetzen gestoßen. Tatsächlich stehen sie eher in der Tradition von Avantgarde und Elitedenken als der libertärer Ideale. Sie lassen an ›Berufsrevolutionäre‹ denken und ähneln in letzter Konsequenz der Struktur einer Kaderpartei. Den Preis dafür hat Bakunin, wie wir sehen werden, mit dem verhängnisvollen Abenteuer bezahlen müssen, auf das er sich mit dem Revolutionshochstapler Netschajew einließ, dem es mühelos gelang, den alten Kämpen um den Finger zu wickeln und für seine Machenschaften einzuspannen. Man sollte allerdings nicht den Fehler machen, Bakunins Vorliebe für Geheimbündelei nach dem zu beurteilen, was darüber zu Papier gebracht wurde. Das klingt in der Tat erschreckend autoritär und steht im Gegensatz zu allem, was er ansonsten lebte, dachte, tat und schrieb. Dennoch: Was ist davon zu halten, wenn ein Gralshüter der Freiheit plötzlich von einer "unsichtbaren Diktatur" spricht?

Eigentlich ein unbeholfener aber aufrichtiger Versuch, ein freies Ideal mit unfreien Mitteln zu erreichen, der sich glücklicherweise in der anarchistischen Bewegung nicht durchgesetzt hat. Vergessen wir aber nicht, daß in Zeiten von Illegalität und Verfolgung eine offene ideallibertäre Struktur kaum möglich ist. Internationale Organisation, Diskussion, Propaganda, Kommunikation, Koordination und Subversion verlangten nach einem Netzwerk, das nicht offen vor den Augen der Geheimpolizei ausgebreitet liegen durfte. Daß Bakunin hierbei versuchte, kleine verschworene Zellen zu bilden, die sich untereinander nur über Mittelsmänner kannten, läßt weniger auf Autoritätsgeilheit schließen als vielmehr auf den Wunsch, die gefährdeten Menschen zu schützen.

Interessanterweise aber hat Bakunin aus dieser Not keine Tugend gemacht. Man merkt ihm seine geistigen Bauchschmerzen geradezu an, wenn er immer wieder betont, daß Geheimgesellschaften nur zur Initialzündung für die Revolution dienen sollen, in der dann das Volk alleine über sein Schicksal zu bestimmen habe. Keinesfalls dürfe der Revolutionär irgendwelche Privilegien, materiellen Vorteile oder Ehren genießen, niemand dürfe eine Funktion auf Dauer bekleiden und letztlich müsse sich der Revolutionär dem souveränen Volkswillen unterordnen und nicht umgekehrt. Schon gar nicht war Bakunin selbst der ›Chef‹ all dieser Organisationen, wie die Beispiele belegen, in denen er überstimmt oder übergangen wurde. Das sind schon deutliche Unterschiede zum Leninschen Konzept der Kaderpartei, in der sich tatsächlich die Not zur Tugend erhob. Gewiß hatte für Bakunin das Verschwörerische immer auch einen Hauch von Revolutionsromantik, und sicher hat er sich gelegentlich mit dem konspirativen Gebrauch von Chiffriercodes und Geheimtinte über herbe Rückschläge hinweggetröstet und -getäuscht. Auch existierten manche dieser Gesellschaften wohl eher in der Phantasie des Meisters als in der Realität.

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 Tatsache aber bleibt, daß aus dem unentwirrbaren Spinnennetz Bakuninscher Verschwörungsfäden ein ganz ausgezeichnetes System internationaler Verbindungen hervorging, das in entscheidenden Momenten immer wieder gute Dienste leistete. Hier reifte eine neue Generation von Menschen heran, die in den nächsten Jahrzehnten die anarchistische Idee in alle Welt hinaustragen und zu Protagonisten der kommenden Kämpfe werden sollten. Hier entstanden die Kontakte, die durch die Entsendung eines einzelnen Menschen zur Bildung einer ganzen Sektion in einem neuen Land führten, wie im Falle von Bakunins Emissär Fanelli, der in Spanien innerhalb weniger - Monate einen wahren Massenboom auslöste.

Bakunins Traum, mittels einer recht autoritären Organisationsform in Europa die generelle antiautoritäre Revolte zu entfesseln, ging nicht in Erfüllung. Aber sie legte wichtige Grundlagen für spätere Revolutionen. Schon deshalb sollte, bei aller berechtigten Kritik, die Geheimbündelei nicht einzig daran gemessen werden, wieweit sie mit der Gedankenwelt libertärer Ideale konform geht.

 

    Geburtsstunde der anarchistischen Bewegung   

Von London aus beginnt Bakunin unverzüglich wieder seine Fäden zu spinnen, unzufriedene Slawen um sich zu sammeln und zu schreiben. In Rußland macht eine von seinen Ideen inspirierte Oppositionsbewegung namens "Boden und Freiheit" von sich reden, und 1863 erlebt Russisch-Polen erneut einen Aufstand und die Ausrufung einer provisorischen Regierung. Die Hilfsexpedition, mit der Bakunin per Schiff von London aus aufbricht, scheitert jedoch schon in Schweden: die Revolutionäre hatten sich unterwegs zerstritten.

In London aber hatte Bakunin die Bekanntschaft des italienischen Revolutionärs Giuseppe Mazzini gemacht. Mit ihm sollte ihn, trotz grundlegender politischer Differenzen, eine lange Freundschaft verbinden, ähnlich seinem von Respekt und Anerkennung getragenen Verhältnis zum italienischen Nationalhelden Giuseppe Garibaldi. Bakunin entdeckt sein Herz für Italien und die Italiener, und bald beginnt er für sie ebenso zu schwärmen wie für die Slawen. Die nächsten Jahre lebt er in Florenz, später in Neapel, immer von Reisen unterbrochen, während der er auch wieder mit Marx und Proudhon zusammentrifft.

Es sollten außerordentlich fruchtbare Jahre werden: vielerorts findet er schon eine aktive anarchistische Bewegung mit reifen Ideen vor. Von einem Denker und Organisator wie Carlo Piscane kann sogar ein Bakunin vieles lernen; sein etwas rustikaler Anarchismus verfeinert sich zu ausgereiften Ideen. Er verfaßt eine Reihe kleinerer, aber sehr klarer Aufsätze, in denen er auch Ideen Proudhons aufgreift und weiterführt. Diese ›Neapolitanischen Schriften‹ wurden für lange Zeit zur Wurzel jeder weiteren Entwicklung des Anarchismus. In ihrer einfachen Sprache leicht verständlich, erlangen sie - nicht nur in Italien - eine ungemeine Popularität. Bakunins "Revolutionärer Katechismus" von 1865/66 - nicht zu verwechseln mit dem von Netschajew inspirierten "Katechismus des Revolutionärs" - gehört zu den radikalsten politisch-humanitären Utopien der Literatur. Die Broschüre löst in Italien unter der revolutionären Jugend, die von den religiösen und nationalen Unter-

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tönen Mazzinis und Garibaldis irritiert ist, ein lebhaftes Echo aus. Bakunin hat nun wieder Substanz für seine Geheimgesellschaften. Die "Internationale Bruderschaft" bekam spürbar Leben eingehaucht; Malatesta, Fanelli, Francia und Costa, die allesamt bedeutende Anarchisten werden sollten, erlebten hier ihre libertäre Initiation*.

Mit dem Umzug in die Schweiz beginnt für Bakunin 1867 die Ära der politischen Organisation, die begleitet ist von spektakulären Auftritten in der Arena internationaler Versammlungen und Kongresse. Im Schweizer Jura hatte der Anarchismus, besonders in der dortigen Uhrenindustrie, eine breite Anhängerschaft gewonnen; Bakunins Freund James Guillaume gehörte zu ihren klügsten Köpfen und fähigsten Organisatoren. Die sehr aktive Jurassische Föderation gab die Zeitung Liberté heraus, Bakunin wurde ihr Redakteur.

Ebenso wie Sozialisten aller Couleur, waren Anarchisten von Anfang an auch in der "Internationalen Arbeiter-Assoziation" organisiert. 1868 treten auch Bakunin und seine Anhänger bei. Parallel dazu wirkten sie weiterhin in der "Liga für Frieden und Freiheit", in der "Bruderschaft" und in der im gleichen Jahr gegründeten "Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie", was Marx, der die "Internationale" auf seinen Kurs einschwören wollte, zum Anlaß nahm, um gegen Bakunin und die "Antiautoritären" vorzugehen. In Wirklichkeit ging es um die politische Frage, ob das Ziel der Internationalen ein autoritärer oder ein freiheitlicher Sozialismus sein sollte. Es kam zu einem jahrelangen Hickhack, an dessen Ende der Kongress von St. Imier stand, auf dem sich die libertäre Arbeiterbewegung in einer eigenen Internationale von den autoritären und reformistischen Sozialisten abnabelte. Dieser i$. September 1872, an dem sich in dem kleinen schweizer Industriestädtchen Delegierte aus Spanien, Italien, Frankreich, der Schweiz und Amerika trafen, um eine autonome, föderalistische, libertäre und revolutionäre Organisation zu bilden, gilt seither als das ›offizielle‹ Geburtsdatum einer organisierten und internationalen anarchistischen Bewegung. Michail Bakunin war ihr Architekt, ihr Mentor und ihr Motor.

 

Organisationsarbeit und die Abwehr von Intrigen aber war nicht alles, was der gealterte Revolutionär in diesen Jahren trieb. Noch 1870, beim Ausbruch des deutsch-französischen Krieges, hatte er große Hoffnungen auf einen Aufstand in Frankreich gegen den unfähigen Louis-Napoleon gesetzt. Tatsächlich gärte es an vielen Orten; es kam zu Unruhen in Lyon, Marseille und schließlich, 1871, in Paris, die in der berühmten Commune gipfelte. Nur zu gern hätte Bakunin eine allgemeine Revolte in eine soziale Revolution verwandelt. Er läßt seine ›Beziehungen‹ spielen und reist nach Lyon, wo sich bereits ein "Wohlfahrtsausschuß" konstituiert hat, der sich nach seiner Ankunft flugs in ein "revolutionäres Komitee" verwandelt. Am 14. September wird das Stadthaus erobert. Eine Proklamation, die auch Bakunins Unterschrift trägt, erklärt die Abschaffung von Staat, Steuern und Zinsen und ruft zu einer "Föderation revolutionärer Kommunen" auf. Unter dem Feuer der Nationalgarde bricht dieser Aufstand ebenso rasch zusammen wie die vielen anderen schlecht organisierten coups ohne ausreichende Basis, an denen er zuvor teilgenommen hatte. Bakunin wird gefangen, aber seine franctireurs* hauen ihn wieder raus, und er kann in die Schweiz entkommen.

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Er dürfte kaum geahnt haben, welcher anderen Gefahr er entronnen war, denn der Zar hatte die Preußen gebeten, Bakunin zu verhaften, falls er ihnen in Frankreich in die Hände fiele. Otto von Bismarck ließ dem russischen Gesandten antworten: "Unsere Aufmerksamkeit ist bereits auf die genannte Person gerichtet, und wir werden, sobald sie in unsere Hände fällt, sie in Haft halten und Mitteilung nach Petersburg machen."

Bakunins Gesundheitszustand war inzwischen bedenklich geworden. Ruhelos zieht er in der Schweiz umher, immer auch, wie sein ganzes Leben lang, von finanziellen Sorgen gedrückt. In niedergeschlagener Stimmung verbringt er den Winter schreibend in Locarno. Als ihn im Frühjahr erste Nachrichten von der Pariser Commune erreichen, flackert trotz aller Skepsis seine Hoffnung wieder auf, und er begibt sich für alle Fälle an die französische Grenze. Er ist aber zu krank zum Reisen und erfährt bald, daß auch dieser Aufstand, der diesmal tatsächlich von der Masse der Bevölkerung getragen war, nach zwei Monaten erbittertem Widerstand besiegt wurde.

1873 zieht sich Bakunin aus der Politik zurück. Er ist alt, verbraucht, krank und enttäuscht. Er verläßt die Internationale und will sich nur noch dem Schreiben widmen. Marxens Verleumdungen haben seinem Ruf geschadet, und noch immer fällt der Schatten einer Affäre auf ihn, in die er sich knapp vier Jahre zuvor in unglaublicher Einfalt und mit dem für ihn typischen blinden Vertrauen selbst hineinlaviert hatte: der ›Affäre Netschajew‹.

 

     Verrat an der Seele: Die Affäre Netschajew   

 

Im Frühjahr 1869 war bei Bakunin ein junger Mann aufgetaucht, der sich als Delegierter des Moskauer Komitees einer "großen russischen Geheimgesellschaft" ausgab. Dieser Sergej Netschajew berichtete von konspirativen Netzen und Scharen opferbereiter Jugendlicher, die nur darauf warteten, ihr Leben der Revolution zu weihen.

In Wirklichkeit hatte er sich in oppositionellen Studentenkreisen bewegt, ein bißchen den Verschwörer gespielt und sich die krause Theorie eines gnadenlos harten Revolutionärstums zurechtgelegt, die er aus Babeuf, Buonarotti, Bakunin und dem "Kommunistischen Manifest" von Marx und Engels destilliert hatte.

Von dem legendären Bakunin erhoffte er sich Prestige und Hilfe, konkret wollte er Geld, Ausweise, Propagandamaterial. Bakunin war von dem mit ungewöhnlicher Suggestivkraft begabten jungen Mann begeistert und griff die vermeintlich guten Nachrichten aus Rußland mit derselben naiven Hoffnung auf, wie er das bei allem tat, was nach Revolution roch.

Mehr noch - er scheint an dem Asketen mit den märtyrerhaften Allüren einen Narren gefressen zu haben. Möglicherweise projizierte er in den jungen Helden auch die Enttäuschung des alten Revoluzzers, und band all seine Hoffnungen an das Phantom jener angeblichen Organisation. Jedenfalls unterstützte er ihn bei der Herstellung einer Reihe von Broschüren, die sich an die Jugend, an die Offiziere und an die Studenten wandten. Sie erschienen Ende 1869, um nach Rußland geschmuggelt zu werden. Eine davon, die "Prinzipien der Revolution", liest sich wie ein Horrormanual; "Gift, Dolch, Strick – die Revolution rechtfertigt alle Mittel ohne Unterschied".

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Ihre Botschaft besteht darin, daß die Revolution ein hehres Ziel sei, das jedes Mittel heilige und jedes Opfer verlangen dürfe. Sie erkenne "keine andere Tätigkeit als die Sache der Zerstörung" an. Eine unter dem Titel "Katechismus des Revolutionärs" bekannt gewordene Broschüre listet die "Regeln, nach denen sich der Revolutionär richten muß" auf. Ihr zufolge müsse eine Elite von "Geweihten" das Volk führen. Ein Revolutionär dürfe keine menschlichen Regungen entwickeln, und habe emotionslos und gehorsam der Sache zu dienen. Eine solche Mischung aus macchiavellischer Kälte und jesuitischem Fanatismus widerspricht vollständig dem, was Bakunin sein Leben lang vertrat und lebte. Die Autorenschaft der Broschüren wurde nie geklärt.

Fest steht, daß Netschajew es geschickt verstand, zu suggerieren, Bakunin sei der Autor. Gewisse Redewendungen sind so eindeutig seinem Stil entlehnt, daß noch heute Nachdrucke und Übersetzungen unter Bakunins Namen kursieren. Fest steht ferner, daß Bakunin sich im Juni 1870 in einem Brief vom Umfang eines Taschenbuchs von Netschajew distanzierte und den Inhalt dieser Traktate gehörig auseinandernahm. Sein Fazit: Die Gedanken des "furchtbaren Ehrgeizlings" seien "für den Leib einzig und allein Gewalt, für die Seele die Lüge". Aber da war es schon zu spät. Inzwischen nämlich war Netschajew mit dem brisanten Material nach Moskau gereist, um Zellen aufzubauen. Er agiert im Namen eines geheimnisvollen Zentralkomitees; ein von Bakunin unterschriebener Ausweis verschafft ihm Autorität. Als ein Genösse Verdacht schöpft und die Existenz der Organisation anzweifelt, wird er "als Verräter verurteilt" und hingerichtet. Die Gruppe fliegt auf, Netschajew kann fliehen und meldet sich erneut bei Bakunin, ohne die Vorfälle auch nur zu erwähnen. Erneut dringt er in den alten Mann, sich nunmehr ganz "in den Dienst der Sache zu stellen". Es kam jedoch zu keinen weiteren Netschajewschen Projekten mehr, denn wenig später wurde er verhaftet und an Rußland ausgeliefert – seine Moskauer Machenschaften wurden publik. Erst jetzt ging Bakunin gänzlich auf, mit wem und auf was er sich da eingelassen hatte. Zu spät, denn mittlerweile war der große, legendäre Revolutionär in weiten Kreisen als Menschenverachter diffamiert und als Abenteurer verspottet. Es war auch kaum mehr zu verhindern, daß diese Eskapaden dem Anarchismus angelastet wurden.

Netschajew wurde abgeurteilt und starb 1882 an Skorbut und Unterernährung im Gefängnis. Für viele wurde er zum Märtyrer und Helden. Nicht wenige, die in späteren Jahren die sogenannte "Propaganda der Tat" praktizierten, griffen auf jene Schriften zurück, mit deren Hilfe es ein leichtes war, einem gewöhnlichen Raubmord ein ›anarchistisches‹ Etikett aufzukleben.

 

Kein Heldentod

In seinen Schweizer Jahren, den letzten seines Lebens, entstanden Bakunins wichtigste Schriften, die fast alle fragmentarisch bleiben, und von denen etliche erst nach seinem Tode gedruckt wurden. Er erlebte aber noch, welche positive Aufnahme manche von ihnen fanden. "Staatlichkeit und Anarchie" wurde in hoher Auflage nach Rußland geschmuggelt und übte starken Einfluß auf die Narodniki* aus.

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Die "Antwort eines Internationalisten an Mazzini" führte in Italien zu einer regelrechten Beitrittswelle in die Internationale. In Spanien kam es im Sommer 1873 zu einer Serie von Generalstreiks und Erhebungen, deren Urheber die junge Sektion der Internationale war.

Bakunins Saat ging an vielen Orten auf, und die Bewegung hatte talentierten Nachwuchs hervorgebracht. Er hätte sich getrost auf das Landgut La Baronata zurückziehen können, das ihm ein junger Anhänger, Carlo Cafiero, zur Verfügung gestellt hatte. Eigentlich hatte er auch vor, nur noch zu schreiben und sich zu schonen, und er begann sogar, im Garten mit Obstkulturen zu experimentieren. Aber wieder einmal zog ihn die Nachricht von einem geplanten Aufstand ins Ausland - zum letzten Mal.

In Bologna war für den Juli 1874 ein Aufstand vorbereitet, der auf ganz Norditalien übergreifen sollte und bei dem Republikaner, Mazzini-Anhänger und Anarchisten gemeinsame Sache machen wollten. Bakunin reiste in die Stadt, um sich der Erhebung anzuschließen. Der politisch nicht einmal so abwegige Plan wurde allerdings schon im Vorfeld verraten und war, wie üblich, nur mangelhaft geplant. Die von mehreren Seiten anrückenden Kolonnen wurden nach kurzen Scharmützeln vom Militär zerstreut, und das Unternehmen daraufhin abgeblasen. Bakunin mußte fliehen - zu seiner großen Schmach in der Verkleidung eines Priesters.

Als ihm die Nachricht vom Zusammenbruch des Aufstandes überbracht wurde, wollte er sich eine Kugel in den Kopf schießen, weil es ihm nicht vergönnt war, im revolutionären Tumult zu sterben. Es scheint, daß der große alte Mann der Revolte nur nach Bologna gefahren war, um dort den Tod zu suchen. Der ereilte ihn in Form der Wassersucht, die er sich Jahre zuvor im Kerker geholt hatte, am 1. Juli 1876 im Hospital eines befreundeten Arztes in Bern.

 

 

Philosophie der Dynamik

"Bakunin", so sagte sein Freund Herzen einmal, "hielt den ersten Monat der Schwangerschaft für den neunten". Diese Anspielung trifft ziemlich genau das, was ihm immer wieder vorgehalten wurde: seine revolutionäre Ungeduld‹. Bei Bakunin mußte immer alles heute, hier und sofort geschehen. Es läge nahe zu vermuten, daß auch seine anarchistische Philosophie die Handschrift eines Hau-Ruck-Revolutionärs trüge. Das stimmt aber nur bedingt. Es erstaunt zu sehen, daß Bakunin offenbar differenzierter dachte als er handelte. Veränderung sieht auch er als einen komplexen Prozeß, in dem sich Evolution und Revolution ablösen: "Wir fallen in die Periode der Evolution zurück, das heißt in die der unterirdischen, unsichtbaren und oft selbst unfühlbaren Revolution", schrieb er 1875 an "einen Freund Elisée Reclus.

Warum aber ist er dann so atemlos herumgewirbelt, pausenlos bemüht, den revolutionären Umsturz herbeizuführen?

Bakunins Philosophie ist eine Philosophie der Dynamik. In sie setzte er ein fast unbegrenztes Vertrauen. Ihm war klar, daß alles schöne Reden, Schreiben und Denken — die "Philisterei", wie er es nannte —, solange nichts konkret ändern würde, wie das gegenwärtige System nicht erschüttert und zu Fall gebracht wäre.

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 Das könne nur durch Taten geschehen. Und solche Taten würden, sofern sie von unterdrückten Menschen getragen wären, sich schon irgendwie in Richtung Freiheit entwickeln. Deshalb war Bakunin bei der Auswahl der sozialen Bewegungen, denen er sich anschloß, nie sehr wählerisch. Entscheidend schien ihm einzig die Aussicht auf Dynamik, die einen Prozeß in Gang setzen könnte, fähig, die gegenwärtige Ordnung zu ›zerstören‹. Erst dann könne wirklich Neues entstehen. Daß dies dann auch geschehen würde, davon war Bakunin in einem zwar sympathischen aber auch blinden Optimismus felsenfest überzeugt.

Plausibel machen konnte er diesen Glauben an die ›spontane Schöpfungskraft der Massen‹ zeitlebens nicht — weder praktisch noch theoretisch. Man darf ihm vorhalten, daß er das Problem des Heranreifens einer revolutionären Situation - also das diffizile Wechselspiel zwischen der Möglichkeit eines Umsturzes, dem Wunsch der Menschen nach einer radikalen Veränderung und ihrer tatsächlichen kreativen Fähigkeit zu einer Erneuerung - zu leicht genommen hat. Aber solch ein Vorwurf wäre aus heutiger Sicht ziemlich selbstgerecht. Erstens, weil die Bewegung noch arm an praktischer Erfahrung war. Es sollte noch fünfundzwanzig Jahre dauern, bis dieses Problem eine theoretisch wie praktisch befriedigende Lösung fand, die jedoch ohne die Grundlagen, die Bakunin legte, kaum möglich gewesen wäre. Zweitens, weil der Gedanke, den handelnden Menschen und der Kraft ihrer Dynamik überhaupt einen Wert einzuräumen, neu und von großer Wichtigkeit war.

Alle vorherigen Libertären — mit Ausnahme Stirners, der sich dafür sowieso nicht interessierte — hatten eher versucht, Baupläne eines künftigen Paradieses zu erstellen. Die Idee, daß die Revolution selbst ungeahnte kreative Kräfte freisetzen könnte, daß ganz einfache Menschen, die weder etwas von Philosophie, Ökonomie noch Politik verstünden, die Schöpfer der neuen Ordnung sein sollten, diese Idee ist neu, und es war Bakunin, der sie lautstark und polternd eingeführt hat. Eine solche These ist ja nun weder ›falsch‹ noch ›richtig‹, sondern ein Teil der komplexen Faktoren, nach denen soziale Umwälzungen ablaufen. Möglich, daß Bakunin zu einseitig darauf herumgeritten ist und von ihr wahre Wunder erwartete, aber seither ist "die Spontaneität der Massen" jedenfalls ein fester Bestandteil anarchistischer Szenarien. Sie ist ein äußerst wirksames Gegengift gegen alle Arten ehrgeiziger Beglückungstheoretiker, von denen Bakunin mit Recht fürchtet, daß sie nach der Revolution die ersten sein würden, eine neue Herrschaft zu begründen — und sei es, im Namen der Freiheit, des Fortschritts oder der Vernunft. "Nehmt den radikalsten Revolutionär und setzt ihn auf den Thron aller Reussen", schreibt Bakunin, "und nach einem Jahr wird er schlimmer als der Zar geworden sein". Sein Fazit: eine Gesellschaft ohne Thron.

In diesem Zusammenhang erscheint auch Bakunins ›Zerstörungswahn‹ in einem anderen Licht. Man hat ihm vorgeworfen, ein ›Kaputtschlag-Revolutionär‹ zu sein. Dabei geht es ihm, wenn er von "zerstören" spricht, um ein radikales Ende der gegenwärtigen sozialen Werte. Er wolle, so sagt er, keinen Krieg gegen Menschen, sondern gegen "Positionen und Dinge", die er auch konkret benennt: Grenzen, Heere, Pässe, Zölle, Erbrecht - das sind für ihn rote Tücher. Seine Gegner heißen Staat, Kapital und Kirche. Man dürfe diese Dinge

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nicht in eine neue Ordnung einbauen, da sie den Keim der alten Ordnung in sich trügen. Erst wenn sie überwunden seien, aus dem "Amorphismus" also, könne wirklich Neues entstehen. Daher wäre es geradezu ein "Verbrechen", schon heute genaue Pläne für die künftige Gesellschaft zu erstellen.

 

Skizzen einer freien Gesellschaft

Andererseits war es auch Bakunin völlig klar, daß eine Revolution ohne Zielvorstellungen ebenso "verbrecherisch" wäre. Im Gegensatz zu seinem Image ist seine Philosophie nämlich stellenweise ausgesprochen konstruktiv. Der Unterschied zu anderen Theoretikern liegt vor allem darin, daß er bewußt vieles offen läßt und damit Spielraum für Möglichkeiten bietet, die heute noch gar nicht vorstellbar sind: Raum für Spontaneität.

Für Bakunin heißt das Ziel einer neuen Gesellschaft "Freiheit". Die sollte absolut für alle mündigen Menschen gelten und frei von Dogmen sein. Jede Art "sozialistischer Religion" lehnt er ab. Für ihn ist es übrigens schon selbstverständlich, daß die Frau, deren besondere Qualitäten er immer wieder hervorhebt, die gleichen Rechte haben müsse wie der Mann. Freiheit bedeute das Recht auf autonomes Handeln. Verantwortlich sei das autonome Individuum dabei zunächst gegenüber sich selbst, das heißt, seinem Gewissen und seiner Vernunft, und dann gegenüber der Gesellschaft - aber nur in dem Maße, wie es ihr freiwillig angehört.

Geschickt verknüpft Bakunin individuelles Glück mit gesellschaftlicher Freiheit: Man könne nur dann wirklich frei sein, wenn auch die Menschen drumherum die gleiche Freiheit genießen könnten. Das soziale Umfeld wird hiermit zur Voraussetzung persönlicher Freiheiten, denn der einzelne Mensch alleine in der Natur ist alles andere als frei. Bakunin zweifelt nicht daran, daß der Mensch ein soziales Wesen ist und in der Regel stets dazu tendiert, das Leben in Gesellschaft vorzuziehen. In der Anarchie allerdings hätte er zu einer wirklichen Wahl erstmals die Gelegenheit, denn hier gäbe es verschiedene Alternativen. Bakunin spricht von "autonomen Gemeinden", die sich auf der Ebene der "Provinz" in "freiwilliger Föderation" zusammenschließen können. Jede Administration, Struktur und Entscheidungsfindung müsse dabei "von unten nach oben, von der Peripherie zum Zentrum" erfolgen.

Freiheit aber bliebe ohne wirtschaftliche Gerechtigkeit ein leeres Wort. Daher will Bakunin "Gleichheit" – nicht der Menschen, sondern ihrer Chancen und Rechte. Klassen, Rangordnungen und Privilegien gehörten abgeschafft. Ausgehend von Proudhon fordert er, daß der Boden Eigentum aller sein solle, aber im Besitz derjenigen bliebe, die ihn bearbeiten. Bis hin zur Erziehung und dem Umgang mit Straftätern macht sich der angebliche Feind aller Pläne so seine Gedanken. Allerdings will er sie nur als Vorschläge verstanden wissen. Entscheiden wird, da macht er keine Abstriche, in jedem Fall "das Volk".

Die anarchistische Gesellschaft Bakuninscher Prägung beruht nicht nur auf der Gleichheit der Rechte, sondern auch der Pflichten. Obwohl das Individuum sich frei und lustvoll entfalten können soll, läßt Bakunin keinen Zweifel daran, daß für ihn die gesellschaftliche Gruppe die Basis des sozialen Lebens ist. Nur in der Gesellschaft werde der Mensch zum Menschen.

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Das "Kollektiv" ist Garant der Freiheiten und Rechte eines jeden, hat aber auch eigene Rechte. Also müsse auch jeder Mensch, der sich einer Gesellschaft anschließt, dieser seiner Gesellschaft dienen. Nur in dem Maße könne er von ihr eine Gegenleistung erwarten. Alle erwachsenen und gesunden Menschen sollten zur Arbeit angehalten werden, und nur gemäß ihren Leistungen hätten sie Anspruch auf die Früchte der Arbeit. Das Recht einer Gesellschaft, sich durch Ausschluß vor "Parasiten" zu schützen, wird ausdrücklich erwähnt. 

All das erinnert stark an die sozial-juristische Rechtfertigung gewöhnlicher Staaten in ihrem Anspruch auf Loyalität. Es klingt, etwas überspitzt interpretiert, nach dem recht unanarchistischen Satz "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen". So ist es aber nicht zu verstehen, denn bei aller Ähnlichkeit gibt es zwei entscheidende Unterschiede. Zum einen muß dieser Standpunkt als eine nur zu verständliche Reaktion auf die parasitäre Lebensweise des Adels und des Bürgertums verstanden werden, die ohne entsprechende Leistung auf Kosten der Ärmsten in exuberantem* Überfluß lebten. Zum anderen stand dahinter die Überzeugung, daß eine Gesellschaft nur dann ausreichend Waren und Lebensmittel produzieren könne, wenn alle Menschen fleißig zupackten. Das "Recht auf Faulheit" wird nicht deshalb verwehrt, weil es unmoralisch wäre, sondern weil Bakunin vermutet, daß sich die Gesellschaft dieses Recht einfach nicht leisten könne. Eine Sichtweise, für die man bei dem niedrigen Produktivitätsgrad und der geringen technischen Entwicklung Mitte des vorigen Jahrhunderts Verständnis aufbringen muß.

Diese Sichtweise einer anarchistischen Gesellschaft wurde in den libertären Theoriedebatten späterer Jahre als "kollektiv­istischer Anarchismus" bekannt, und man stellte sie in Gegensatz zum "kommunistischen Anarchismus", dessen Vertreter Peter Kropotkin war. Der allerdings konnte die Entwicklung der Produktivität schon viel optimistischer einschätzen, denn er war einige Jahrzehnte jünger und glaubte als Wissenschaftler außerdem an den technischen Fortschritt. So proklamierte er guten Gewissens das Recht eines jeden Mitglieds der Gesellschaft auf ein menschenwürdiges Auskommen, unabhängig von seiner Leistung.

Es darf bezweifelt werden, daß der Unterschied zwischen den Modellen dieser beiden Anarchisten so bedeutend war, wie er oft dargestellt wird. Vielleicht hat die anarchistische Scholastik* hier ein wenig über die Stränge geschlagen und einen etwas künstlichen Gegensatz aufgebaut, der lange Zeit für fruchtlose Spitzfindigkeiten sorgte. Jedenfalls kann man dem alten Bakunin kaum unterstellen, daß sein "kollektivistischer Anarchismus" die Vision einer Art Zwangsarbeiterkolonie war, wenn man Sätze wie die folgenden liest, die er 1865 am Golf von Neapel schrieb:

"Die Freiheit jedes mündigen Individuums, Mann oder Frau, muß absolut und vollständig sein; Freiheit, zu gehen und zu kommen, laut jede Meinung auszusprechen, faul oder fleißig, unmoralisch oder moralisch zu sein, mit einem Wort: über die eigene Person und den eigenen Besitz nach Belieben zu verfügen, ohne jemandem Rechenschaft abzulegen: Freiheit, ehrlich zu leben durch eigene Arbeit oder durch schimpfliche Ausbeutung der Wohltätigkeit oder des privaten Vertrauens, sobald beide freiwillig sind und nur von Erwachsenen gespendet werden. (...) Die Freiheit kann und soll sich nur durch die Freiheit verteidigen, und es ist ein gefährlicher Widersinn, sie zu beeinträchtigen unter dem durch den Schein blendenden Vorwand, sie zu beschützen."

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Literatur

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www.detopia.de     ^^^^