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4.1 - Die unbequeme Rede vom Gericht

 

 

  Eine verdrängte biblische Grundkategorie 

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Den konkreten Kern der theologischen Qualifikation der Gegenwart bildet in den biblischen Zeugnissen ein Thema, das uns heute - auch in der Theologie - fremdartig und nur schwer zumutbar vorkommt: die Botschaft vom Gericht. Die ältesten Schichten der Prophetenbücher beinhalten vor allem Ansagen des Gerichts. Die deuteronomistische Theologie nach dem Scheitern des Königtums und dem »babylonischen Exil« Israels hat ihr gesamtes Geschichtsbild auf der Gerichtsverfallenheit des Bundesvolkes aufgebaut.(7) Das Apokalyptische an der späteren Apokalyptik sind die katastrophalen Gerichtsszenarien, und auch in der Predigt Jesu vom anbrechenden Reich Gottes ist dessen Heil die an sich unerwartete Wendung für eine zuvor dem Gericht verfallene Menschheit.(8)

1. Gericht als Geschichtsfolge: Die zentrale Bedeutung des Gerichts für die Bibel ist Ausdruck ihres Wirklichkeitsverständnisses. Wissen um das, was ist, bedeutet für sie gleichzeitig immer Wissen um das, was die Differenz zwischen gewollter Schöpfung und tatsächlicher Welt ausmacht. Mit beidem - mit der Erzählung der Schöpfung, die gut ist, mit dem Paradies, mit dem Sündenfall und der Austreibung aus dem Garten Eden - beginnt die biblische Geschichte (Genesis 1-2). Hier ist schon verdichtet, gewissermaßen systematisiert, was die Propheten in ihrer Wahrnehmung insbesondere der politischen, sozialen und religiösen Verhältnisse stets eingetragen haben. Es ist ihr kritisches Apriori: Biblische Vernunft denkt »ein Verhältnis von Gott, Welt und Mensch ..., das nicht nur im passiven Hinnehmen dessen, was ist und geschieht, besteht, sondern in Urteilsfähigkeit und Urteils­bereitschaft; das ist wohl biblisch-jüdisch und unterscheidet sich von manchem östlichen Weltverhältnis, das Urteil immer als etwas Gewaltsames, der Realität sich Sperrendes, Eingreifendes, Manipulierendes ablehnt. ... Die Bibel hat die gesamte Menschheitsgeschichte vom Garten Eden an bis heute auch als das Drama des Kampfes um eine Unterscheidung von Recht und Unrecht, Gut und Böse erzählt. ... Eine Gerichtsperspektive ist eine Grundform des biblischen Wirklichkeits­verständnisses.«(9)

Dieses kritische Apriori ist dem biblischen Wirklichkeitsverständnis so tief eingeschrieben, dass es von der beurteilten Geschichte der Menschen her auch die Schöpfung, d. h. die »Natur« mit einbezieht. Es besteht ein »geschichtlicher Schicksals­zusammenhang ... zwischen Mensch und Welt.... Die Schöpfung ist demgemäß in die Geschichte einbezogen.«10 Deshalb wird nach dem Sündenfall der Ackerboden verflucht (Genesis 3,17), deshalb beschreiben die apokalyptischen Szenarien auch »ökologische« Katastrophen (mit Dürre, ausgeleertem Meer und einstürzenden Bergen), und deshalb dokumentiert sich für Paulus die Unvollendetheit der Welt darin, dass die gesamte Schöpfung nicht etwa statisch fertig ist, sondern »in Seufzen und Wehen« liegt (Römerbrief 8,22).

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In der biblischen Gerichts-Theologie wird zwar für aufgeklärtes Denken in naiv-mythischer Weise vom direkten Eingreifen Gottes in das politische Weltgeschehen gesprochen. Dennoch ist ein solcher Deus ex machina nicht die eigentliche Aussageabsicht. Zu deutlich ist die Korrespondenz zwischen dem Weg der Menschen, der zum Gericht führt, und den Formen, in denen es ihn ereilt: Die Reichen prassen und unterdrücken die Armen - so wird der Krieg ihren Reichtum zerstören und sie demütigen (z.B. Arnos 5,7-15 und 6,1-14). Die Könige Israels und Judas verlassen sich auf eine Bündnispolitik mit den Großmächten - so werden sie sich in ihr verheddern und am Ende von den Großmächten unterjocht (z.B. Jeremia 2,14-19).

Das Volk vertauscht den Glauben an den einen Bundesgott Israels mit den Kulten der Fremdgötter - so wird es in die Verbannung geführt, in den Machtbereich der Götzen (z. B. Ezechiel 12,1-16). Im Gericht wirkt sich aus, was die Menschen anrichten. Hier ernten sie die Früchte ihres Tuns, nicht kausal-linear, aber doch in einer Art Korrespondenz. Das Gericht ist gewissermaßen die Antwort, die Gott in der Geschichte auf die menschliche Projekt-Geschichte gibt. »In der Apokalypse des von uns mit erwirkten Schreckens >erscheint< Gott, den wir verfehlt haben.«11 Bei den Apokalyptikern sind es schließlich die Großreiche, die in ihrer eigenen Hybris untergehen (z. B. Daniel 8,19-25), so wie in mythischen Zeiten das Projekt des Turmbaus zu Babel in der Zerstreuung und Sprachenverwirrung endete, im Zivilisationsbruch (Genesis 11,1-9).

Andererseits ist der Zusammenhang zwischen Recht und Gericht durchaus auch problematisch: Denn es geht im Gericht keineswegs gerecht zu. Es trifft nicht punktgenau die Schuldigen. Das Gericht ist biblisch überwiegend ein kollektives Geschehen, es reißt die Beteiligten hinunter in seinen Strudel. Wenn es die Reichen trifft, gehen ja auch Arme mit zugrunde. In die Verbannung werden auch die Gott Treuen geschickt, und häufig stehen die Propheten selbst - so wie später Jesus - gerade in der Mitte der Katastrophe. Das Gericht ist also keine Strafe im juristischen Sinn: Es ist nicht angemessen, es spricht selten individuelle Urteile.

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Die Apokalyptiker haben sich allerdings - nach ähnlichen Ansätzen in den Prophetenbüchern (z. B. in Ezechiel 18) - bemüht, die Gerichtsszenarien stärker mit dem Gerechtigkeitsgedanken zu verbinden. In ihren Katastrophen­schilderungen wird dann zwischen der Strafe für die Ungerechten und der Wiedergutmachung für die Gerechten unterschieden. Exegeten betonen dies gerade für die christliche Apokalypse am Ende der Bibel, die Johannes-Offenbarung. Ihre ausufernden Schreckensgemälde schildern bei genauem Hinsehen gar keine allgemeine Menschheitskatastrophe, sondern Gottes ultimative Rettungs- und Vergeltungs-Aktion.12 Allerdings ist dabei zweierlei bemerkenswert: Zum einen nähert sich die Apokalypse damit dem späteren Gedanken des »Jüngsten Gerichts« an, schildert also nicht mehr ein geschichtliches Ereignis - wie etwa die Propheten den Untergang des judäischen Königreiches -, sondern das Ende der Geschichte. Zum anderen hat die Rezeption der Apokalypse in der christlichen Tradition die Gerichtsszenarien stets auch als Bedrohung für sich selbst gelesen. Die frommen Christen haben also gefürchtet, was - streng genommen - ihnen gar nicht galt. Mir scheint, dass sie damit eine recht »realistische« Auslegung betrieben haben, indem sie erkannten, dass Tendenzen einer moralisch-theologischen Sublimierung nicht wirklich durchdringen, wenn sie die ursprüngliche geschichtstheologische »Intuition« zu sehr rationalisieren.

Weil das Gericht keine säuberliche Strafe ist, sondern eine Aus-Wirkung der Geschichte, eignet sich die Botschaft vom Gericht auch nicht für eine pädagogische Theologie. Die Propheten predigen zwar auch Umkehr und sprechen konditionale Drohungen aus. Aber die eigentliche Gerichtsansage ist nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern Eröffnung der harten Wahrheit.

Besonders lupenrein lässt sich diese Gerichtsansage als Qualifikation der Gegenwart beim Propheten Amos ablesen. Der Sinn seiner Rede ist es nicht mehr, Hoffnung zu machen. »Das Unheil ist bereits zu weit gediehen, als dass es noch abgewendet werden könnte.«13

So fremdartig und krude diese biblische Theologie des Gerichts zeitgenössischen Christen meist erscheint - weshalb sie, ganz gegen ihr Gewicht in den Texten, im Glaubensbewusstsein eine sehr marginale Rolle spielt -, so sehr entspricht sie doch gerade modernen, nicht-religiösen Geschichtserfahrungen.

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Die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg erfüllte die aufgezeigten Kriterien des Gerichtsgeschehens in mehreren Aspekten, und vielen Zeitzeugen war durchaus auch bewusst, dass sie die bitteren Früchte deutscher Politik ernteten, dass sich die Verbrechen der Angriffskriege und der Massenvernichtungen nun nach innen zurück auswirkten. Sie wussten, dass der Auslöser der Katastrophe in dem Jubel steckte, mit dem die Mehrheit von ihnen den Aufstieg des »Dritten Reiches« und die ersten siegreichen »Blitzkriege« begleitet hatte. Viele erwarteten sogar eine weit schlimmere Zukunft für ihr Land, als es dann tatsächlich eintraf.

In diesen Erwartungen wurde die Korrespondenz von geschichtlichem Handeln und Gerichtsgeschehen geradezu erfahrbar, so evident wie in archaischen Sagen - und doch war dieses Gericht denkbar ungerecht: Es strafte in Bombennächten und bei Vertreibungen Schuldige ebenso wie Unschuldige, und tendenziell litten die schlimmsten Täter weniger als jene, die zuvor schon Opfer oder zumindest auch Opfer gewesen waren. Das Gericht war keine allen gerecht werdende Strafe, und auch die Justiz scheiterte mit ihren Gerichten über weite Strecken bei dem - oft halbherzig oder gar widerwillig unternommenen - Versuch, Gerechtigkeit herzustellen. Kein befriedigendes, kein reinigendes »jüngstes Gericht« ereignete sich 1945 und danach, sondern ein Gericht als geschichtliche Katastrophe, - darin dem, was die biblischen Propheten- und Geschichtsbücher uns vorstellen, nicht unähnlich.

 

2. Die Gerichtskategorie anwenden: Aber kann die Rede vom Gericht als geschichtstheologische Grundkategorie der Bibel auf die Diagnose der gegenwärtigen ökologischen und sozialen Katastrophe angewandt werden? Die Frage ist wohl schon falsch gestellt. Sie »kann« nicht - im Sinne einer Prüfung, ob der Bezug passt, ob er funktioniert und aufgeht -, sondern sie muss! Es gibt eine sich aufdrängende Evidenz, die gegenwärtige Menschheits­katastrophe im Licht der biblischen Rede vom Gericht zu betrachten. Dieser Bezug stellt sich notwendig ein, er ist nicht zu umgehen. Das gilt es zunächst zu zeigen. Wie dann mit diesem Befund umzugehen ist, stellt sich als zweite, nicht als primäre Frage.

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Zwei Beispiele:

»Gott wird seinen Zorn über Spanien ausgießen«, schreibt der Dominikanerpater und frühe Menschenrechtsanwalt der Indios Lateinamerikas, Las Casas, in seinem geistlichen Testament. Für Spanien könne man im Rückblick auf die Kolonisierung der Welt ruhig Europa einsetzen, kommentiert dies Tzvetan Todorov.14 Die Conquista, auf die sich Las Casas bezieht, markiert den Beginn jener Zerteilung der Welt, welche in die heutige soziale Katastrophe führte. Die Gerichtsprophetie ist ihr von ihrem Anfang her mitgegeben.

Was die ökologische Katastrophe angeht, so lässt der haitianische Schriftsteller Jaques Roumain eine seiner Romanfiguren angesichts der Erosion und Waldvernichtung in seiner Heimat sagen: »Ich sage die Wahrheit: Nicht Gott hat den Menschen aufgegeben, der Mensch hat die Erde aufgegeben und erhält nun seine Strafe: Dürre, Elend und Verwüstung.«15 Die Aussage wirkt wie ein Echo auf die alttestamentliche Feststellung, nach der das Gericht nicht den Bundesbruch Gottes bedeutet, sondern aus dem Bundesbruch der Menschen resultiert. Aber das Gegenüber des Sprechers rebelliert gegen diese Botschaft: »Ich will dich nicht mehr hören. ... Deine Worte gleichen der Wahrheit, und die Wahrheit ist vielleicht eine Sünde.«16

Tatsächlich grenzt die harte Wahrheit der Gerichtsrede an eine Versündigung. Im Romanzitat steckt sie in der Ungerechtigkeit des Wortes Strafe; denn die Erosion auf Haiti straft so wenig gerecht wie die ökologische Katastrophe insgesamt zuerst und stärker die Opfer und nicht die Auslöser der Katastrophe trifft. Es ist diese »Sünde« in der Härte der Gerichtsbotschaft, die sie in der aufgeklärten Theologie so sehr in Verruf gebracht hat. Und doch identifiziert die Gegenstimme in Roumains Roman diese »Sünde« gerade mit der »Wahrheit«: In dieser unerträglichen Härte steckt sie, und wer sie sublimieren oder ganz weglassen - »nicht mehr hören« - möchte, der bringt den Glauben an Gott gerade um das, was er der menschlichen Vernunft zufügen kann, was diese aus sich nicht hat.

Der biblische Theologe, der mich auf den Roman von Roumain aufmerksam gemacht hat, hält den Bezug der Gerichts-Botschaft auf die ökologische Katastrophe nur

»dann für theologisch legitim, wenn sie zur besseren Analyse der Wirklichkeit, zur Benennung realer gesellschaftlicher Ursachen ökologischer Krisen und damit auch zur Bekämpfung der Strukturen der Sünde führt. Wo der Nexus von ökologischer Katastrophe und kollektiver Sünder der ideologischen Verschleierung von Schuld und Verantwortung dient und der Resignation Vorschub leistet, sind falsche Propheten am Werk.«17

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 In einem Aspekt gebe ich dieser Stellungnahme Recht, nämlich wenn es um die Verschleierung von konkreten Schuld-Zusammenhängen geht. Es wäre ein Missbrauch der Gerichtsrede, sie ähnlich wie die Rede vom »Teuflischen« oder »Dämonischen« der Nazi-Herrschaft so einzusetzen, dass alle Katzen - Täter wie Unbeteiligte oder Opfer - in der Nacht der großen Schuld grau aussehen. Auch Theologie des Gerichts muss also konkret und unterscheidend sein. Andererseits aber kann es für die Wahrheit der Gerichtsrede kein ausschließendes Kriterium sein, ob sie Resignation erzeugt oder zum richtigen Handeln führt. Prophetische Theologie ist keine Pastoraltheologie. Vielmehr vertraut sie darauf, dass die Wahrheit uns frei macht (Johannes 8,32).

 

  Zum Himmel schreiende Sünde   

Das Bewusstsein, dem Gericht verfallen zu sein, kennen Religionen offensichtlich auch dann, wenn sie sich nicht so intensiv wie die biblische Vernunft auf Geschichte beziehen. Religionswissenschaftler finden es bei den uns wohl fremdesten Riten, bei Kopfjagd und Menschenopfer. Von einer Gesellschaft in Indonesien heißt es etwa: »Man erwartete von der Tötung eine heilbringende Wirkung. Menschenopfer schienen den Ngadju-Dajak... immer dann erforderlich, wenn durch Tod, Seuchen, Missernten oder Verbrechen die kosmische Ordnung und Harmonie gestört war. Ihre Wiederherstellung setzte das Sterben der Kultgemeinschaft voraus. Alles musste durch Blut gereinigt und durch Nachvollzug der Schöpfung erneuert werden: Der eigene Tod wurde auf den Opfersklaven als den Stellvertreter übertragen.«18 Auch der Kannibalismus wurde als Selbstopfer gedeutet: Ein Kriegs-Feind oder ein Verbrecher brachten sich indirekt selbst dar.

Natürlich war dies die Ausnahme. Normalerweise genügten stellvertretende Opfer, Pflanzen und Tiere.

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»War aber das Verbrechen so schwer, dass selbst die Opferung eines Wasserbüffels nicht mehr genügte, dann musste der Schuldige selbst das Opfer sein.«19 Dieser Zwang setzt offenbar das Gefühl voraus, ohne diese äußerste Tat, also durch deren Unterlassung, selbst dem Tod verfallen zu sein. Das Opfer-Ritual ist also ein Gericht, welches dem Gericht zuvorkommt, eine Selbstjustiz gewissermaßen, die verhindert, dass die Verhältnisse völlig aus dem Lot geraten.

Die Religionen, welche biblisches Denken prägt, sind durchdrungen von Schuldbewusstsein und funktionieren weitgehend wie eine Maschine zur Abwendung des eigentlich zu erwartenden Gerichts. Das hat man dem Christentum seit Anbruch der Moderne, die sich freier fühlt, häufig vorgeworfen. Die vielfach an die Stelle der Religion getretene psychologische Aufklärung ist eher eine Maschine zur Auflösung von Schuldgefühlen. Die individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen beider Konstrukte gegeneinander abzuwägen, ist hier nicht der Ort. Aber wenn am Ursprung des Gerichts-Themas die Erkenntnis von Schuld steht, die nach Wieder­gutmachung verlangt, dann muss sich die Konfrontation unserer geschichtlichen Situation mit der Theologie diesem Zusammenhang stellen.

Dabei hat auch die biblische Vernunft auf die Religion zunächst eine aufklärende, entmythisierende Wirkung gehabt: Der Gott Abrahams will kein Menschenopfer mehr. Er macht dies in der verhinderten Opferung Isaaks, dem einzigen Sohn des Erwählten, dramatisch klar (Genesis 22). Danach bleiben alle Pflanzen- und Tieropfer eigentlich nur noch Symbole des mit Abraham geschlossenen Bundes; sie appellieren an diesen Bund, stellen ihn aber nicht selbst her. Die Propheten greifen deshalb das unaufgeklärt zelebrierte Opferritual selbst an: »Recht tun« rettet, nicht opfern (Micha 6).

Die ethische Opferkritik und die prophetische Gerichtspredigt gehören eng zusammen, weil sie das Opfer als Ersatzhandlung, die das Gericht abwenden soll, de-struieren. In der Zeit der apokalyptischen Verschärfung bleibt der Widerspruch: Die Religion hängt am Opfer, inzwischen reduziert auf den Tempel in Jerusalem, aber das Opfer rettet nicht aus dem Gericht, wenn der Bund mit Gott faktisch gebrochen wurde. Die Negativität der Geschichte trennt die Einigkeit zwischen Gott und Mensch, die durch das Opfer immer und immer wieder bestätigt wurde.

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Paradoxerweise geht die biblische Religion im Horizont apokalyptischen Denkens zur Zeit Jesu und danach einen eigenartig widersprüchlichen Weg zur Bewältigung dieses Opfer-Gerichts-Komplexes: Das Judentum verliert durch Gewalt seinen Tempel und transformiert sich in eine opferlose Religion des richtigen Verhaltens. Theoretisch wird zwar - in Erwartung seiner messianischen Wiederherstellung -am Opferkult festgehalten, praktisch aber hat er sich als überflüssig erwiesen. Die Christen dagegen deuten das Ende des Tempelkultes einerseits als Gericht und Endpunkt und als Zeichen des neuen Bundes, der Zeitenwende. Andererseits ersetzt bei ihnen ein reales Opfer das rituelle: In Jesu Tod hat Gott Abrahams Opfer nun nicht mehr durch einen Widder ersetzt, sondern durch seinen eigenen Sohn. Ein stellvertretendes Selbst-Menschen-Opfer hat das Gericht in Heil gewendet, das die Jünger Jesu apokalyptisch heraufziehen sahen. Das Reich Gottes, welches Jesus ankündigte, kommt nun durch sein Pascha, sein Ostern hindurch.20 Das Gericht hat sich also ereignet, es war unabwendbar und notwendig; aber gerade darin, dass der Messias es übernahm, hat es sich als Gottes Heils-Zusage erwiesen - als das, was Opfer stets bewirken wollen: Versöhnung. So ist das Christentum zwar eine Religion ohne blutige Opfer, aber in ständiger, auch kultischer Beziehung auf ein solches.

Die Theologie der Moderne hat die Dialektik von Opfertheorie und Opferkritik, von Aufhebung und Überbietung der Opfer zum Anknüpfungspunkt genommen, um in unterschiedlichen Ansätzen eine Versöhnungslehre zu formulieren, die nicht den kultischen und juristischen Kategorien verhaftet bleibt. Sie tat das zu Recht in Verantwortung für das Bild des biblischen Gottes, der nicht wie ein Moloch erscheinen darf, der Blut sehen muss, um beruhigt zu werden, der das Böse mit Leid abgegolten sehen muss, um vergeben zu können, der -wie die mittelalterliche Theologie sagte - »Satisfaktion« verlangt, damit die Dinge wieder in Ordnung kommen. Solch ein Gottesbild ist den biblischen Schriften tatsächlich fremd. Deshalb benutzen sie die kultischen und juristischen Kategorien immer so, dass sie gleichzeitig überdehnt und dadurch gesprengt werden.

Sachlich und theologisch geht es in biblischer Opfer-Theologie um den Ort einer Gegengeschichte zur Unheilsgeschichte der Menschheit.

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Die Propheten in Fürbitte, stellvertretendem Leid und Isolation stehen seit Elija dort, wo das Volk und insbesondere seine Könige nicht stehen wollen, dort, wo die Folgen des aufgehäuften Unrechts und Götzendienstes sich ansammeln. Im Jesaja-Buch wird dies in der Prototyp-Gestalt des »Gottesknechtes« (Jesaja 53) verdichtet. Bei den Apoka-lyptikern sind solche Gottesknechte die Gerechten und Märtyrer, die sich dem Druck der Großmächte widersetzen.

Das Neue Testament schildert Jesus in der Spur dieser Gestalten als Propheten, Gottesknecht, leidenden Gerechten, Märtyrer. Dabei ist Jesus keineswegs jemand, der Leid und Tod sucht, kein Asket, der durch Selbstkasteiung Gott stellvertretend beschwichtigen will. Er steht einfach für die Gegengeschichte dessen, was er Reich Gottes nennt; er provoziert dadurch die Machthaber des Status Quo - und ist bereit, die Folgen zu tragen. So wie die biblische Geschichtsdarstellung - in der Antike recht einzigartig - fast durchweg eine Dekon-struktion der Macht und ihrer Projekte, eine Geschichte Israels gegen sich selbst gelesen darstellt, so erzählen die Evangelien von der Geschichte Gottes in der Welt in der Gestalt Jesu, die dort steht, wo niemand stehen möchte, die dadurch die Auswirkungen dieser Geschichte erfährt, der sich sonst jeder entziehen möchte. Das ist der eigentliche, innerste Erzählkreis der in die Kategorien eines Dramas von Opfer und Gericht gekleideten Theologie von Gottes Schöpfungswillen und menschlichem Geschichtshandeln, wie die biblische Vernunft sie belichtet.

Das Gerichts-Thema ist also die dunkle Rückseite des Evangeliums, der Botschaft von der Versöhnung, um die es den biblischen Schriften eigentlich geht. Es ist - wie die protestantische Theologie sagt - das »fremde Wort« Gottes, das aber von der Predigt der Propheten bis zum Nachweis des Paulus im Römerbrief, »dass alle in den Ungehorsam eingeschlossen sind« (Römerbrief 11,32), not-wendig ist, um zu begreifen, worum es auf der hellen Seite eigentlich geht. Geschichts-theologisch betrachtet, kann man der biblischen Vernunft einen tiefen Pessimismus nicht absprechen: Weil sie nichts beschönigt und relativiert, sondern die faktischen Verhältnisse der Welt in den grellen Gegensatz zu dem stellt, was von Gott her Welt sein könnte und sollte, muss sie zu dem Schluss kommen, dass die so genannte Normalität die des verlorenen Paradieses ist und auf dem Weg zu Schlimmerem.

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Der tiefe Graben, der die biblische Vernunft von der gleichzeitig entstehenden und später mit ihr sich verwebenden griechisch-abendländischen Vernunft trennt, ist diese Nicht-Akzeptanz des Faktischen, diese Weigerung, das Vorgefundene einfach zu analysieren und seine Prinzipien zu denen der »Natur« zu erklären. Biblischer Vernunft genügt es nicht, die Welt zu interpretieren. Es kommt vielmehr darauf an, ihr zu widersprechen.

Es liegt ein ontologischer Protest gerade im Schöpfungs-Axiom der Bibel: Alles, was ist, ist - gemessen an der ursprünglichen Schöpfung - schon verkehrt. Das ist die Kehrseite des atemberaubenden Schöpfungs-Optimismus, der alle Träume des Menschen darüber, wie es eigentlich sein sollte, nicht für Flausen und Utopien hält, sondern für die ursprüngliche Perspektive Gottes.

Dass Krieg - wie Unterdrückung, Unfreiheit, ja (nach den prophetischen Hoffnungs-Bildern) sogar Weinen - »um Gottes willen nicht sein darf« (wie ein Slogan der kirchlichen Friedensbewegung lautet), heißt umgekehrt: Eine Welt voll Krieg, Unterdrückung, Unfreiheit und Weinen ist eine Welt, die in Gottes Willen nicht gemeint war, sie ist deshalb dem Gericht verfallen. Das biblische Denken steht im Gegensatz zu dem Heraklits, nach dem der Krieg der Vater aller Dinge ist. Wo der Vater aller Dinge Gott ist, muss die an ihm orientierte Vernunft - für andere Vernunft geradezu irrational - die Verhältnisse der Menschheit verwerfen.

Deshalb bezeichnet die Kreuzestheologie des Paulus die Weisheit der Versöhnung als eine Torheit und ein Ärgernis für die realistische, die angepasste menschliche Logik (1. Korintherbrief 1,21-24). Denn diese Weisheit der Christen muss durch eine Umkehrung der Werte hindurch, muss, um das Gemeinte zu erkennen, die Verhältnisse verwerfen - und solche Verwerfung bedeutet Gericht. Deshalb ist die Notwendigkeit der Rede vom Gericht für die biblische Vernunft evident. Ohne dieses Gegen-Wort, ohne die Verwerfung dessen, was um Gottes willen nicht sein darf, müsste sie alle Hoffnung fahren lassen, weil dann ja zu Recht bestände, was ist. Auf dem Höhepunkt seiner Argumentation um weltliche und Kreuzeslogik bezeichnet Paulus deshalb Gottes Erwählung durch die Auferweckung Jesu - die Ursprungserfahrung christlichen Glaubens - als einen Schöpfungsakt gegen die Ontologie: »Das, was Nichts ist, hat Gott erwählt, um das, was etwas ist, zu vernichten« (1. Korintherbrief 28).

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Die katholische Tradition hat - nicht in der großen theoretischen Theologie, sondern in der Unterweisung, der Verkündigung - eine biblisch orientierte Lehre formuliert, die diese Evidenz der Rede vom Gericht vermittelt: Es ist die »Lehre von den himmelschreienden Sünden«. Paul Zulehner hat sie in seiner Pastoraltheologie als Grundlage für eine prophetische Praxis der Kirche wieder ausgegraben.21 In dieser Lehre wurden einmal nicht - wie sonst überwiegend in den Katechismen, etwa bei den so genannten Todsünden - individuelle Sünden-Typen für die Beichtpraxis zusammengetragen, sondern die in biblischen Erzählungen anschaulichen sozialen Grund-Sünden gehoben, die unsere Verhältnisse prägen: Zum Himmel schreit das Blut des Brudermords (Genesis 4); die kollektive sündige Realität von Sodom und Go-morra produziert eine Klage, die bis zum Himmel dringt (Genesis 19); Gott hört das Klagegeschrei der in Ägypten versklavten Israeliten (Exodus 3), er hört aber auch die Klagen der Witwen, Waisen und Fremden, also der schutzlos Benachteiligten im Volk und die Schreie der Arbeiter, denen ihr gerechter Lohn vorenthalten wird (Deuteronomium 24).

In einer geradezu naiven Bibellektüre hat diese Lehre einfach die Schandtaten gesammelt, in denen - ausgehend von der berühmten Stelle Genesis 4,10 um Kain und Abel - eine Klage über ein Unrecht als zum Himmel schreiend oder als vom Himmel gehört bezeichnet wird. Im Ergebnis bietet diese Bibellektüre erstaunlicherweise ein Bild unserer sozialen Normalität, die so ist, wie sie um Gottes willen nicht sein darf: Es ist die Realität von Mord und Krieg, von Dekadenz und Verrohung, von Versklavung, von sozialer Benachteiligung und Ausbeutung. All dies aber »macht Geschichte«, erscheint geradezu als ihre Triebkraft. Dass solche Verhältnisse zum Himmel schreien, ist für jeden unvoreingenommenen, nicht innerlich gepanzerten Zeitgenossen unmittelbar einleuchtend.

Für den Glauben an Gott bedeutet dieses Zum-Himmel-Schreien aber mehr: nämlich, dass Gott unbedingt parteiisch gegen diese Verhältnisse steht, dass er sie verwirft.22 Angesichts der himmelschreienden Sünden kann Gott nur als Richter vorgestellt werden, sein von den Schreienden ersehntes Kommen als Gericht. Solange Gott nicht das Gericht über diese Verhältnisse bringt, steht sein Gottsein auf dem Spiel, ist er gewissermaßen selbst mit angeklagt.

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Deshalb ist die biblische immer auch eschatologische Vernunft: Für sie steht der Selbsterweis Gottes noch aus. Ihr Denken appelliert an ihn. Dieser Appell ist ein Schrei - denn nicht die Sünde als solche kann ja schreien, sondern die unter ihr Leidenden können es, die Opfer. Für sie aber muss der gnädige und versöhnende Gott - den die moderne Theologie so gern auf Kosten der Gerichts-Thematik stark macht, weil es angenehmer klingt - ein Gott des Gerichts, der Verwerfung und des Umsturzes sein. Für die Täter jedoch - also alle, die sich ehrlich eingestehen, auch auf der Täter-Seite zu stehen - ist letztlich genauso evident, dass es Erlösung, wenn es sie überhaupt gibt, nur über das Gericht über jene Verhältnisse geben kann, denen sie verhaftet sind und an denen sie faktisch mitwirken.

Die Lehre von den himmelschreienden Sünden prägte die kirchliche Verkündigung noch bis in die Moderne und wurde sogar zu einer der Grundlagen der päpstlichen Soziallehre im 20. Jahrhundert. Aber in den 1960er Jahren verschwand sie aus den Lehrbüchern und von den Kanzeln.23 Einem freundlich-optimistischen Zeitgeist war sie wohl zu moralistisch und angestaubt. Vielleicht ist dieses Verschwinden aber auch ein Indiz dafür, dass den reichen Kirchen des Westens der Blick für die Realität himmelschreiender Sünden immer mehr abhandenkam. Denn bezeichnenderweise entstand genau zur gleichen Zeit in der Dritten Welt eine Theologie, die ein modernes Pendant zu der alten Lehre entwickelte: Die Befreiungstheologie sprach jetzt von sozialer Sünde und von der Situation bzw. den Strukturen der Sünde. Diese Formulierungen gingen in offizielle Dokumente der lateinamerikanischen Bischofskonferenz ein. Sie wurden von den Gegnern der Befreiungstheologie kritisiert, weil Sünde doch nur individuell, ethisch verantwortbare Tat sein könne, also nur das Handeln von Individuen und nicht ein Kennzeichen von Verhältnissen.

Leider wurde gegen diese Kritik aus bürgerlichem Bewusstsein nicht mehr auf die alte Lehre von den himmelschreienden Sünden verwiesen, die es besser wusste: Krieg, Sklaverei, Dekadenz und Ausbeutung sind natürlich das Ergebnis ungezählter Handlungen Einzelner - und jede Sünde hat ihre Täter -, aber im Ergebnis sind sie doch mehr.

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Verhältnisse schreien zum Himmel, wenn sie unrettbar von Sünde imprägniert sind, wenn es sich in ihnen ohne Sünde faktisch nicht leben lässt, wenn sie also auch nicht mehr durch die ethischen Entscheidungen Einzelner, sondern nur noch durch den Umsturz, das Gericht, die Revolution verändert werden können. »Wir haben es hier mit einem theologischen Urteil über eine gesellschaftliche Realität zu tun.«24

 

  Das Gericht beginnt beim Hause Gottes 

Die Anwendung biblischer Denk-Kategorien auf die apokalyptische Situation der Gegenwart ist allerdings ein dialektisch komplexerer Vorgang, als ich bisher deutlich gemacht habe. Denn die biblische Vernunft ist ja nicht nur die Herkunft apokalyptischen Denkens und des Gerichts-Gedankens, die ich hier beide auf die Deutung unserer gegenwärtigen Situation anwende. Sie ist zugleich eine Herkunft dieser Gegenwart selbst, insofern die ökologische und soziale Katastrophe der Menschheit aus der Zivilisation herausgetrieben wurde, die von der biblischen Religiosität geprägt war. Es ist die christliche Welt, die das Projekt neuzeitlicher Naturbeherrschung und die Zerteilung der Welt im Zuge ihrer Eroberung von Europa aus begonnen hat und immer noch beherrscht. Es ist in dieser Welt das kapitalistische Wachstumsparadigma herrschend geworden, das inzwischen global als Max Webers »stählernes Gehäuse« wirkt.25 Wer also das Thema des Gerichts zitiert, um die apokalyptische Situation der Gegenwart zu deuten, der muss sich auch der Verstrickung der biblischen Vernunft in die Entstehung dieser Gegenwart stellen.

Erst mit diesem komplizierenden Schritt wird die Situation des Subjekts der theologischen Gegenwartsanalyse deutlich: Diese Analyse ist möglich und notwendig für »uns«, die wir zugleich unsere Wurzeln in der biblischen Vernunft haben und auf der »Täter-Seite« der apokalyptischen Situation der Gegenwart stehen. Die theologische Gegenwartsbestimmung »muss eine theologische Reflexion auf unsere Situation sein«. Und »wesentliches Merkmal unserer Situation ist unser Reichtum.«26

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Unsere Reflexion ist nicht die des ermordeten Abel, nicht die der Sklaven, der Marginalisierten und Ausgebeuteten, ist also nicht der Schrei, den die himmelschreiende Sünde auslöst, sondern entspringt der Konfrontation mit ihm. Wir sind die, die ihn hören müssen, so wie wir die Gerichts-Botschaft der Propheten hören müssen. Unsere Theologie ist eine Reflexion von Adressaten dieser Prophetie.

Wer die notwendige Aktualisierung der Gerichts-Prophetie im Zeitalter des Christentums erkannt hat, musste sich schon immer in eine paradoxe Situation begeben. Das gilt insbesondere wieder für die Con-quista, den katastrophischen Anbruch der Zerteilung der Welt im Namen des Christentums. »Bischof Juan de Valle von Popyan sagte 1551, er habe mehr den Eindruck, in Babylon zu leben als im Königreich Spanien. Bruder Juian Carces, von 1528-1542 Bischof von Tlaxcala, sprach von Ninive, jener alten Hauptstadt des grausamen assyrischen Reiches, um seine Bischofsstadt zu kennzeichnen, und wies sich selbst die Rolle des Propheten Jona zu.«27

Noch verwickelter wurde die Situation, weil diese Propheten sich nicht nur gegen Zustände wenden mussten, die sie eigentlich bei den anderen vermuteten - wofür Babylon und Ninive standen -, sondern weil sie auch die Unterdrückung ihrer Verkündigung und Verfolgung von Christen erdulden mussten. Diese Erfahrung machen viele ihrer Nachfolger gerade in Lateinamerika bis heute. Pater Antonio Vieira klagte 1662 mit bitterer Ironie: »Wenn Christen die Verkündiger des Glaubens verfolgen, dann haben sie sicher auch einen schwerwiegenden Grund, weshalb sie sie verfolgen.«28

Die Irritation dieser Glaubensboten rührt daher, dass die Maximen, die sie wie selbstverständlich aus den biblischen Zeugnissen abgeleitet haben, sozusagen in deren eigenem Geltungsbereich nicht nur außer Kraft gesetzt, sondern sogar aktiv bekämpft werden. Für diese Glaubenszeugen war das eine schwere Anfechtung; denn es stand zwar nicht die Evidenz der Botschaft selbst, wohl aber die Treue Gottes zu seinem Geschichtshandeln in Frage: Wo sollte sein Reich wachsen, wenn nicht im Herrschaftsbereich derer, die vorgaben, an es zu glauben?

Die Verwicklung der biblischen Religion selbst in eine Situation, die nach ihren Maßstäben nach dem Gericht schreit, kann jedoch bei näherem Hinsehen nicht weniger schmerzhaft, wohl aber weniger unerwartet erscheinen, als es auf den ersten Blick wirkt.

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Gewiss bedeutet es eine tiefe Anfechtung für gläubige Menschen, zeigt sich doch, dass ihre Erben sich in einen kaum überbrückbaren Gegensatz zu den eigenen Wurzeln begeben haben. Andererseits ist aber genau dies nach dem Geschichtsbild der Ursprungszeugnisse biblischen Glaubens zu erwarten. Die Propheten Israels haben nämlich nur in zweiter Linie gegen Babylon und Ninive gepredigt, in erster Linie aber gegen das eigene Volk und seine Machthaber. Die Geschichtsbücher des Alten Testaments haben als kritischen Zielpunkt das Gericht, das über Israel und Juda selber kommt. Die Apokalyptiker erwarten zwar am Ende den Sturz der Weltmächte; aber ihre aktuelle Sorge gilt dem Abfall in den eigenen Reihen, der Anpassung an den Mainstream der Welt, gegen den sie zum Widerstand aufrufen. Und in einer der späten  Schriften des Neuen Testaments steht der Satz: »Jetzt ist die Zeit, in der das Gericht beim Hause Gottes beginnt« (1. Petrusbrief 4,17).

Dieser Satz im Ersten Petrusbrief ist als Trost für eine Gemeinde gedacht, die sich Anfeindungen ausgesetzt sieht. Das Leiden um Christi willen soll mit Stolz ertragen werden, weil es ein Zeichen der anbrechenden Endzeit ist. Sie beginnt mit der Prüfung der Gläubigen, bevor dann das Gericht über die Welt kommt. In einer späteren Zeit jedoch, in der die Christen selbst in der Welt zu Macht gekommen waren, änderte sich die Sicht auf diese Gerichtsansage sehr bald. So fragt sich Augustinus in seiner Geschichtstheologie »Der Gottesstaat«, warum der staatliche Niedergang und die Plünderung durch die Germanen ausgerechnet das christlich gewordene Rom treffe. Dabei stößt er zunächst auf das, was ich schon die Ungerechtigkeit des geschichtlichen Gerichts genannt habe: »dass mit den Bösen auch die Guten betroffen werden, sobald es Gott gefällt, verdorbene Sitten auch mit zeitlichen Strafen zu vergelten.«29

Aber er bleibt bei dieser einfachen Aufteilung in Gute und Böse, in »wir« und »die anderen« nicht stehen. Denn sind die Christen, insbesondere ihre Führer, nicht in besonders hohem Maße für die zum Himmel schreiende Sünde einer in die Irre gehenden Welt verantwortlich?

»Hier geht es nicht einmal um die gleiche, sondern um eine viel schwerere Strafwürdigkeit, denn das sind die Menschen, zu denen der Prophet spricht: >Jener wird in seiner Sünde sterben, aber sein Blut werde ich von der Hand des Wächters fordern< (Ezechiel 33,6). Denn dazu sind die >Wächter<, das heißt die Vorgesetzten der Völker, in den Kirchen eingesetzt, dass sie es nicht an der Rüge der Sünden fehlen lassen.«30

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Die urchristliche Gerichtserwartung ist als die einer kleinen neuen Bewegung, einer »Sekte« ohne öffentliche Anerkennung, noch wenig vom eigenen geschichtlichen Verantwortungsbewusstsein geprägt. Sobald diese Bewegung aber selbst »Geschichte macht«, wird ihre apokalyptische Gerichtserwartung mit der großen Gerichts-Tradition der Bibel verbunden. Wenn sie nicht zu einer billigen Ideologie verkommen will, muss sie sich selbst als Adressat der Gerichtsprophetie ansehen, muss sie die selbstkritische Struktur der biblischen Geschichtsschreibung aktualisieren. Die interessiert sich im Kern gar nicht für die Schlechtigkeit der Welt, sondern für den Abfall der Kinder Gottes, für den Bundesbruch derer, die es besser wissen müssten. >»Sünde< ist vor allem das Versagen derer, die Gott sich als Helfer erwählt hat. Die Gottlosigkeit der Gottlosen wirkt dagegen wie ein Kinderspiel.«31 Die Schuld der Träger biblischen Glaubens, also derer, die diesen Glauben in der Welt verantworten, ist ein Bundesbruch, der die Bewahrheitung des Geschichtshandelns Gottes verhindert, der sozusagen Gott nicht zur Welt kommen lässt. »Die Sünde, die als Schuld der Christen ihre eigentliche Schärfe erhält, ist nicht eine Sünde neben anderen Sünden.«32

F. W. Marquardt hat den Gerichtsgedanken als Bestandteil einer geschichtstheologisch orientierten Eschatologie wieder in die systematische Theologie hereingeholt. »Gottes Gericht beginnt bei denen, denen er sich am tiefsten verbunden und die er in seinen Dienst berufen hat«, schreibt er. »Als von Gott Berufene sind sie ja am tiefsten gefährdet, ihn zu verleugnen, zu verraten, zu fliehen.... Für Israel und die Gemeinde kann darum schon die Weltgeschichte etwas von einem Weltgericht haben.«33 Diese hegelianisch anmutende Formulierung gebrauchte früher schon H. U. von Balthasar in seiner Geschichtstheologie im selben Sinn: »Wenn die Weltgeschichte in einem tiefsten Sinn das Weltgericht ist, dann ist davon nicht das Gericht über die Fernen und Unwissenden offenbart, sondern das Gericht über ... >Babylon in uns<.«34

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In beiden Zitaten ist die Formel von der Weltgeschichte als Weltgericht nicht im hegelianischen Sinn zu verstehen, in dem sie ja bedeutet, dass letztendlich das Recht, der Sinn der Geschichte sich auch durchsetzt, dass die Geschichte ihr Ziel also aus sich selbst heraustreibt. Der Gerichtsgedanke im apokalyptischen Denken, den Marquardt und Balthasar meinen, sieht das Gericht nicht als eine Funktion des dialektischen Fortschritts, sondern als krisenhafte bis katastrophische Aus-Wirkung des Handelns der Menschen.

Die christlichen Kirchen haben dieses Gerichtsverständnis im Laufe ihrer Geschichte weitgehend verdrängt, weil ihre Theologie sich ganz auf das »jüngste«, jenseitige Gericht konzentrierte und eine aktuelle Anwendung biblischer Geschichtstheologie Außenseitern - Apoka-lyptikern und Sekten - überließ. Damit haben sie sich dem Ernst, mit dem die biblischen Schriften das Weltgeschehen betrachten, weitgehend entzogen, haben die Moral privatisiert und die Weltgeschichte der Welt überlassen, als sei sie gleich-gültig, für den Glauben neutral. Weil aber in derselben Zeit, in der diese Verdrängung geradezu theologisches Allgemeingut wurde, die Weltgestaltung von christianisierten Mächten ausging, liegt in dieser Abspaltung des Prophetischen ein tiefer Verrat. »Auf der Spitze des Kirchturms kräht ein Hahn (fast jedem Kirchturm, jedenfalls im Abendland). Es ist der Hahn, der krähte, als Petrus Jesus verleugnete.«35

Die Abspaltung des Gerichts-Themas wurde theologisch gerechtfertigt mit dem Argument, man dürfe innergeschichtliche Vorgänge und die Letzten Dinge des Weltendes nicht verwechseln. In Absetzung gegen einen christlichen Chiliasmus, der in den Zeichen der Zeit den Anbruch des Weltendes erblicken wollte und dem die Hoffnung auf ein messianisches »Tausendjähriges Reich« handlungsleitend wurde, betrachtete man in der kirchlichen Theologie Geschichte und Eschatologie streng getrennt. Dabei übersah man jedoch, dass -selbst noch in den apokalyptischen Szenarien, die sie nah aneinander rücken - die Gerichts-Ereignisse in den biblischen Zeugnissen keineswegs mit dem Weltende, mit einem letzten, die Geschichte tran-szendierenden Eingreifen Gottes identisch sind. Die Kategorie des Gerichts dient vielmehr dazu, die Schicksalsschläge der Geschichte Israels, der eigenen Geschichte also, im Licht des Gottes-Bundes zu deuten, in dem man sich glaubte.

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»Vor allem die politischen Katastrophen in der biblischen Phase der Geschichte Israels ... versuchte man als Gerichtserfahrungen zu verarbeiten.«36 Die Gerichtserfahrung entspringt also geradezu aus der Erfahrung des Widerspruchs der eigenen Geschichte zur geglaubten Berufung, aus der Selbsterkenntnis des Verrats.

Streng genommen ist die prophetische Gerichtserkenntnis nur auf sich selbst bezogen möglich, als Situationsbestimmung seiner selbst vor dem eigenen Anspruch. Sie benennt die eigene Situation als eine solche, die »um Gottes willen nicht sein« dürfte, aber dennoch ist - und sie erkennt die Katastrophen, in die man gerät, als konsequente Folge dieser Situation. So »spürten die biblischen Zeugen in den Tagen politischer Katastrophen das Volk Israel von Gott zum Rechtsstreit herausgefordert«37, in dem die Selbstentschuldigung mit einem abstrakten Fatum, mit den »Sachzwängen«, destruiert wurde.

Das Gericht annehmen heißt, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass die Dinge so gekommen sind, wie sie sind. Deshalb ist die Anwendung des Gerichts-Themas auf die Betrachtung nach außen, auf die Anderen, die Mächte der Welt gewendet, nur am Rande der Selbsterkenntnis möglich - so wie prophetisch Assur, Babylon und Ägypten eigentlich nicht um ihrer selbst willen, sondern in Beziehung zu Israel angesprochen werden. Deshalb versagt die Kategorie des Gerichts auch, wenn sie auf Opfer statt auf Täter bezogen wird, wenn sie den Sinn sinnlosen Leids erklären soll, indem sie den Leidenden ein Schuldbewusstsein einredet, dass zu ihrem Schicksal in gar keinem Verhältnis steht. Dagegen hat sich schon der biblische Hiob in seinen Reden gegen die theologischen Freunde gewehrt.

Deshalb scheitert auch die Anwendung der Gerichts-Kategorie in der »Theologie nach Auschwitz«, in der Anwendung auf die Schoah, solange sie die Opfer erklären und nicht die Täter konfrontieren soll.38

Dass sich die Träger des biblischen Glaubens im Zentrum von dessen Gerichts-Ansagen wiederfinden, ist also kein Widerspruch zu diesem Glauben, sondern gerade in ihm angelegt. Das Gericht gehört »zu einer Grundbestimmung von dem, was Kirche ist...: Sie ist der Kreis der durch Jesus zusammengerufenen Menschen, deren Berufung sie notwendig ins Gericht führt.«

Diese Notwendigkeit ist kein göttlich verordnetes Schicksal, sondern formuliert eine Erkenntnis im Rückblick, eine Quintessenz des Dramas der Menschen, die von der biblischen Geschichte ergriffen, in sie einbezogen wurden. Es gibt offenbar dieses Ergriffensein nicht »ohne tiefste innere Gefährdung ihres Bekenntnisses und Dienstes durch Verleugnung, Verrat, Flucht und Verschweigen.« Es gehört offenbar zu ihr die »Anhänglichkeit an eine >Sache<, zu der wesentlich gehört, dass wir sie nicht durchhalten.«39

Mit dieser Erkenntnis ist keineswegs schon das dunkle Geheimnis aufgeklärt, warum die heutige ökologische und soziale Katastrophe ausgerechnet vom christlichen Europa ausging, und warum offenbar die wesentlich von der biblischen Vernunft mitgeprägte Kultur in diese Krise verantwortlich verstrickt ist.

Es ist wohl die Spur gefunden, in der sich diese Dialektik aufklären lassen könnte. Zunächst aber reicht für unsere Situations-Analyse die Erkenntnis, dass diese Verstricktheit keineswegs die Anwendbarkeit der Gerichts-Kategorie unmöglich macht. Im Gegenteil: Sie verstärkt noch deren Evidenz, denn die Selbsterkenntnis, mit dem »Hause Gottes« im Mittelpunkt des Gerichtsgeschehens und seiner Verursachung zu stehen, ist in der biblischen Prophetie schon angelegt.

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KAPITEL 4  -  Gegenwart braucht Prophetie  -  Theologische Qualifikation der Zeit