25 Ein folgenschwerer Streit: die Spaltung der Ersten Internationale
Wie aber sollte eine egalitäre und freie Gesellschaft aus einer
autoritären Organisation hervorgehen? Das ist unmöglich.
- Zirkular der Jura-Föderation -
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Es ist offensichtlich, daß bis heute eine Befreiung der Menschheit nicht stattgefunden hat. Die vielen erhebenden Theorien sozialen Lebens blieben letztendlich Luftschlösser. Die libertären Versuche wurden zerschlagen, die autoritären gingen an sich selbst zugrunde.
Dabei hätten gerade sie die Gelegenheit gehabt, sich zu entwickeln, denn immerhin genossen sie – etwa in Rußland – siebzig Jahre lang genügend Unabhängigkeit zu ihrer freien Entfaltung. Sie scheiterten nicht, weil sie von Feinden bedroht worden wären, sondern – eben – weil sie durch und durch autoritär waren. Im Kommunismus sowjetischer Prägung gab es keine Freiheit, und die Menschen hatten nichts zu melden. "Sozialismus" war reduziert auf Phrasen, Gleichmacherei und täglichen Mangel. Der Niedergang dieses Systems kam schleichend, grau und unspektakulär: die Menschen machten nicht mehr mit, das schwindsüchtige Phantom brach zusammen.
Heute sind viele Menschen geneigt, darin den Beweis zu sehen, daß soziale Utopien Spinnerei sind. "Sozialismus" ist ein gebrandmarktes Wort mit dem Geschmack von vorgestern. Dabei sind die Probleme der Menschheit nach wie vor ungelöst. Sie haben sich, global gesehen, sogar dramatisch verschärft.
Zwar geht es heute kaum mehr um die "Emanzipation der Arbeiterklasse", sondern um das Überleben auf diesem Planeten, soziale Utopien jedoch sind, obwohl derzeit außer Mode, nötiger denn je.
Diese Hypothek, die so schwer auf dem Traum einer freien und gerechten Gesellschaft lastet, geht eindeutig auf das Konto des autoritären Kommunismus. Es gibt einen direkten Weg von Marx zu Lenin, Stalin und Pol Pot*. So wurde die Geschichte des Sozialismus zu einer Geschichte der vertanen Chancen.
Eine solche Tragik des Versagens verlangt geradezu nach der Frage, was hätte sein können! Am Anfang war doch alles so schön klar und einfach: Die Ideale. Das Ziel. Die Utopien. Das unsägliche Elend. Die Menschen, die all das wollten: frei sein und menschenwürdig leben. Die Kraft, die daraus erwuchs. Warum wurde aus schönen Visionen eine abscheuliche Wirklichkeit? Wie hat das alles angefangen? Hätte es nicht auch anders kommen können?
Diese Fragen führen uns zurück zu den Wurzeln. Sie liegen in jenen Jahren, als die große Chance vertan wurde, eine gemeinsame Perspektive all jener Kräfte zu finden, die von der Ellenbogengesellschaft die Nase voll hatten. Sie führt uns zurück zu jenem folgenschweren Streit, in dem sich die Erste Internationale zerzankte: der Streit zwischen den "Autoritären" und den "Libertären". Ein Streit, bei dem die Weichen gestellt wurden und der all das vorwegnahm, was die Welt in den nächsten hundert Jahren politisch in Atem halten sollte.
"Die Arbeiter haben kein Vaterland"
Die Internationale Arbeiter-Assoziation war 1864 angetreten, um Ordnung in den sozialistischen Ursumpf zu bringen. Da gab es Arbeitervereine, Gewerkschaften, Parteien, Bünde, Theoriekreise, Schulen, Korrespondenzclubs, Geheimzirkel, lose Gruppen, Kulturinitiativen, Konsum- und Sparvereine, Bruderschaften von Wandergesellen und Turnerriegen. Es gab die großen Denker, Philosophen und Wissenschaftler - verstorbene wie lebende - mit ihrem jeweiligen Anhang: Fourier, Proudhon, Marx, Lasalle, Engels, Bakunin, Owen, Bebel, Herzen, Schulze-Delitzsch, Liebknecht, Baboeuf, Saint-Simon und wie sie alle hießen. Und die unübersehbare Masse verarmter ›Proletarier‹, die sich immer wieder gegen ihr Elend erhoben: spontane Streiks, Sabotage, Revolten - meist gar nicht oder nur lose organisiert, in isolierten Gruppen von kurzer Lebensdauer. Es lag auf der Hand, diese Kräfte zu bündeln und eine gemeinsame Linie zu finden - um sich zu wehren, und um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Dies mußte natürlich international geschehen. Nicht nur, weil lokale und nationale Aktionen ziemlich chancenlos gewesen wären - die Arbeiter verstanden sich auch zunehmend als eine internationale Familie: "Wir Arbeiter haben kein Vaterland", hieß es damals.
Das gemeinsame Ziel war in seinen groben Zügen nicht strittig: eine Gesellschaft mit sozialer Gerechtigkeit, ohne Klassen und Unterdrückung. Selbst über die Rolle des Staates war man sich, zumindest theoretisch, im Groben einig: er sollte verschwinden und durch etwas Besseres ersetzt werden. Paktieren mit dem Staat und seinen Institutionen war verpönt.
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Es war eine Zeit, in der noch kaum zwischen Sozialdemokraten, Kommunisten, Anarchisten, Föderalisten, Demokraten, Republikanern, Mutualisten unterschieden wurde. Die Worte waren zwar schon in Gebrauch, aber sie trennten nicht. Unterm Strich waren alle schlicht "Sozialisten", und das genügte.
Die wenigen Delegierten, die 1864 in London zusammenkamen, um die Internationale zu gründen, waren britische Trade-Unionisten und eine Gruppe französischer Sozialisten um Henry Tolain. In ihren ersten Jahren war die Organisation sehr stark von den Ideen Owens und Proudhons beeinflußt, was sich in ihrer Struktur niederschlug: Die einzelnen Sektionen genossen eine starke Autonomie, ihr Zusammenhalt war föderalistisch organisiert; der Schwerpunkt lag auf sozialen Kämpfen, nicht auf der politischen Eroberung der Macht. Die Leitung der Internationale sollte kein Zentralapparat mit diktatorischer Vollmacht sein, sondern eher ein Korrespondenz- und Verbindungssekretariat. Auf den periodisch stattfindenden Kongressen war das Stimmrecht der Delegierten entsprechend der Größe ihrer Sektionen bemessen.
Karl Marx, der schon früher versucht hatte, ein Koordinationsbüro aufzuziehen, war von Anfang an dabei und übernahm rasch eine führende Rolle. Er wurde Sekretär des Generalrates der Internationale, deren Sitz in London lag. Die Organisation bekam rasch Zulauf. Überall wo die Industrialisierung vorangeschritten war, bildeten sich Sektionen. So entstand in den meisten europäischen und einigen amerikanischen Staaten ein organisatorischer Rahmen, in dem vereinzelte Aktionen zu einer gemeinsamen Praxis gebündelt wurden.
Schon früh knisterte im Gebälk der Internationale eine unheilvolle Spannung: Immer wieder entzündete sich an taktischen Fragen der Streit über den richtigen Weg. Karl Marx und Friedrich Engels hatten die Organisation als Forum genutzt, um ihre Theorien eines "wissenschaftlichen Sozialismus" zu propagieren. Der lief auf einen sehr engen "Klassenstandpunkt" hinaus. Nur der Proletarier sei, aufgrund der inneren Logik historischer Gesetze, in der Lage, eine Revolution zu machen. Dies sei nur mit Hilfe einer zentralen, proletarischen Partei möglich, die durch Wahlen die politische Macht erobern müsse.
Starke, zentrale Massengewerkschaften hätten diesen Kampf durch Streiks und Aktionen zu unterstützen. Derartige Theorien fanden vor allem in der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie, teilweise auch in Großbritannien Anklang - Ländern mit fortgeschrittener Industrialisierung und einer theoriegläubigen Arbeiterschaft, die sich gerne in der Rolle einer historisch auserwählten Klasse sah. Diese Sektionen stellten in der Internationale zwar die Minderheit, aber Marx konnte seine Sichtweise, die er für einzig wahr und richtig hielt, von zentraler Stelle aus wirkungsvoll verbreiten. Die meisten anderen Sektionen teilten diesen dogmatischen Standpunkt nicht. Viele suchten einen Mittelweg zwischen den Marxisten und der anderen großen Tendenz innerhalb der Organisation — den Anhängern Proudhons und Bakunins. Diese Strömung sah in der Internationale eher ein revolutionäres Werkzeug sozialer Kämpfe, deren Form die Arbeiter selbst bestimmen sollten.
Damit waren keineswegs nur ›Edelproletarier‹ im Sinne von Marx gemeint, sondern ebenso auch Bauern, Arbeitslose, Handwerker, verarmte und entwurzelte Schichten, die Marx verächtlich "Lumpenproletarier" nannte, und denen er das ›richtige Bewußtsein‹ absprach.
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Politische Parteien lehnten die "Antiautoritären" ab. Stattdessen befürworteten sie direkte Aktionen, vor allem den revolutionären Generalstreik, mit dem Ziel einer sozialen Umwälzung. Für sie durfte die Internationale schon deshalb kein Zwangsapparat sein, weil in ihren Formen bereits ein Modell der künftigen Gesellschaft vorweggenommen werden sollte. Ein sozialistischer Embryo sozusagen. Solche Ideen fanden überwiegend in den romanischen Ländern Anklang: in Spanien, Italien, Frankreich und der Westschweiz; aber auch in Belgien und Holland, einigen slawischen Ländern und den USA hatten sie zahlreiche Anhänger.
Frei oder nicht frei, das ist hier die Frage
Zu ersten Spannungen kam es, als Bakunin und einige seiner Anhänger 1868 der Internationale beitraten, wobei sie sie um eine Reihe aktiver Sektionen bereicherten. In naiver Unbefangenheit schrieb Bakunin seinem carissimo amico* Marx damals: "Mein Vaterland ist jetzt die Internationale, von der Du einer der wichtigsten Begründer bist. Du siehst also, mein lieber Freund, daß ich Dein Schüler bin und stolz bin, es zu sein." Die meisten Anarchisten in der Internationale glaubten damals, daß innerhalb der Organisation eine ›Einheit in Vielfalt‹ möglich und nötig wäre. Aber Marx war mißtrauisch. Er, der schon zwei Jahrzehnte darunter gelitten hatte, im Schatten des "Dillettanten Proudhon" zu stehen, ahnte, daß der Einfluß des legendären Revoluzzers seine Pläne stören könnte. Vertraulich schrieb er an Engels: "Dieser Russe will offenbar Diktator der europäischen Arbeiterbewegung werden. Er soll sich in Acht nehmen. Sonst wird er offiziell exkommuniziert."
Es ist nicht von Interesse, hier die Schlammschlacht nachzuzeichnen, die sich in den folgenden Jahren zwischen Marx und Bakunin entspann, denn in diesem Konflikt geht es nicht um Personen, um gute oder böse Charaktere. Die beiden Kampfhähne interessieren hier nur als Stellvertreter für die zwei gänzlich unterschiedlichen Auffassungen dessen, was "Sozialismus" ist.
Der offene Streit begann 1869 auf dem Kongreß der Internationale in Basel und entzündete sich an der eher nebensächlichen Frage der Abschaffung des Erbrechts, dem Bakunin zum Anlaß genommen hatte, nicht nur Marx' ideologische und politische Position anzuzweifeln, sondern auch die Funktion des Londoner Generalrates zu kritisieren. Marx konnte nicht zulassen, daß ›seine‹ Internationale unter den Einfluß der "Bakunisten" geriet. Taktisch geschickt bestimmte er den Zeitpunkt für den Gegenschlag. 1871 berief er eine "Geheimkonferenz" nach London ein, zu der Bakunin und seine engeren Gefolgsleute nicht eingeladen wurden. Die antiautoritären Delegierten blieben in der Minderzahl und konnten nicht verhindern, daß Beschlüsse gefaßt wurden, die eindeutig im Widerspruch zu den Statuten der Internationale standen, in denen es hieß, daß "die Emanzipation der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst" sein müsse: Die Autonomie der Sektionen und Föderationen wurde aufgehoben, und der Generalrat erhielt fast diktatorische Vollmachten.
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Überdies machte diese sogenannte "Winkelkonferenz" allen Sektionen die Bildung politischer Parteien zur Pflicht. Marx hielt damit den Einfluß Bakunins für gebrochen. Die Beschlüsse stießen jedoch fast überall auf Murren, und bei den Libertären auf offenen Widerstand. "Dringend war nun geboten", schrieb James Guillaume, "die Internationale, die als umfassende Föderation von Gruppierungen (...) organisiert worden war, nicht durch eine kleine Clique von marxistischen (...) Sektierern absorbieren zu lassen." Die Jura-Föderation lehnte die Londoner Beschlüsse ab und verschickte ein Zirkular, das von Spanien, Italien, Belgien, den meisten Sektionen Frankreichs und der USA inhaltlich gebilligt wurde. In ihm hieß es: "Die künftige Gesellschaft darf nichts anderes sein als die Universalisierung der Organisation, die sich die Internationale gegeben haben wird. Wir müssen also dafür sorgen, diese Organisation unserem Ideal so weit wie möglich anzunähern. Wie aber sollte eine egalitäre und freie Gesellschaft aus einer autoritären Organisation hervorgehen? Das ist unmöglich. Die Internationale, Embryo der künftigen menschlichen Gesellschaft, ist gehalten, (...) jedes Prinzip, das nach Autorität und Diktatur strebt, aus ihrem Inneren auszuschließen."
Das kam einer Kriegserklärung gleich. Im Herbst 1872 wurde die Generalversammlung einberufen - in einen möglichst nördlichen Ort, weit weg von den aufmüpfigen Südländern und unerreichbar für den mit Haftbefehl gesuchten Bakunin. In Den Haag versammelten sich 62 Männer, von denen lediglich 22 echte Delegierte waren, 40 hingegen ausgesuchte Anhänger von Marx mit zweifelhaften Mandaten, die im Grunde nur sich selbst vertraten. Mit diesen "aus dem Boden gestampften Delegierten", wie Engels später zugab, kam eine kommode Mehrheit zustande, zumal der Generalrat festgelegt hatte, nach Anwesenden abzustimmen und nicht nach der Mitgliederstärke der Sektionen. So konnte die von Marx gewünschte "Exkommunizierung" glatt über die Bühne gehen: Bakunin und Guillaume wurden aus der Internationale ausgeschlossen - mit einer ehrenrührigen Begründung, in der kein politisches Argument genannt wurde: Bakunin sei der Betrügerei, der Erpressung und der Konspiration überführt und Guillaume sein Komplize. Der gelassene Kommentar des alten Revolutionärs: "Das Damokles-Schwert, mit dem sie uns so lange bedroht haben, ist endlich auf unsere Häupter herabgefallen. Genaugenommen ist es gar kein Schwert, sondern die übliche Waffe des Herrn Marx: ein Kübel Dreck."
Was nach einem Sieg für Marx aussah, war in Wirklichkeit das Ende einer großen Chance. Die Einheit einer jungen, hoffnungsvollen Bewegung war den kleinlichen Ambitionen eines intoleranten Theoretikers geopfert worden. Die Anarchisten organisierten sich nur eine Woche später auf dem Kongreß von St. Imier in einer eigenen Internationale, die, mit einigen Unterbrechungen, bis heute besteht und ihre Blütezeit zwischen den beiden Weltkriegen erlebte. Marx verlegte den Sitz ›seines‹ Generalrates nach New York, wo die Organisation jedoch rasch zur Bedeutungslosigkeit verkam. In Europa schwand ihr Einfluß, und die zuvor gegründeten Parteien entfalteten nunmehr in jedem Land ein von Wahlzielen bestimmtes Eigenleben. 1876 löste sich die Marxsche Rest-Internationale in Philadelphia selbst auf.
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Parabel der vertanen Chancen
Die Bedeutung dieser Spaltung als ein Lehrstück für das Scheitern des Sozialismus im Zwanzigsten Jahrhunden läßt sich an der weiteren Geschichte jener "Internationalen" ablesen, die der Ersten nachfolgten. Sie symbolisieren auf unterschiedlichste Weise, wie die Saat der beiden Hauptelemente des Marxismus aufging: reformistische Sozialdemokratie und autoritärer Kommunismus. 1889 regten deutsche Sozialdemokraten die Zweite Internationale an, die in Paris gegründet wurde und im Ersten Weltkrieg auseinanderbrach, weil die staatsfixierten Sozialdemokraten trotz ihres theoretischen Internationalismus die Arbeiter ins große Völkermorden schickten. Sie wurde 1923 in Brüssel reanimiert* und ging 1940, im nächsten Weltkrieg, erneut unter.
In Frankfurt wurde 1951 die kreuzbrave und lammfromme Sozialistische Internationale gegründet. Sie gilt als reformistische Fortsetzung der Ersten und Zweiten Internationale und dient heute überwiegend als Forum zur Selbstdarstellung sozialdemokratischer Staatschefs. 1919 spalteten sich die Kommunisten von den Sozialdemokraten ab, die sich gleichermaßen auf Marx beriefen, und gründeten die Dritte Internationale, kurz Komintern genannt - ein Zwangsapparat aller kommunistischen Parteien unter der Regie Moskaus. 1945 aus taktischen Gründen aufgelöst, 1947 in Belgrad als Kominform wiedererweckt, diente sie Stalin als ideologische Glaubenskirche zur Kontrolle der sowjetischen Satellitenstaaten. Nachdem sich Tito in Jugoslawien gegen Stalins Diktat aufgelehnt hatte, verlegte sie ihren Sitz 1948 nach Bukarest, wo sie 1956 aufgelöst wurde. Ein prominentes Opfer der brutalen Bruderkämpfe unter kommunistischen Diktatoren, Leo Trotzki, gründete im mexikanischen Exil, kurz bevor ihn dort sein rivalisierender Genosse Stalin ermorden ließ, die Vierte Internationale, die als Sammelbecken für kommunistische Dissidenten aber ohne Bedeutung blieb.
Es fällt schwer, angesichts dieses abstoßenden Trauerspiels, in all dem keine Parabel* zu erkennen. Nur mit Zorn kann man heute an die vertanen Chancen zurückdenken, die im Schoß der Ersten Internationale schlummerten. Die Intrigen, die Marx dort gegen seine Gegner inszenierte, waren nur ein matter Vorgeschmack auf das, was seine Adepten* in den nächsten hundert Jahren bis zur Perfektion weiterentwickelten: Parteidiktatur, Schauprozesse, Meinungsterror, inszenierte Massenkundgebungen, Denunziantentum, Geheimdiplomatie, Wahlfälschungen, Säuberungen, Kriege, Bespitzelung — die ganze perfide Welt von GULAG* bis STASI*. Sie steht für die Lebenslüge einer Ideologie der Zwangsbeglückung, die die Menschen, die sie zu beglücken vorgab, nie ernst genommen hat.
Angesichts unserer geschichtlichen Erfahrungen, müssen uns heute die Worte, die Bakunin im Jahr seines Ausschlusses aus der Internationale schrieb, wie die Worte eines Rufers in der Wüste erscheinen:
"Der ganze Unterschied zwischen revolutionärer Diktatur und Staatlichkeit besteht nur in den äußeren Umständen. Faktisch bedeuten sie das gleiche: die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Minderheit im Namen der angeblichen Dummheit ersterer und der angeblichen Weisheit letzterer. Deshalb sind sie auch gleich reaktionär und haben, die eine wie die andere, als unmittelbares und notwendiges Ergebnis die Sicherung politischer und ökonomischer Privilegien für die herrschende Minderheit und die politische und wirtschaftliche Versklavung der Volksmassen."
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Literatur:
/ Pierre Ramus, Hector Zoccoli: Die Erste Internationale 1864 (Textsammlung) Berlin 1979, Libertad, 44 S.
/ Henryk Grossmann, Carl Grünberg: Die Internationalen in: dieselben: Anarchismus, Bolschewismus, Sozialismus Frankfurt/M. 1971, Europäische Verlagsanstalt, 540 S.
/ N.N.: Die IAA - Geschichte der Internationalen Arbeiter-Assoziation Berlin 1980, Libertad, 48 S.
/ Fritz Brupbacher: Marx und Bakunin - Ein Beitrag zur Geschichte der Internationalen Arbeiter-Assoziation Berlin 1976, Karin Kramer, 228 S.
26 "Vive la Commune!"
Schön wäre die Natur, wäre der Mensch nicht Sklave des Menschen.
- Louise Michel -JAHRZEHNTELANG HATTEN DIE SOZIALISTEN ALLER COULEUR auf eine Gelegenheit gewartet, wo sich ihre Ideen in großem Maßstab würden verwirklichen und bewähren können. Wann und wie und warum dieser herbeigesehnte Moment kommen würde, darüber gab es dutzendweise Theorien. Als es am 18. März 1871 plötzlich soweit war, waren alle Theoretiker ebenso überrascht wie ratlos.
In der Nacht des 17. März schickte die Regierung in Paris ihre Artilleristen los, um die Kanonen wieder in ihre Gewalt zu bringen, die sich auf dem Montmartre in den Händen der Nationalgarde befanden. Diese Reservetruppe, eine Art Miliz, bestand überwiegend aus Arbeitern und galt bei der bürgerlichen Regierung als politisch unzuverlässig — mit Recht, wie sich bald herausstellen sollte. Seit acht Monaten tobte der deutsch-französische Krieg, der für Frankreich so gut wie verloren war. Bereits im September des Vorjahres war der Kaiser in Gefangenschaft geraten, und das Land zum dritten Male Republik geworden. Die bürgerliche Regierung glänzte durch Unfähigkeit und suchte ein rasches Ende des Krieges. Nicht aus Friedensliebe, sondern weil sie den sozialen Aufruhr fürchtete. Auf dem Lande herrschte zwar eine teilnahmslose Kriegsmüdigkeit, in den Städten aber hatte sich sozialer Sprengstoff angesammelt. In seltener Einmütigkeit fürchteten die oppositionellen Intellektuellen und die Arbeiterschaft eine Unterwerfung Frankreichs durch das autoritäre Preußentum. Sie waren stinksauer auf die Regierung der Republik und zum Widerstand entschlossen. Die Kühnsten unter ihnen verknüpften die politische Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Not zu einem Szenario für den revolutionären Umsturz. Tatsächlich war in Lyon, Marseiile, Bordeaux, Le Creuzot und St. Etienne die Wut in Aufstände umgeschlagen: ›Revolutionäre Kommunen‹ wurden proklamiert, aber rasch niedergeworfen.
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Die Libertären — wir erinnern uns an Bakunins Intermezzo in Lyon — hofften auf eine levée en masse*, aus der eine ›Föderation Freier Kommunen‹ hervorgehen sollte, während Marx und Engels ganz ungeniert den militärischen Sieg Preußens wünschten, weil damit die Vormacht der deutschen Arbeiterbewegung - sprich: des Marxismus - über die von Proudhon ›verdorbene‹ französische Arbeiterschaft gefestigt würde.
Inzwischen war Paris von preußischen Truppen belagert, die Regierung hatte einen Waffenstillstand geschlossen, die Armee sollte die Waffen strecken. Zuvor aber mußten der Nationalgarde, dieser unzufriedenen und unzuverlässigen Volkstruppe, die Kanonen genommen werden. Denn davor hatte die Bourgeoisie allemal mehr Angst als vor der preußischen Armee.
Die Flucht der Mächtigen
Es war eine Gruppe von Arbeiterfrauen, die den Anmarsch der Truppen auf den Montmartre bemerkte, und in allen Quartiers von Paris Alarm schlug. Wie ein Lauffeuer ging die Kunde durch die Arbeiterviertel, die nächtlichen Straßen füllten sich mit ärmlich gekleideten Menschenmassen. Soldaten erschossen ihre eigenen Generäle, liefen über oder desertierten. Die Kanonen aber blieben, wo sie waren. Während die reichen Bürger von Paris noch schlummerten, versammelten sich Hunderttausende von Arbeitern vor dem Rathaus und forderten La Commune!.
Die Erhebung war spontan, einmütig und von niemandem angezettelt. Angesichts der Lage floh die Regierung, und unzählige Bourgeois folgten ihr mit Sack und Pack. Am Abend des 18. März hatte die Stadt begriffen, daß sie frei war. Mit einer Mischung aus Erstaunen, Jubel und Beklemmung sah man die Chance, dieses Machtvakuum zu nutzen und das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Die einfachen Leute hatten die Mächtigen verjagt. Paris, die große Metropole, war faktisch in der Hand der Arbeiterschaft. Und diese war bewaffnet.
Das war nun fast eine revolutionäre Situation wie aus dem Lehrbuch. Allerdings hatte man so etwas noch nie zuvor erlebt. Bei allem kämpferischen Elan der unteren Schichten, bei allem Wunsch nach tiefgreifender Veränderung und mutigem Neuanfang, regierte in den siebzig Tagen, die die Commune standhielt, überwiegend die Unsicherheit. Zumindest auf der Ebene der politischen Macht. Halbherzig waren die Kompromisse, die unter den verschiedenen Fraktionen zustande kamen, zögerlich das Anpacken politischer Neuerungen und tastend das Suchen nach einer politischen Zukunft für das Modell einer autonomen, freien Kommune, zu der die größte Stadt des europäischen Festlands über Nacht geworden war.
Es fehlte nicht an Gruppierungen, die einen Weg zu kennen glaubten. Auch gab es Strukturen, die schon vor dem eigentlichen Aufstand bestanden. Aber es fehlte an jeglicher Erfahrung im Umgang mit einer solch unerhört neuen Situation. Überdies war die äußere Situation, besonders die militärische, aussichtslos. Paris war von zwei Armeen umfaßt. Ein Sieg der Waffen war von vornherein ausgeschlossen. So konnte die Commune lediglich versuchen, ihren Freiraum zu verteidigen, auf eine günstige Konstellation für die Zukunft hinzuwirken, und bestenfalls in ihrem Inneren mit der Förderung sozialer Experimente vollendete Tatsachen zu schaffen.
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Die politischen Kräfte
Die 'offiziellem' Träger der Commune, die von nun an versuchten, die Geschicke der Erhebung zu lenken, waren aus den politischen Clubs der Hauptstadt hervorgegangen, die seit drei Jahren wieder erlaubt waren. Hier trafen sich Patrioten und Revolutionäre aller Schattierungen: junge Studenten mit einem stark emotionalen Hang zum Extremismus und altehrwürdige Deputierte der Achtundvierziger Generation, Arbeiteraktivisten aus Syndikaten und Kooperativen, geistvolle Journalisten und Delegierte aus den Stadtteilen, Milizionäre der Nationalgarde und abgehalfterte Politiker der dritten Wahl, die ihre Chance witterten. Auch politisch gesehen war das Spektrum durchaus bunt. Alle denkbaren Sorten von Republikanern, Sozialisten der libertären und autoritären Richtung, Befürworter der revolutionären Diktatur, Anhänger direkter Volksregierung und kommunaler Autonomie.
Sie alle einte, mehr als alle Theorie, die Tatsache, daß sie gemeinsam in einer ebenso revolutionären wie verfahrenen Situation festsaßen. Sie zogen zwar die Republik den Preußen und der drohenden Monarchie vor, aber viele wollten letztlich auch die Republik überwinden. Sie alle verteidigten die Autonomie ihrer Stadt, aber die freie Kommune war für die einen eine Not, für die anderen die Tugend, auf der die neue Gesellschaft gegründet sein sollte. Einig waren sie sich zwar in ihrem Haß auf den zentralistischen französischen Staat, aber die einen sahen nur das Versagen einer bestimmten Regierung, die anderen lehnten das Regieren überhaupt ab.
Dieses Gerangel um den richtigen Weg spielte sich in den neuen Einrichtungen ab, die sich die Commune selbst gegeben hatte. Schon im September des Vorjahres waren angesichts des Krieges und der miserablen Regierungspolitik in fast allen Stadtteilen "Komitees der republikanischen Wachsamkeit" gebildet worden, die je vier Vertreter in einen gemeinsamen Zentralrat entsandten. Ihr Mißtrauen gegen die Regierung und ihr Wille zur Selbstverwaltung der Riesenstadt äußerte sich in Forderungen nach Aufhebung der zentral geleiteten Polizei, der Wahl aller Behörden einschließlich der Sicherheitsorgane, der kommunalen Erfassung und Rationierung aller Lebensmittel sowie nach Presse- und Versammlungsfreiheit. Andererseits hatten die einzelnen Kompanien und Bataillone der Nationalgarde Delegierte in eine "Fédération de la Garde Nationale" gewählt. Diese fédérés wurden nach anfänglich eher patriotischer Ausrichtung rasch zum Fokus* des Aufstandes und zum Organisator des militärischen Widerstandes.
Am 26. Mai wurde durch eine allgemeine Wahl der Rat der Commune gebildet, der aus achtundzwanzig Arbeitern und dreißig Intellektuellen bestand. Die Komitees der Stadtteile und der Garde legten ihre politische Mission nieder. Die revolutionären Gruppen besaßen im Rat zwar die Mehrheit, blockierten sich aber bald aufgrund ihrer unterschiedlichen Konzeptionen. Und die waren im Grunde unvereinbar.
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Konkret waren drei wichtige Gruppierungen zu unterscheiden. Am straffsten organisiert waren die Blanquisten. Die Anhänger des alten Revolutionärs Auguste Blanqui, der gerade in einem Provinzgefängnis einsaß, befürworteten eine harte, revolutionäre Diktatur geschulter Kader zum Wohle des einfachen Volkes — ein Vorgriff auf das Leninsche Staats- und Parteimodell. Ihrem hierarchischen Verständnis gemäß waren sie darauf aus, möglichst viele wichtige Schlüsselpositionen zu besetzen.
Ihnen nahe standen die Neojakobiner, kaum organisiert aber zahlreich, vertreten durch bekannte Persönlichkeiten mit starken Ambitionen, die allesamt von einer Restauration der Zustände von 1789 träumten. Der alte Jakobiner Delesciuze wurde zum militärischen Führer des letzten Widerstandes. Ansonsten bestand ihr Beitrag mehr in traditioneller Symbolik und radikaler Demagogie als in klaren Vorstellungen für die Zukunft. So drückte ihr Vertreter Jules Miot am 1. Mai die Bildung eines diktatorischen "Wohlfahrtsausschusses" durch und spaltete damit den Rat der Commune endgültig in autoritäre Zentralisten und antiautoritäre Föderalisten.
Die Föderalisten stellten in Paris, vor allem in den Arbeitervierteln und an der Basis der communards, die vermutlich stärkste Gruppe. Sie waren aber vergleichsweise schlecht organisiert und konnten in dem Intrigenspiel um Posten und Pöstchen in den neuen Strukturen nicht mithalten. Ideologisch standen sie in der Tradition Proudhons, organisatorisch waren sie überwiegend in der Pariser Sektion der Internationale vertreten, wo Bakunins Ansichten ein starkes Echo gefunden hatten. Zu den aktivsten Persönlichkeiten unter diesen Libertären zählten Auguste Vermorel und Eugene Varlin, unermüdlicher Organisator von Genossenschaften und Arbeiterverbänden. Die intemationalistes von Paris waren eng mit dem gewerkschaftlichen Dachverband, der "Föderation des Chambres Syndicales et des Associations Ouvrieres*, verbunden - entsprechenden Nachdruck legten sie daher auf die ökonomische Seite der Revolution. Für sie war die Commune verloren, wenn sie sich nicht der sozialen Gerechtigkeit annähme, was nichts anderes bedeutete, als daß Produktion und Verteilung in den Händen der Arbeiterschaft sozialisiert und selbst organisiert werden müsse. So finden wir die Vertreter der federalistes folgerichtig auch in den Kommissionen für Arbeit, Industrie, Warenverkehr und Bildung wieder, wo sie in der kurzen Zeit versuchten, die Grundlagen einer Neuordnung zwischen Kapital und Arbeit zu legen.
Was all diese Revolutionäre jenseits der äußeren Bedrohung einte, war eigentlich recht wenig: Sie fühlten sich von der Masse der sozial niedrig Gestellten beauftragt, für menschenwürdigere Zustände zu sorgen. Über Weg und Ziel aber war man uneins. Für die gemäßigten Republikaner ging es um eine militärische Kraftprobe mit den Regierungstruppen in Versailles; soziale und politische Reformen hielten sie für verfrüht und störend. Blanquisten und Jakobiner sahen im Rat der Commune einen revolutionären, diktatorischen Konvent, in dem alle Autorität zu energischen Maßnahmen konzentriert sein müsse, um die Interessen des Volkes mit allen zur Verfügung stehenden Gewaltmitteln zu verteidigen.
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Die Föderalisten glaubten, der Kampf mit der Waffe könne ohne soziale Grundlage und moralische Legitimität nicht gewonnen werden. Umwälzende Reformen und das Festhalten an föderalistischen und humanistischen Prinzipien seien nicht das Ergebnis, sondern die Voraussetzung für einen Sieg der Commune. Im Rat sahen sie lediglich eine Art Kontrollorgan mit der Aufgabe, die Selbsttätigkeit und Initiative der Massen zu fördern, ohne sie in ihrer freien Entfaltung zu behindern. Dieser deutlich anarchistische Standpunkt war zwar an der Basis durchaus populär, konnte sich aber im Rat nicht durchsetzen.
Nach dem Rückzug der gemäßigt-föderalistischen Vertreter erlangten die Autoritären die Mehrheit und installierten schließlich ihren "Wohlfahrtsausschuß", der rasch dazu überging, in geheimer Sitzung selbstherrlich Beschlüsse zu fassen. Das demokratische Mandat durch die Basis war verraten, die Libertären verließen den Rat unter Protest und kehrten in die Stadtteile zurück. Hier versuchten sie, jene bescheidenen Ansätze voranzutreiben, die sie in den offiziellen Kommissionen bereits begonnen hatten.
Erste konstruktive Initiativen
Das war nicht gerade wenig, auch wenn es in der kurzen Lebensdauer der Commune kaum greifbare Erfolge brachte. Es läßt aber den Rückschluß darauf zu, was auf der Tagesordnung gestanden hätte, wäre dem Experiment mehr Zeit beschieden gewesen: der Übergang von einer Revolte zur sozialen Revolution. Im starren Rahmen der Kommissionen freilich kamen viele Projekte kaum über das Stadium von Dekreten hinaus: Die Trennung von Kirche und Staat, die Aufhebung der Konskription*, der Erlaß der Mieten, die Unterstützung der Waisen und Witwen gefallener communards, bis hin zur Rückerstattung der in Pfandleihhäusern verpfändeten Gegenstände — vor allem aber die Sozialisierung der von ihren Besitzern verlassenen Betriebe — all das zeigt eine klare Zielrichtung der "Wirtschaftskommission", deren Mitglieder ausschließlich der Pariser Sektion der Internationale angehörten. Die Schaffung unentgeltlicher Laienschulen stand ebenso auf dem Programm wie die Einrichtung handwerklicher Berufsschulen oder das Verbot der Nachtarbeit in den Bäckereien.
Schon bald aber traten solche Fragen in den Hintergrund, denn am 2. April begann die Offensive der französischen Armee gegen die Stadt. Die ideologischen Differenzen verstummten damit keineswegs, sie wurden eher noch heftiger, denn auch in der Frage der richtigen Verteidigung verhielten sich die Ansichten wie Feuer und Wasser. Wie so oft, diente auch hier die militärische Lage zur Abrechnung mit dem politischen Gegner: Die autoritäre Mehrheit an den Hebeln der Macht begann, die Föderalisten nunmehr offen als Verräter zu diffamieren. Erst in den letzten Tagen sollten sie alle wieder vereint nebeneinander stehen, um gemeinsam unterzugehen.
Die Kraft der Basis
Das alles aber war nur die eine Seite der Medaille. Das, was die Pariser Commune schon kurz nach ihrer blutigen Niederschlagung zur Legende werden ließ, waren nicht die Fraktionskämpfe der ›führenden‹ Revolutionäre.
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Es war jene andere Seite dieser siebzig Tage: die jäh entfesselte, intuitive und heitere Suche nach Freiheit durch die einfachen Menschen aus den Pariser Quartiers. Ihre spontane Erhebung, ihre Solidarität, ihre naiv-euphorische Art, mit der sie in die neu errungene Freiheit sprangen, der trunkene Taumel, mit dem sie sie genossen und die gefaßte Konsequenz, mit der sie bis zum Ende kämpften - all das macht den Mythos aus, der sich bis heute um die Pariser Commune rankt. Ein Bild, an dem auch bei genauer und nüchterner Betrachtung kaum Abstriche gemacht werden müssen.
Der Masse der einfachen Kämpfer der Pariser Commune, die Frauen und Männer aus den Fabriken, die confédérés, die Bewohner der Vorstädte, die hungernden Jugendlichen, die Deklassierten - sie alle kümmerten sich kaum um ›Politik‹. Das Schattenboxen in den Komitees, Räten und Ausschüssen interessierte sie nicht. Dort wurde Revolution im Kopf gemacht, hier fand sie im Bauche statt. Gewiß, von ihren ›Führern‹ hätten sie sich energische Lösungen erhofft - dazu waren sie ja gewählt -, aber die kamen nicht. Trotzdem, das merkte man, war alles wie verwandelt: das Leben, die Arbeit, die Straße. Die Luft schien Revolution zu atmen, und die Revolution, das war klar, mußte weitergehen.
Für das Gros der Pariser Bevölkerung war der 18. März ein Tag der Entladung gewesen. Mehrere Monate hatte die Stadt einer Belagerung standgehalten, die die sozialen Gegensätze klar wie nie zuvor hatte erkennen lassen. Während die Arbeiter hungerten und verhungerten, während das Fleisch von Ratten zu festen Marktpreisen gehandelt wurde, konnte jedermann sehen, daß es dem Bourgeois an nichts fehlte. Wer Geld hatte, der aß. Seine Interessen waren durch den Krieg nicht bedroht, für ihn ging das Leben weiter wie gewohnt. Er machte Profit, ganz gleich, ob im Namen des Kaisers, der Republik oder der Preußen. Wie Hohn klangen die patriotischen Phrasen, mit denen man die jungen Arbeiter in den Krieg getrieben hatte, jetzt, angesichts einer unfähigen und tumben Regierung, die sich, als es brenzlig wurde, nach Bordeaux abgesetzt hatte. Die Regierung war in den Augen der einfachen Menschen nichts weiter als eine Bande schmarotzender Nichtsnutze. Der Staat - darauf wurde in jenen Tagen gespuckt. Die Commune - die war naheliegend, überschaubar und konkret. Dafür, daß diese Freiheit erhalten bliebe und sich entwickeln könnte, dafür würde man kämpfen, und für diesen Kampf notfalls auch den Preis bezahlen. Und der Preis, darüber gab es im Proletariat dieser Stadt keine Illusionen, wäre der Tod.
Diese Menschen waren gewiß keine ›Anarchisten‹, ebensowenig wie sie ›Blanquisten‹, ›Jakobiners‹, ›Kommunisten‹ oder ›Republikaner‹ waren - obwohl es von all jenen auch überzeugte Anhänger unter ihnen gab. Die Pariser Commune war keine ideologische Revolution, sondern eine Revolution der Gefühle. Ihre konkreten Errungenschaften, ja selbst ihre Proklamationen und Dekrete sind, gemessen an den politischen Idealen ihrer Protagonisten, mehr als mager. Man wird ihre Bedeutung nicht an ihren Ergebnissen messen können, sondern an dem Geist der Menschen, die sie gemacht und gelebt haben. Und der war so überwältigend spontan, antiautoritär und staatsverachtend, daß es verwundert, wie sich schon einige Wochen später ein Karl Marx schreibend auf die Seite der communards schlagen konnte.
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Es scheint, als habe er die Kröte wohl oder übel schlucken müssen: Das waren nicht die disziplinierten, zentral geleiteten deutschen Parteiproletarier, von denen er träumte, sondern Menschen, die sich nicht vereinnahmen ließen. Sie erklärten Paris nicht zur Hauptstadt einer neuen französischen Regierung, sondern setzten auf die freie Föderation autonomer Kommunen. Es waren Menschen, die die Siegessäule Napoleons niederrissen oder öffentlich eine Guillotine verbrannten, und daraus ein Volksfest machten. Es waren Milizionäre, die zwar revolutionäre Kämpfer, aber keine gehorsamen Soldaten sein wollten. Menschen, die ohne den Befehl aus irgendeiner Zentrale Barrikaden bauten, rote und schwarze Fahnen schwenkten, miteinander sangen, aßen, kämpften und schließlich untergingen.
In der Tat war die Pariser Commune die erste bewaffnete, spontane Massenerhebung des modernen Proletariats. Es gelang ihr, ein großes, zusammenhängendes urbanes Gebiet zu befreien und sich selbst zu organisieren. Sie tat die ersten Schritte zu einem sozialen Experiment, bei dem die hergebrachten Autoritäten so herausfordernd in Frage gestellt wurden, daß die alten Kräfte fürchterliche Rache nahmen.
Die Rache des Staates
Während die preußischen Truppen in aller Ruhe abwarteten, organisierte die französische Regierung von Versailles aus eine regelrechte Reconquista* gegen das eigene Volk, für die schwerlich ein milderes Wort gefunden werden kann als das einer Blutorgie. Sie dauerte volle 45 Tage. Fast alle großen Gestalten der Commune fanden auf der Barrikade den Tod, wo viele ihn zuletzt auch gesucht haben mögen. Nachdem die Truppen des Generals Mac Mahon die Innenstadt erobert hatten, dauerte es noch acht Tage, bis in den Arbeitervororten der letzte Widerstand gebrochen war. Zuletzt verteidigte man sich Straße um Straße, Haus um Haus.
Die Regierung Thiers hatte schon zuvor jegliche Verhandlungen abgelehnt und proklamiert, es würde kein Pardon gegeben. So wurde es auch gehalten. Gefangene und Verwundete wurden exekutiert, auch vor der Erschießung von Frauen und Kindern schreckte man nicht zurück. Es schien, als wolle der französische Staat die Schmach seiner Niederlage gegen die Deutschen in einem Gemetzel gegen die eigenen Landsleute wieder wettmachen. Am Ende zählte man in den Straßen von Paris über 20.000 erschossene communards. 40.000 Menschen wurden bis Ende Mai verhaftet, von denen viele noch auf dem Weg zum Gefängnis mißhandelt oder füsiliert wurden. Die Kriegsgerichte verurteilten 18.700 Menschen, davon 270 zum Tode und 7459 zur Deportation.
Man hat dieses Massaker als Reaktion auf die Erschießung von Geiseln durch Kommunarden zu rechtfertigen versucht. So verfehlt das Aufrechnen von Morden auch ist, muß diese Legende hier doch ins rechte Licht gerückt werden – nicht zur Rechtfertigung, sondern zur Klärung von Ursache und Wirkung. In der Tat hatte die Commune am 6. April das "Geiselgesetz" dekretiert, und zwar nachdem die ersten Nachrichten über die Erschießung von Gefangenen durch Versailler Truppen zum erbitterten Ruf nach energischer Vergeltung geführt hatten.
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Demnach sollten für jeden weiteren erschossenen Gefangenen drei Personen, die bereits der Zusammenarbeit mit dem Feind überführt worden waren, hingerichtet werden. Von dieser Drohung erhoffte man sich ein Ende der Gewalttaten, zumal zu den Geiseln so prominente Männer wie der Erzbischof von Paris zählten. Obwohl sich diese Hoffnung nicht erfüllte, schreckte der Rat vor der Erschießung der Geiseln zurück. Erst in den letzten Tagen holten föderierte Nationalgardisten den eigenen Tod vor Augen, 100 Geiseln aus ihren Kerkern und erschossen sie.
Louise Michel und die Rolle des Anarchismus
Für die anarchistische Bewegung war die Commune von Paris Bestätigung und Niederlage zugleich. Bestätigt hatten sich ihre Auffassung vom Charakter einer sozialen Umwälzung: von den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Triebkräften der einfachen Menschen, dem weit verbreiteten Wunsch nach Revolution und den Kräften der Spontaneität. Ironischerweise war auch die Niederlage der Bewegung in gewissem Sinne eine Bestätigung – nämlich der schlimmsten Befürchtungen. Befürchtungen hinsichtlich der folgenschweren Bevormundung durch eine autoritäre Avantgarde. Befürchtungen über das ungeklärte Verhältnis zwischen der aufmüpfigen Masse und einer libertären Organisation. Befürchtungen vor allem aber bezüglich der ungehemmten Bereitschaft des Gegners, jedes Aufbegehren im Blut zu ersticken. Diese Lehre sollten die Arbeiter der Welt so schnell nicht wieder vergessen. Seit dem Mai 1871 nannte man den Bourgeois in aller Welt nur noch den "Klassenfeind", und dieses Wort entsprach ohne jene Übertreibung den Maßstäben, die die französische Armee im Auftrag des französischen Staates und im Interesse des französischen Bürgertums gesetzt hatte.
Die Pariser Anarchisten haben in der Commune einen hohen Blutzoll gezahlt. Die meisten Aktivisten, unter ihnen Varlin und Vermorel, starben unter den Kugeln der Armee. Die wenigen Überlebenden der Pariser Sektion der Internationale wurden deponiert oder mußten ins Exil fliehen, unter ihnen die Brüder Elie und Elisee Reclus, die in den folgenden Jahren großen Einfluß auf die libertäre Bewegung nehmen sollten. Von besonderer Faszination aber ist die Figur der Louise Michel, deren bewegte Erzählungen und Tagebücher aus den Tagen der Commune einen lebendigen Eindruck von jenem Geist der Freiheit vermitteln, der Paris damals erfaßt hatte. Sie berichtet nicht aus dem Hôtel de Ville* mit seinen Phrasen, Spaltungen und Intrigen, sondern von den Orten, an denen sie das kleinliche Mittelmaß vor den Realitäten des wirklichen Lebens verblassen sah: die Straße, das Viertel, der Vorposten, die Barrikade - Orte der Solidarität. Diese bemerkenswerte Frau, die 1855 als junge Lehrerin nach Paris gekommen war, die Commune als republikanische Patriotin begann und als überzeugte Anarchistin verließ, sparte nicht mit scharfer Kritik an den revolutionären Defiziten des Aufstandes, an dessen Basis Frauen eine ganz entscheidende Rolle spielten. Aber sie Schilden auch das Gefühl von Freiheit und Hoffnung, das Zigtausende erfaßte. Louise Michel wurde vor das Versailler Kriegsgericht gestellt, wo sie, anstatt sich zu verteidigen, eine wortgewaltige Anklage gegen ihre Ankläger erhob.
Für sich selbst forderte sie, gleich anderen Revolutionären behandelt zu werden und lehnte jede Bevorzugung als Frau ab – sie bestand auf ihrem eigenen Tod. Die Richter schickten "la bonne Louise", wie das Volk sie nannte, lieber nach Neukaledonien in die Verbannung. Dort wirkte sie als Lehrerin unter den Eingeborenen, überlebte das Klima und alle Entbehrungen und kehrte schließlich nach Europa zurück. Bis zu ihrem Tode 1905 blieb sie die charismatischste und aktivste Propagandistin des Anarchismus.
Louise Michel verkörpert den freiheitlichen Geist der Pariser Commune weit glaubhafter als die umfangreiche analytische Literatur, die seither über dieses Kapitel verfaßt wurde. Für sie waren die Ereignisse im Frühjahr 1871 schlicht ein Kampf um wirkliches Leben.
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Literatur:
/ Dieter Marc Schneider (Hrsg.:) Pariser Kommune 1871 (2 Bde., Textsammlung) Reinbek 1971, Rowohlt, 207 u. 196 S.
/ N.N.: Die Pariser Kommune 1871 (Textsammlung) Berlin 1979, Libertad, 38 S.
/ P.L. Lavrov: Die Pariser Kommune vom 18. März 1871 Berlin 1971, Wagenbach, 191 S.
/ Klaus Meschkat: Pariser Kommune Köln 1971, Infodruck, 267 S.
/ Heinrich Koechlin: Die Pariser Commune im Bewußtsein ihrer Anhänger Basel 1950, Don Quichotte, 248 S.
/ Gerd Koch: Zerstört den Staat! Marx und Bakunin zur Pariser Kommune Hamburg 1974, Association, in S.
/ Louise Michel: Memoiren Münster 1977, Frauenpolitik, 372 S., ill.
/ N.N.: Frauen in der Revolution: Loiuse Michel Berlin 1976, Karin Kramer, 173 S., ill.
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