Zitate    Start    Weiter

4.2 - Jenseits von Tragik und Ohnmacht

Taxacher-2012

 

156-175

Aber ist diese Anwendung der biblischen Rede vom Gericht auf die Gegenwart wirklich eine theologische Qualifikation und nicht nur eine rabiate Predigt? Ich bin mir der möglichen Einwände auf die apodiktischen Thesen der letzten Seiten wohl bewusst. Ist es wirklich möglich, die säkulare apokalyptische Situation mit den biblischen - prophetischen und apokalyptischen - Kategorien zu deuten? Wird hier nicht kurzschlüssig ein halb-mythologisches Bild der Geschichte auf die moderne Erfahrung von Menschheitsgeschichte angewandt, um das Ergebnis dann als theologisches letztes Wort zur Zeit auszugeben?

Und selbst wenn mit der Gerichts-Ansage gesagt wäre, was sich vom biblischen Horizont her über unsere Gegenwart sagen lässt: Geht diese Rede nicht völlig über unsere Köpfe, nämlich über unser komplexes Bewusstsein von Verantwortung und Ohnmacht, von kollektiver Verwicklung individuellen Handelns hinweg? Macht es sich diese Gerichts-Qualifikation nicht zu einfach, indem sie auf den Klotz globaler Analyse den groben Keil ihres »prophetischen Urteils« setzt?

  Verantwortung in der Überforderung 

Die eben genannten Fragen haben einen klar benennbaren Ausgangspunkt: Inwiefern kann angesichts der ökologischen und sozialen Krise überhaupt konkret von Schuld gesprochen werden? Die Frage verweist auf einen verwirrenden Gegensatz: Obwohl die Situation objektiv als himmelschreiende Sünde zu erkennen ist, lässt sich diese Sünde nur schwer konkreter subjektiver Schuld zuordnen. Denn so furchtbar die Dinge im Ergebnis stehen: Bei ihrer Verursachung »muss nicht immer erkennbar Bosheit im Spiel sein«.(40)

Bei der ökologischen Katastrophe ist das besonders eklatant: Es scheint eine riesige Diskrepanz zwischen gut gemeinten oder zumindest nicht gewissenlosen Einzeltaten und ihrer Kumulation zu einer abgründigen Situation zu bestehen. Und wann begann die Katastrophe, himmelschreiende, das Gericht erwirkende Sünde zu sein? Gibt es überhaupt eine Vergangenheit, in der die Menschen sich qualitativ anders verhielten? Gewiss ist die »Annahme eines paradiesischen Um-weltbewusstseins falsch«.41 Aber muss man daraus schließen, »dass die Krise von dem Augenblick an unausweichlich war, als ein paar Leute ihrem Dasein als Jäger und Sammler den Rücken kehrten und Bauern wurden«?42

Jared Diamond macht die Diskrepanz zwischen Ursachenforschung und Schuldzuweisungen in der ökologischen Krise anschaulich am Beispiel der Osterinsel, von der er sagt, sie sei »im Pazifik ebenso isoliert wie die Erde im Weltraum«. Die Gesellschaft der Insel hat sich selbst einen ökologischen Zusammenbruch bereitet, indem sie die Wälder abholzte und ihre Vogelbestände weitgehend vernichtete. Dabei waren, im Rückblick gesehen, sträflich egoistische Verhaltensweisen im Spiel: »die Fixierung auf den Bau von Statuen und die Konkurrenz zwischen Sippen und Häuptlingen«. Aber ist dies himmelschreiende Sünde oder einfach menschliche Beschränkt­heit?

157


Jedenfalls waren die Osterinsulaner nicht »besonders schlecht oder unvorsichtig«, sie »hatten vielmehr das Pech, dass sie unter allen Völkern des Pazifikraums in der empfindlichsten Umwelt lebten«.43 Wenn man nun die Osterinsel als Modell der Erde nimmt: Wird dann nicht aus der apokalyptischen Situation das, was viele Geschichtsschreiber viel lieber bemühen als prophetische oder moralische Urteile: nämlich Tragik? Gwynne Dyer, der für die Klimakatastrophe höchste Alarmstufe auslöst, meint deshalb auch: »Keinem kann man daran die Schuld geben.«44

Wie die biblische Vernunft die Kategorie des Gerichts entwickelte, um geschichtliche Geschicke zu deuten, so entfaltete die griechische Vernunft - ebenfalls aus religiös-mythologischen Wurzeln - die der Tragik. Beide Kategorien haben das abendländische Geschichtsbe-wusstsein geprägt. Tragik meint dabei die Verstrickung des individuellen Handelns in nicht überschaubare Zusammenhänge. Sie beschreibt die fatalen Folgen, die gegen die eigene Intention sich verselbststän-digen, weil der Einzelne in seinem Wissen und Wollen klein und ohnmächtig ist gegenüber den Mächten und Gesetzen, unter denen er agiert und denen er letztlich ausgeliefert bleibt.

Diese Deutungsperspektive scheint sich für die ökologische Krise geradezu aufzudrängen: Denn seit der Industrialisierung hat der Mensch mit der Technik eine zweite Natur mit ihren eigenen Gesetzen geschaffen, die ihn, obwohl sein Werk, ständig überfordert. Die moderne Erfahrung menschlichen Handelns und seiner Folgen ist die einer »A-synchronisiertheit der verschiedenen menschlichen Vermögen, namentlich die A-synchron­isiertheit des Menschen mit seinen Produkten«, welche dazu führt, dass wir »drauf und dran sind, eine Welt zu etablieren, mit der Schritt zu halten wir unfähig sind, und die zu >fassen< die Fassungskraft, die Kapazität sowohl unserer Phantasie wie unsere Emotionen wie unsere Verantwortung absolut überfordert«.45 Man kann diese mangelnde Synchronisierung auch eine »Inkommen­surabilität zwischen Absicht und Ergebnis« nennen, eine »<Maßungleichheit> ... zwischen den Maßstäben, nach denen die Absichten, und denen, nach denen die Ergebnisse zu messen sind«.46 Ist es dann nicht ungerecht, die Handlungen an den Ergebnissen zu messen, mit gleichem ethischem Maßstab - etwa dem von Kants unbedingter praktischer Vernunft?

158


Muss man die Folgen aus diesem Missverhältnis der eigenen Fähigkeiten gegenüber den Gesetzmäßigkeiten einer einmal ahnungslos losgetretenen Entwicklung nicht tragisch nennen - wie nämlich angesichts dieser Überforderung »die etablierten Regeln von Kausalität und Schuld versagen«?47

Zumindest die modernen Menschen sind »unfähig, die selbst erschaffene Komplexität... zu verwalten«, und deshalb spricht der säkulare Untergangsprophet Gregory Fuller von einem »Dilemma«.48 Ein Dilemma ist eine tragische Situation: Wir können tun, was wir wollen, wir verstricken uns nur noch mehr in den selbst aufgestellten Fallen. Häufig entdecken ja erst die Kinder die fatalen Folgen der einst bejubelten Erfolge ihrer Eltern. Haben sie deshalb das Recht, ihre Eltern schuldig zu sprechen? Und sind sie selbst schuld an ihrem Erbe? Selbst wütende Warner vor der ökologischen Katastrophe müssen zugeben, dass viele »Schäden ... weitgehend unabsichtlich und ungezielt zugefügt wurden, dass z. B. »niemand die weltweite Wasserknappheit bewusst herbeigeführt oder systematisch die Zerstörung dieser Ressource betrieben hat«.49

Es gibt genügend ähnliche Beispiele: »Als Lenoir den Verbrennungsmotor erfand, konnte er sich Städte mit verpesteter Luft nicht vorstellen. Als die deutschen Chemiker die modernen Detergenzien erfanden, sahen sie durchaus nicht Schaumberge auf den Flüssen vor sich ... Und die Forscher, die das DDT entwickelten, kamen nicht auf den Gedanken, dass man diesen Stoff eines Tages im Körper aller Lebewesen antreffen würde.«50

  wikipedia  Étienne_Lenoir_Erfinder (1822-1900)

Besteht also die Schuld dieser Helden des Fortschritts nur darin, dass sie die Folgen ihrer gut gemeinten Erfindungen nicht überblicken konnten, und liegt dies einfach in der Natur des Menschen, in seiner Kleinheit gegenüber den Zusammenhängen der Natur? »Es gibt den Fall,... dass Gesellschaften mit dem, was ...in ihrem Inneren an großen Veränderungen geschieht (durch sie selbst, zumeist aber auf dem Wege der Nebenwirkung) nicht fertig werden, so dass sie den Impulsen und vor allem deren Kumulation ausgeliefert sind, die auf diese Weise von ihnen produziert werden; dass sie einfach nicht genug wissen (und nicht >mitkommen<).«51

Da es aber Menschen nicht möglich ist, sich jeder Veränderung zu enthalten - weil auch das der Natur des Menschen widerspricht -, scheint das Dilemma unausweichlich.

159


Hätte man, dies ahnend, die Einstellung aller Experimente fordern müssen? Und wenn das rückwirkend nicht mehr möglich ist, ist es dann nicht genauso unmöglich, die Folgen einfach wieder abzuschaffen? Diese Folgen sind längst unsere Welt. »Sich aus diesem Waren- und Produktionskosmos herauszuhalten ist natürlich undurchführbar, wie es der Versuch wäre, sich aus der Welt herauszuhalten.«52

Aber was bedeutet es genauer, dass uns eine Situation eher tragisch als schuldhaft vorkommt?

Die Abwesenheit von Schuld meint es jedenfalls auch nicht. Unsere Ohnmacht den Folgen des eigenen Handelns gegenüber entspringt aus einem Konglomerat menschlicher Eigenschaften, die handlungsbezogen sind, also konkret, subjektiv, nicht sozusagen natural. Sie entspringt etwa »aus Nachlässigkeit, Unwissenheit, Gier,... aus Gedankenlosigkeit«.53 Eine ganze Reihe solcher Ursachenbeobachtungen bezeichnen durchaus nicht moralisch neutrale Phänomene. Gerade die immer wieder genannte Unwissenheit ist dies bei näherem Hinsehen nicht, jedenfalls nicht in einer inzwischen erkannten krisenhaften Grundsituation. Mögen hier die ersten Ackerbauern aus dem Spiel bleiben - unsere Situation jedenfalls ist nicht erst seit gestern objektiv erkennbar. Und seither »ist unser Verhalten nicht zu entschuldigen, denn dafür wissen wir bereits zu viel«.54 Paradoxerweise ist also Unwissenheit über die Folgen unseres konkreten Handelns keine Entschuldigung mehr, sobald wir um diese Unwissenheit und ihre möglichen tragischen Folgen wissen.

Das uralte »Ich weiß, dass ich nichts weiß« von Sokrates bezeichnet das Aufgehen einer ethischen Situation. Wo das Dilemma erkannt ist, beginnt gerade die Verantwortlichkeit, auch wenn sie uns dann überfordert. Plötzlich gerät nämlich ins Schwanken, worin wir eigentlich überfordert sind: im Wissen, im Können oder im Wollen? Wo Nicht-Wissen nicht mehr einfach theoretisch bleibt, sondern als Wurzel des Nicht-Könnens gewusst wird (»Wir können eben nicht anders«), befinden wir uns faktisch in der Dimension des Wollens. Im bewussten Nicht-Können verbirgt sich der Unwille gegenüber alternativen Wegen, die durchaus sichtbar sind. Dass lässt sich tausendfach in der gegenwärtigen ökologischen und sozialen Krise beobachten.

160


»Wenn es Hunger gibt, weil Menschen es nicht eigentlich wollen, dass er beseitigt wird, haben wir es mit einem Unvermögen zu tun, das ... nicht der Natur angelastet werden kann.«55 Die reflektierte Tragik bleibt tragisch; sie taugt aber nicht, um in eine bequeme Selbst-Entschuldigung zu fliehen, als gäbe es in ihr keine handelnden Subjekte mehr.

 

   Die Banalität der Apokalypse   

Unsere Frage umkreist genau jene menschlichen Reaktionsweisen auf die säkulare Apokalyptik, die ich in der Analyse der ökologischen Katastrophe als Verdrängung, Kosmetik und Zynismus56, angesichts der sozialen Katastrophe als Festungs-Politik, Spende und Ignoranz(57) geschildert habe. Diente die Analyse dieser Reaktionsweisen dort dem Nachweis, warum eine theoretisch durchaus veränderbare Situation faktisch nahezu unüberwindlich ist, so stellt sich jetzt die Frage nach der theologischen Qualifikation dieser Reaktionsweisen. Denn auch das Wort vom Gericht ergeht ja nicht über die »tote Situation«, sondern über das Verhalten der Menschen in ihr. Deshalb müssen wir genau hinschauen, was dieses Konglomerat von Tragik und Schuld eigentlich ausmacht. Erst dann werden wir in der Analyse biblisches Geschichtsdenken und gegenwärtige Situation nicht einfach platt gegeneinanderhalten, sondern gerade aus der Verwirrung der apokalyptischen Kategorien angesichts der modernen Situation deren tiefere Deutungsfähigkeit erkennen.

Die Tragik der säkularen apokalyptischen Situation erwächst aus der Diskrepanz zwischen der Begrenztheit der handelnden Menschen und der Monstrosität der Folgen ihres Handelns in ihrer geschichtlichen und kollektiven Verwicklung. Dies führt auch zu der enormen Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der globalen Situation und der des eigenen, individuellen Handelns: Die himmelschreiende Sünde des Ganzen mag einem schon aufgehen, während man sein eigenes Leben und sein Umfeld doch weiter als mäßig gute und mäßig böse Normalität wahrnimmt. »Wie wird aus den Geschäften, denen wir uns allesamt hingeben, aber vielleicht auch aus unserem Gerede, unseren Gedanken und Gedankenlosigkeiten, Geschichte? Welchen Platz, welchen Ort haben die Menschen jeweils darin? Das aber heißt zugleich: welche Verantwortung?«58

161


Wie schon bei der Einführung des Themas Gericht, so stellt sich auch bei dessen Komplizierung die Situation der Deutschen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion danach als erschreckendes Paradigma dar: »Auschwitz ... versperrt uns ... den Weg in die Geschichte«, schreibt ein Historiker. Denn wir seien hier konfrontiert mit einem »kaum vermittelbaren Unverhältnis zwischen Mikro- und Makrogeschichte«.59 Viele Deutschen sahen das Monströse der Makrogeschichte von nur zwölf Jahren mit ihren eigenen Erfahrungen der Mikrogeschichte nicht zusammen. Die himmelschreiende Sünde des Ganzen konnten sie nicht leugnen, aber ihre eigene Wahrnehmung war die einer Art Normalität in unnormalen Zeiten, weshalb sie Schuld und Ohnmacht, Täter-, Opfer- und Zuschauerrolle kaum auseinanderhielten. Die meisten Beteiligten schrieben in ihren Erinnerungen deshalb nicht von Schuld, sondern von Tragik.

Nun soll hier die NS-Zeit nicht mit der unsrigen gleich oder auch nur ähnlich gesetzt werden. Aber als heuristischer Vergleich zur Analyse des tragischen Bewusstseins eignet sich dieser Rückblick: Die nicht durchschaute Diskrepanz von Ganzem und Eigenem und ihre Auflösung ins tragische Bewusstsein hinein prägen »bei allen riesigen Unterschieden« auch unsere Erfahrung der unmittelbaren Gegenwart.

»Die gleiche Mischung von Beteiligung und Ohnmacht, von Schieben und Geschobenwerden können wir auch an den Prozessen unserer eigenen Zeit spüren; wir sind daran beteiligt - zu unter Umständen minimalen Teilen -, wir machen mit, kaufen, legen Geld an, verschmutzen und erwärmen die Luft, reißen ein, bauen auf, verschandeln unsere Städte, lassen unsere Demokratie schlüren ... und sind dabei zugleich, nämlich aufs Ganze gesehen, ohnmächtig.«   (deto-2021: schlüren: so im Buchoriginal)

Der Schriftsteller Botho Strauß formulierte deshalb, es sei heute »das Bewusstsein vom Ganzen der Welt in Ohnmacht gefallen und diese Ohnmacht entlässt noch Seufzer wie ... >Apokalypse der Natur< oder >Wertezerfall<«.60

Die Äußerung von Botho Strauß markiert deutlich, dass die Ohnmachtserfahrung der Gegenwart nicht zeitlos und allgemein-menschlich ist, so wie man es der griechischen Tragik jedenfalls häufig zuschreibt.

162


Sie ist vielmehr die Ohnmachtserfahrung unter den spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne: die der Ohnmacht des Einzelnen und Vereinzelten in einer hochgradig arbeitsteilig organisierten Ökonomie. Dieser bedienten sich schon die Nationalsozialisten bei der Organisation ihrer Verbrechen, und deshalb ist die moderne Ohnmachtserfahrung in ihrer konzentriertesten Form eine Erfahrung »nach Auschwitz«: Das Monströse wird inszeniert in einer ausgeklügelten Arbeitsteilung, in der jeder nur seine Pflicht tut, vom Verwaltungsbeamten über den Polizisten und den Lokomotivführer bis hin zum Arzt und zum Wachmann. In ausgereifter Arbeitsteilung kann offenbar alles, auch das Extremste, noch als Normalität erfahren werden, so dass im Nachhinein die Selbsteinschätzungen in der Erinnerung einander völlig gleichen, obwohl die einen tatsächlich an der Peripherie des Geschehens, die anderen aber mitten darin beteiligt waren. Die Abgabe der Verantwortung in der Arbeitsteilung scheint den Lagerleiter schließlich dem Postboten gleichzustellen, der eine polizeiliche Vorladung übergibt.

Die apokalyptische Situation der Gegenwart ist allerdings kein zentral geplantes und inszeniertes Verbrechen. Aber die verschleiernde Funktion der gesellschaftlichen Differenzierung wirkt auch hier: Vom Verbraucher von Strom und Bananen über den Bankdirektor bis hin zum Staatsmann tun arbeitsteilig alle ihre Pflicht, erleben alle ihre Normalität und fühlen sich alle, auf das Ganze angesprochen, gleich ohnmächtig.

Besonders deutlich wird diese Verschleierung von Verantwortung in der Arbeitsteilung ausgerechnet beim Wissenschaftler als Forscher und Entwickler, der eben noch die tragische Figur abgab, die, das Gute planend, doch das Schlimme bewirkte. Diese Figur ist jedoch nur die halbe Wahrheit, und dies in der Gegenwart mit abnehmender Tendenz. Die Formulierung des heute so wichtigen Politikfeldes »F & E« (Forschung und Entwicklung) stammt in ihrer englischen Urfassung »R & D« (Research and Development) vom »Manhattan Projekt«, also der Entwicklung der US-amerikanischen Atombombe.

In diesem Projekt wurden in einer bis dahin unbekannten Systematik Grundlagenforschung, Entwicklung und Anwendung unter politischer und militärischer Zielstellung miteinander verzahnt.

163


Seither ist das Modell zugleich arbeitsteiliger und integrierter Forschungs-Politik und damit »die Militärforschung zur Lokomotive des Fortschritts geworden«. Und diese »Mobilmachung bezieht alle Disziplinen ein«. Denn die Militärforschung als größter Geldgeber wirkt weit in anscheinend zivile Forschungsbereiche hinein. Bekanntlich sind zeitprägende Innovationen wie etwa das Internet oder GPS ursprünglich militärische Projekte gewesen. »So entsteht eine Verquickung ganz besonderer Art von Wissenschaft und Industrie, eine moderne Rüstungslobby.«61

Dies alles ist heute schon eine Banalität, und obwohl damit dem Forscher seine »Splendid isolation«, sein Elfenbeinturm und damit seine Unschuld längst genommen wurden, erhält das System der Arbeitsteilung weiter den Anschein verantwortungsfreier Funktionalität. »Der Wissenschaftler in seinem Forschungslabor, der Ingenieur in seinem Werk sind keine Menschen. Sie sind handelnde Kräfte.... Da soll die Gesellschaft sehen, wie sie zurechtkommt. Die Gesellschaft? Die Politiker, die Philosophen. Irgendein anderer. So genau wollen wir das gar nicht wissen.«62

Wie Hannah Arendt im Blick auf die Judenvernichtung im Nationalsozialismus von der »Banalität des Bösen« sprach, so muss man wohl auch von einer »Banalität der Apokalypse« in der Gegenwart sprechen. Nicht der Antichrist und nicht irgendwelche entfesselten Dämonen - für beide wollte man ja auch gern Hitler und seine Helfer halten - setzen die apokalyptischen Reiter in Gang, sondern »normale Menschen«, die sich gleich­zeitig als Opfer ohnmächtig ausgeliefert fühlen.

Die Diskrepanzerfahrung von kleiner und großer Geschichte entspringt heute der Diskrepanz, dass wir »als Zerstörende wirklich omnipotent geworden sind«, dieser Situation gegenüber aber »eine völlig neue Ohnmacht« empfinden.63 Zweifellos ist die reale Potenz dabei ungleich verteilt: Es gibt Mächtige und Ohnmächtige in diesem Prozess. Und doch sind in unterschiedlichem Maße fast alle Funktionäre der apokalyptischen Situation. Unserer Ohnmacht fehlt die Unschuld, unserem Dilemma das Heroische. Darin wird deutlich, dass die Wahrnehmung von Tragik noch an der Oberfläche unserer Situation bleibt. Man muss sogar eher die Formulierung aufgreifen, die Günther Anders im Blick auf den möglichen kollektiven Atomtod aufschrieb: »Tragisch ist höchstes dieses Fehlen von Tragik.«64

164


   Wiederentdeckte Erbsünde  

Eine Ohnmacht, die nur an ihrer Oberfläche tragisch anmutet, darunter aber von böser Banalität ist, erinnert an die uns fremd gewordene christliche Beschreibung der Sünde als versklavender Macht, als Korrumpierung der Natur, als »Erbsünde«.

Genau gegen diese Identifizierung protestiert allerdings der eben zitierte Günther Anders: Unsere neue Ohnmacht den Folgen des eigenen Handelns gegenüber sei »nicht identisch mit dem klassisch religiösen Negativum, also mit der Erbsünde,...« Anders lehnt diese Gleichsetzung ab, weil in seiner Sicht »die Entsetzlichkeit der heutigen Situation, wenngleich unser Werk, doch nicht von uns verschuldet ist. Nicht einmal schuldig sind wir mehr. ... Vielmehr ist es der Effekt unserer, über unsere Köpfe hinweggehenden, menschlichen Geschichte.«65 Es mutet schon seltsam an, dass Anders nach all der Schärfe seiner Analyse am Ende bei einer quasi-mythologischen Hypostasierung der Geschichte landet. Er bleibt damit in der hier analysierten Diskrepanzerfahrung stecken und verabsolutiert sie einfach zu einer bösen Dialektik. Somit tritt bei diesem Ani-Idealisten Hegels Weltgeist durch die Hintertür doch wieder ein, nur entpuppt er sich jetzt als banal und böse.

Auch innerhalb der Theologie ist die auf der Linie von Paulus über Augustinus zu Luther entfaltete Erbsündenlehre später stark in Verruf geraten, weil sie die biblische Heilsgeschichte ihrerseits re-mythisiere, indem sie die Sünde Adams zu einer Art vererbbaren Substanz mache, die zudem über den Gedanken ihrer Generativität stark mit der Sexualität in Verbindung gebracht werde.

Trifft dieser Vorwurf vor allem die katholische Traditionslinie, so neigt die protestantische Variante tendenziell zu einem Dualismus, der Teufel und Sünde zu einer Gott gegenüberstehenden Macht potenziert, der die Menschen im Grunde von Natur aus verfallen müssen, wenn sie Gottes Gnade nicht daraus erlöst. In beiden Varianten werden der individuelle Tatcharakter der Sünde und die Zusammengehörigkeit von Schuld und autonomer Verantwortung verdeckt; jener macht geradezu das Axiom der Moralphilosophie seit der Aufklärung aus. Außerdem ist die Erbsündenlehre nicht wirklich biblisch.

165


Ihre Wiederentdeckung bei modernen Theologen wie Karl Barth und Karl Rahner hat deshalb ihrerseits den »Vererbungskomplex« destruiert, um auf biblischem Fundament die aktuelle Evidenz im Kern der Lehre neu aufzuzeigen. Denn nicht die Erbsünde im engeren Sinn, wohl aber eine theologische Durchdringung der Dialektik von Ohnmacht und Schuld gehört zu den Konstruktionspfeilern biblischer Vernunft.

Schuld und Ohnmacht sind in der christlichen Erfahrung keine Gegensätze, als entstamme Schuld allein der freien, bewussten eigenen Tat - was ja im Umkehrschluss bedeuten würde, dass die Erfahrung der eigenen Ohnmacht automatisch der mildernde Umstand wäre, der uns ent-schuldigt. Eine ursprünglich biblische Schulderfahrung, der die Psalmengebete genauso entspringen wie die pauli-nische Gnadentheologie, besteht gerade darin, das jedes Verfehlen des Willens Gottes diesen unwirklich macht und ferner rückt und das Handeln in einen Handlungszusammenhang verfestigt, dem man ohnmächtig ausgeliefert zu sein scheint. Im Grunde geht der Entdeckungszusammenhang sogar umgekehrt. Man blickt von der »Utopie« des freien Lebens nach dem Willen Gottes her: Eigentlich sind seine Gebote »ganz nah bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen« (Deuteronomium 30,14). Im Gegensatz zu diesem »eigentlich« erscheint dann die faktische Freiheit des Menschen wie ein ohnmächtiger Kampf gegen die Sphäre des Wider-Göttlichen, in die wir zutiefst verstrickt sind.

Karl Barth hat diese Sphäre »das Nichtige« genannt. Was uns hindert, ist »Nichts«; denn es ist ja keine Schöpfung Gottes, sondern einfach das, was Gott, indem er schafft, verneint, das aber dennoch als »die Bedrohung und Verderbnis des Weltgeschehens« präsent ist.66 Die Erfahrung von Schuld ist die des eigenen Handelns gegen den Willen Gottes, die der persönlichen Schuld also. Sie ist zugleich die Erfahrung, in diesem widersprüchlichen Handeln in die Sphäre dieses Nichtigen zu geraten, die un- und überpersönlich wirkt und der gegenüber sich unser »guter Wille« als ohnmächtig erlebt.

Barth hat dieses Nichtige sogar personifiziert gefunden in dem, was die biblischen Schriften als Teufel und Dämonen kennen, die gewissermaßen Konzentrationen des Nichtigen darstellen. Barth war sich natürlich des mythologischen Charakters solcher Dämonologie bewusst, aber er sprach in der für ihn typischen spitzfindigen Rhetorik davon, Teufel und Dämonen existierten tatsächlich als »der Mythos aller Mythologie«.67

166


Er wollte damit darauf hinweisen, dass für das Verständnis der biblischen Dämonologie wenig gewonnen ist, wenn man aus einem modernen Bewusstsein heraus die Existenz solcher widergöttlichen Mächte verneine. Es käme vielmehr darauf an, gerade die mythische Präsenz des so mythologisch Beschriebenen theologisch zu reflektieren.

Ich kann hier das Für und Wider einer solchen Bibelhermeneutik nicht diskutieren. Barths Hinweis ist aber deshalb an dieser Stelle wichtig, weil die Präsenz des Dämonischen ja gerade in den apokalyptischen Schriften gegenüber der älteren biblischen Tradition enorm zunimmt. Sie wächst sozusagen parallel zur geschichtlichen Ohnmachtserfahrung Israels an und schiebt sich theologisch ausgerechnet dort in den Vordergrund, wo Israels Geschichtstheologie sich modern wie nie zuvor mit der gesamten ihr bekannten Weltgeschichte in Gestalt der Imperien der Babylonier, Perser, Griechen und später der Römer auseinandersetzt. Ohne diesen Hintergrund der apokalyptischen Dämonologie ist auch das Neue Testament nicht zu verstehen: Jesu Dämonenaustreibungen sind kein Randphänomen seines Wirkens, und seine Reich-Gottes-Verkündigung insistiert auf der zentralen Erfahrung, dass der Teufel schon und gerade gestürzt sei, dieser Sturz sich aber nun auf Erden durchsetzen müsse (Lukas 10,18 und 11,20). Die apokalyptische Geschichtstheologie sieht die Menschheit in einer sich steigernden Weise im Machtbereich des »Nichtigen« gebannt, weshalb Erlösung als individuelle Vergebung und Gnade nur vorstellbar sind, wenn Gott gleichzeitig diesen überpersönlichen Bann zerschlägt.

Karl Rahner hat von katholischer Seite her die »Erbsünde« begriffen als die »ursprüngliche und bleibende Mitbestimmtheit durch fremde Schuld«.68 Erbsünde meint also nicht die »Vererbung« von Sünde, sondern unser Existieren in sündigem Erbe, in der geschichtlich und sozial verfestigten Dimension von Schuld. Schuld schafft ihre eigenen Objektivationen, ihre Aus-Wirkungen, in deren Raum sich wiederum unsere Freiheitsgeschichte abspielt. Schuld determiniert Schuld. Kein Handeln beginnt in einer schuldfreien Stunde Null - so gern wir eine solche, auch kollektiv (wie in Deutschland nach 1945), ausrufen möchten.

167


Das Herausfordernde an Barths Interpretation des Nichtigen und an Rahners Interpretation der alten Erbsündenlehre besteht darin, dass sie die Ohnmachtserfahrung nicht als mildernden Umstand bagatellisieren, sondern als inneren Moment von Schulderfahrung selbst hervorheben. Wer sich wirklich als schuldig erfährt, findet sich immer in einer Dialektik von eigenem Tun und ohnmächtiger Überforderung durch die »Verhältnisse« vor. Erbsünde in diesem Sinn ist der »Konnex zwischen kollektiver Verschuldung und individueller Selbstbehauptung, wie er besonders in Zeiten der Gewaltherrschaft zutage tritt«.69 Die Befreiungstheologie hat unter solchen Umständen sowohl Rahners Ansatz als auch die spätere Rede Barths von den »herrenlosen Gewalten«70 aufgegriffen, die sich in mächtigen Götzen wie dem Geld, den Sachzwängen oder der Gewalt selbst manifestieren. Sie hat damit ihre Analyse von der »sozialen Sünde« theologisch qualifiziert.

Darauf aufbauend liest Thomas Rüster die Erbsündenlehre mit den Augen der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Deren Entdeckung der Eigendynamik sozialer Systeme über die Köpfe der an ihnen Beteiligten hinweg lässt sich vor dem aufgezeigten theologischen Hintergrund biblisch grundieren - und umgekehrt: Den theologischen Lehrsatz, »dem erbsündlich gefallenen Menschen sei es unmöglich, nicht zu sündigen ..., kann man heute systemtheoretisch rekonstruieren«. Er bedeutet dann: »Menschliche Sünde, also Selbsterhaltung auf Kosten anderer, schafft Systeme, die sich gegenüber den Menschen verselbst-ständigen und Macht über sie ausüben. Vermöge ihrer Selbsterhaltungsinteressen sind Menschen mit der Selbsterhaltung der Systeme gekoppelt und dadurch deren Einflüssen über das Maß ihrer Bosheit hinaus zugänglich(71)

Um die Bedeutung dieses Satzes zu ermessen, müsste man alles, was ich in den ersten zwei Kapiteln des Buches über die Entstehung der ökologischen und sozialen Katastrophe der Menschheit und über das heutige menschliche Verhalten in ihr ausgebreitet habe, in seinem Licht rekapitulieren. Ich überlasse diese Meditation hier dem Leser. In ihrem Ergebnis wird die systemtheoretisch rekonstruierte Erbsündenlehre als der säkularen apokalyptischen Situation auf den Leib geschrieben erscheinen. 

 wikipedia  Niklas_Luhmann  (1927-1998)

168


In der komplexen Entstehungsgeschichte dieser Situation haben »soziale Systeme ... die Erwartungen sündigen Verhaltens einmal aufgenommen und erzeugen sie auch wieder, sie drängen und verführen zur Sünde.... Sündiges Verhalten erscheint in der Vermittlung durch die sozialen Systeme als normal, ja - insbesondere unter den Bedingungen der funktionalen Differenzierung - als unvermeidlich. Den Menschen tritt ihre eigene Sünde in fremder, objektivierter Gestalt gegenüber.«72

Von hier aus erschließt sich dann auch ein neuer Zugang zur befremdlichen Kategorie des geschichtlichen Gerichts, das so wenig gerechte Rücksicht auf individuelle Schuld oder Unschuld nimmt: Wenn Schuld tatsächlich nie die Erfahrung eines isolierten persönlichen Sündenfalls ist, sondern die des eigenen Versagens - das eigenes Versagen bleibt - innerhalb der ohnmächtigen Verstricktheit in eine Schuld, die größer ist als wir selbst, dann erscheint das Gericht als Auswirkung und zugleich als der Zusammenbruch eben dieses Schuld-Komplexes, als sein katastrophales Ende. Wenn wir in der säkularen apokalyptischen Situation die Erfahrung der persönlich-unpersönlichen Schulddialektik in einer bisher unbekannten globalen Steigerung machen, dann ist die theologische Interpretation dieser Situation als eine des Gerichts nicht anachronistisch, sondern vielleicht erstmals wirklich -und nicht nur quasi-mythologisch - angemessen.

Auch diese letzte Angemessenheit wurde offenkundig seit jenem Geschichtsbruch, der sich in diesem Zusammenhang nicht zufällig und nicht äußerlich als Herkunft des gegenwärtigen Schuld-und-Ohnmacht-Komplexes zeigte: Denn »das, was uns zerreißt, ist neu. Denn uns zerreißen nicht schicksalhafte Mächte, auch nicht Daseinsbedingungen im Kosmos, die wir noch nicht beherrschen und die uns noch abhängig halten. War früher Sorge um das, was wir noch nicht besorgen können, Grund unserer Entfremdung - Menschsein nach Auschwitz ist in keiner Weise mehr vom Schicksal zerrissen, sondern von Schuld: doppelter Schuld der Täterschaft und des Zulassens. An dieser zweiten Schuld des Zulassens sind alle Völker der Welt beteiligt.«73

169


  Gericht als gerettete Würde  

Schuld, die wir als Zuschauer unserer selbst als tragisch empfinden, ist im Licht der biblischen Vernunft gerade jene Schuld, die ins Gericht führen muss. In der säkularen Apokalyptik der Gegenwart wird diese Schulderfahrung sozusagen weltgeschichtlich ausschlaggebend: Erstmals ist mit dieser Erfahrung genau bezeichnet, wo wir individuell wie global stehen. Erstmals fällt beides zusammen. Um das zu verstehen, müssen wir noch schärfer den Umschlagpunkt ins Auge fassen, an dem aus dem tragischen Ohnmachtsbewusstsein das Bewusstsein von der not-wendigen Rede vom Gericht wird. Denn es ist genau dieser Umschlagpunkt, dieser Perspektivwechsel, an dem heute apokalyptisches theologisches Denken aufgeht.

Auschwitz hat auch hier in der Totalität der Verwirklichung des radikal Bösen das Paradox von Schuld und Ohnmacht in ein Äußerstes getrieben: Während die Verbrechen ein Maß erlangten, das sich nicht mehr in die »Normalität« menschlicher Sündhaftigkeit, in das Zusammengehörigkeitsgefühl schuldbelasteter Menschen einfügen lässt74, haben die meisten Täter doch keinerlei Schuldbewusstsein geäußert.

Im Zergliedern von Befehlsketten, von erklärenden Umständen, von inszenierter Normalität des Monströsen ließ sich die Verantwortung unsichtbar machen. Umgekehrt konnten die Opfer dieses Verbrechens den Lagern kaum entkommen, ohne ein unauslöschliches Schuldgefühl zurückzubehalten. »In den Lagern war man Tag für Tag (und das jahrelang) gezwungen, die Vernichtung anderer mitzuerleben«, berichtet Bruno Bettelheim, »und man lebte stets in dem Bewusstsein, das man - gegen die eigene bessere Einsicht - hätte eingreifen müssen. Doch da man das nicht getan hatte, fühlte man sich schuldig, und schuldig fühlte man sich vor allem auch deshalb, weil man froh war, noch einmal davongekommen zu sein.« Elie Wiesel brachte dies auf die furchtbare Formel: »Ich lebe und daher bin ich schuldig.«75

Diese Formel kann für sich genommen auch ein typisches »Lebensgefühl« in der apokalyptischen Situation beschreiben. Sie bezeugt eine einzigartige Situation des Abgrunds und benennt doch auch etwas Allgemeines.

170


Die apokalyptische Situation der Gegenwart ist kein riesiges Auschwitz - das zu behaupten hieße, das wirkliche Auschwitz zur Metapher zu entwirklichen -, aber dieses Entsetzliche des 20. Jahrhunderts ist dadurch, dass es das moderne Böse in sein Äußerstes brachte, tatsächlich das Brennglas für etwas, was strukturell die Gegenwart weit umfassender prägt.

Im Wissen um die globalen Verhältnisse und um ihren realen Zusammenhang mit unserem alltäglichen Handeln und Unterlassen, mit unserer Normalität, sind wir ständig diejenigen, die andere überleben, stets wissend, dass man hätte eingreifen, dass man sich und die Verhältnisse hätte ändern müssen, es aber nicht tat. Leben in der säkularen apokalyptischen Situation heißt, schuldig zu sein. »Wir wissen, dass wir uns eigentlich solidarisch fühlen, und dass wir solidarisch handeln müssten; wir wissen nur nicht, wie wir das bewerkstelligen sollen, oder wir hüten uns zumindest davor, den Dingen auf den Grund zu gehen, weil wir die praktischen Konsequenzen fürchten. ... Die Heuchelei, die wir praktizieren ..., beweist wenigstens das eine: dass wir Mangel an Engagement als Schuld empfinden.«76

Es gehörte zu dem perfiden System der Entmenschlichung von Auschwitz, dass die Schuldgefühle sozusagen von den Tätern auf die Opfer verlagert wurden. Dabei sind die Opfer hier tatsächlich ohnmächtig, und in ihrer Ohnmacht werden sie jedem gerechten Beobachter als schuldlos erscheinen, auch wenn sie sich selbst die kleinsten Unterlassungen und Egoismen im Überlebenskampf nicht verzeihen können. Während die Täter sich schier für alles mit den Verhältnissen entschuldigten, gehört es zum Trauma der Opfer, Schuldgefühle nicht loszuwerden. Offenbar besteht der Gegensatz in dem Verhältnis, das beide zur Situation einnehmen: Die Täter nahmen zu ihren eigenen Taten die Haltung von Zeugen und Zuschauern ein - so haben sich auch ungezählte Deutsche pauschal als Zuschauer und Zeugen deklariert, obwohl ihr tatsächlicher Anteil an den Taten ganz unterschiedlich hoch war.

Für die Täter konnte das Entsetzliche in eine Kulisse umgelogen werden, an deren Errichtung sie keinen aktiven Anteil empfanden, weil sie sich selbst als verantwortliche, freie Subjekte praktisch herausnahmen - sie mochten dies privat sein, jedoch nicht in ihrer Funktion im System. In dieser waren sie die Zuschauer ihrer selbst, und diese Distanzierung macht die eigentliche Entmenschlichung der Täter im totalitären Verbrechen aus, eine tatsächliche Gewissenlosigkeit, welche die Banalität des Bösen ermöglicht.

171


Die Opfer dagegen sind in der höllischen Situation, in die sie geworfen wurden, so gefangen und gebannt, dass kein innerer Ausweg, keine Flucht in eine Zuschauerhaltung möglich sind. Nur der Tod bleibt als Ausweg oder jener furchtbare Zustand des Verdämmerns in seiner Nähe, für den es in Auschwitz bekanntlich den Ausdruck »Muselmänner« gab. Der Situation als direkter Herausforderung ausgesetzt, wird für die Opfer jeder Moment zum Ernstfall; nichts mehr ist banal, normaler Alltag, Kulisse, von der man sich distanzieren könnte. Die Situation der Opfer wird dadurch zu einer ständigen Überforderung nicht nur ihrer Kräfte im Überlebenskampf, sondern auch ihres Gewissens in einem moralischen Kampf. Deshalb wird das nackte Leben, um dessen Erhaltung es jeden Tag geht, zugleich und vor allem im Nachhinein, im Fall des Überlebens, als Schuld erlebt.

Die Extremsituation macht deutlich, worin der angesprochene Umschlag in der Wahrnehmung der apokalyptischen Situation entweder als tragisch oder als dem Gericht verfallen besteht: So lange ich die Situation sozusagen von oben her anblicke und analysiere und so mir auch selbst auf den Kopf schaue, solange ich also eine Position der Distanz einnehme - so als schwebe das betrachtende Subjekt über den Dingen -, erscheint die Situation als tragisch. Der Einzelne ist dann das berüchtigte Rädchen im Getriebe, ein ohnmächtiger Einzelfall, dem Ganzen ausgeliefert, an dem er nichts zu ändern vermag, und deshalb tragisch verwickelt, aber nicht verantwortlich. Aus dieser Position erscheinen die Schuldgefühle Einzelner als übertrieben, unbegründet, ein Fall für die Psychiatrie.

Erst wenn ich die Situation als ethische Situation annehme, die mich unbedingt angeht, wird sie zum Anruf an das Gewissen, so überfordernd und komplex sie auch bleibt. Dann habe ich plötzlich nur ein Leben und bin verantwortlich dafür, wie ich es in der gegebenen, erkannten Situation lebe - also auch: in jener globalen apokalyptischen Situation, die ich nicht verursacht habe und kaum verändern kann, die aber meine Situation ist, aus der ich mich nicht in eine scheinbar übergeordnete, zeitlose Normalität wegstehlen kann.

172/173


Die ethische Situation angesichts der globalen Apokalypse trägt allerdings die Gefahr der Flucht ins Diffuse in sich. Das Wissen des eigenen Lebens als eines Über-Lebens anderer kann so überwältigend sein, dass es tatsächlich nur lähmt und nur noch in Passivität führt.

»Wir können uns nicht wirklich gleichmäßig für alles verantwortlich machen, und es gibt - zugegeben nicht viel - Weltelend, an dem wir wirklich nicht schuld sind. Auch in der Schuldorientierung, die notwendig zum bewussten und bejahten Leben gehört, sollen wir uns üben, konkret und nicht idealistisch-pauschal zu denken.«

Die Selbststilisierung zu einem moralischen Atlas, der unter der Last der Welt fast zusammenbricht, kann sogar ein bequemes Alibi sein, um vor lauter Weltschmerz das vor den Füßen Liegende nicht anzupacken. Verantwortung ist konkret.

»Es ist nicht an dem, dass wir grundsätzlich dazu verpflichtet wären, stellvertretend die Beschwerden der ganzen Zeitgenossenschaft zu tragen und uns aufs Konto zu schreiben. Wir sind keine Christusse.«77

Dennoch steckt auch in dieser ohnmächtigen Erfahrung moralischer Überforderung, die in eine düstere Selbstverurteilung führt, ein Stück echter Erkenntnis der Situation. In dem harten Einschub des gerade Zitierten, diesem »zugegeben nicht viel«, steckt diese Erkenntnis: Es macht die globale apokalyptische Situation aus, dass in ihr tatsächlich und nachweisbar »nicht viel« Weltelend nichts mit unserer gelebten Normalität zu tun hat. Wir sind tatsächlich in einem Schuldzusammenhang gefangen, der von uns eine Verantwortung fordert, die uns überfordert. Und daran haben wir Anteil, unseren kleinen persönlichen Anteil an der Situation des Gerichts.

Die biblische Vernunft analysiert die Situation also mit einem Blick, der den Nebel der Selbstdistanzierung durchdringt. Sie beharrt darauf, dass die Situation erst so, als ethische Situation erfasst, wirklich realistisch in den Blick kommt, unvernebelt. Gerade darin rettet die Annahme des Gerichts das ethische Subjekt - die Würde des Menschen, sich zu verantworten und nicht als totes Werkzeug in den Händen anonymer Mächte abzuschreiben. Deshalb hat auch in Auschwitz, im Angesicht der ultimativen Zerstörung der Menschenwürde, derjenige diese Würde tatsächlich verteidigt, der sich sein Gewissen bewahrte.

In der Situation dieser Opfer sind wir nicht. In die von Tätern und Mitläufern, die über ihre Schuldblindheit ihre Würde verlieren, wollen wir uns nicht begeben. Die Erkenntnis des Gerichts über die uns überfordernde Schuld ist der Beginn einer Befreiung aus ihr.

Auch die Geschichtsschreibung der alttestamentlichen Königsbücher und die Gegenwartsdeutung der Prophetenbücher kommen heutigen Historikern einseitig, übertrieben, fixiert vor. Über ihre Urteile im Einzelnen kann man ja auch relativierender Meinung sein. Aber der Gegensatz im Urteil kommt auch dadurch zustande, dass historische Kritik ein Mittel einer universalen Distanzierung ist: Der Historiker erhebt jeden geschichtlichen Gegenstand, den er betrachtet, zur gegebenen Normalität, um dann alle darin Agierenden irgendwie zu »verstehen«. Er gleicht darin, auf die Gegenwarts-Analyse bezogen, Politologen und Sozialwissenschaftlern, die uns erklären, warum alles nicht viel anders laufen könnte, als es nun einmal läuft. Er ist tendenziell ein Tragiker und der Prophet erscheint ihm deshalb eher als Hysteriker.

Im Umschlagen von der tragischen in die ethische Wahrnehmung geht aus der Perspektive biblischer Vernunft jedoch Realität erst auf. Deshalb spreche ich ja von biblischer Vernunft, weil ich sie als eine eigenständige Weise der Wirklichkeitswahrnehmung begreife - als diejenige, die mit einer realen Beziehung der geschichtlichen Wirklichkeit zu Gott »rechnet« - und das, ohne die geschichtliche Wirklichkeit in dieser Beziehung zu entwirklichen, zu relativieren. In dieser Wirklichkeits-Erschließung geht die Situation unserer Gegenwart als die auf, deren Beziehung zu Gott erst in der Kategorie des Gerichts wirklich erfasst werden kann.

Natürlich ist diese Erkenntnis eine aus unserer Perspektive - aus der Perspektive derer, die in der apokalyptischen Situation der Gegenwart keine ohnmächtigen Opfer sind wie die Opfer von Auschwitz, sondern ohnmächtige Täter, solche, die im Falschen leben und verharren, das sie doch als Weg in die Katastrophe erkennen.

»Das Leben in südamerikanischen Favelas teilen nur wenige Schwestern, Ärzte und Priester. Ihr gutes Beispiel stößt auf unser schlechtes Gewissen und ein - Gott sei Dank wirksamer - jesuanischer Radikalismus sagt uns: So wäre es richtig, so müssten wir alle es tun. Aber dann sind wir in Wirklichkeit doch nichts als bloß der reiche Jüngling, schleichen uns betrübt von Jesus von dannen und behalten von überhöhten Forderungen an uns oft nichts zurück als Zynismus gegen Jesus, gegen die Armen, auch gegen uns selbst.«78

Diese fatale Situation ist heute keine individuelle mehr: Sie prägt den Zynismus der gesamten reichen Welt. Sie ist darin die Welt, die entweder verleugnet oder erkennt, dass sie im Gericht Gottes angekommen ist.

174-175

#

 

 

  www.detopia.de    Zitate    ^^^^   
(4) 2. Jenseits von Tragik und Ohnmacht