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36. Neubeginn auf Trümmern

Wollen wir an 1933 anschließen? Nein!
Nachahmung oder Neugestaltung,  das ist das Problem.
Otto Reimers, 1945

wikipedia  Otto Reimers  1902-84

 

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Der 2. Weltkrieg hinterliess einen unermeßlichen Trümmerhaufen. Das ist ebenso wörtlich wie bildlich zu nehmen. Der Faschismus, der Europa fast eine Generation lang geistig umnachtet und die halbe Welt mit einem mörderischen Krieg überzogen hatte, trat nicht ohne finale furioso von der politischen Bühne. Zerstörte Länder, verbrannte Erde, Hunger und soziale Verödung. Die umständliche Technik, mit der die Nazis 1934 den KZ-Häftling Erich Mühsam ermordet hatten, war von deutschen Technokraten industrialisiert worden. Das Wort "Auschwitz" wurde zum Synonym für das Unaussprechbare, das Undenkbare.

Für viele Menschen ging 1945 eine dunkle Nacht zu Ende; für den Anarchismus sah es eher so aus, als ob auch die Zukunft düster bleiben würde. Ohne Frage gehörte die libertäre Kultur zu den Opfern der faschistischen Ära. Sie war fast überall zwischen die Mühlsteine der großen Politik geraten, pulverisiert und fortgeblasen. Nach dem Krieg waren nicht nur die meisten ihrer Strukturen zerschlagen, auch das Klima, das sie einst hervorgebracht hatte, gab es nicht mehr.

1945 zementierte sich im Osten der Spätstalinismus im Wohlgefühl seines militärischen Triumphes über Hitler. Die UdSSR war jetzt eine allseits anerkannte Großmacht, die an ihrem Westrand ein halbes Dutzend Länder geschluckt hatte. Der Marxismus-Leninismus war zu seiner übelsten Stufe pervertiert und wurde nun den slawischen Volkern und halb Deutschland aufgezwungen. Die neuen Parteidiktaturen ließen nicht den kleinsten Freiraum übrig, und selbstverständlich wurden alle libertären Organisationen zerstört, oft genug auch die Menschen, die sie trugen.

Der Westen verfiel für mehr als zwanzig Jahre dem Aufbaurausch. Wirtschaftliches Wachstum, Anpassung, Konsum und eine weitverbreitete geistige Hohlheit kennzeichnen die Mainstream-Gesellschaft der Nachkriegs-Generation. Mit dem amerikanischen Kapital kam auch der lifestyle Amerikas. Und der führte zu einem neuen deutsch-amerikanischen Zeitgeist aus Egoismus, Konkurrenz und dem Glauben an die unbeschränkten Möglichkeiten, die jeder im blühenden Kapitalismus habe. Man mußte smart sein, kritiklos, clever und sich unterordnen können. Der Kapitalismus blühte, und Millionen Menschen fühlten sich wohl wie die Made im Speck. In ganz Europa wurde das - verständlicherweise - nun sehr genossen. Alles wurde jetzt gut, der Wohlstand kam, die Welt wurde immer perfekter. Kein Problem schien mehr unlösbar, und es würde immer, immer so weitergehen: Fortschritts­glaube wurde bis in die sechziger Jahre zur ungebrochenen Religion des Westens.

Der kalte Krieg zwischen West und Ost gab all dem noch eine besondere Plattheit. Auf beiden Seiten der ideologischen Grenze, die die Welt in gut und böse teilte, wurde fortan nur noch schwarzweiß gedacht. Im Westen bedeutete das die Diskriminierung für jede Art von kritischem Denken, das auch nur entfernt als ›links‹ einzuordnen war.


     Ernüchternde Bestandsaufnahme    

 

Der Anarchismus als Bewegung war so gut wie tot, und die neue gesellschaftliche Situation bot wenig Ansätze für einen neuen Anfang. In manchen Ländern gab es zwischen den Trümmern libertärer Kultur noch Reste, die von ehemaliger Größe zeugten. Niemand aber interessierte sich noch für irgendwelche Dinge, die vor dem Krieg geschehen waren; die Leute schauten voraus und in die Lohntüte.

Ein kritischer Neuanfang und soziale Utopien waren zwar unmittelbar nach dem Krieg weit verbreitete Themen gewesen, kamen aber rasch aus der Mode und galten schon bald als verdächtig. Vor allem aber schienen im sozialen Klima der Nachkriegszeit die Themen obsolet geworden zu sein, die die Menschen der Vorkriegszeit und damit den klassischen Anarchismus bewegt hatten. Damit waren auch seine Aktionsformen und Organisationsmodelle zu Ladenhütern geworden. Selbst die klassenkämpferische Sprache der alten Zeit schien niemand mehr zu verstehen. Es war, als ob zwischen 1933 und 1945 ein Jahrhundert läge.

In vielen Ländern kam hinzu, daß die Bewegung regelrecht vernichtet worden war. Verfolgung, Vertreibung, Deportation, Gefängnis, Hinrichtungen und die hohen Opfer im Widerstand hatten die Zahl aktiver Anarchisten dahinschmelzen lassen. Viele der Überlebenden hatten einfach resigniert. In Deutschland besaßen in dieser trostlosen Zeit vielleicht noch ein paar hundert überlebende Libertäre den Mut und die Kraft, an ihren alten Idealen festzuhalten und einen Neuanfang zu versuchen.

Man kann ohne Übertreibung sagen, daß es dreiundzwanzig Nachkriegsjahre lang eine anarchistische Agonie* gab. Sie war gekennzeichnet von der Unmöglichkeit, sich in neuen sozialen Wirkungsfeldern zu verankern und der Unfähigkeit, zu einer geistigen Erneuerung zu finden. Zum ersten Mal in seiner Geschichte war der Anarchismus rückwärtsgewandt. Da in der Gegenwart Ratlosigkeit herrschte und die Zukunft düster aussah, verlegte sich das Gros der Libertären weltweit auf Nostalgie. Die Publikationen jener Zeit sind voll von Klassikern und Erinnerungen an die diversen anarchistischen Revolutionen. Einer solchen ›Bewegung‹ ging natürlich der Nachwuchs aus. Die Restinseln libertärer Gruppen, Organisationen und Freundeskreise begannen zu vergreisen, ja, sie drohten ganz auszusterben.

Im Grunde gab es nur eine Perspektive, und die lautete: durchhalten, überleben, die Ideen hinüberretten in bessere Zeiten.

Dies ist ein düsteres Bild und hat nur Gültigkeit für die allgemeine Tendenz jener Jahrzehnte. Insofern ist es ein grobes Bild, eine Vereinfachung. In der Bilanz aber stimmt diese Skizze, und die Rechnung ging auf: Als 1968 eine Welle des antiautoritären Protests um die Welt ging, gab es jene libertäre Inseln noch, auf denen der Anarchismus überwintert hatte. Es kam zu einer gegenseitigen Befruchtung, aus der eine neue Bewegung entstand. Deshalb lohnt ein Blick in jene Nischen, in denen eine längst totgeglaubte Idee überleben konnte.

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     Inseln der Hoffnung   

 

Eines der vitalsten Nester saß in Südwestfrankreich. Dorthin hatten sich einige Zehntausend Überlebende der Spanischen Revolution gerettet, die zunächst in Konzentrationslagern interniert worden waren. Nicht zuletzt wegen ihrer hervorragenden Rolle in der Resistance gegen die deutschen Besatzer hatten sie sich in Frankreich ein Bleiberecht erkämpft. Auch im Exil blieb die CNT nach ihren alten Gewerkschaftsstrukturen organisiert und übte jahrzehntelang einen starken Einfluß auf die arg geschwächte französische Bewegung aus. Von hier starteten unmittelbar nach dem Krieg erste Versuche einer internationalen Reorganisation, zu denen auch verschiedene syndikalistische Kongresse gehörten.

Obwohl dabei nicht viel mehr als der Niedergang der Bewegung konstatiert werden konnte, hielt die Mehrheit an einer Fortführung der alten Strategie fest. Zu Streit und Spaltungen kam es immer wieder bei der Frage, wie die Franco-Diktatur zu bekämpfen sei. 1945 waren nämlich nicht alle Faschistenregime gefallen - in Portugal und Spanien blieben die dienstältesten Klerikalfaschos, Salazar und Franco, noch jahrzehntelang unbehelligt im Amt. Es gehört zu den beeindruckendsten Leistungen der Exil-CNT, daß sie fast vierzig Jahre lang in Spanien ein Untergrundnetz unterhielt, Widerstands- und Sabotageaktionen durchführte, Streiks unterstützte und unverzagt Propaganda trieb. In den sechziger Jahren begann die jüngere Generation mit empfindlichen Aktionen gegen den Tourismus, unterhielt eine rege Stadtguerilla und versuchte einige erfolglose Attentate auf den Diktator. Als der greise Generalissimus 1976 starb, zählte die unermüdliche spanische Exil-CNT noch immer knapp dreißigtausend Mitglieder.

Viele spanische Anarchosyndikalisten hatten sich 1936 nach Nordafrika abgesetzt, wo sie ebenfalls kleine Anarchoenklaven unterhielten, die aber nur in Ausnahmefällen ihre kulturelle Isolation durchbrechen konnten. Ähnlich erging es den zahllosen Spaniern, die sich nach Australien retten konnten. Besser hatten es da schon die CNTler, die in Lateinamerika Asyl fanden. In Mexiko, Kuba, Venezuela, Argentinien und Uruguay faßten sie schnell Fuß und integrierten sich mühelos in eine Kultur, die ihnen politisch und sprachlich geläufig war. In diesen Ländern aber war - vielleicht mit Ausnahme Kubas - der Anarchismus ebenfalls in vollem Niedergang begriffen. Selbst dort, wo die Libertären nicht, wie in Argentinien, von den Militärs mit Gewalt ausgeschaltet wurden, kam bei der kritischen Jugend und der kämpferischen Arbeiterschaft zunehmend der Kommunismus in Mode, der seit den fünfziger Jahren enorme Geldmittel in die Infiltration* der Dritten Welt fließen ließ.

Das einzige Land, in dem der Syndikalismus - allerdings in einer etwas zahmeren Variante - relativ unbeschadet überlebt hatte, war Schweden. Hier saß die 1910 gegründete Sveriges Arbetares Centralorganisation mit etwa dreißigtausend Mitgliedern in einigen Wirtschaftsbereichen fest im Sattel, ihre zwei Tageszeitungen konnten ungestört libertäres Gedankengut verbreiten. Schweden war während der faschistischen Ära in vielerlei Hinsicht eine wichtige Drehscheibe gewesen. 1936 organisierte die SAC den Import von Produkten aus den spanischen Kollektiven und unterstützte die Revolution nach Kräften,

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während des Krieges bot das Land vielen Nazigegnern Asyl und diente als Stützpunkt im Widerstand. Nun organisierten die schwedischen Syndikalisten die Hilfe für ihre notleidenden Genossen. Von Lebensmittelpaketen bis hin zum Drucken von Propaganda taten sie, was in ihren Kräften stand. 1951 verlegte die immer noch existierende IAA ihren Sitz nach Stockholm. Aus den spezifischen Erfahrungen in Schweden gingen auch einige der wenigen Innovationsvorschläge der Nachkriegszeit hervor, die dem Syndikalismus einen neu definierten Platz in den modernen Wohlfahrtsstaaten weisen wollten. An ihnen waren auch deutsche Anarchosyndikalisten wie Helmut Rüdiger beteiligt. Seine Schriften wurden auch in Deutschland gedruckt, fanden aber im traditionellen Anarchismus wenig Echo.

In Italien hatten die Anarchisten den Faschismus Mussolinis vergleichsweise besser überlebt als ihre Genossen in Deutschland die rigorosere Verfolgung durch die Nazis. Durch ihre exponierte Stellung im Partisanenkampf genossen sie nach der Befreiung in manchen Regionen ein gewisses Prestige. Dennoch blieb die Bewegung isoliert und unbedeutend - sie kehrte rasch zu den Fraktionierungen des Vorkrieges zurück und versuchte erfolglos, die seit über 20 Jahren verbotenen Organisationen wieder­zubeleben. Besonders krass zeigte sich in diesem Land, wie sich das Kräfteverhältnis in der Linken verschoben hatte. Ähnlich wie in Lateinamerika wurde der Kommunismus zur beherrschenden Kraft im linken Spektrum. Entscheidend kam hinzu, daß sich im Zeitalter des kalten Krieges mit seinen großangelegten Medienkampagnen marginale Gruppen kaum Gehör verschaffen konnten. In den Materialschlachten weltanschaulicher Propaganda, die die Nachkriegszeit prägten, hatten nur die Bewegungen eine Chance, hinter denen Geldgeber standen. Dem Anarchismus leistete kein Land finanzielle und logistische Hilfe; hinter den kommunistischen Parteien aber standen die Sowjetunion und Dutzende anderer Staaten des sogenannten "sozialistischen Lagers". Das schien im Westen ›den Kommunismus‹ zur einzig real existierenden Alternative zu machen, der viele kritische Leute in seinen Bann zu schlagen vermochte. Dies erklärt zu einem großen Teil die Schwäche der libertären Position, besonders in Italien und Frankreich.

 

Deutschland

Das war auch in Deutschland ähnlich, wenngleich die Kommunistische Partei in der Westzone nie eine vergleichbare Stärke erreichte. Besonders nachdem sich der wahre Charakter des Ostzonenregimes offenbarte, ließ auch der zeitweilige Zulauf zur West-KPD schlagartig nach. Im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands hatte sich nämlich eine perfekte Schauinszenierung stalinistischer Staatskunst vollzogen: die angebliche Vereinigung von SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, die später die Deutsche Demokratische Republik aus der Taufe heben sollte. Alle diese Konstrukte waren schöner Schein. Hinter ihr stand der phantasielose, verknöcherte und unterwürfige Rest der Vorkriegskader der KPD, die als Jasager das Exil in Moskau überlebt hatten. Was nun als Stalins Werkzeug zurückkehrte, waren wohl die schleimigsten Büromenschen, die die deutsche Linke jemals hervorgebracht hat.

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Von Sozialismus war in deren Köpfen außer schematischen Formeln nichts übriggeblieben, ihr Leben hatten sie den Parteidirektiven geweiht. Es gehört zu den traurigsten Fehl­leistungen der deutschen Nachkriegsgeschichte, wie diese Riege tumber, grauer "Apparatschiks" in weniger als zehn Jahren all das vergeigte, was in der deutschen Bevölkerung nach 1945 an Bereitschaft zu radikaler Erneuerung steckte.

Die allgemeine Skizze des geistigen Nachkriegsklimas vom Anfang des Kapitels stimmt nämlich auf die ersten Jahre bezogen nur bedingt. Zunächst nämlich herrschte nach dem Krieg überall Aufbruchstimmung. Der Hunger nach Neuem stand dem nach Speck und Kartoffeln auch in Deutschland in nichts nach. Die Jahre nach 1945 brachten einen wahren Ansturm auf Kultur und Bildung, die tiefgreifende Verunsicherung begünstigte eine breite Diskussion über die Zukunft. Im Westen endete diese Phase erst mit der Währungsreform in der Buttercremeära der Adenauerzeit. Vorher waren weite Kreise offen für einen Neuanfang: ohne Armee und Machtspielchen, bereit zu tiefgreifenden Veränderungen. Der gefühlsmäßige Trend zu einer ›sozialistischen‹ Alternative war so stark, daß selbst die CDU in ihr erstes Programm die Sozialisierung der Schlüsselindustrien und des Großkapitals aufnahm - Forderungen für deren Wiederholung sie zehn Jahre später Menschen verfolgen ließ.

Dieser allgemeine Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit war nach zwölf Jahren Diktatur für die meisten Menschen allerdings mit einem ebenso allgemeinen Wunsch nach ›Freiheit‹ verbunden. Diesem doppelten Bedürfnis konnten die klassischen Parteien mit ihren aufgewärmten und hastig umgebauten Ideologien in West und Ost nicht gerecht werden. Die West-SPD verabschiedete sich endgütig von jeglicher Vision und wandelte sich mit aller Kraft zum sozialen Gewissen des Kapitalismus; die Ost-KPD blieb auch als SED so stockautoritär wie eh und je. Dabei hätte sie theoretisch jede Chance gehabt, einen einigermaßen menschengerechten Sozialismus zu verwirklichen, denn Millionen waren in den ersten Jahren aufrichtig bereit, mit Begeisterung und Elan ihr Opfer für einen Neubeginn zu bringen. Aber der Wunsch zu einer freiheitlichen Entwicklung war weder in Moskau noch in Pankow vorhanden. Der DDR-Sozialismus glich schon bald einem Kasernenregime, das den Menschen nicht das Mindeste zutraute. So wurde die schöpferische Kraft der frühen Jahre verspielt; sie endete in Resignation und der Hervorbringung eines neuen SED-Untertanenmenschen. Das Gros der Bevölkerung aber wandte sich ab. Der sogenannte "Arbeiter- und Bauernstaat" erhielt am 17. Juni 1953 von seinen Arbeitern und Bauern hierfür eine erste Quittung: Generalstreik, Schmähung der Partei, Ruf nach Freiheit. Als Antwort schickten die Betonsozialisten ihre Panzer.

Die Anarchisten versuchten trotz ihrer Schwäche, die kleinen Chancen zu nutzen, die im Nachkriegs-Neubeginn lagen. Sie bauten kleine Gruppen auf, gaben unter großen Entbehrungen schon 1945 wieder kleine Zeitschriften heraus, versuchten auch, untereinander den Kontakt zu organisieren. In der DDR allerdings war das schon bald nicht mehr möglich: Viele Libertäre verschwanden in denselben Haftanstalten und Lagern, in denen sie schon unter den Nazis gesessen hatten. Bei aller Verfolgung mangelte es aber in erster Linie an neuen Ideen und einer aktuellen Strategie. Nur zu oft erschöpften sich die Anarchisten in den alten Argumenten und dem Hinweis, daß sie - wie immer - mit ihrer Kritik Recht behalten hätten.

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Viele von ihnen waren mittlerweile auch in linke Parteien oder Verbände eingetreten - teils aus Resignation, teils aus gewandelter Überzeugung. Nur wenige Libertäre betrieben eine Neuorientierung wie der Hamburger Otto Reimers, der ein breiteres linkes Bündnis suchte oder Rudolf Rocker und Augustin Souchy, die vom Ausland her für ein Engagement der Anarchisten auf der Ebene kommunaler Vernetzung plädierten. Statt der Gründung eigener Organisationen empfahlen sie den Eintritt in Gewerkschaften und Genossenschaften. Anarchisten sollten durch ihr Beispiel wirken und sich ansonsten eher kulturell profilieren. Manche Initiativen führten kurzfristig auch zu einer Bündelung der Kräfte, die in den fünfziger Jahren die Föderation Freiheitlicher Sozialisten hervorbrachte, die einzige libertäre Organisation im Nachkriegsdeutschland, die ein gewisses Echo hervorrief. Ihre Zeitschrift Die freie Gesellschaft und ihr reger Buchverlag erzielten einige Achtungserfolge, und obwohl Aktivisten wie Gretel Leinau, Anni und Georg Hepp oder Hans Spaltenstein noch dreißig Jahre und länger durchhielten, mangelte es der kleinen Bewegung insgesamt an Durchschlagskraft. Daran konnte auch das unermüdliche Engagement des vielsprachigen und weltläufigen Altanarchisten Souchy nichts ändern, der ebenfalls bis ins hohe Alter unermüdlich Vorträge in überfüllten Sälen hielt und für den deutschen Nachkriegsanarchismus so etwas wie eine personifizierte Überlebenshilfe war. Sein altersweiser und moderater Anarchismus fand zudem nicht überall Zustimmung. Inzwischen lebten auch alte Streitigkeiten zwischen Fraktionen und Fraktiönchen aus Weimarer Tagen wieder auf, als wäre nichts geschehen.

In dieser schwierigen Zeit fiel jenen Ländern, die vorher eher zu den anarchistischen Mauerblümchen gehört hatten, eine wichtige Rolle zu. In Großbritannien, den Niederlanden, der Schweiz, den USA und, wie wir gesehen haben, in Schweden, waren die Libertären relativ unbehelligt geblieben. Obgleich sie dort in der Regel schwach waren, erfüllten sie nun eine nicht zu unterschätzende Entwicklungs- und Aufbauhilfe für den deutschen Anarchismus. Das galt vor allem für den Druck von Propagandamaterial, aber auch für direkte materielle Hilfe und die Kontinuität der internationalen libertären Diskussion. Viele deutsche Anarchoblätter jener Jahre, als die Besatzungskommandanten die begehrten Drucklizenzen vergaben, tragen im Impressum einen ausländischen Erscheinungsort.

 

Klimaverbesserungen

Während der klassische Anarchismus sich so auf dem absteigenden Weg von der Bewegung zur Sekte befand, erfuhr die libertäre Idee einige Klimaverbesserungen, die sich in jener Durststrecke des Überlebens einer freiheitlichen Weltanschauung vielleicht als lebensrettend erwiesen.

Allem voran ist hier der Triumph eines pazifistischen Libertären zu nennen, dessen vielbelächelter gewaltfreier Widerstand schließlich eine Weltmacht niederrang: Mahatma Gandhi, Symbolfigur des indischen Unabhängigkeitskampfes. Er hatte es fertiggebracht, in mehr als vierzig Jahren konsequent pazifistischer Aktionen eine Massenbewegung aufzubauen, die mit passiver Verweigerung und zivilem Ungehorsam die englische Kolonialmacht dazu brachte, ihre wertvollste Kolonie aufzugeben und sich aus Indien zurückzuziehen. Das riesige Land wird am 15. August 1947 eine eigene Nation.

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Gandhi, Sohn eines indischen Getreidehändlers, kommt schon als junger Student in London mit Kriegsdienst­verweigerern, Atheisten, Theosophen und Anarchisten zusammen, die wie er im Vegetarier-Club verkehren. Besonders beeindrucken ihn die Ideen von Leo Tolstoi, Henry David Thoreau, John Ruskin und Peter Kropotkin. In Südafrika, wo er als frischgebackener Rechtsanwalt zum Wortführer und Organisator seiner unterdrückten indischen Landsleute wird, erprobt er zum Schrecken des britischen Gouverneurs eine neue und ganz ungewöhnliche Taktik: protestieren, boykottieren, nicht kooperieren und dabei immer freundlich und korrekt bleiben. Als er 1914 nach Indien zurückkehrt, wird er zum Inspirator einer gewaltlosen Volksbewegung, die durch eine endlose Kette von Streiks, direkten Aktionen und massenhaften Gesetzesübertretungen die Obrigkeit langsam zermürbt und das Selbstbewußtsein des indischen Volkes stärkt.

Obwohl Gandhi sich gelegentlich auch als "Anarchist" bezeichnete, ist seine spezifisch indische Variante einer libertären Ethik deutlich weiter gefaßt als der europäisch geprägte Mainstream-Anarchismus. In ihr fließen spirituelle, sozialistische, religiöse, anarchistische und intuitive Elemente zusammen, die weit mehr in der indischen Kultur als in der europäischen Arbeiterbewegung verwurzelt sind. Gandhi verachtet den Staat ebenso wie die Gewalt, sein Gesellschaftsideal beruht auf Toleranz, Gleichheit und Harmonie. In der dezentralen Föderation autarker dörflicher Gemeinden sieht er das Rückgrat einer freien Gesellschaft.

Als er im Januar 1948 von einem radikalen Hindu ermordet wird, avanciert der bereits zu Lebzeiten ungemein populäre sanfte Rebell weltweit zum Idol einer ganzen Generation. Noch heute sind viele Anarchisten der Meinung, Gandhi sei der erfolgreichste libertäre Revolutionär der Geschichte gewesen und seine Weltanschauung der konsequenteste Ausdruck anarchistischer Philosophie. Gandhis Triumph des gewaltfreien Umsturzes wurde leider nicht von seiner Vision einer libertären Gesellschaft gekrönt. Indien wurde ein Staat, in dem er selbst kein Regierungsamt übernehmen mochte. "Das unabhängige Indien", schrieb Bertrand Russell, "hat Gandhi zu einem Heiligen gemacht und alle seine Lehren ignoriert." Die Nation, die er hinterließ, wurde eine von sozialem Elend und ethnischen Unruhen geschüttelte Großmacht, die mit ihren inneren Konflikten ebenso autoritär verfuhr wie jeder beliebige Staat. Gandhis Beispiel aber sollte Schule machen und zum klassischen Vorbild für die Bürgerrechtsbewegungen und sozialen Kämpfe der westlichen Nationen werden.

 

Ganz anderer Art war ein Experiment, das ab 1950 in Jugoslawien begann. Hier hatte eine Partisanenarmee unter Josip Broz Tito die deutsche Wehrmacht bekämpft und nach deren Niederlage eine sozialistische Regierung installiert, die aber schon 1949 mit Stalin brach und einen eigenständigen Kurs steuerte. Die jugoslawischen Kommunisten waren undogmatischer als ihre moskau­hörigen Genossen, und Tito brüstete sich, den wahren Kommunismus getreu den Schriften von Karl Marx zu verwirklichen.

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Aber auch hier gelang die Quadratur des Kreises nicht: Die Partei überzog das Land mit einer lähmenden Bürokratie, der Elan der Menschen versiegte, die wirtschaftliche Lage war bedrückend. In dieser Situation schlug ein enger Kampfgefährte Titos, Milovan Djilas, als Gegengift die ›freie Assoziation der Produzenten‹ vor, mit anderen Worten: die Selbstverwaltung der Industrie durch die Arbeiter selbst. So wurde das "jugoslawische Selbstverwaltungsmodell" geboren: per staatlichem Dekret als Bundesgesetz.

Djilas selbst, der ebenso von Marx wie von Proudhon beeinflußt war, schwebte sicher etwas anderes vor als das, was fortan in dem Balkanstaat praktiziert wurde. Es entstand so etwas wie ein erweitertes Mitbestimmungsmodell. Zwar hatten die Gemeinden und die Arbeiter ein erhöhtes Mitspracherecht, nach wie vor aber blieben staatliche Direktoren und bürokratische Planung. Auch gingen die Fabriken nicht in den Besitz der Belegschaften über. Auf die generelle Wirtschaftspolitik des Landes konnten sie ebensowenig Einfluß nehmen wie es ihnen erlaubt war, in freie Handels- und Tauschbeziehungen zu anderen Gemeinden zu treten. Für die Partei schien diese wohldosierte Selbstverwaltung nichts weiter als eine vorübergehende Medizin zu sein, um Menschen zu motivieren, Bürokratie einzusparen und die Wirtschaft anzukurbeln. All das ist in gewissem Maße auch eingetreten. Für die Libertären aber war es ein eindrucksvolles Beispiel dafür, daß Freiheit nicht von oben verordnet werden kann. Selbstverwaltung allein als eine bessere Form des Industriemanagements taugt nicht dazu, aus einem autoritären Staat ein libertäres Gemeinwesen zu machen - eine Erfahrung, die sich wenig später auch im Selbstverwaltungsexperiment der jungen Nation Algerien wiederholen sollte.

Djilas, einst Minister und Vizepräsident, versuchte vergebens, die halbherzige Reform in eine authentische Selbstverwaltung zu verwandeln. Wegen seiner wiederholten Kritiken fiel er schließlich in Ungnade und verbrachte lange Jahre im Gefängnis.

 

Besonders hilfreich erwies sich schließlich der Einfluß einiger prominenter Intellektueller, die einen Beitrag zur Kontinuität libertären Denkens jener Jahre leisteten, als libertäres Handeln nicht auf der Tagesordnung stand.

George Orwell, der schon im Spanischen Bürgerkrieg auf Tuchfühlung zu den Anarchisten gegangen war, lieferte mit seiner beißenden Parabel "Farm der Tiere" und dem zum Kultbuch gewordenen Roman "1984" eine zeitlose Kritik am staatlichen Totalitarismus moderner Massengesellschaften. Seine Bücher, in denen die Absurdität ideologischer Rechtfertigungsmuster ebenso thematisiert werden wie der elektronische Überwachungsstaat und die Macht der Massenmedien, gehörten jahrzehntelang zur Standardlektüre kritischer Menschen.

Zu den libertär gestrickten Geistern jener Jahre zählte auch der hochangesehene britische Philosoph und Nobelpreisträger Bertrand Russell, ein überzeugter Pazifist und nimmermüder Organisator des zivilen Ungehorsams. Sein Engagement für Abrüstung und Menschenrechte machte ihn zum Vorläufer der neuen sozialen Bewegungen, und er gilt den Ostermarschierern ebenso als geistiger Vater wie der Friedensbewegung oder Amnesty International. In gewisser Weise verkörperte Russell in Europa das Vermächtnis Gandhis, dem er sehr nahe stand.

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Ähnlich dachte auch Albert Einstein, was bei einem führenden Mitarbeiter des amerikanischen Atombomben­projekts paradox erscheinen mag. Die inneren Konflikte eines überzeugten Pazifisten freiheitlich-jüdischer Gesinnung, sich dem Bau einer Atombombe zu verschreiben, um damit Hitler zuvorzukommen, dürften sich auf der Höhe einer griechischen Tragödie bewegt haben. Einstein, der stark von Gandhi, Russell und Rocker beeindruckt war und kaum politische Literatur verfaßte, wirkte vor allem durch Interviews und provokante Lebensart.

Die breite Sympathie, die sein antiautoritär-respektloses Verhalten allseits erregte, ist ebenso ein Indiz für den latent vorhandenen libertären Geist jener Zeit, wie die fast epidemische Anhängerschaft, die ein junger Amerikaner namens Garry Davis fand. Der ehemalige US-Soldat kam 1948 auf die provozierende Idee, sich als "Weltbürger" zu fühlen und die Staatsgrenzen einfach zu ignorieren. In Paris verbrannte er öffentlich seinen Paß und spielte jahrelang mit den Behörden Katz und Maus. Die "Weltbürgerbewegung" schwoll in kürzester Zeit auf Hunderttausende Anhänger an, die überall die staatliche Autorität ins Lächerliche zogen und in spektakulären direkten Aktionen die Aufhebung aller Grenzen forderten. Einer ihrer Anhänger war Albert Camus, der Literatur­nobel­preisträger des Jahres 1957. Der im Widerstand gegen die Deutschen politisierte Schriftsteller, der in seinen Romanen zur gewaltfreien Revolte gegen den gesamten Irrsinn der modernen Staatlichkeitskultur aufrief, faszinierte die kritische Jugend der frühen sechziger Jahre nicht nur in Europa. Von allen sogenannten "existentialistischen" Autoren stand er den Anarchisten am nächsten.

Mit den französischen "Existentialisten*", die einen nachhaltigen Einfluß auf Philosophie, Politik, Kunst und jugendliche Subkultur der sechziger Jahre ausübten, beginnt das Ende der selbstzufriedenen, satten Nachkriegsära. Eine neue Generation ist herangewachsen, die angesichts der staatlichen Heuchelei einen zunehmenden Gesellschaftsekel empfindet und artikuliert*. 

Die gängigen Ideologien werden zunehmend in Frage gestellt, und politischer Widerstand beginnt sich zu formieren. "Entkolonial­isierung" wird hierbei zum zentralen Thema. In Algerien und Indochina toben blutige Kriege, im Nahen Osten, Lateinamerika und Schwarzafrika geraten alte Werte ins Wanken, kolonialisierte Völker erwachen und Alternativen scheinen sich anzubieten. Ein neues Thema beginnt, die alte Ausrichtung der europäischen Linken am Klassenkampf zu verdrängen: die "Dritte Welt".

 

 

Literatur:

Günther Bartsch: Anarchismus in Deutschland, Bd. I 1945-1965 Hannover 1971, Fackelträger, 314 S., ill.
Rudolf Rocker: Die Möglichkeit einer anarchistischen und syndikalistischen Bewegung - eine Einschätzung der Lage in Deutschland Frankfurt 1978 (1947), Freie Gesellschaft, 36 S.
ders.: Gefahren der Revolution (3 Aufs.) Hannover 1980 (1952), Die Freie Gesellschaft, 34 S.
Carl Langer: Föderalismus und Freier Sozialismus London, New York, Paris 1948, 16 S.
Willy Huppenz: Kapitalismus oder Gemeinschaft freier Menschen Köln o.J., 19 S.
Thomas Schmidt: Anarchistische Versuche einer politischen Neuordnung nach dem 2. Weltkrieg und in den 50er Jahren in Westdeutschland. Gießen 1987, Magisterarbeit, 110 S.
Horst Stowasser: Eine unbedeutende Sache (22 S., zu Anni und Georg Hepp) in: Horst Scharnagl (Hrsg.): Das hört nie auf Frankfurt 1983, AZ, 1918., ill.
Helmut Rüdiger: Sozialismus in Freiheit vgl. Kap. 32!
George Woodcock: Leben und Wirken Mahatma Gandhis Kassel 1980, Weber, Zucht & Co, 123 S.
Gandhi Informations­zentrum (Hrsg.): Das Leben und Wirken von M. K. Gandhi Kassel 1988, Weber, Zucht & Co, 304 S., ill.
Augustin Souchy: Jugoslawiens revisionistischer Kommunismus in: Vorsicht Anarchist! vgl. Kap. 33!
Hans Jürgen Degen: Wir wollen keine Sklaven sein! Der Aufstand des 17. Juni 1953 Berlin 1988, Libertad, 46 S.
Garry Davis: Die obige Einschränkung ist hiermit aufgehoben Basel 1977, Lenos, 266 S.

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